Die Entscheidung - Naomi Klein - E-Book

Die Entscheidung E-Book

Naomi Klein

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Beschreibung

***JETZT ODER NICHTS – der provokante Gesellschaftsentwurf der international bekannten Bestsellerautorin Naomi Klein (›NoLogo‹ und ›Die Schock-Strategie‹)*** Vergessen Sie alles, was Sie über den Klimawandel zu wissen meinten: Es geht nicht nur um CO2-Emissionen, es geht um den Kapitalismus! Die weltbekannte Aktivistin Naomi Klein weckt uns aus der kollektiven Ohnmacht angesichts der Klimakatastrophe. In einer packenden Vision zeigt sie, dass wir uns dieser existentiellen Herausforderung stellen können. Wir müssen unser Wirtschaftssystem des Immer-mehr aufgeben und etwas radikal Neues wagen. Denn überall auf der Welt gibt es bereits überraschende und inspirierende Alternativen. Brillant gedacht, fundiert recherchiert, hoffnungsvoll und spannend. Ein Buch, das aufrüttelt und Lust auf die Zukunft macht. »Die Klimakatastrophe kann die Welt zum Besseren ändern.« — Naomi Klein »Naomi Klein befasst sich in ihrer unbestechlichen, leidenschaftlichen und akribischen Art mit den größten und drängendsten Fragen unserer Zeit. Ihr Werk hat die Spielregeln der Debatte verändert. Für mich zählt sie zu den inspirierendsten politischen Vordenkern der Welt von heute.« — Arundhati Roy »Zweifellos eines der wichtigsten Bücher des Jahrzehnts.« — Amitav Ghosh »Naomi Klein ist ein Genie. Sie hat für das Feld der Politik das geleistet, was Jared Diamond für die Erforschung der Geschichte des Menschen getan hat. Meisterhaft verwebt sie politische, ökonomische und historische Fakten und verdichtet sie zu einfachen und mächtigen Wahrheiten mit universeller Anwendbarkeit.« — Robert F. Kennedy, Jr. »Naomi Kleins klare Sprache und ihr Scharfsinn, machen Lust auf Veränderung und verdeutlichen die Notwendigkeit zum sofortigen Handeln.« — Charlize Theron »Eine mitreißende Pflichtlektüre!« — Michael E. Mann, Direktor des Earth System Science Center an der Pennsylvania State University

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Naomi Klein

Die Entscheidung

Kapitalismus vs. Klima

Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair, Sonja Schuhmacher und Gabriele Gockel

FISCHER E-Books

Inhalt

»Wir müssen uns darauf [...]EinleitungEin Volks-SchockZiemlich schlechtes TimingMacht, nicht bloß EnergieSchluss mit dem LeugnenTeil I Schlechtes TimingKapitel 1 Die Rechten haben rechtKapitel 2 Heißes GeldKapitel 3 Öffentliche Versorgung und Kostenpflicht für UmweltverschmutzerKapitel 4 Planen und VerbietenKapitel 5 Jenseits des ExtraktivismusTeil II Magisches DenkenKapitel 6 Das Übel wird nicht an der Wurzel gepacktKapitel 7 Keine HeilsbringerKapitel 8 Verdunkeln wir die SonneTeil III Aufbruch in die neue ZeitKapitel 9 BlockadiaKapitel 10 Liebe wird die Erde rettenKapitel 11 Ihr und welche Armee?Kapitel 12 Der gemeinsame HimmelKapitel 13 Das Recht auf RegenerationSchlussDie unvollendete BefreiungMit einem Schlag alleAnmerkungenDanksagung

»Wir müssen uns darauf besinnen, dass unsere Aufgabe in dieser Zeit über den Klimawandel hinausgeht. Wir müssen unsere Ziele höher und weiter stecken. Wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, geht es darum, unsere Lebensweise auf diesem Planeten von Grund auf zu ändern.«

– Rebecca Tarbotton, geschäftsführende Direktorin des Rainforest Action Network, 1973–2012[1]

»In meinen Büchern habe ich Menschen erfunden, die den Golfstrom salzen, die Dämme bauen, um das Kalben von Gletschern vom grönländischen Eisschild zu verhindern, die zur Schaffung von Salzseen Meerwasser in die Wüstenbecken der Sahara und Asiens pumpen, die zur Versorgung mit Trinkwasser geschmolzenes Eis aus der Antarktis nach Norden leiten, die Bakterien gentechnisch verändern, um in Baumwurzeln mehr Kohlendioxid speichern zu können, die Florida um neun Meter anheben, damit es wieder über dem Meeresspiegel liegt, und (die schwierigste Aufgabe von allen) die den Kapitalismus radikal umgestalten.«

– Kim Stanley Robinson, Science-Fiction-Autor, 2012[2]

Einleitung

So oder so, es verändert sich alles

»Die meisten Prognosen zum Klimawandel gehen davon aus, dass künftige Veränderungen – die Emission von Treibhausgasen, Temperaturerhöhungen und Effekte wie der Anstieg des Meeresspiegels – schrittweise eintreten werden. Dass eine bestimmte Emissionsmenge zu einem bestimmten Temperaturanstieg und dieser wiederum zu einem bestimmten, sanften und allmählichen Anstieg des Meeresspiegels führen wird. In der Erdgeschichte gibt es jedoch Beispiele dafür, dass eine relativ geringfügige Veränderung eines Klimaelements abrupte Veränderungen im gesamten System nach sich zog. Mit anderen Worten, die Erhöhung der globalen Temperaturen über eine bestimmte Schwelle hinweg könnte abrupte, unvorhersehbare und möglicherweise irreversible Veränderungen mit weitreichenden und überaus zerstörerischen Folgen auslösen. An diesem Punkt werden möglicherweise unaufhaltsame Prozesse in Gang gesetzt, selbst wenn wir der Atmosphäre kein zusätzliches CO2 mehr zuführen. Das wäre so, als würde eine Bremse einrasten und die Lenkung blockieren, so dass wir das Problem und seine Folgen nicht mehr unter Kontrolle haben.«

– Bericht der American Association for the Advancement of Science, der weltweit größten wissenschaftlichen Gesellschaft, aus dem Jahr 2014[3]

 

»Ich liebe den Geruch von Abgasen.«

– Sarah Palin 2011[4]

Über die Bordsprechanlage wurden die Passagiere des Flugs 3935 von Washington nach Charleston, South Carolina, höflich aufgefordert, mit ihrem Handgepäck das Flugzeug zu verlassen.

Sie traten die Gangway hinunter und versammelten sich auf der heißen Rollbahn. Dort bot sich ihnen ein ungewöhnliches Bild: Die Räder ihres US-Airways-Jets waren in dem schwarzen Asphalt versunken wie in frischem Beton. Sie steckten so tief fest, dass das Schleppfahrzeug die Maschine nicht freibekam. Die Airline hatte gehofft, ohne das Gewicht der fünfunddreißig Passagiere ließe sich das Flugzeug leichter herausziehen. Ein Irrtum. Jemand postete ein Foto: »Warum wurde mein Flug gecancelt? Weil es in Washington so verdammt heiß ist, dass unsere Maschine zehn Zentimeter tief in den Asphalt eingesunken ist.«[5]

Mit einem größeren, stärkeren Schlepper gelang es schließlich, das Flugzeug herauszuziehen, so dass es mit drei Stunden Verspätung starten konnte. Ein Sprecher der Airline machte »ungewöhnlich hohe Temperaturen« für den Vorfall verantwortlich.[6]

Im Sommer 2012 war es tatsächlich ungewöhnlich heiß. (Wie auch schon im Jahr davor und im Jahr danach.) Und die Ursache dafür ist kein Geheimnis: das verschwenderische Verbrennen fossiler Energieträger, genau das, was US Airways vorhatte, auch wenn ihr der schmelzende Asphalt zunächst einen Strich durch die Rechnung machte. Die Ironie dieser Geschichte – durch das Verbrennen fossiler Energieträger wird unser Klima gerade so radikal verändert, dass wir daran gehindert werden, fossile Energieträger zu verbrennen – hielt die Passagiere des Flugs 3935 nicht davon ab, wieder einzusteigen und ihre Reise fortzusetzen. Auch wurde der Klimawandel in keinem der großen Nachrichtenbeiträge zu diesem Vorfall erwähnt.

Es steht mir nicht zu, über diese Passagiere zu urteilen. Wir alle, die wir an welchem Ort auch immer einen konsumfreundlichen Lebensstil pflegen, sind bildlich gesprochen Passagiere des Flugs 3935. Angesichts einer Krise, die unser Überleben als Spezies bedroht, macht unsere gesamte Kultur einfach weiter genau das, was diese Krise verursacht hat, nur mit einer Extraportion Muskelschmalz. Wie die Fluglinie, die sich eines Schleppers mit einem stärkeren Motor bediente, um das Flugzeug herauszuziehen, setzt die Weltwirtschaft noch einen drauf, indem sie fossile Brennstoffe nicht mehr nur aus konventionellen Quellen gewinnt, sondern auf noch schmutzigere und gefährlichere Art – Bitumen aus dem Teersand von Alberta, Öl aus Tiefseebohrungen, Gas durch Fracking, Kohle aus Bergsprengungen und so weiter.

Unterdessen produziert jede schwere Naturkatastrophe neue paradoxe Momentaufnahmen eines Klimas, das für genau die Industriezweige, die für seine Erwärmung verantwortlich sind, immer unwirtlichere Bedingungen bietet. Beispielsweise die Jahrhundertflut 2013 in Calgary, die die Chefetagen der Teersandunternehmen in Alberta zwang, den Betrieb einzustellen und ihre Angestellten nach Hause zu schicken, während ein Zug mit entflammbaren Erdölprodukten auf einer zusammenbrechenden Eisenbahnbrücke über dem Abgrund schwankte. Oder die Dürre am Mississippi ein Jahr zuvor, bei der der Wasserpegel so stark absank, dass mit Öl und Kohle beladene Frachtkähne tagelang festsaßen und darauf warteten, dass das Pionierkorps der Army eine Fahrrinne ausbaggerte (die Mittel dafür waren eigentlich für Wiederaufbaumaßnahmen nach der Jahrhundertflut ein Jahr zuvor am selben Ort bestimmt). Oder die Kohlekraftwerke in anderen Landesteilen, die man vorübergehend abschalten musste, weil die Flüsse, aus denen sie normalerweise ihr Kühlwasser beziehen, zu warm oder zu ausgetrocknet waren (in manchen Fällen beides).

