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Eine prickelnde Liebesgeschichte, in der nichts nach Plan läuft …
Die mitreißende Regency Romance von New York Times Bestsellerautorin Madeline Hunter
Rosamund ist erfolglose Ladenbesitzerin, doch durch ein großzügiges Erbe kann sie mit ihrem Hutgeschäft endlich ins mondäne London umziehen und ihrer Schwester einen angemessenen Einstieg in die Gesellschaft ermöglichen. Allerdings ist sie auch Mitinhaberin eines neuen Unternehmens geworden, mit einem arroganten, wahnsinnig gutaussehenden Geschäftspartner …
Kevin Radnor ist schockiert, dass sein verstorbener Onkel, der Duke of Hollinburgh, die Hälfte seiner Firma einer Fremden vermacht hat – noch dazu einer betörenden Schönheit, die sein Unternehmen nur behindert. Deswegen schmiedet Kevin einen Plan: Er will diese Fremde verführen, damit sie einer Vernunftehe zustimmt. Rosamund hätte so den gesellschaftlichen Status, den sie braucht, und er hätte die stille Teilhaberin, die er sich wünscht. Doch während der charismatische Gentleman seine Flirts zum Einsatz bringt, muss er sich bald fragen, wer hier eigentlich wen verführt. Wird es ihm gelingen Verstand und Gefühl voneinander zu trennen, ohne dabei sein Herz zu verlieren?
Erste Leser:innenstimmen
„Wer die Duke Dynasty-Reihe von Sabrina Jeffries so geliebt hat wie ich, ist hier genau richtig!“
„Mitreißende Enemies to Lovers Story mit viel Gefühl und Charme.“
„Leidenschaftlich, fesselnd und durch und durch romantisch.“
„Für Fans von Regency und generell historischen Liebesromanen ein absolutes Muss!“
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Seitenzahl: 515
Veröffentlichungsjahr: 2022
Rosamund ist erfolglose Ladenbesitzerin, doch durch ein großzügiges Erbe kann sie mit ihrem Hutgeschäft endlich ins mondäne London umziehen und ihrer Schwester einen angemessenen Einstieg in die Gesellschaft ermöglichen. Allerdings ist sie auch Mitinhaberin eines neuen Unternehmens geworden, mit einem arroganten, wahnsinnig gutaussehenden Geschäftspartner …
Kevin Radnor ist schockiert, dass sein verstorbener Onkel, der Duke of Hollinburgh, die Hälfte seiner Firma einer Fremden vermacht hat – noch dazu einer betörenden Schönheit, die sein Unternehmen nur behindert. Deswegen schmiedet Kevin einen Plan: Er will diese Fremde verführen, damit sie einer Vernunftehe zustimmt. Rosamund hätte so den gesellschaftlichen Status, den sie braucht, und er hätte die stille Teilhaberin, die er sich wünscht. Doch während der charismatische Gentleman seine Flirts zum Einsatz bringt, muss er sich bald fragen, wer hier eigentlich wen verführt. Wird es ihm gelingen Verstand und Gefühl voneinander zu trennen, ohne dabei sein Herz zu verlieren?
Deutsche Erstausgabe März 2022
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-966-7
Copyright © 2021 by Madeline Hunter Titel des englischen Originals: Heiress in Red Silk
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP, NEW YORK, NY 10018 USA Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Übersetzt von: Annika Mirwald Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Debu55y PeriodImages.com © Maria Chronis, VJ Dunraven Productions Korrektorat: Katrin Ulbrich
E-Book-Version 10.07.2023, 16:47:01.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für meine Söhne, Thomas und Joseph
Exzentrik zog sich wie ein roter Faden durch die Radnor-Familie. Manche von ihnen waren weitaus verschrobener als andere. Da Kevin Radnor noch relativ jung war, würde man abwarten müssen, wie sehr sich sein Hang zur Eigenwilligkeit letztendlich ausprägte.
In manchen Dingen war er seinem Vater und Onkel allerdings bereits sehr ähnlich. Sobald etwas sein Interesse geweckt hatte, widmete er sich diesem Thema mit ganzer Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund hatte er sich mit Ende zwanzig bereits außergewöhnliche Kompetenzen in den unterschiedlichsten Bereichen angeeignet, wie etwa Fechten, Mechanik, Maschinenbau, Motten, Altgriechisch, Chemie und der Fleischeslust.
Letztere führte ihn Ende März in ein Freudenhaus in der Nähe des Portman Square. In letzter Zeit hatten ihn zunehmend geschäftliche Probleme geplagt, von denen er sich mit ein wenig sinnlicher Vergnügung abzulenken gedachte. In dem Etablissement seiner Wahl arbeiteten Frauen, die ihrem Gewerbe aus freien Stücken nachgingen, und nicht aus Verzweiflung. So konnte er den Geschlechtsakt ohne schlechtes Gewissen genießen. Zudem zeigten sich Frauen, die mit Enthusiasmus bei der Sache waren, in der Regel recht experimentierfreudig.
Nun saß er mit entblößtem Oberkörper in der Kammer einer Prostituierten, die sich Beatrice nannte, während diese sich langsam ihrer Kleidung entledigte. Die kunstvolle Art, auf die die schöne Rothaarige die Hüllen fallen ließ, vertrieb jegliche Sorgen aus seinen Gedanken. Als sie nur noch im Unterkleid vor ihm stand, beugte sie sich nach vorne und rollte verführerisch einen ihrer Seidenstrümpfe hinunter. Dadurch gewährte sie ihm einen Blick auf ihren prallen Hintern, der an der Spalte zwischen den Gesäßhälften mit Rouge gepudert worden war.
Kaum hatte Beatrice den Strumpf ausgezogen, klopfte es leise an der Tür.
„Ich habe Gesellschaft“, rief sie.
„Ich wollte dir nur sagen, dass sie angekommen ist. Die neue Haube“, erwiderte die gedämpfte Stimme einer Frau. „Sie sieht wirklich bezaubernd aus.“
Beatrice schickte sich an, auch den zweiten Strumpf auszuziehen, doch Kevin merkte, dass sie in Gedanken nun ganz bei der neuen Haube war.
„Geh ruhig und sieh sie dir an“, sagte er. „Es macht mir nichts aus zu warten.“
Sie hüpfte zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss, bevor sie zur Tür eilte und sie einen Spalt breit öffnete.
„Sieh nur“, sagte die Frau, die davor stand.
„Oh, diesmal hat sie sich wahrlich selbst übertroffen“, rief Beatrice. „Schau, wie filigran sie das Band gewebt hat.“
„Rosamund ist einfach die Beste“, pflichtete die Freundin ihr bei.
Rosamund. Der Name erregte Kevins Aufmerksamkeit, als hätte jemand ihn laut geschrien. Er erhob sich und gesellte sich zu den beiden Frauen an der Tür. „Modische Hauben interessieren mich ebenfalls“, sagte er. „Darf ich mal sehen?“
Die Kopfbedeckung war in der Tat äußerst hübsch, in hellen Blau- und Rosatönen gehalten, passend für den kommenden Frühling. Cremefarbener Stoff verdeckte den Scheitel und war umsäumt von Bändern, die in sorgfältiger Arbeit zu kleinen Rosetten gefaltet worden waren.
Trotz der meisterhaften Handarbeit interessierte ihn die Schachtel, die im Gang auf dem Boden stand, weitaus mehr. Er hob sie an, sodass die Frauen die Haube wieder hineinlegen konnten. Auf das Etikett an der Seite war eine Adresse gedruckt: Jamesons Hutgeschäft, Richmond.
Er bemühte sich um eine teilnahmslose Miene, doch kaum hatte Beatrice die Tür wieder geschlossen, schritt er zu dem Stuhl hinüber, auf dem seine Kleidung lag, und streifte sich sein Hemd über.
„Was tust du da?“, rief sie aus. „Ich dachte …“
„Mir ist gerade eingefallen, dass ich heute Abend noch einen Termin habe. Keine Sorge, ich werde Mrs Darling den vollen Preis bezahlen.“
Beatrice schmollte. „Ich hatte mich auf ein spaßiges Schäferstündchen mit dir gefreut. Du bist einer meiner liebsten Kunden.“
„Ich verbringe auch gern Zeit mit dir. Aber dieses Treffen müssen wir leider verschieben.“
Fünfzehn Minuten später ritt Kevin vor einem Haus auf der Brook Street in Mayfair vor. Er band sein Pferd an einen Pfosten und hämmerte dann ungeduldig gegen die Haustür. Als diese sich öffnete, rauschte er an dem Diener vorbei die Treppe hinauf, ohne auf dessen entrüstete Protestrufe zu achten.
Er marschierte durch die Wohnräume und stieß jede Tür auf, bis er schließlich im schwach beleuchteten Schlafzimmer landete.
Eine weibliche Stimme schrie schockiert auf.
„Zum Teufel noch eins, Kevin!“, brüllte ein Mann.
Wie erstarrt blieb er stehen. Zwei Augenpaare funkelten ihn wütend aus dem Bett an. Die Frau hatte sich die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. „Also ehrlich, Chase, deine Familie geht mir manchmal gehörig auf die Nerven“, rief sie erzürnt.
„Es tut mir wirklich leid, Minerva, Chase. Aber ich habe sie gefunden. Endlich habe ich Rosamund Jameson gefunden.“
***
Rosamund hoffte, die Frau draußen vor dem Schaufenster würde das Geschäft betreten. Deren blauer Pelisse aus Wolle nach zu urteilen, die luxuriös und maßgeschneidert wirkte, schien die Dame gut betucht zu sein. Auch ihre Haube musste einiges gekostet haben, obwohl Rosamund sie in Gedanken auftrennte und umarbeitete. Sie hätte ein kräftigeres Blau gewählt, das dem dunklen Haar der Dame viel mehr schmeicheln würde. Außerdem könnte die Krempe etwas gekürzt werden, denn so verdeckte sie das liebreizende Gesicht und die dunklen Augen der attraktiven Trägerin.
Leider setzte diese jedoch ihren Weg fort, daher wandte Rosamund sich wieder Mrs Grimley zu, die einen der letzten Winterhüte im Geschäft erstehen wollte. Mrs Grimley hatte auf einer Ermäßigung bestanden, da der Winter so gut wie vorüber war, und Rosamund hatte der Forderung zugestimmt. Den Hut zierte hochwertiger Pelz, was sie im Nachhinein bereute. Viele ihrer Kundinnen hatten den Pelzbesatz bewundert, konnten sich dessen Preis jedoch nicht leisten. Sie hatte so viel Geld dafür ausgegeben, und doch war sie den Hut die ganze Saison über nicht losgeworden.
„Möchten Sie vielleicht gleich ein paar Hauben für die kommenden Frühlingsfeiern bestellen?“, fragte sie, während sie den Hut in eine ihrer speziell gefertigten Schachteln legte. Diese kosteten weitaus mehr, als ihr lieb war, aber alle angesehenen Hutmacher verwendeten welche, daher musste sie sich mit den Ausgaben abfinden. Außerdem gefiel ihr der zarte Lilaton des Kartons, der so vortrefflich mit dem cremefarbenen Etikett harmonierte.
„Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Mrs Grimley. „Bald schon besuche ich meine Schwester in London und werde mir dort ein paar Geschäfte mit ihr ansehen, aber falls ich nach meiner Rückkehr noch etwas brauche, melde ich mich.“
Obwohl ihr das Herz schwer wurde, zwang Rosamund sich zu einem Lächeln. In London hätte sie ihr Hutgeschäft niemals eröffnen können, weshalb sie froh war, dass Richmond ihr die Gelegenheit dazu geboten hatte. Aber sie war nicht allzu weit von der Großstadt entfernt, und selbst ihre Stammkundschaft kaufte für jeden Hut in ihrem Laden fünf weitere in London. Irgendwann würde sie sich ein Etablissement in Mayfair leisten und das Doppelte für ihre Hüte verlangen können, aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
„Ich bin jederzeit bereit, ein Meisterstück für Sie anzufertigen, wenn Sie eines benötigen“, sagte sie, schnürte den Deckel der Hutschachtel zu und reichte sie Mrs Grimley. „Die Kappen, die Sie bestellt haben, sind fast fertig. Ich lasse sie in den nächsten Tagen an Ihre Adresse liefern.“
Kappen waren keine künstlerische Herausforderung für sie, wurden aber stets bei ihr in Auftrag gegeben. Selbst ihre wohlhabendsten Stammkunden sahen es nicht ein, Londoner Preise für solch zweckmäßige Kopfbedeckungen zu zahlen. Dank der Kappen konnte sie sich über Wasser halten. Und dank der Aufträge alter Freundinnen aus London, wie etwa Beatrice.