Wir alle leben mit diesem Widerspruch; das ist auch gar nicht zu vermeiden, wenn man zu einem Zeitpunkt der Geschichte lebt, an dem uns eine eifrig ignorierte Krise mit voller Wucht trifft – und trotzdem setzen wir mit doppelter Energie weiter fort, was die Krise überhaupt erst verursacht hat.

Ich habe den Klimawandel länger geleugnet, als mir lieb ist. Natürlich wusste ich, dass es ihn gibt. Es war nicht so wie bei Donald Trump und den Tea-Party-Anhängern, die behaupten, das sei doch alles nur Schwindel, was schon allein daran ersichtlich sei, dass es immer noch Winter gebe. Aber ich befasste mich nicht mit den Details und überflog nur die einschlägigen Zeitungsartikel, besonders die wirklich erschreckenden. Das wissenschaftliche Drumherum war mir zu kompliziert, und ich sagte mir, die Umweltschützer kümmern sich schon darum. Auch an meinem »Elitestatus« als Vielfliegerin, attestiert durch die glänzende Karte in meiner Brieftasche, konnte ich weiterhin nichts Schlimmes finden.

Viele von uns neigen zu dieser Art von Klimaleugnung. Wir schauen kurz hin, dann schauen wir wieder weg. Oder wir schauen hin und machen einen Witz daraus (»ein weiteres Zeichen der Apokalypse!«). Was nur eine andere Art des Wegschauens ist.

Oder wir schauen hin, trösten uns aber damit, dass der Mensch intelligent ist und schon irgendein technisches Wundermittel erfinden wird, das das Kohlendioxid gefahrlos aus der Atmosphäre saugen oder auf magische Art die Hitze der Sonne drosseln wird. Was, wie ich bei der Recherche zu diesem Buch herausfinden sollte, ebenfalls nur eine andere Art des Wegschauens ist.

Oder wir schauen hin, betrachten das Ganze jedoch aus einem extrem rationalen Blickwinkel (»unter dem Strich ist es effizienter, sich auf die wirtschaftliche Entwicklung zu konzentrieren als auf den Klimawandel, weil Reichtum der beste Schutz vor Wetterextremen ist«), als würden ein paar Dollar mehr etwas ändern, wenn die ganze Stadt unter Wasser steht. Eine typische Art des Wegschauens politischer Fachidioten.

Oder wir schauen hin, sagen uns aber, dass wir im Augenblick Dringenderes zu tun haben, als uns um etwas so Fernes und Abstraktes zu kümmern – und dabei haben wir doch das Wasser in der New Yorker U-Bahn gesehen und die Menschen in New Orleans, die auf ihren Hausdächern saßen, und wissen, dass niemand sicher ist, am wenigsten die Schwächsten von uns. Und wenn es auch noch so verständlich ist, es ist genauso eine Art des Wegschauens.

Oder wir schauen hin, sagen uns aber, wir können nichts tun, außer uns auf uns selbst zu konzentrieren. Wir meditieren und kaufen auf Bauernmärkten ein und schaffen unser Auto ab. Wir unternehmen jedoch keinen Versuch, das System zu ändern, das die Krise unausweichlich macht, denn das wäre viel zu viel »schlechte Energie« und würde sowieso nicht funktionieren. Und auch wenn das auf den ersten Blick wie Hinschauen wirkt, weil viele dieser Veränderungen des Lebensstils tatsächlich ein Teil der Lösung sind, sind wir auch mit dieser Haltung noch auf einem Auge blind.

Oder wir schauen hin – schauen wirklich hin –, und scheinen dann alles wieder zu vergessen. Denken ab und zu daran und vergessen es erneut. Das ist eben der Klimawandel – es fällt uns schwer, ihn für längere Zeit präsent zu halten. Wir pflegen diese merkwürdige Form der ökologischen Ein-Aus-Amnesie aus vollkommen nachvollziehbaren Gründen. Wir leugnen, weil wir Angst haben, dass sich alles ändern wird, wenn wir die Krise in ihrer ganzen Tragweite an uns heranlassen. Und da haben wir ganz recht.[7]

Wir wissen, dass der Klimawandel unsere Welt von Grund auf verändern wird, wenn wir auf dem derzeitigen Weg bleiben und die Emissionen Jahr für Jahr zunehmen. Große Städte werden aller Voraussicht nach im Meer versinken, alte Kulturen werden von den Fluten verschlungen, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass unsere Kinder einen Großteil ihres Lebens damit verbringen werden, vor bösen Stürmen und extremen Dürren zu fliehen oder sich davon zu erholen. Damit diese Zukunft Wirklichkeit wird, brauchen wir gar nichts zu tun. Wir müssen einfach nur die Hände in den Schoß legen. Weitermachen wie bisher, sei es, dass wir uns auf technische Errungenschaften verlassen oder unseren Garten bestellen oder uns damit herausreden, dass wir leider zu beschäftigt sind, um uns darum zu kümmern.

Alles, was wir tun müssen, ist, so zu tun, als hätten wir keine ausgewachsene Krise. Weiterhin zu leugnen, wie sehr wir uns davor fürchten. So gelangen wir Schritt für Schritt genau in die Situation, vor der wir am meisten Angst haben, der wir nicht ins Auge zu sehen wagen. Ganz ohne jede weitere Anstrengung.

Es gibt Möglichkeiten, eine solch düstere Zukunft zu verhindern oder sie wenigstens um einiges erträglicher zu machen. Der Knackpunkt ist nur, dass dafür ein fundamentaler Wandel nötig ist. Für uns konsumfreudige Zeitgenossen bedeutet das, unseren Lebenswandel zu ändern, unsere Art des Wirtschaftens, sogar die Auffassung darüber, welchen Platz wir auf der Erde einnehmen. Die gute Nachricht lautet, dass viele dieser Veränderungen alles andere als bedrohlich sind. Viele sind geradezu aufregend. Aber das habe ich lange Zeit nicht erkannt.

Ich weiß noch sehr genau, wann ich aufgehört habe, meine Augen vor der Realität des Klimawandels zu verschließen, oder zumindest, wann ich zum ersten Mal richtig hingesehen habe. Es war im April 2009 in Genf, bei einem Treffen mit der Botschafterin Boliviens bei der Welthandelsorganisation (WTO), der damals erstaunlich jungen Angélica Navarro Llanos. Weil Bolivien ein armes Land mit einem schmalen Budget für Auslandsreisen ist, hatte Navarro Llanos vor kurzem neben dem Handels- auch noch das Klimaressort übernommen. Beim Mittagessen in einem leeren chinesischen Lokal erklärte sie mir (wobei sie mit ihren Essstäbchen ein Diagramm des globalen Emissionsverlaufs zeichnete), sie sehe den Klimawandel als schreckliche Bedrohung für ihr Volk, aber auch als Chance.

Eine Bedrohung aus offensichtlichen Gründen: Bolivien ist extrem abhängig von seinen Gletschern als Quelle für Trink- und Nutzwasser zur Bewässerung, und die schneebedeckten Gipfel, die über seiner Hauptstadt aufragen, färbten sich in besorgniserregendem Tempo grau und braun. Die Chance bestand laut Navarro Llanos darin, dass sich Länder wie ihres, die so gut wie nichts zum Hochschnellen der Emissionen beigetragen hatten, zu »Klimagläubigern« erklären konnten. Somit stünde ihnen finanzielle und technologische Unterstützung von Seiten der großen Verschmutzerländer zu, um die hohen Kosten weiterer klimabedingter Katastrophen zu stemmen und einen ökologischen Entwicklungsweg einzuschlagen.

Kurz davor hatte sie auf der UN-Klimakonferenz eine Rede gehalten, in der sie für diese Art von Transferleistungen plädierte, und gab mir eine Kopie davon. »Millionen von Menschen«, hieß es dort, »auf kleinen Inseln, in den am wenigsten entwickelten Ländern, in Ländern ohne Meerzugang und in schutzbedürftigen Gemeinschaften in Brasilien, Indien, China und auf der ganzen Welt leiden unter den Auswirkungen eines Problems, zu dem sie nichts beigetragen haben … Wenn wir die Emissionen im nächsten Jahrzehnt deutlich vermindern wollen, brauchen wir eine Massenmobilisierung in nie gekanntem Ausmaß. Wir brauchen einen Marshallplan für die Erde. Dieser Plan muss Finanz- und Technologietransfers in beispiellosem Umfang enthalten. Er muss alle Länder mit Technologien versorgen, um sicherzustellen, dass die Emissionen gesenkt und der Lebensstandard der Menschen gleichzeitig gehoben wird. Dafür bleiben uns nur zehn Jahre Zeit.«[8]

Ein Marshallplan für die Erde wäre natürlich sehr teuer – hunderte Milliarden, wenn nicht Billionen Dollar (Navarro Llanos wollte keine Zahlen nennen). Und man hätte denken können, dass allein schon diese Kosten eine solche Idee zu einem Blindgänger machen würden – schließlich befanden wir uns im Jahr 2009, dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise. Doch damals war die brutale Logik der Austerität – die Rechnungen der Banker in Form von Entlassungen im öffentlichen Sektor, Schulschließungen und dergleichen an die Bürger weiterzureichen – noch nicht zum Normalzustand geworden, und so machte die Krise Navarro Llanos’ Vorstellungen nicht weniger überzeugend, sondern hatte den gegenteiligen Effekt.

Wir hatten alle soeben miterlebt, wie auf einmal Billionen Dollar zur Verfügung standen, als unsere Finanzeliten eine Krise ausriefen. Wenn man die Banken bankrottgehen lasse, so redete man uns ein, werde die ganze Wirtschaft zusammenbrechen. Es gehe um das kollektive Überleben, und deshalb müsse das Geld irgendwie aufgetrieben werden. Dabei wurde mit einigen großen Märchen über unser Finanzsystem aufgeräumt (Sie brauchen mehr Geld? Drucken Sie es!). Ein paar Jahre zuvor hatten viele Regierungen im Umgang mit den öffentlichen Finanzen einen ganz ähnlichen Weg eingeschlagen, und zwar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In vielen westlichen Ländern schien Geld kein Thema zu sein, als es darum ging, einen Sicherheits- bzw. Überwachungsstaat im Inland aufzubauen und einen Krieg im Ausland zu führen.

Beim Klimawandel aber hat unsere politische Führung noch nie solche Krisenmaßnahmen ergriffen, obwohl er das Risiko birgt, sehr viel mehr Leben zu vernichten als ein paar kollabierte Banken oder Gebäude. Die Einschnitte bei der Emission von Treibhausgasen, die nach Ansicht von Wissenschaftlern nötig sind, um das Risiko einer Katastrophe erheblich zu senken, werden als reine Empfehlungen aufgefasst, deren Umsetzung man bis in alle Ewigkeit verschieben kann. Ganz offensichtlich bestimmen nicht die harten Fakten, wann eine Situation als kritisch betrachtet wird, sondern machtpolitische Prioritäten. Doch wir sind nicht zum Zuschauen verdammt: Es liegt nicht allein in der Macht von Politikern, eine Krise auszurufen. Massenbewegungen ganz normaler Leute können das auch.

Die Sklaverei brachte für die britischen und amerikanischen Eliten keine Krise, bis die Anhänger der Sklavenbefreiung sie zu einer machten. Rassendiskriminierung schien keine Krise heraufzubeschwören, bis die Bürgerrechtsbewegung sie zu einer machte. Sexuelle Diskriminierung führte nicht in die Krise, bis der Feminismus sie zu einer machte. Apartheid erzeugte keine Krise, bis die Anti-Apartheid-Bewegung sie zu einer machte.

Und sobald genügend Menschen die Augen öffnen und erklären, dass der Klimawandel eine große Krise darstellt, die eine Art Marshallplan erfordert, wird auch er eine werden. Die politische Klasse wird darauf reagieren müssen, indem sie einerseits Ressourcen zur Verfügung stellt und andererseits die Regeln des freien Marktes umgeht, die sich als sehr flexibel erweisen, wenn die Interessen der Elite auf dem Spiel stehen. Auf diese Möglichkeit fällt immer dann ein Schlaglicht, wenn eine Katastrophe den Klimawandel für kurze Zeit in unser Bewusstsein rückt. »Geld ist bei diesen Hilfsaktionen kein Hindernis. Wie viel auch immer gebraucht wird, wir werden es zur Verfügung stellen«, erklärte der britische Premierminister David Cameron – Mr Austerität in Person –, als im Februar 2014 aufgrund einer Jahrhundertflut große Teile seines Landes unter Wasser standen und die Öffentlichkeit empört über die mangelnden Hilfsbemühungen der Regierung war.[9]

Als ich mir Navarro Llanos’ Schilderung der bolivianischen Sicht anhörte, begriff ich, dass der Klimawandel – sofern man ihn ähnlich wie die eben erwähnte Flut als weltweiten Notstand behandelt – eine treibende Kraft für die Menschheit werden könnte, um uns nicht nur besser vor Wetterextremen zu schützen, sondern unsere Gesellschaften in vielerlei Hinsicht sicherer und gerechter zu machen. Die für eine rasche Abkehr von fossilen Brennstoffen und die Anpassung an künftige schwierige Wetterbedingungen erforderlichen Ressourcen könnten große Teile der Menschheit aus der Armut führen und ihnen eine öffentliche Infrastruktur bescheren, die schmerzlich fehlt, von sauberem Wasser bis zu Elektrizität. Diese Zukunftsvision geht weit über die Vorstellung hinaus, den Klimawandel bloß zu überleben oder auszuhalten, ihn zu »mildern« oder sich daran »anzupassen«, wie die Vereinten Nationen es so düster formulieren. Es ist eine Vision davon, wie wir die Krise kollektiv dazu nutzen können, den Sprung in eine bessere Welt zu wagen, jedenfalls eine bessere Welt als die jetzige.

Nach dem Gespräch mit Navarro Llanos stellte ich fest, dass ich nicht mehr davor zurückschreckte, mich mit den wissenschaftlichen Fakten der Klimabedrohung zu beschäftigen. Ich hörte auf, einen Bogen um Artikel und wissenschaftliche Studien zu machen, und las alles, was ich finden konnte. Ich hörte auch auf, das Problem den Umweltschützern zu überlassen, hörte auf, mir vorzumachen, dass es nicht mein Problem, nicht mein Job sei. Und durch Gespräche mit anderen Mitgliedern der wachsenden Klimagerechtigkeitsbewegung erkannte ich, dass der Klimawandel auf vielerlei Arten ein Katalysator für positiven Wandel werden könnte – indem er den progressiven Kräften das beste Argument überhaupt dafür liefert, den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der regionalen Wirtschaft zu fordern; unsere Demokratien dem zerstörerischen Einfluss der Konzerne zu entreißen; gefährliche neue Freihandelsabkommen zu blockieren und alte umzuschreiben; in die unterentwickelte öffentliche Infrastruktur wie Massenverkehrsmittel und bezahlbaren Wohnraum zu investieren; die Privatisierung wichtiger Dienstleistungen wie die Energie- und Wasserversorgung rückgängig zu machen; unser krankes Landwirtschaftssystem durch ein gesünderes zu ersetzen; Grenzen für Einwanderer zu öffnen, die wegen der Folgen des Klimawandels ihre Heimat verlassen mussten; endlich die Landrechte der indigenen Völker anzuerkennen – all das würde dazu beitragen, das groteske Maß an Ungleichheit in und zwischen unseren Ländern zu beenden.

Und ich begann, Anzeichen – neue Bündnisse und frische Argumente – dafür zu erkennen, dass die drohende Klimakrise die Grundlage für eine mächtige Massenbewegung bilden könnte, wenn die verschiedenen Zusammenhänge auf breiterer Ebene erkannt würden. Eine Massenbewegung, die all die scheinbar unzusammenhängenden Probleme zu einem kohärenten Bild vereinen würde. Zu einer Vorstellung davon, wie es gelingen kann, die Menschheit sowohl vor den verheerenden Auswirkungen eines zutiefst ungerechten Wirtschaftssystems als auch den Folgen eines destabilisierten Klimasystems zu bewahren. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass der Klimaschutz ein Katalysator für diesen Wandel sein könnte.

Ein Volks-Schock

Aber ich habe es auch geschrieben, weil der Klimawandel Auslöser für eine Vielzahl unterschiedlicher und weit weniger wünschenswerter Formen gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen sein kann.

In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich mich mit Gesellschaften befasst, die extremen Schocks ausgesetzt sind – sei es durch wirtschaftlichen Zusammenbruch, Naturkatastrophen, Terroranschläge oder Kriege. Und ich habe mich eingehend damit beschäftigt, wie diese auf solche extremen Stresssituationen reagieren. Wie diese Ereignisse das kollektive Empfinden dafür verändern, was möglich ist, im positiven oder, weitaus häufiger, im negativen Sinn. In meinem letzten Buch Die Schock-Strategie habe ich dargelegt, dass im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte Konzerninteressen systematisch die unterschiedlichsten Krisen ausgenutzt haben, um eine Politik durchzusetzen, die eine kleine Elite reicher macht – durch Deregulierungen, die Kürzung der Sozialausgaben und mittels großflächiger Privatisierungen im öffentlichen Sektor. Krisen dienten auch als Vorwand für radikale Beschneidungen der Bürgerrechte und alarmierende Menschenrechtsverletzungen.

Vieles deutet darauf hin, dass der Klimawandel in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellen wird, dass auch diese Krise dazu benutzt wird, dem einen Prozent noch mehr Ressourcen zuzuschieben, anstatt Lösungen in Gang zu bringen, die eine echte Chance darauf bieten, eine Erderwärmung von desaströsem Ausmaß zu verhindern und uns vor den unvermeidlichen Katastrophen zu schützen. Die Anfänge dieses Prozesses zeichnen sich bereits ab. Überall auf der Welt werden Staatswälder in privatisierte Nutzholzplantagen und Schutzgebiete umgewandelt, damit ihre Besitzer sogenannte »Emissionszertifikate« sammeln können, ein lukrativer Schwindel, auf den ich später näher eingehen werde. Es gibt einen blühenden Handel mit »Wetterfutures«, die es Unternehmen und Banken erlauben, auf Wetterveränderungen zu setzen, als wären tödliche Katastrophen ein Würfelspiel in Las Vegas (zwischen 2005 und 2006 verfünffachte sich der Markt für Wetterderivate beinahe, von 9,7 Milliarden auf 45,2 Milliarden Dollar). Weltweit operierende Rückversicherer verdienen Milliarden damit, dass sie neue Arten von Schutzkonzepten an Entwicklungsländer verkaufen, die so gut wie nichts zur Klimakrise beigetragen haben, deren Infrastruktur jedoch stark von ihren Auswirkungen betroffen ist.[10]

Und in einem Augenblick der Offenheit erklärte der Rüstungskonzern Raytheon, dass sich »vermutlich wachsende Geschäftsmöglichkeiten ergeben, weil sich als Reaktion auf den Klimawandel das Verhalten und die Bedürfnisse der Konsumenten ändern«. Zu diesen Geschäftsmöglichkeiten gehören nicht nur der erhöhte Bedarf an Katastrophenhilfsleistungen durch das Unternehmen, sondern auch »ein Bedarf an militärischen Produkten und Dienstleistungen, weil aufgrund von Dürren, Überschwemmungen und Stürmen, verursacht durch den Klimawandel, Sicherheitsprobleme entstehen könnten.«[11] Das sollte man im Gedächtnis behalten, wenn sich Zweifel an der Dringlichkeit dieser Krise melden: Die privaten Milizen machen bereits mobil.