Sie dachte an die Haube, die sie Beatrice vor zwei Wochen geschickt hatte, und stellte sich vor, wie diese sie bei Spaziergängen durch den Park tragen würde. Sie hatte einen Weg gefunden, Rosetten aus Ripsband zu formen, eine Methode, die sie tunlichst für sich behalten wollte. Vielleicht würden die Damen der Londoner Gesellschaft sie eines Tages eben wegen dieser Rosetten aufsuchen.
Nachdem Mrs Grimley gegangen war, säuberte Rosamund den Tresen und begann dann, ein Regal mit Zierstreifen zu sortieren. Sie ließ die Enden der Bänder stets ein wenig über die Ränder der Körbe hängen, damit sie das Licht reflektieren und so die Aufmerksamkeit potenzieller Käuferinnen auf sich ziehen konnten.
Gerade wischte sie über den Spiegel, der auf einem Tisch neben dem Schaufenster stand, wo ihre Kundinnen Hüte und Hauben anprobierten, als sie bemerkte, dass die Dame in der blauen Pelisse erneut in das Geschäft spähte. Rosamund lächelte ihr freundlich zu.
Daraufhin betrat die Dame den Laden, hielt an der Tür jedoch inne und ließ den Blick durch den Raum schweifen, über die Hauben, die Regale und den Tresen, bis er schließlich auf Rosamund landete. Sie musterte die Hutmacherin eindringlich und trat dann einen Schritt auf sie zu.
„Sind Sie die Rosamund Jameson, die früher in der Warwick Street in London wohnhaft war?“
„Die bin ich.“
Daraufhin zog die Dame eine Visitenkarte aus ihrem Pompadour. „Mein Name ist Minerva Radnor. Ich habe nach Ihnen gesucht.“
Rosamund betrachtete das Kärtchen. Darauf stand: Hepplewhites Detektei für diskrete Nachforschungen. „Hier steht, Ihr Name sei Minerva Hepplewhite.“
„Ich bin mittlerweile verheiratet, aber die Detektei führe ich unter meinem Mädchennamen.“
„Sie sind wohl kaum hier, um einen neuen Hut zu erstehen.“
Mrs Radnor lächelte, ihre dunklen Augen blitzten auf. „Nein, obwohl Ihre Ware von bester Qualität zu sein scheint. Ich habe in den letzten Monaten nach Ihnen gesucht, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie zu einer Erbschaft gelangt sind. Einer beträchtlichen Erbschaft.“
„Sie müssen den Laden nicht schließen“, sagte Mrs Radnor. „Ich kann warten, falls jemand hereinkommt und beraten werden möchte.“
„Als ob ich mich jetzt um Kunden kümmern könnte.“ Rosamund zog den Vorhang zu und schloss die Tür ab. „Ich bekomme kaum noch Luft.“
„Vielleicht würde ein Kräuterschnaps helfen …?“
Rosamund warf ihrem Gast einen Blick über die Schulter zu. „Ich brauche keinen Alkohol, sondern eine Erklärung.“
„Natürlich.“ Mrs Radnor zog einen weiteren Stuhl an den Tisch heran, auf dem der Spiegel stand, sodass sie beide davor Platz nehmen konnten.
„Wer sollte mir diese … Erbschaft hinterlassen haben?“
„Der Herzog von Hollinburgh.“ Mrs Radnor musterte sie eindringlich. „Kannten Sie ihn?“
Rosamund brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten und sich zu sammeln. „Flüchtig. Wir hatten uns ein einziges Mal unterhalten.“ Als sie erkannte, warum Mrs Radnor sie derart anstarrte, fügte sie hastig hinzu: „Wir hatten keine Affäre, falls Sie das denken.“
„Ich denke mir überhaupt nichts dabei. Wissen Sie, mir hat er ebenfalls eine Erbschaft hinterlassen, aber auch ich war keine seiner Geliebten. Tatsächlich bin ich ihm nie begegnet. Es ist faszinierend, dass Sie zumindest einmal mit ihm sprechen konnten.“
„Es war keine tiefgründige Unterhaltung, aber dabei hat er etwas Wichtiges über mich erfahren.“ Vielleicht hatte sie damals zu viel von sich preisgegeben, aber sie war erschöpft gewesen und er hatte sich einer ihrer Freundinnen gegenüber äußerst gütig verhalten, obwohl er sie kaum kannte. Rosamund wusste, wer er war, und stellte überrascht fest, wie ungezwungen man mit ihm plaudern konnte. „Er war äußerst großzügig. Er gab mir einen kleinen Beutel, in dem sich zehn Guineen befanden. Dadurch war es mir möglich, dieses Geschäft hier zu eröffnen.“
Mrs Radnor sah sich erneut in dem Laden um. „Wann war das? Im Testament war nur eine Adresse in London aufgeführt, aber dort kannte Sie niemand.“
„Ich habe dort nur kurze Zeit gelebt, vor etwa einem Jahr. Eine Bekannte hatte mir ihre Wohnung überlassen, aber wir sagten es nicht dem Vermieter, da wir fürchteten, er würde sonst die Miete erhöhen. Also versuchte ich, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Während ich dort wohnte, arbeitete ich in einem Hutgeschäft in der Stadt, wo ich viel über Buchhaltung lernte und wie man an hochwertige Stoffe und Kurzwaren kommt. Es braucht mehr als einen Traum, um sich in einem Gewerbe wie diesem zu etablieren.“
„Also haben Sie herausgefunden, was dafür nötig ist, und sich darangemacht, diesen Traum zu verwirklichen.“
„Mehr oder weniger. Dann bin ich hierhergezogen, weil die Miete in Richmond erschwinglicher ist und es weniger Konkurrenz gibt.“
„Wo waren Sie, als Sie dem Herzog begegneten?“
Rosamunds Rücken versteifte sich. „Muss ich Ihnen meine ganze Lebensgeschichte anvertrauen, um die Erbschaft zu erhalten?“ Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie ihren schnippischen Tonfall.