Neben dem wachsenden Bedarf an waffentragenden Männern bieten Dürren und Überschwemmungen noch viele andere Geschäftsmöglichkeiten: Zwischen 2008 und 2010 wurden mindestens 261 Patente im Zusammenhang mit dem Anbau von »klimaresistenten« Pflanzen eingereicht – Sorten, die extremen Wetterbedingungen trotzen sollen; fast 80 Prozent dieser Patente standen unter der Kontrolle von sechs großen Agrarkonzernen, darunter Monsanto und Syngenta. Der Supersturm Sandy indes war ein Glücksfall für die Immobilienentwickler in New Jersey, die Millionen für Neubauten in leicht betroffenen Gebieten einstrichen, während die Menschen in schwer beschädigten Sozialwohnungen bis heute unter albtraumhaften Bedingungen leben, so, wie es auch den Bewohnern von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina erging.[12]

All das ist keine Überraschung. Unser derzeitiges System ist so aufgebaut, dass es immer neue Wege sucht, das Gemeingut zu privatisieren und aus Katastrophen Profit zu generieren; wenn man es ungehindert schalten und walten lässt, ist es zu gar nichts anderem in der Lage. Die Schock-Strategie ist jedoch nicht die einzige Art, wie Gesellschaften auf eine Krise reagieren. Das haben wir alle in den vergangenen Jahren erlebt, als sich die Finanzkrise, die 2008 an der Wall Street begann, auf die ganze Welt ausbreitete. Ein plötzlicher Anstieg der Lebensmittelpreise war einer der Auslöser für den Arabischen Frühling. Die Sparpolitik hat zu Massenbewegungen in zahlreichen Ländern geführt, von Griechenland über Spanien, Chile, die Vereinigten Staaten bis hin nach Québec. Viele von uns sind inzwischen geübt in Protesten gegen diejenigen, die Krisen zynisch ausnutzen, um den öffentlichen Sektor auszuplündern. Diese Proteste haben aber auch gezeigt, dass es nicht reicht, einfach nur Nein zu sagen. Damit Oppositionsbewegungen nicht nur ein Strohfeuer bleiben, brauchen sie eine umfassende Vision dessen, was an die Stelle unseres scheiternden Systems treten soll, und tragfähige politische Strategien für die Durchsetzung dieser Ziele.

Früher wussten die progressiven Kräfte, wie man das macht. Es gibt eine Vielzahl historischer Beispiele dafür, wie inmitten großer Krisen Siege für die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit errungen wurden. Dazu zählen insbesondere der New Deal nach dem Börsenkrach von 1929 und die Initiierung zahlreicher Wohlfahrtsprogramme nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik war bei den Wählern so populär, dass zu ihrer gesetzlichen Verankerung keine Manipulationen seitens der Machthaber nötig waren, wie ich sie in Die Schock-Strategie beschrieben habe. Entscheidend war vielmehr die Organisation mächtiger Massenbewegungen gegen all diejenigen, die den desaströsen Status Quo aufrechterhalten wollten, Bewegungen, die einen deutlich größeren Anteil am wirtschaftlichen Kuchen für alle forderten. Zu den dauerhaften (wenn auch umkämpften) Errungenschaften dieser außergewöhnlichen historischen Ereignisse gehören unter anderem die staatliche Krankenversicherung in vielen Ländern, Altersrente, sozialer Wohnungsbau und die staatliche Kunstförderung.

Ich bin überzeugt davon, dass der Klimawandel eine historische Chance in einem noch größeren Maßstab darstellt. Im Zusammenhang mit dem Bemühen, den Ausstoß von Emissionen auf das von vielen Wissenschaftlern empfohlene Maß zu senken, haben wir nun erneut die Gelegenheit, eine Politik voranzubringen, die das Leben der Menschen immens verbessert, die Kluft zwischen Arm und Reich schließt, eine Vielzahl guter Jobs schafft und die Demokratie von Grund auf wiederbelebt. Anders als die Schock-Strategie in ihrer höchsten Ausprägung – Repressionen und erbitterter Wettkampf um Ressourcen – kann der Klimawandel einen Volks-Schock auslösen, einen Schlag von unten. Er kann die Macht in die Hände vieler verteilen, anstatt sie in den Händen weniger zu bündeln, und das Gemeingut massiv ausweiten, anstatt es Stück für Stück zu verhökern. Und während die rechtsgerichteten Schockärzte Notsituationen ausnutzen (natürliche ebenso wie menschengemachte), um eine Politik durchzusetzen, die uns noch krisenanfälliger macht, bewirkt der in diesem Buch aufgezeigte Wandel das genaue Gegenteil: Er würde das Problem, das uns überhaupt erst in die Krise gestürzt hat, an der Wurzel packen und uns nicht nur ein erträglicheres Klima bescheren als das, worauf wir zusteuern, sondern auch ein weitaus gerechteres Wirtschaftssystem als das gegenwärtige.

Aber bevor irgendeine dieser Veränderungen möglich ist – bevor wir daran glauben können, dass der Klimawandel uns verändern kann –, müssen wir erst einmal aufhören wegzuschauen.

* * *

»Ihr verhandelt schon mein ganzes Leben lang.« Diesen Satz sagte die kanadische College-Studentin Anjali Appadurai, als sie auf der UN-Klimakonferenz von 2011 in Durban auf die versammelten staatlichen Unterhändler blickte. Sie übertrieb nicht. Die Regierungen der Welt beratschlagen bereits seit über zwei Jahrzehnten darüber, wie man den Klimawandel aufhalten kann – beginnend im selben Jahr, als die damals einundzwanzigjährige Anjali geboren wurde. Und dennoch, machte sie in ihrer denkwürdigen Rede klar, die sie im Namen der Jugenddelegierten hielt: »In dieser Zeit habt ihr es versäumt, Zusagen einzuhalten, habt ihr Ziele verfehlt und Versprechen gebrochen.«[13]

Tatsächlich hat die internationale Organisation, die mit der Aufgabe betraut wurde, ein »gefährliches« Ausmaß des Klimawandels zu verhindern, in ihrem über zwanzigjährigen Bestehen (und in über neunzig offiziellen Verhandlungssitzungen seit Verabschiedung der Klimakonvention von 1992) nicht nur keine Fortschritte erzielt, sondern einen quasi ununterbrochenen Prozess von Rückschritten zu verzeichnen. Unsere Regierungen haben Jahre damit verschwendet, Zahlen zu frisieren und über Starttermine zu zanken, und ständig versucht, sie hinauszuzögern wie Studenten ihre Studienarbeiten.

Das katastrophale Ergebnis all dieser Verschleierung und Verschleppung ist jetzt unbestreitbar. Nach vorläufigen Daten war der weltweite CO2-Ausstoß 2013 um 61 Prozent höher als 1990, in jenem Jahr, in dem erstmals ernsthafte Verhandlungen über ein Klimaabkommen geführt wurden. »Je mehr wir über die Notwendigkeit reden, die Emissionen zu senken, desto mehr nehmen sie zu«, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler John Reilly vom MIT. Das Einzige, was wirklich schneller zunimmt als unsere Emissionen, sind die wortreichen Zusagen, diese zu senken. Der alljährliche UN-Klimagipfel, nach wie vor die große Hoffnung auf einen politischen Durchbruch für den Klimaschutz, erweckt inzwischen gar nicht mehr den Eindruck eines Forums für ernsthafte Verhandlungen und wirkt fast wie eine ziemlich kostspielige und CO2-lastige Gruppentherapiesitzung, wo die Vertreter der am meisten gefährdeten Länder der Welt ihren Kummer und ihren Zorn herauslassen, während niederrangige Vertreter der Länder, die an ihrer Tragödie größtenteils schuld sind, auf ihre Schuhspitzen starren.[14]

Das ist die Stimmungslage seit dem Scheitern des im Vorfeld hochgelobten UN-Klimagipfels 2009 in Kopenhagen. Am letzten Abend dieser riesigen Veranstaltung befand ich mich bei einer Gruppe von Klimagerechtigkeitsaktivisten, darunter einer der prominentesten Campaigner in Großbritannien. Während des gesamten Gipfels strotzte der junge Mann vor Zuversicht und Gelassenheit, informierte jeden Tag Dutzende Journalisten darüber, was in den jeweiligen Verhandlungsrunden herausgekommen war und was die verschiedenen Emissionsziele in der Realität bedeuteten. Trotz der Herausforderungen war sein Optimismus über die Aussichten des Gipfels ungebrochen. Als dann alles vorbei war und das jämmerliche Ergebnis feststand, fiel er vor unseren Augen in sich zusammen. In einem grell beleuchteten italienischen Lokal brach er in hemmungsloses Schluchzen aus. »Ich hatte wirklich gedacht, Obama hat es kapiert«, sagte er wieder und wieder.

Diesen Abend habe ich als den Moment in Erinnerung, als die Klimabewegung erwachsen wurde: Es war der Moment, als uns allen wirklich bewusst wurde, dass niemand zu unserer Rettung kommen würde. Die britische Psychoanalytikerin und Klimaexpertin Sally Weintrobe beschreibt das als das »fundamentale Vermächtnis« des Gipfels – die brennende und schmerzhafte Erkenntnis, dass »sich unsere Politiker nicht um uns kümmern … Wir kämpfen ums Überleben, und niemand steht uns bei«.[15] Auch wenn wir schon so oft durch das Versagen unserer Politiker enttäuscht wurden, trifft uns diese Gewissheit doch wie ein Schlag. Es ist tatsächlich so, dass wir ganz auf uns allein gestellt sind, und jede echte Hoffnung in dieser Krise wird von unten kommen müssen.