Mrs Radnor schien diesen jedoch nicht wahrzunehmen. „Um Himmels willen, nein. Ich für meinen Teil war übrigens auch sehr dankbar dafür. Ich wollte nicht aufdringlich sein.“ Sie zog zwei weitere Karten aus ihrem Pompadour. „Das hier ist der Anwalt, mit dem Sie sich bezüglich des geerbten Vermögens in Verbindung setzen müssen, und das hier ist meine Privatadresse. Sind wir nicht irgendwie Schwestern, die beide ein unerwartetes Geschenk von dem verstorbenen Herzog erhalten haben? Melden Sie sich ruhig bei mir, wenn Sie in der Stadt sind und ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Ich würde mich auch freuen, Sie als Gast in meinem Haus begrüßen zu dürfen, wenn Sie mir vor Ihrer Abreise kurz schreiben.“
Mit zitternden Händen nahm Rosamund die Karten entgegen.
„Sind Sie so schockiert über die Neuigkeiten, dass Sie nicht einmal wissen wollen, wie viel Sie geerbt haben?“, fragte ihr Gast sanft.
„Der Betrag wird mein bisheriges Vermögen so oder so übersteigen.“ Vielleicht würde er ausreichen, um das Geschäft in London zu eröffnen, von dem sie schon so lange träumte. Oder vielleicht würde das Geld sogar genügen, um die Zukunft ihrer Schwester damit zu sichern. Diese Gedanken verliehen ihr neuen Elan. „Um die hundert Pfund wären wunderbar. Damit könnte ich bereits einige Pläne in die Tat umsetzen.“
„Es ist um einiges mehr, Miss Jameson. Sie haben mehrere tausend Pfund geerbt.“
Mehrere tausend Pfund. Rosamund vergaß beinahe weiterzuatmen.
„Außerdem hat der Herzog Ihnen die Teilhabe an einem seiner Geschäfte hinterlassen. Auch das gehört zur Hälfte Ihnen.“
„Der Herzog hatte … einen Hutladen?“
Lächelnd streckte Mrs Radnor die Hand aus und legte sie auf die ihre. „Nein, sein Unternehmen hat nichts mit dem Hutmacherhandwerk zu tun. Kommen Sie doch einfach so bald wie möglich nach London. Ich werde Ihnen helfen, die Angelegenheit so schnell es geht zu regeln.“
Rosamund lachte laut, fürchtete im nächsten Augenblick jedoch, in Tränen auszubrechen. Sie nahm Mrs Radnors Hand in die ihren und sagte: „Ich mache mich auf den Weg, sobald ich aufstehen kann, ohne in Ohnmacht zu fallen.“
Zwei Wochen später war Kevin Radnor erneut unterwegs, um seinen Cousin Chase in Mayfair zu besuchen. Trotz seiner Erregung, die sich seit seinem letzten Besuch kaum gelegt hatte, kam er nur langsam voran. Die feine Gesellschaft kehrte für die kommende Ballsaison nach London zurück, und die sonst so ruhigen Straßen waren nun überfüllt von Wagen und Kutschen.
Endlich sprang er von seinem Pferd, übergab die Zügel achtlos einem der Stallburschen und marschierte auch diesmal wieder ohne Umschweife ins Haus. Der Butler deutete nur wortlos auf den Salon.
Da Chase und Minerva erst vor Kurzem eingezogen waren, durchschritt er spärlich möblierte Zimmer, bis er den hellen, luftigen Salon erreichte, von dem aus man den Garten überblickte.
„Wo ist sie?“, fragte er, kaum dass er eingetreten war.
Sein Cousin warf ihm einen Blick zu, bevor er die Tasse Kaffee austrank, die er sich eben an den Mund geführt hatte.
„Wie schön, dich zu sehen, Kevin. Und auch noch zu so früher Stunde.“ Minerva studierte übertrieben konzentriert die Uhr auf einem kleinen Beistelltisch. „Es ist noch nicht einmal zehn.“
Ihren Sarkasmus konnte sie sich schenken. „Chase hat mir gestern geschrieben, dass Miss Jameson in London angekommen ist und ihr sie beherbergt, also weiß ich, dass sie sich in diesem Haus befindet.“
„So ist es“, bestätigte Minerva. „Allerdings ist sie bereits vorgestern eingetroffen und hatte gestern einen Termin beim Testamentsvollstrecker. Gerade schläft sie vermutlich noch in ihrem Zimmer.“
Wortlos wandte er sich der Tür zu.
„Moment.“ Chases gebieterischer Tonfall ließ ihn innehalten.
Als Kevin sich erneut zu ihm umdrehte, funkelten die blauen Augen seines Cousins irritiert.
„Setz dich. Du kannst nicht einfach hinaufstürmen, die Tür auftreten und sie zur Rede stellen“, fuhr Chase fort. „Ich verstehe ja, dass du Antworten willst, aber du musst dich noch ein wenig länger gedulden.“
„Ich habe ein ganzes Jahr lang gewartet, verdammt. Und nun habe ich sie endlich gefunden.“ Ja, er hatte Miss Jameson aufgespürt. Nicht Chase, der Ermittler, dessen Aufgabe es war, die geheimnisvollen Erbinnen ihres Onkels ausfindig zu machen. Der von Beruf aus Nachforschungen anstellte, ebenso wie Minerva, was Kevin im Übrigen höchst sonderbar fand.
Diese bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick, wie ein Kindermädchen, das ihren erschöpften Zögling nach einem ausgewachsenen Wutanfall betrachtete. „Warum isst du nicht erst einmal etwas?“
Widerwillig ging er zur Anrichte hinüber und lud sich Eier sowie Gebäck auf einen Teller. Als er sich Chase gegenüber niederließ, brachte der Diener ihm einen Kaffee. In Gedanken war er jedoch bei der Frau im Obergeschoss, die selig schlief, während sie seine Zukunft in Händen hielt, was der Grund für seine zahlreichen, schlaflosen Nächte in letzter Zeit gewesen war.
Mit einem ordentlichen Frühstück im Magen fühlte er sich zum Glück wieder etwas besänftigter.
„Wann hast du das letzte Mal etwas Anständiges gegessen?“, fragte Chase.
Kevin sah auf seine halb verschlungene Portion hinab. „Gestern Abend. Nein, warte. Vorgestern Abend. Ich war ziemlich beschäftigt.“
„Dann grübelst du also immer noch an dem Problem deiner Gewinnchancen beim Glücksspiel herum?“
„Es geht nicht um Probleme, sondern um Wahrscheinlichkeiten. Und ja, darüber habe ich mir ziemlich den Kopf zerbrochen.“
„Irgendwie klingt das verwerflich … Mit mathematischem Vorteil zu spielen.“
„Ich werde wohl kaum ohne einen Vorteil mein Geld aufs Spiel setzen. Immerhin will ich einen Haufen Kohle gewinnen und nicht verlieren.“
Chase, der genau wusste, warum er schnellstens zu Geld kommen musste, zuckte nur mit den Achseln. „Dir wird schon etwas einfallen.“
„Vielleicht ist es sowieso zu spät. Ihr beherbergt eine Frau, die alles zunichtemachen könnte.“ Er zwang sich, ruhig und gelassen zu klingen, bevor er sich an Minerva wandte. „Wie lief denn das Gespräch mit dem Anwalt?“
„Sehr gut. Natürlich war Miss Jameson ziemlich überwältigt, aber Mr Sanders hat ihr alles ganz genau erklärt, auf seine übliche beschwichtigende, väterliche Art. Er hat geduldig alle ihre Fragen beantwortet.“
„Was für Fragen?“
Minerva öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. Sie warf Chase einen schiefen Blick zu, den er erwiderte, bevor er sagte: „Das war ein Fehler, Liebling.“
Sie trank einen Schluck Tee. „Ach, sie wollte nur wissen, wie sie an das Vermögen herankommt. Im Gegensatz zu mir wurde ihre Erbschaft nicht in einem Fonds angelegt. Da der Herzog sie kannte, wusste er wahrscheinlich, dass sie eine sehr vernünftige und praktisch veranlagte Frau ist. Das ist nicht schwer zu erkennen. Daher bereitete es ihm wohl keine Sorgen, dass sie nicht allein mit dem Geld umgehen könne.“
Ein Lächeln umspielte Kevins Lippen. Sein Onkel, der ehemalige Herzog, hatte einer beinahe völlig Fremden mehr Geld hinterlassen als ihm, einem seiner Lieblingsneffen. „Was ist mit dem Rest? Dem Unternehmen?“ Seinem Unternehmen.
Minerva räusperte sich. „Ah, richtig. Natürlich hat sie Mr Sanders gefragt, was sie damit tun soll. Es war seine Pflicht, ihr sämtliche Optionen zu nennen.“ Sie verzog das Gesicht. „Ihr schien die Idee zu gefallen, ihre Teilhabe zu verkaufen.“
Verflucht noch eins. Er würde Sanders umbringen.
„Ich muss mit ihr sprechen“, sagte er. „Geh und hol sie. Andernfalls wird Chase mich mit dem Degen davon abhalten müssen, die Treppe raufzustürmen und sie zur Rede zu stellen.“
Minerva kniff die Augen zusammen. Sie wandte sich Chase zu, in der Erwartung, ihn ebenso ungehalten zu sehen, doch dieser hatte sich hinter seiner Kaffeetasse verschanzt.
Resigniert erhob sie sich. „Na schön, ich sehe mal nach, ob sie inzwischen wach ist. Wenn nicht, werde ich sie jedoch deinetwegen nicht wecken. Sollte sie noch nicht angekleidet sein, wirst du ziemlich lange warten müssen. Am besten wäre es, du würdest heute Nachmittag noch einmal wiederkommen, wie jeder andere höfliche Besucher.“
„Lange zu warten, macht mir nichts aus. Ich vertreibe mir die Zeit in der Bibliothek.“
Daraufhin verließ Minerva das Zimmer. Chase nahm sich einen Stapel Briefe und ging ihn durch, während Kevin sich am Frühstücksbuffet einen Nachschlag holte.
Mit aufgefülltem Teller ließ er sich wieder in seinem Sessel nieder. Jeder der Radnor-Cousins besaß spezielle Talente, und Chase war besonders begabt darin, Informationen zu beschaffen und ihren Wert zu bestimmen. Außerdem konnte er andere bereits nach kurzer Zeit gut einschätzen. Diese Fertigkeiten hatten ihn zu einem hervorragenden Ermittler gemacht.
„Was hältst du von ihr?“, fragte Kevin.
Chase legte den Brief nieder, den er gerade las, und dachte über die Frage nach. „Sie wirkt vernünftig und unabhängig. Dem Anschein nach hat sie sich ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut. Zumindest erfolgreich genug, um sich eine Assistentin und einen Lehrling leisten zu können, die sich um den Laden kümmern, solange sie hier ist. Sie stammt aus einfachem Hause, verhält sich aber nicht so. Ich habe zwar nur kurz mit ihr gesprochen, aber sie wirkte sehr intelligent.“
„Wie sieht sie aus?“
„Sie hat blondes Haar. Jegliche weitere Beschreibung meinerseits wäre subjektiv. Spielt das überhaupt eine Rolle?“
Blondes Haar. Eigentlich hatte er angenommen, sie wäre bereits ergraut, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Die meisten Modistinnen waren eben bereits im fortgeschrittenen Alter, bevor sie sich ein eigenes Geschäft leisten konnten. Warum sollte es bei Hutmacherinnen anders sein? Aber natürlich kannten die meisten Frauen keinen Herzog, der ihnen einen kleinen Zuschuss für die Unternehmensgründung zusteckte.