In Kopenhagen unterzeichneten die Regierungen der großen Verschmutzerländer – darunter die USA und China – eine nicht bindende Übereinkunft mit der Zusage, die Erderwärmung unter 2 Grad Celsius zu halten, ausgehend von dem Wert, bevor wir anfingen, unsere Wirtschaft mit Energie aus Kohle zu betreiben. Dieses allseits bekannte Ziel, angeblich die »sichere« Grenze der Klimaveränderung, war immer ein politisch festgesetzter Wert, der mehr damit zu tun hat, wirtschaftliche Zusammenbrüche zu vermeiden, als eine möglichst große Anzahl von Menschen zu schützen. Als das 2-Grad-Ziel in Kopenhagen offiziell verkündet wurde, gab es leidenschaftliche Einwände von vielen Delegierten, die sagten, dieses Ziel komme der »Todesstrafe« für einige tiefliegende Inselstaaten sowie für große Teile Afrikas südlich der Sahara gleich. Tatsächlich ist es für uns alle ein äußerst riskantes Ziel: Bisher ist die Durchschnittstemperatur nur um 0,8 Grad gestiegen, und wir erleben bereits viele alarmierende Auswirkungen, darunter ein noch nie dagewesenes Abschmelzen des grönländischen Eisschilds im Sommer 2012 und die sehr viel rascher als erwartet stattfindende Versauerung der Meere. Wenn wir zulassen, dass die Temperaturen um mehr als das Doppelte steigen, wird das zweifellos gefährliche Konsequenzen haben.[16]

In ihrem Bericht von 2012 umriss die Weltbank, welches Wagnis das anvisierte Ziel darstellt. »Während sich die globale Erwärmung der 2-Grad-Marke nähert und diese überschreitet, besteht das Risiko, dass nichtlineare Kippelemente ausgelöst werden. Ein Beispiel dafür ist der Zerfall des westantarktischen Eisschilds, der zu einem schnelleren Anstieg des Meeresspiegels führt, oder ein großflächiges Baumsterben im Amazonas-Regenwaldgebiet, das eine einschneidende Beeinträchtigung von Ökosystemen, Flüssen, Landwirtschaft, Energiegewinnung und unserer Lebensgrundlagen hat. Das würde zusätzlich zur Erderwärmung im 21. Jahrhundert beitragen und ganze Kontinente betreffen.«[17] Mit anderen Worten, wenn wir zulassen, dass die Temperaturen über einen bestimmten Punkt hinweg ansteigen, liegt es nicht mehr in unserer Kontrolle, wo die Quecksilbersäule stehenbleibt.

Das größere Problem – und der Grund, weshalb der Gipfel von Kopenhagen solche Verzweiflung hervorrief – ist jedoch ein anderes: Weil sich die Regierungen nicht auf verbindliche Ziele geeinigt haben, können sie ihre Zusagen nach Belieben ignorieren. Und genau das passiert im Augenblick. Die Emissionen steigen so rasch an, dass 2 Grad aus heutiger Sicht wie ein utopischer Traum erscheinen, wenn wir unser Wirtschaftssystem nicht von Grund auf ändern. Und nicht nur Umweltschützer schlagen Alarm. Im selben Bericht von 2012 warnte die Weltbank, dass »wir uns [bis zur Jahrhundertwende] auf eine 4-Grad-Erwärmung zubewegen, die durch extreme Hitzewellen, eine Verknappung der weltweiten Nahrungsvorräte, den Verlust von Ökosystemen und Artenvielfalt und durch lebensbedrohlich hohe Meeresspiegel gekennzeichnet ist«. Ferner hieß es, dass »außerdem nicht sicher ist, ob eine Anpassung an die 4-Grad-Welt möglich ist«. Kevin Anderson, ehemaliger Direktor (und jetziger Vizedirektor) des Tyndall Centre for Climate Change Research, das sich als eines der führenden Klimaforschungsinstitute Großbritanniens etabliert hat, sagt es noch schonungsloser. Für ihn ist eine Erwärmung um 4 Grad »unvereinbar mit jeder akzeptablen Vorstellung von einer organisierten, gerechten und zivilisierten globalen Gemeinschaft«.[18]

Wir wissen nicht genau, wie eine 4-Grad-Welt aussehen würde, aber sogar im günstigsten Fall wäre es wahrscheinlich ein Katastrophenszenario. Bei 4 Grad Erwärmung würden die Meeresspiegel bis 2100 weltweit um 1 oder vielleicht auch 2 Meter steigen (und in künftigen Jahrhunderten um mindestens noch ein paar zusätzliche Meter). Inselstaaten wie die Malediven und Tuvalu würden im Meer versinken, und viele Küstenregionen in Ecuador, Brasilien und den Niederlanden bis hin zu einem Großteil von Kalifornien und dem Nordosten der Vereinigten Staaten sowie riesige Gebiete von Süd- und Südostasien würden überschwemmt werden. Zu den wahrscheinlich gefährdeten Großstädten zählen Boston, New York, der Großraum von Los Angeles, Vancouver, London, Mumbai, Hongkong und Shanghai.[19]

Brutale Hitzewellen mit Zehntausenden Todesopfern sogar in reichen Ländern würden auf allen Kontinenten außer der Antarktis zu einem normalen Sommerphänomen werden. Durch die Hitze würde es bei wichtigen Getreidesorten auf der ganzen Welt zu dramatischen Ernteeinbußen kommen (bei indischem Weizen und amerikanischem Mais könnte der Ertrag um 60 Prozent sinken), und das zu einer Zeit, da die Nachfrage aufgrund des Bevölkerungswachstums und eines steigenden Fleischbedarfs nach oben schnellen wird. Und da das Getreide nicht nur dem Hitzestress ausgesetzt sein wird, sondern auch Extremereignissen wie großflächigen Dürren, Überschwemmungen oder Schädlingsplagen, könnten die Verluste noch gravierender sein als in den Modellen prognostiziert. Fügt man dann noch zerstörerische Hurrikane, rasende Wildfeuer, zerstörte Fischgründe, weiträumige Zusammenbrüche der Wasserversorgung, Artensterben und sich weltweit ausbreitende Krankheiten hinzu, scheint es schwer vorstellbar, dass eine friedliche, geordnete Gesellschaft aufrechterhalten werden kann (sofern eine solche gegenwärtig vorhanden ist).[20]

Und bei alledem darf man eins nicht vergessen: Nur optimistische Szenarien gehen davon aus, dass sich die Erwärmung bei etwa 4 Grad einpendelt und keine Kipppunkte mit einer unkontrollierbaren Erwärmung erreicht werden. Nach jüngsten Modellen sollte man sich eher darauf einstellen, dass 4 Grad Erwärmung eine Vielzahl extrem gefährlicher Rückkoppelungseffekte nach sich ziehen können – beispielsweise eine Arktis, die im September regelmäßig eisfrei ist, oder einer neuen Studie zufolge eine globale Vegetation, die zu gesättigt ist, um als verlässliche »Kohlenstoffsenke« zu wirken, so dass mehr CO2 abgegeben als gespeichert wird. Wenn das passiert, besteht so gut wie keine Hoffnung mehr darauf, die Auswirkungen vorauszusagen. Und dieser Prozess könnte schon früher als prognostiziert einsetzen. Im Mai 2014 haben Forscher der NASA und der Universität von Kalifornien in Irvine entdeckt, dass die Gletscherschmelze in einem Bereich der westlichen Antarktis, der ungefähr so groß wie Frankreich ist, mittlerweile »unaufhaltsam scheint«. Das bedeutet wahrscheinlich den Zerfall des gesamten westantarktischen Eisschilds, was laut Eric Rignot, dem führenden Autor der Studie, »mit einem Anstieg des Meeresspiegels zwischen drei und fünf Metern einhergeht. Damit werden Millionen Menschen weltweit ihre Heimat verlieren.« Der Zerfall könnte sich jedoch über eine Spanne von mehreren Jahrhunderten vollziehen, so dass immer noch Zeit bleibt, um den Vorgang durch Emissionsreduzierungen zu verlangsamen und das Schlimmste zu verhindern.[21]

Weitaus erschreckender jedoch als irgendeine dieser Tatsachen ist, dass viele etablierte Klimaanalytiker davon ausgehen, dass wir, wenn wir so weitermachen wie bisher, auf eine Marke von über 4 Grad Erwärmung zusteuern. 2011 veröffentlichte die als besonnen geltende Internationale Energieagentur (IEA) einen Bericht, der sogar 6 Grad Erwärmung prognostizierte. »Jedes Schulkind weiß«, sagte der Chefökonom der IEA, »dass das katastrophale Auswirkungen für uns alle haben wird.« (Es gibt Belege dafür, dass bei 6 Grad Erwärmung vermutlich mehrere entscheidende Kipppunkte überschritten werden, mit nicht nur langsam eintretenden Folgen wie dem eben beschriebenen Zerfall des westantarktischen Eisschilds, sondern wahrscheinlich abrupten Veränderungen wie der massiven Freisetzung von Methan aus dem arktischen Permafrostboden.) Der Wirtschaftsprüfungskonzern PricewaterhouseCoopers veröffentlichte ebenfalls einen Bericht, der Unternehmen davor warnt, dass wir uns auf »4 oder sogar 6 Grad Erwärmung« zubewegen.[22]

All diese Prognosen zusammengenommen muss man sich in etwa so vorstellen, als würden im eigenen Haus sämtliche Alarmanlagen gleichzeitig losgehen. Und dann die Alarmanlagen in allen Häusern der Straße, eine nach der anderen. Die Voraussagen zeigen schlicht und ergreifend, dass der Klimawandel zur Existenzkrise für die menschliche Spezies geworden ist. Eine Krise dieser Größenordnung gab es bisher nur einmal in der Geschichte, nämlich als die Menschen im Kalten Krieg befürchteten, die Welt würde auf einen nuklearen Holocaust zusteuern, der den Großteil der Erde unbewohnbar gemacht hätte. Doch das war (und bleibt) eine Drohkulisse, eine winzige Möglichkeit, sollte die geopolitische Spirale außer Kontrolle geraten. Damals hat uns die überwiegende Mehrheit der Atomwissenschaftler nicht davor gewarnt, dass wir unsere Zivilisation ziemlich sicher in Gefahr bringen, wenn wir einfach unseren ganz normalen Alltag weiterleben und das tun, was wir immer getan haben – aber die Klimaforscher von heute tun das schon, und zwar seit Jahren.

Der Klimatologe Lonnie G. Thompson von der Ohio State Universität, ein weltberühmter Spezialist für Gletscherschmelze, erklärte 2010: »Klimaforscher sind wie die meisten Wissenschaftler ein phlegmatisches Völkchen. Theatralische Drohungen, uns könnte der Himmel auf den Kopf fallen, liegen uns nicht. Viele von uns fühlen sich in ihren Laboratorien oder bei Feldversuchen wohler als bei Interviews mit Journalisten oder Vorträgen vor Kongressausschüssen. Und warum erheben die Klimaforscher dann jetzt ihre Stimme und warnen vor den Gefahren des Klimawandels? Weil so gut wie alle von uns inzwischen davon überzeugt sind, dass die globale Erwärmung eine deutliche, akute Gefahr für die Zivilisation darstellt.«[23]

Klarer kann man es nicht formulieren. Doch anstatt besorgt zu reagieren und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihren Kurs zu ändern, machen große Teile der Menschheit mit vollem Bewusstsein so weiter wie bisher. Nur dass sie sich dabei, wie die Passagiere des Fluges 3935, von einem leistungsstärkeren und schmutzigeren Motor unterstützen lassen.