„Minerva findet ihre Hüte exquisit. Dramatisch, ohne jedoch geschmacklos zu wirken“, berichtete Chase weiter. „Dir scheint nicht zu gefallen, was ich herausgefunden habe.“
„Du weißt, wie wichtig diese Angelegenheit für mich ist. Daher hoffte ich, du hättest ihr ein wenig mehr auf den Zahn gefühlt, ein paar diskrete Fragen gestellt.“
Mit einem breiten Lächeln widmete Chase sich wieder seinem Brief. „Ich wusste eben, dass du bald deine eigene Ermittlung durchführen würdest.“
Kevin konzentrierte sich auf sein Frühstück, wunderte sich jedoch, worüber genau sein Cousin so amüsiert schien.
Dieses Haus war mit Abstand das vornehmste, das Rosamund je betreten hatte. Wieder einmal bewunderte sie die Vorhänge um ihr Bett und an den Fenstern sowie die eleganten Gemälde an den Wänden. Die Größe der Zimmer, sowohl des ihren als auch die Aufenthaltsräume im Untergeschoss, hatten sie beeindruckt. Obwohl sich nicht viel Mobiliar darin befand, war dieses doch von höchster Qualität.
Nicht einmal die Copleys, die zur feinen Gesellschaft gehörten, lebten in solch einem Luxus. Aber mit Mr und Mrs Radnor konnten sie natürlich nicht mithalten. Immerhin war Chase Radnor der Enkel des ehemaligen Herzogs und der Cousin des Nachfolgers.
Widerwillig stieg sie aus dem Bett. Über eine Stunde hatte sie nun wach dagelegen und über die Wendung ihres Schicksals nachgedacht. Was sollte sie nur mit all dem Geld anfangen? Einen Teil würde sie beiseitelegen, um ihre Schwester vor einer niederen Anstellung als Dienstmädchen zu bewahren. Lily sollte eine ordentliche Ausbildung erhalten. Dass die Erbschaft es ihr nun ermöglichte, für Lily zu sorgen, bereitete ihr die größte Freude daran.
Den Rest des Geldes würde sie darauf verwenden, ihr Geschäft in London zu eröffnen. Mrs Ingram könnte solange den Laden in Richmond leiten, bis Rosamund sich entschieden hatte, ob sie beide behalten wollte. Allerdings würde sie hier in der Stadt ein wenig Hilfe benötigen. Darum sollte sie sich schnellstens kümmern.
Zunächst musste sie eine Unterkunft finden, da sie nicht ewig in diesem Haus zu Gast bleiben konnte. Aber trotz ihrer praktischen Veranlagung und Vernunft wusste sie nicht so recht, wie sie das anstellen sollte.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt, doch im Garten unten bildeten sich die ersten, grünen Triebe. Rosamund stellte sich ihr neues Heim vor, umgeben von blühenden Tulpen und Narzissen. Eine kleine Wohnung würde genügen, selbst wenn Lily zu Besuch käme. Mehr brauchte sie nicht. Und doch … Es hing ganz davon ab, welchem Zweck ihr neues Zuhause dienen sollte, nicht wahr?
Wenn sie weiterhin Vollzeit als Hutmacherin arbeiten wollte, war eine bescheidene Bleibe völlig ausreichend. Beabsichtigte sie jedoch …
Sie zögerte, den Traum in Worte zu fassen. Bisher hatte sie gefürchtet, dass zu große Hoffnungen ihn zerstören könnten. Doch wenn sie diesen nächsten Schritt ernsthaft in Erwägung ziehen wollte, musste sie sich eingestehen, warum. Mit schmerzender Sehnsucht im Herzen zwang sie sich dazu.
Die Frage war ganz einfach: Wenn sie fortan wohlhabend war, in einem vornehmen Haus wohnte und edle Kleidung trug, wenn sie nicht länger als einfache Bedienstete oder Hutmacherin arbeiten müsste … wäre sie dann gut genug, damit Charles sie heiraten würde?
Sie schloss die Augen, als sie an ihn dachte, und sah ihn deutlich vor sich, so stattlich und gut aussehend. Sein Lächeln hatte ihr Herz vom ersten Augenblick an höher schlagen lassen. Über die letzten fünf Jahre hatte sie die Erinnerung an sein Gesicht wie einen Schatz gehütet. Dank ihrer aufrichtigen Liebe, ihrem Vertrauen und ihrer Loyalität war sie keine Sekunde lang verblasst. Eine Liebe wie ihre verdiente doch eine Chance, eine Zukunft, nicht wahr? Selbst seine Eltern mussten sie akzeptieren, jetzt, da sie zu Reichtum gekommen war … Charles hatte sie nicht aus eigenen Stücken abgelehnt. Man hatte ihn dazu gezwungen und fortgeschickt, so wie man auch sie aus dem Haus der Copleys verbannt hatte.
Ihre Gedanken wanderten zu dem letzten Kuss, den er ihr gegeben hatte, bevor die Kutsche ihn zur Küste fuhr. An jenem Tag war sie heimlich zurückgekehrt und hatte aus dem Schatten beobachtet, wie seine Abreise vorbereitet wurde. Als er sie bemerkte, war er schnurstracks auf sie zumarschiert, ohne auf die missbilligenden Blicke seiner Eltern oder die Einwände seines neuen Privatlehrers zu achten. Er nahm sie in die Arme, küsste sie innig und schwor ihr, dass sie eines Tages wieder vereint sein würden.
Rosamund war keine Träumerin. Sie wusste es besser, als sich diesen Tag herbeizusehnen. Immerhin war er der Sohn eines Edelmannes und sie die Tochter eines Pachtbauern aus Oxfordshire. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. In ihrer Situation konnte sie es sich nicht leisten, derart törichten Gedanken nachzuhängen. Und trotzdem liebte sie ihn weiter und hielt gegen alle Vernunft an ihren Hoffnungen und Träumen fest.
Mithilfe dieser Erbschaft würde sie diese endlich verwirklichen können.
Ihre Gedanken rasten. Schnell erstellte sie eine Liste, deren Inhalt es gut zu überdenken galt. Würde der Plan funktionieren? Sollte sie es wirklich riskieren? Wie die Sprösslinge draußen im Garten wuchs ihr Traum in dem Bestreben, sich zu entfalten und Blüten zu tragen.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie bat die Person herein, woraufhin Minerva gemeinsam mit der Kammerzofe eintrat.
„Wie ich sehe, sind Sie wach. Mary hat warmes Wasser mitgebracht und wird Ihnen beim Ankleiden helfen.“
„Es ist schon recht spät. Normalerweise bin ich früher auf den Beinen. Eigentlich wollte ich heute auch noch ein paar Dinge erledigen.“
Minerva schickte das Dienstmädchen kurz hinaus und schloss die Tür hinter sich. „Ich muss Ihnen etwas sagen. Ihr Geschäftspartner ist eingetroffen und wartet unten auf Sie.“
Geschäftspartner? Ach, richtig! „Der andere Mr Radnor, meinen Sie. Kenneth?“
„Kevin. Wie Sie ja bereits wissen, ist er der Cousin meines Mannes.“
„Dann lerne ich ihn besser kennen, denn ich will Ihren Gemahl ja nicht beleidigen.“
„Sie sollten ihn kennenlernen, weil Sie geschäftlich miteinander zu tun haben, nicht, weil er mit meinem Mann verwandt ist.“
Als der freundliche Mr Sanders ihr die Details zu dem Unternehmen erklärte, hatte sie kaum ein Wort verstanden. Genau genommen hatte sie nicht wirklich zugehört, da sie noch immer völlig benommen von dem Haufen Geld war, den sie erben sollte. Eigentlich verspürte sie im Augenblick auch keine große Lust, den anderen Mr Radnor kennenzulernen. Zumindest nicht heute. Lieber würde sie sich hier in der Nachbarschaft umsehen und nach Ladenlokalen und Häusern suchen, die zu vermieten waren. Und sich vorstellen, wie sie mit Charles in einer Kutsche die Straßen entlangfuhr …
„Ich ziehe mich nur schnell an und komme gleich runter.“
Eine halbe Stunde lang schritt Kevin in der Bibliothek auf und ab, bevor er eines der Bücher aus dem Regal zog und sich damit auf den Diwan fallen ließ. Schnell stellte er jedoch fest, dass er sich auf kein einziges Wort konzentrieren konnte, also warf er das Buch beiseite, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Diese Situation war die reinste Hölle. Er hatte gelernt, wie man mit anderen Männern über das Geschäft sprechen musste. Obwohl es ihm schwerfiel, hatte er sich sogar die aufgesetzte Jovialität angeeignet, mit der erfahrene Unternehmer sich unterhielten. Aber eine Frau als Teilhaberin? Nicht zum ersten Mal seit dem Tod seines Onkels fragte er sich, ob der alte Kauz zum Ende hin nicht ein wenig verrückt geworden war.
Das vertraute Gefühl, betrogen worden zu sein, keimte in ihm auf, doch er unterdrückte es. Onkel Frederick hatte mit seinem Privatvermögen tun und lassen können, was er wollte. Wenn er also in einem Anfall unerklärlicher Großzügigkeit sowie geistiger Umnachtung beschlossen hatte, die Teilhabe an einem vielversprechenden Unternehmen einer unbedeutenden Hutmacherin von zweifelhafter Herkunft zu hinterlassen, die wohl kaum etwas von Technik und Maschinenbau verstand, dann sollte es so sein.
Kevin hatte sich lange und eingehend genug den Kopf darüber zerbrochen, und er war zu der Einsicht gelangt, dass die Entscheidung seines Onkels vielleicht dessen mangelndes Vertrauen in seinen Neffen widerspiegelte. So ungern er diese Möglichkeit auch in Betracht zog, konnte er sie nicht ganz ignorieren. Doch als die Zweifel nun erneut an ihm nagten, schob er sie energisch beiseite. Wenn der verstorbene Herzog Kevin wirklich nicht vertraute, hätte er die Teilhabe ebenso gut einem erfahrenen Unternehmer überlassen können. Nicht Rosamund Jameson. Allein sie aufzuspüren, hatte ihn ein ganzes Jahr gekostet, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der die industrielle Entwicklung jeden Tag schneller voranschritt.
Endlich öffnete sich die Tür zur Bibliothek. Er erhob sich, als Minerva mit einem entschlossenen Blick eintrat und sich ihm näherte. Diesen Blick setzte sie fast immer auf. Kaum zu glauben, dass Chase sie nicht für ein störrisches Weibsbild hielt. In Kevins Augen war sie das allemal.
„Sie kommt in ein paar Minuten herunter. Aber vorher möchte ich dir Eines unmissverständlich klar machen.“ Minerva trat so nahe an ihn heran, dass sie den Kopf ein wenig zurücklegen musste, um ihm in die Augen zu sehen. „Sie ist mein Gast und wir werden uns bestimmt noch anfreunden. Ich mag sie. Daher wirst du sie mit dem gleichen Respekt behandeln, mit dem du einer Dame begegnen würdest. Unterstehe dich, sie einzuschüchtern, ihr gegenüber ungeduldig oder ausfallend zu werden, selbst wenn du sie unerträglich findest. Solltest du sie auf irgendeine Weise beleidigen, ob durch Worte oder Taten, durch entnervtes Seufzen oder respektlose Ausdrucksweise, werde ich dir das Leben zur Hölle machen.“
„Ich habe noch nie eine Frau beleidigt.“
„Oh, bitte, deine bloße Anwesenheit ist manchmal eine Beleidigung. Aber das war alles, was ich dir sagen wollte. Benimm dich.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ die Bibliothek.