Was ist eigentlich los mit uns?

Ziemlich schlechtes Timing

Auf diese Frage hat es schon viele Antworten gegeben – dass es extrem schwierig ist, alle Regierungen der Welt zu einer Übereinkunft zu bewegen, dass es keine wirklichen technischen Lösungen gibt, dass es nicht dem menschlichen Wesen entspricht, aktiv zu werden, wenn die Bedrohung scheinbar noch sehr weit weg ist, und – neuerdings – dass wir es sowieso vermasselt haben und nicht mehr tun können, als die Aussicht zu genießen, während wir auf den Abgrund zusteuern.

Manche dieser Erklärungen sind berechtigt, letztendlich jedoch sind alle unzureichend. Zum Beispiel die Behauptung, es sei einfach zu schwierig, so viele Länder auf eine gemeinsame Strategie einzuschwören. Ja, es ist schwierig. Aber es gibt zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit dafür, dass Regierungen mit Unterstützung der Vereinten Nationen zusammengearbeitet haben, um schwere grenzübergreifende Probleme in den Griff zu bekommen, vom Ozonabbau bis zur Ausbreitung von Atomwaffen. Die erzielten Abmachungen waren nicht perfekt, aber immerhin ein echter Fortschritt. Und während die Regierungen daran scheiterten, eine starke und verpflichtende Rechtsarchitektur zur Reduktion von Emissionen aufzubauen, weil die Zusammenarbeit angeblich zu schwierig sei, gelang es ihnen gleichzeitig, die Welthandelsorganisation zu gründen – einen hochkomplexen Apparat, der den weltweiten Fluss von Waren und Dienstleistungen regelt, mit klaren Vorschriften und schweren Sanktionen für Verstöße.

Die Behauptung, es fehle an technischen Möglichkeiten, ist ebenso wenig nachvollziehbar. Energie aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Wasser ist älter als der Gebrauch fossiler Energien, wird immer billiger und effizienter und lässt sich zunehmend besser speichern. In den vergangenen zwanzig Jahren gab es eine wahre Explosion von nachhaltigen Produkten sowie grüner Stadtplanung. Wir haben nicht nur die technischen Hilfsmittel für eine Abkehr von fossilen Brennstoffen, sondern auch unzählige Nischen, in denen ein klimafreundlicher Lebensstil bereits enorm erfolgreich erprobt wurde. Und trotzdem gelingt uns kein großflächiger Wandel, der uns die Chance bieten würde, gemeinsam die Katastrophe zu verhindern.

Liegt es also nur an der menschlichen Natur? Wir Menschen haben schon viele Male unsere Bereitschaft gezeigt, im Fall von Bedrohungen ein kollektives Opfer zu bringen, beispielsweise als wir im Ersten und Zweiten Weltkrieg Lebensmittelrationierungen auf uns nahmen, Privat- und Gemeinschaftsgärten, sogenannte Victory Gardens, anlegten und Kriegsanleihen kauften. Um Benzin zu sparen, gab es im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien kaum noch private Autofahrten, in den Vereinigten Staaten nahm die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zwischen 1938 und 1944 um 87 Prozent und in Kanada um 95 Prozent zu. 1943 unterhielten 20 Millionen amerikanische Haushalte – drei Fünftel der Bevölkerung – Victory Gardens, deren Erträge sich auf 42 Prozent des gesamten in diesem Jahr verzehrten Frischgemüses beliefen. Interessanterweise reduzieren all diese Aktivitäten zusammengenommen den Kohlendioxidausstoß beträchtlich.[24]

Gewiss, der Krieg stellte eine unmittelbare und konkrete Bedrohung dar, aber das gilt auch für die Klimakrise, die wahrscheinlich viele große Katastrophen in einigen der größten Städte der Welt mit verursacht hat. Trotzdem, die Zeit der Kriegsentbehrungen ist vorbei, und wir sind verweichlicht geworden, oder etwa nicht? Die Menschen von heute sind zu ichbezogen, zu belohnungssüchtig, um auf die Freiheit zu verzichten, jederzeit jeder Laune nachgeben zu können – so redet uns das unsere Kultur zumindest tagtäglich ein. Tatsächlich jedoch bringen wir ständig kollektive Opfer für ein abstraktes höheres Gut. Wir opfern unsere Renten, unsere hart erkämpften Arbeitsrechte, unsere Kunstförderungen und die Nachmittagsbetreuung an Schulen. Unsere Kinder müssen in immer größeren Klassen lernen und werden von zunehmend gestressten Lehrern unterrichtet. Wir nehmen die drastischen Preiserhöhungen für die zerstörerischen Energiequellen hin, die unsere Mobilität sichern und der Treibstoff unseres Lebens sind. Wir nehmen hin, dass die Bus- und U-Bahn-Preise steigen, während der Service gleich bleibt oder schlechter wird. Wir nehmen hin, dass das Studium an einer öffentlichen Universität uns einen Schuldenberg aufbürdet, den wir unser halbes Leben lang abbezahlen werden – ein Gedanke, der noch vor einer Generation unvorstellbar war. In Kanada, wo ich lebe, müssen wir uns gerade damit abfinden, dass uns die Post nicht mehr nach Hause zugestellt wird.

Seit dreißig Jahren wird immer weniger und weniger in den öffentlichen Sektor investiert. Das alles wird verteidigt im Namen der Austerität, die derzeit als Rechtfertigung für die unaufhörlichen kollektiven Opfer herhalten muss. Früher dienten andere Wörter und Ausdrücke, die ebenso abgehoben vom Alltagsleben waren, einem ähnlichen Zweck: ausgeglichener Haushalt, Effizienzsteigerung, Förderung des Wirtschaftswachstums.

Mir scheint, wenn wir so viele kollektive Errungenschaften für die Stabilisierung eines Systems opfern können, das das Alltagsleben teurer und gefährlicher macht, sollten wir auch zu einigen wichtigen Änderungen unseres Lebensstils in der Lage sein, um die physikalischen Systeme zu stabilisieren, von denen das gesamte Leben auf der Erde abhängt. Zumal viele der erforderlichen Veränderungen für eine radikale Senkung des Kohlendioxidausstoßes auch die Lebensqualität der meisten Menschen auf der Erde deutlich verbessern würden – die Kinder in Peking könnten ohne Atemmaske draußen spielen, und es würden Millionen guter Jobs im Bereich sauberer Energie geschaffen. Es scheint kein Mangel an kurz- und mittelfristigen Anreizen zu bestehen, um das Richtige für unser Klima zu tun.

Die Zeit ist knapp, keine Frage. Aber wir könnten uns schon morgen verpflichten, den CO2-Ausstoß rigoros zu senken und mit Hilfe der entsprechenden Technologie zu CO2-freien Energiequellen zu wechseln. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts könnte ein vollständiger Umbau bereits eingeleitet sein. Das Instrumentarium dafür ist schon jetzt vorhanden. Zwar würden die Meeresspiegel trotzdem steigen und schwere Stürme kommen, aber wir hätten eine weitaus größere Chance, eine wirklich katastrophale Erwärmung zu verhindern. Ganze Länder könnten vor den Fluten gerettet werden. »Wenn ich Ihr Haus abgebrannt habe«, sagte Pablo Solón, Boliviens ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen einmal, »ist das Mindeste, was ich tun kann, Sie in mein Haus aufzunehmen. Und wenn ich es gerade in diesem Augenblick abbrenne, sollte ich sofort zu löschen anfangen.«[25]

Aber wir machen uns nicht ans Löschen. Wir fachen das Feuer sogar noch weiter mit Benzin an. Nach einem Rückgang im Jahr 2009 – ein Ausreißer aufgrund der globalen Finanzkrise – stiegen die weltweiten Emissionen 2010 um sage und schreibe 5,9 Prozent an. Das ist die größte absolute Zunahme seit der Industriellen Revolution.[26]

Also komme ich noch einmal auf die Frage zurück: Was ist los mit uns? Was hält uns wirklich davon ab, das Feuer zu löschen, das unser gemeinsames Haus zu verbrennen droht?

Ich glaube, die Antwort ist weitaus simpler, als viele uns vormachen wollen: Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschheit zugutekommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hat. Zu einem anderen Zeitpunkt der Geschichte wäre das Problem vielleicht nicht unüberwindbar gewesen. Wir haben jedoch als Gemeinschaft das große Pech, dass die Wissenschaft ihre eindeutige Diagnose einer Klimabedrohung ausgerechnet in dem Augenblick stellte, als diese Eliten eine uneingeschränkte politische, kulturelle und intellektuelle Macht genossen wie seit den 1920er Jahren nicht mehr. Tatsächlich fingen Regierungen und Wissenschaftler schon 1988 an, ernsthaft über die radikale Senkung der Treibhausgasemissionen nachzudenken – genau in dem Jahr, das mit der Unterzeichnung des amerikanisch-kanadischen Freihandelsabkommens, der weltweit größten bilateralen Handelsbeziehung, den Beginn der sogenannten »Globalisierung« markierte. Das Abkommen wurde später um Mexiko zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) erweitert.[27]

Wenn Historiker auf die letzten fünfundzwanzig Jahre internationaler Verhandlungen zurückblicken, stechen zwei große Gestaltungsprozesse hervor. Zum einen der Klimaprozess, stolpernd und holpernd und letztlich seine Ziele verfehlend. Zum anderen der konzerngesteuerte rasante Globalisierungsprozess, der einen Sieg nach dem anderen erringt: von dem genannten ersten Freihandelsabkommen über die Gründung der Welthandelsorganisation, die zahllosen Privatisierungen in den Ökonomien der ehemaligen Sowjetstaaten, die Umwandlung großer Teile Asiens in riesige Freihandelszonen bis hin den »Strukturanpassungsprogrammen« in Afrika. Natürlich gab es auch Rückschläge im Globalisierungsprozess – zum Beispiel die Verzögerung von Handelsrunden und Freihandelsabkommen durch öffentliche Proteste. Aber die ideologischen Fundamente dieses Projekts wurden erfolgreich verankert, in dem es im Grunde nie darum ging, grenzüberschreitenden Handel zu betreiben – etwa französischen Wein in Brasilien oder amerikanische Software in China zu verkaufen. Es ging immer darum, diese umfassenden Vereinbarungen und eine Reihe anderer Instrumente zur Schaffung eines globalen politischen Rahmens zu nutzen, der den multinationalen Konzernen die maximale Freiheit bot, ihre Waren so billig wie möglich zu produzieren und so regulierungsfrei wie möglich zu verkaufen – und dabei so wenig Steuern wie möglich zu zahlen. Die Erfüllung dieser Wunschliste der Konzerne, so sagte man uns, würde das Wirtschaftswachstum ankurbeln, von dem wir letztlich alle profitierten. Die Handelsabkommen waren aber nur insofern wichtig, als sie für diese breitere Agenda standen und diese offen zum Ausdruck brachten.

Die drei politischen Säulen dieser neuen Ära kennen wir nur allzu gut: Privatisierung im öffentlichen Sektor, Deregulierung des Unternehmenssektors und Senkung der Unternehmenssteuern, finanziert durch Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben. Über die realen Kosten dieser Politik wurde schon viel geschrieben – die Instabilität der Finanzmärkte, die Exzesse der Superreichen und die Verzweiflung der zunehmend entbehrlichen Armen sowie der marode Zustand der öffentlichen Infrastruktur und öffentlicher Dienstleistungen. Sehr wenig hingegen wurde darüber veröffentlicht, wie der Marktfundamentalismus von Anfang an unsere kollektive Antwort auf den Klimawandel systematisch sabotiert hat, auf eine Bedrohung, die just zu einem Zeitpunkt vor der Tür stand, als diese Ideologie ihre größte Blüte erlebte.

Das Kernproblem lag darin, dass das öffentliche Leben in dieser Zeit derart unter der Knute der Marktideologie stand, dass die unmittelbarsten und auf der Hand liegenden Antworten auf den Klimawandel als politisch geradezu ketzerisch erschienen. Wie konnte eine Gesellschaft zum Beispiel massiv in emissionsfreie öffentliche Verkehrsmittel und Infrastruktur investieren, wenn der öffentliche Sektor systematisch demontiert und verhökert wurde? Wie konnte der Staat die Fossilindustrie stärker regulieren, besteuern und mit Strafen belegen, wenn all diese Maßnahmen als Relikt der kommunistischen Planwirtschaft verunglimpft wurden? Und wie konnte der Sektor der erneuerbaren Energien, die die fossilen Brennstoffe ersetzen sollten, die dafür notwendigen Stütz- und Schutzmaßnahmen erhalten, als »Protektionismus« ein Schimpfwort war?

Die Klimabewegung hätte versuchen können, gegen die überspannte, so viele vernünftige Maßnahmen blockierende Ideologie anzukämpfen und sich mit anderen Sektoren zusammenzutun, um aufzuzeigen, wie die ungezügelte Konzernmacht die Bewohnbarkeit der Erde aufs Spiel setzt. Stattdessen haben große Teile der Klimabewegung wertvolle Jahrzehnte mit dem Versuch einer Quadratur des Kreises vergeudet, indem sie darauf bauten, dass der deregulierte Kapitalismus, der freie Markt, selbst Lösungen für das Problem finden werde. (Obwohl ich erst nach Jahren gemerkt habe, wie tief die Verstrickungen zwischen den großen Verschmutzern und den großen Umweltorganisationen sind.)

Doch der Siegeszug des Marktfundamentalismus verschärfte die Klimakrise in dieser Zeit nicht nur durch die Blockierung wirkungsvoller Klimaschutzmaßnahmen. Die politischen Entscheidungen, die multinationale Konzerne praktisch von allen Einschränkungen befreiten, trugen noch direkter zur grundlegenden Ursache der Erderwärmung bei – dem Anstieg der Treibhausgase. Die Zahlen sind frappierend: In den 1990er Jahren, als das Projekt der Marktintegration gerade anlief, stiegen die globalen Emissionen jährlich um 1 Prozent. In den 2000er Jahren, als »Schwellenländer« wie China komplett in die Weltwirtschaft integriert waren, schossen die Emissionen katastrophal nach oben – fast das ganze erste Jahrzehnt hindurch betrug die jährliche Zuwachsrate 3,4 Prozent. Die rapide Zunahme setzt sich bis zum heutigen Tag fort, unterbrochen nur im Jahr 2009 durch die weltweite Finanzkrise.[28]

Im Nachhinein lässt sich kaum sagen, wie es anders hätte kommen können. Diese Ära war von zwei Faktoren geprägt, dem Massenexport von Produkten über große Distanzen hinweg (bei permanenter Verbrennung fossiler Energieträger) und dem Export eines einzigartig verschwenderischen Konsum-, Produktions- und Agrarmodells (das ebenfalls auf dem übermäßigen Verbrauch fossiler Energieträger basiert) noch in die entferntesten Winkel der Welt. Anders formuliert, die Befreiung der Weltmärkte, befeuert durch die Förderung nie dagewesener Mengen fossiler Brennstoffe, hat genau jenen Prozess dramatisch beschleunigt, der das Eis der Arktis schwinden lässt.

Und deshalb befinden wir uns nun in einer äußerst schwierigen und ein wenig paradoxen Lage. Weil wir jahrzehntelang CO2 in den Himmel geschleudert haben, als wir den Ausstoß eigentlich hätten zurückfahren sollen, stehen die Maßnahmen zur Verhinderung einer katastrophalen Erwärmung jetzt nicht nur im Widerspruch zum dereguliertem Kapitalismus, der in den 1980er Jahren seinen Siegeszug antrat, sondern zum Kernsatz unseres Wirtschaftsmodells schlechthin: Wachsen oder weichen.

Sobald Kohlendioxid in die Atmosphäre freigesetzt wird, bleibt es dort Hunderte von Jahren, zum Teil auch länger, und hält die Wärme fest. Die Auswirkungen sind kumulativ und werden mit der Zeit immer schwerwiegender. Laut dem Emissionsspezialisten Kevin Anderson vom Tyndall Centre (und anderen) hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren so viel Kohlendioxid in der Atmosphäre angereichert, dass unsere einzige Hoffnung, die Erwärmung unter dem international vereinbarten Wert von 2 Grad Celsius zu halten, darin besteht, dass die reichen Länder ihre Emissionen um etwa 8 bis 10 Prozent jährlich zurückfahren.[29] Der »freie« Markt kann diese Aufgabe einfach nicht erfüllen. Eine so gleichbleibende Reduzierung der Emissionen hat es bisher nur bei wirtschaftlichen Zusammenbrüchen oder schweren Konjunkturrückgängen gegeben.

In Kapitel zwei werde ich näher auf die Zahlen eingehen, aber im Endeffekt ist eins wichtig: Unser Wirtschaftssystem und unser Planetensystem befinden sich miteinander im Krieg. Oder genauer gesagt, unsere Wirtschaft steht mit vielen Lebensformen auf der Erde im Krieg, darunter auch dem Menschen. Was unser Klima braucht, um nicht zu kollabieren, ist ein Rückgang des Ressourcenverbrauchs durch den Menschen; was unser Wirtschaftsmodell fordert, um nicht zu kollabieren, ist ungehinderte Expansion. Nur eines dieser Regelsysteme lässt sich verändern, und das sind nicht die Naturgesetze.

Zum Glück ist es absolut machbar, unsere Wirtschaft zu verändern und ressourcenschonend zu gestalten, und zwar auf gerechte Art und Weise, so dass die Schwachen geschützt werden und die Verantwortlichen den Großteil der Last tragen. Man kann CO2-arme Wirtschaftsbereiche durch Anreize dazu anregen, zu expandieren und Jobs zu schaffen, und gleichzeitig eine Schrumpfung in Bereichen mit hohem Kohlendioxidausstoß fördern. Das Problem liegt allerdings darin, dass ein solches Ausmaß wirtschaftlicher Planung und Kontrolle die Grenzen der herrschenden Ideologie sprengt. Unser derzeitiges System kann sich nur auf eine Art zurückschrauben, nämlich durch einen brutalen Crash, und in diesem Fall leiden die Schwächsten am meisten.

Also bleibt uns nur die Wahl zwischen zwei Extremen: Zuzulassen, dass der Klimawandel unsere Welt von Grund auf ändert, oder unsere Wirtschaft mehr oder weniger von Grund auf zu ändern, um diesem Schicksal zu entgehen. Eins muss uns jedoch klar sein: Unser jahrzehntelanges kollektives Leugnen hat alle graduellen, schrittweisen Lösungen unmöglich gemacht. Behutsame Korrekturen des Status quo sind keine Option mehr, seit wir in den 1990er Jahren angefangen haben, den amerikanischen Traum auf Übergröße aufzublasen, und dieses Konzept dann auf der ganzen Welt verbreitet haben. Und es sind nicht mehr nur Radikale, die einen radikalen Wandel für notwendig halten. 2012 verfassten einundzwanzig Gewinner des Blue Planet Prize – darunter James Hansen, der ehemalige Direktor des NASA Goddard Institute for Space Studies, und die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland – einen wegweisenden Bericht. Darin hieß es: »Angesichts einer beispiellosen Krise hat die Gesellschaft keine anderen Wahl, als drastische Maßnahmen zu ergreifen, um einen Untergang der Zivilisation zu verhindern. Entweder ändern wir unsere Lebensweise und schaffen eine vollkommen neue Weltgesellschaft, oder unsere Lebensweise wird für uns geändert.«[30]

Das können viele Menschen in wichtigen Positionen nur schwer akzeptieren, weil es etwas in Frage stellt, was unter Umständen noch mächtiger ist als der Kapitalismus, nämlich der Fetisch der Konsenspolitik – vernünftig und nüchtern zu sein, sich in der Mitte zu treffen und sich über nichts übermäßig aufzuregen. Das ist das beherrschende Denken unserer Zeit, und es ist viel verbreiteter unter Linken, die sich mit Klimapolitik beschäftigen, als unter Konservativen, von denen viele die Existenz einer Krise schlichtweg leugnen. Der Klimawandel stellt eine schwere Bedrohung für diesen moderaten Kurs dar, weil halbherzige Maßnahmen nichts bewirken werden: Präsident Obamas Programme unter dem Motto »Alle Antworten sind richtig«, wie er selbst seinen Handlungsansatz beschreibt, haben ungefähr so große Erfolgsaussichten wie »All you can eat«-Diäten, und die klaren Fristen, die die Wissenschaft vorgibt, erfordern es, dass wir endlich unsere Wut zum Ausdruck bringen.

Wenn ich den Klimawandel als Kampf zwischen dem Kapitalismus und der Erde darstelle, verkünde ich damit keine neuen Weisheiten. Der Kampf ist bereits im Gange, aber im Augenblick gewinnt der Kapitalismus, ohne dass er etwas dafür tun muss. Er gewinnt jedes Mal, wenn Wirtschaftswachstum als Vorwand dafür genommen wird, den Klimaschutz wieder auf die lange Bank zu schieben, oder dafür, zugesicherte Emissionsziele nicht einzuhalten. Der Kapitalismus siegt, wenn man den Griechen erklärt, ihr einziger Ausweg aus der Wirtschaftskrise bestehe darin, dass sie in ihrem wundervollen Meer hochriskante Öl- und Gasbohrungen zulassen. Er erringt einen Sieg, wenn man den Kanadiern vormacht, ihre einzige Hoffnung, nicht wie die Griechen zu enden, bestünde darin, ihre borealen Nadelwälder abzuholzen, damit man an das zähflüssige Bitumen im Teersand von Alberta herankommt. Er gewinnt, wenn ein Park in Istanbul weichen muss, um Platz für eine weitere Shoppingmall zu schaffen. Er gewinnt, wenn man Eltern in Peking erklärt, es sei ein akzeptabler Preis für den wirtschaftlichen Fortschritt, wenn sie ihre hustenden Kinder in Atemschutzmasken mit lustigen Cartoon-Gesichtern zur Schule schicken müssen. Er gewinnt jedes Mal, wenn wir uns damit abfinden, dass wir nur noch die Wahl zwischen zwei Übeln haben: Austerität oder Rohstoffförderung, Vergiftung oder Armut.

Die Herausforderung besteht also nicht nur darin, eine Menge Geld in die Hand zu nehmen und politische Weichen neu zu stellen, sondern anders zu denken, radikal anders, damit ein Wandel auch nur entfernt möglich ist. Im Augenblick lähmt die herrschende Marktlogik mit ihrem Dominanz- und Wettbewerbsethos fast alle ernsthaften Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel. Ein ruinöser Wettbewerb zwischen den Ländern blockiert die UN-Klimaverhandlungen seit Jahrzehnten: Die reichen Länder stellen sich stur und erklären, dass sie ihre Emissionen nicht senken werden, weil sie nicht riskieren wollen, ihre Spitzenposition in der globalen Hierarchie zu verlieren; die ärmeren Länder pochen auf ihr Recht, die Umwelt genauso zu verschmutzen, wie wir reichen Länder es auf unserem Weg zum Wohlstand getan haben, obwohl das die Katastrophe noch verschlimmert, unter der die Armen am meisten leiden. Um daran etwas zu ändern, muss sich eine Weltanschauung durchsetzen, die die Natur, andere Länder und unsere eigenen Nachbarn nicht als Gegner sieht, sondern als Partner in einem großartigen Projekt, in dem sich alle neu erfinden.

Das ist viel verlangt. Aber es kommt noch heftiger: Weil wir das Ganze so lange verschleppt haben, müssen wir diesen massiven Wandel jetzt unverzüglich in Gang setzen. Die Internationale Energieagentur warnt davor, dass unsere Fossilwirtschaft eine extrem gefährliche Erwärmung »festschreiben« wird, wenn wir unsere Emissionen nicht bis zum erschreckend nahen Jahr 2017 unter Kontrolle bekommen. »Die dann existierende Energieinfrastruktur wird die gesamte CO2-Menge erzeugen«, die unser Budget vorsieht, wenn wir die Erwärmung auf 2 Grad Celsius beschränken wollen, »und lässt keinen Spielraum für zusätzliche Kraftwerke, Fabriken und andere Infrastruktureinrichtungen, sofern sie nicht CO2-frei sind, und das wäre extrem teuer«. Man geht also, wahrscheinlich ganz zu Recht, davon aus, dass die Regierungen nicht bereit wären, die Schließung immer noch profitabler Kraftwerke und Fabriken zu erzwingen. Fatih Birol, der Chefökonom der Internationalen Energieagentur, sagt es ganz unverblümt: »Die Tür für das 2-Grad-Ziel wird sich bald schließen. 2017 wird sie unwiderruflich zufallen.« Kurz, wir haben – in der Diktion mancher Aktivisten – die »Dekade Null« der Klimakrise erreicht: Entweder ändern wir uns jetzt oder wir haben die Chance verpasst.[31]

All das bedeutet, dass die gewöhnlichen Beruhigungsfloskeln der Marktfundamentalisten – Wir stehen kurz vor einer technischen Lösung! Schmutzige Entwicklung ist nur eine Phase auf dem Weg zu einer sauberen Umwelt, man blicke nur auf das London des 19. Jahrhunderts! – diesmal nicht funktionieren. Wir haben keine hundert Jahre mehr, damit China und Indien ihre Dickens-Phasen hinter sich bringen können. Da wir Jahrzehnte verloren haben, müssen wir die Wende jetzt hinbekommen. Ist das möglich? Absolut. Ist es möglich, ohne die Grundregeln des deregulierten Kapitalismus anzugreifen? Auf keinen Fall.

Einer der Menschen, die mir auf dieser Reise begegnet sind und die Sie in diesem Buch kennenlernen werden, ist Henry Red Cloud, ein Lakota-Indianer und Unternehmer, der junge Ureinwohner zu Solartechnikern ausbildet. Er erzählt seinen Studenten, dass es Zeiten gibt, wo wir kleine Fortschritte hinnehmen müssen – und andere Zeiten, »wo man rennen muss wie ein Büffel«.[32] Jetzt ist so eine Zeit, in der wir rennen müssen.

Macht, nicht bloß Energie

Kürzlich las ich zu meiner Überraschung eine Art Schuldbekenntnis von Gary Stix, einem leitenden Redakteur des Scientific American. 2006 gab er eine Sonderausgabe über Antworten auf den Klimawandel heraus, und wie so oft bei diesem Thema konzentrierten sich die Artikel weitgehend darauf, aufregende Technologien mit geringem CO2-Ausstoß vorzustellen. Aber 2012 schrieb Stix, er habe einen viel größeren und wichtigeren Teil der Geschichte übersehen – nämlich dass wir die sozialen und politischen Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit der technologische Wandel überhaupt eine Chance hat, den allzu profitablen Istzustand zu ersetzen. »Wenn wir dem Klimawandel wirklich effektiv begegnen wollen, müssen wir uns auf radikale Lösungen im gesellschaftlichen Bereich konzentrieren. Die relative Effizienz der nächsten Generation von Solarzellen ist dagegen belanglos.«[33]

In diesem Buch geht es um diese radikalen Veränderungen auf gesellschaftlicher ebenso wie auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene. Mich interessieren weniger die technischen Aspekte des Umbaus – der Wechsel von fossiler zu erneuerbarer Energie, von Individualverkehr zu Massentransport, von wuchernden Vorstädten zu dicht bebauten, fußgängerfreundlichen Innenstadtbereichen –, sondern mehr die machtpolitischen und ideologischen Barrieren, die bisher verhindert haben, dass irgendeine der längst anerkannten Lösungen im erforderlichen Umfang realisiert wurde.

Mir scheint, unser Problem hat sehr viel weniger mit der technischen Seite der Solarenergie zu tun als mit Machtpolitik – insbesondere mit der Frage, ob eine Machtverschiebung möglich ist von den großen Konzernen hin zu Gemeinschaften. Das wiederum ist davon abhängig, inwieweit es der Masse jener Menschen gelingt, die im derzeitigen System schlecht abschneiden, eine gesellschaftliche Macht zu bilden, die entschlossen und vielgestaltig genug ist, die Machtverhältnisse zu verändern. Bei der Recherche zu diesem Buch bin ich auch zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Wandel ein Umdenken über das Wesen menschlicher Macht erfordern wird – über unser Recht, immer mehr Ressourcen abzubauen, ohne die Konsequenzen dafür zu tragen, über unsere Fähigkeit, komplexe natürliche Systeme unserem Willen zu unterwerfen. Dieser Wandel stellt nicht nur den Kapitalismus in Frage, sondern die Bausteine des Materialismus, auf denen der moderne Kapitalismus gründet, eine Mentalität, die von manchen als »Extraktivismus« bezeichnet wird.

Denn hinter alldem verborgen liegt eine tiefere Wahrheit, der wir alle aus dem Weg gehen: dass der Klimawandel kein »Problem« ist, das wir der Liste der Dinge, um die wir uns kümmern müssen, hinzufügen können, gleich hinter Gesundheitsfürsorge und Steuern. Er ist ein Weckruf für die Zivilisation. Eine machtvolle Botschaft – überbracht in der Sprache von Feuern, Überschwemmungen, Dürren und Artensterben –, die uns sagt, dass wir ein von Grund auf neues Wirtschaftsmodell brauchen, und eine neue Art, die Erde miteinander zu teilen. Die uns sagt, dass wir uns weiterentwickeln müssen.

Schluss mit dem Leugnen

Manche sagen, für einen solchen Umbau sei keine Zeit mehr; die Krise sei zu drängend, und die Uhr ticke. Stimmt, es wäre gewagt zu behaupten, dass die einzige Lösung der Krise darin bestehe, unsere Wirtschaft zu revolutionieren und unsere Weltanschauung von Grund auf umzukrempeln, und alles andere sei sowieso nutzlos. Es gibt alle möglichen Maßnahmen, die die Emissionen beträchtlich senken würden und die man auf der Stelle ergreifen könnte und sollte. Aber wir tun es nicht. Das liegt daran, dass wir durch unser Versäumnis, die großen Schlachten zu schlagen, um die ideo