Kevin schüttelte ungehalten den Kopf. Er sollte Frauen gegenüber beleidigend sein? Was für eine lächerliche Behauptung. Er hatte noch nie eine Dame beleidigt. Er sprach ja kaum mit ihnen.
Ein leises Rascheln erregte seine Aufmerksamkeit, und er wandte sich dem Geräusch zu. Auf der Türschwelle stand eine Frau. Er starrte sie an, sie starrte zurück.
Rosamund Jameson war keine kleine Hutmacherin. Nichts an ihr war klein. Sie war größer als die meisten Frauen, und ihr schlichtes, graues Pelisse-Kleid ließ einen Körper darunter erahnen, der äußerst wohlgeformt und kurvig sein musste. Zierlich war kein Wort, das auf sie zutraf.
Auch der Rest ihrer Erscheinung traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Blaue Augen. Blonde Locken. Glatte, blasse Haut. Volle Lippen.
Diese Frau war einfach umwerfend schön.
Er musterte sie, als wollte er sämtliche ihrer Makel auf einen Blick erkennen. Nun, da musste er nicht lange suchen.
Während er sie ohne einen Gruß anstarrte, nahm sie ihn ebenfalls in Augenschein. Wie sein Cousin, war Kevin Radnor groß gewachsen. Sein dichtes, dunkles Haar reichte ihm bis zum Kinn. Sie wusste nicht, ob diese Länge gerade der neuste Schrei war oder ob er es einfach nur versäumt hatte, sie schneiden zu lassen.
Im Gegensatz zu Chase Radnor hatte er jedoch dunkle Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Gepaart mit der verwegenen Frisur, verliehen sie ihm ein leicht dramatisches Aussehen. Mit der geraden Nase und den vollen Lippen war er unbestreitbar attraktiv. Sein markantes Kinn rundete die sonst eher feinen Züge vorteilhaft ab, fügte seiner Schönheit etwas Raues, Männliches hinzu. Minerva hatte sie bereits gewarnt, dass er oft vor sich hin grübelte, und sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie poetisch er dabei aussehen musste.
Natürlich konnte er Charles nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen. Er besaß weder dessen strahlendes Lächeln noch funkelnde Augen. Vielmehr erinnerte Kevin Radnor sie an die strengen, zerstreuten Privatlehrer, die von den Copleys beschäftigt wurden, junge Männer, die längst vergessen hatten, wie man sich vergnügte. Rosamund konnte sich damals schon nicht vorstellen, dass eine lebenslustige Frau sich je für einen von ihnen interessieren würde, und diesen Eindruck erweckte nun auch ihr Gegenüber.
Schließlich war sie es leid, angestarrt zu werden, und trat einen Schritt in die Bibliothek. „Ich bin Rosamund Jameson. Wie ich hörte, wollten Sie mit mir sprechen?“
Endlich regte er sich. „Richtig. Ich wollte Sie nur kennenlernen, da Sie ja nun die Hälfte meines Unternehmens besitzen.“
„Ist es dann nicht eher unser Unternehmen?“
Was auch immer ihn beschäftigt haben mochte, schien vergessen zu sein. Er lächelte sie stolz und selbstbewusst an. „Warum setzen wir uns nicht und unterhalten uns darüber?“
Sie ließ sich auf der Lehne des Diwans nieder, während er sich einen Stuhl heranzog.
„Es muss Sie überrascht haben, die Teilhabe an einem Unternehmen zu erben“, fuhr er fort.
„Überhaupt etwas zu erben, war ziemlich überraschend. Aber ja, dieser Part insbesondere.“
„Hat der Testamentsvollstrecker Ihnen erklärt, worum es bei dem Geschäft geht?“
Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, da sie nicht eingeschüchtert wirken wollte. „Es hat etwas mit einer Erfindung zu tun, die irgendwelche Maschinen verbessern soll“, erwiderte sie mit fester Stimme.
„Dampfmotoren.“
„Er hat es mir nur kurz erläutert. Zugegeben, habe ich die Details nicht wirklich verstanden.“
„Das überrascht mich nicht. Selbst Männer verstehen nur schwerlich, wie die Erfindung funktioniert.“
Seine Worte klangen unverhohlen herablassend. „Wenn selbst Männer kaum etwas davon verstehen, sollten Sie ihnen vielleicht demonstrieren, wozu genau sie gut ist. Dadurch würden Sie doch gewiss Klarheit schaffen.“
Er lächelte nachsichtig, was sie beinahe auf die Palme brachte. „Das geht nicht. Sonst könnte jemand das Design stehlen und nachahmen.“
„Mr Radnor, verzeihen Sie, falls meine nächste Frage von weiblicher Einfältigkeit herrührt, aber wenn Sie die Erfindung niemandem zeigen können, wie wollen Sie dann damit Geld verdienen?“
„Ganz einfach, ich will sie selbst herstellen.“
Ich, ich, ich. „Sie meinen, wir wollen sie selbst herstellen. Besitzen wir denn eine Fabrik?“
„Noch nicht. Ich warte noch auf den Erwerb einer Erweiterung. Sobald ich die habe, kann die Produktion beginnen.“
Also beruhte dieses Unternehmen auf einer Erfindung, die bisher noch nicht einmal hergestellt worden war und für deren Produktion es weder eine Fabrik noch Geldmittel gab. „Sie sollten wissen, dass ich mit dem Gedanken spiele, meinen Anteil zu verkaufen.“
Sein Blick verfinsterte sich. Er lehnte sich zu ihr hinüber. „Das können Sie nicht tun.“
„Laut dem Anwalt habe ich das Recht dazu.“
„Dadurch würden Sie alles zerstören. Wer auch immer Ihre Teilhabe erwirbt, kann wiederum Anteile an andere verkaufen. Da sämtliche Investoren die Erfindung sehen wollen würden, könnte jeder von ihnen die Idee stehlen. Um einen Erfolg zu garantieren, muss dieses Unternehmen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen.“
„Sie glauben, jemand würde die Idee stehlen?“
„Selbstverständlich. Sie ist so wertvoll, dass ich es nicht einmal wage, ein Patent anzumelden, aus Angst, dass jemand die Aufzeichnungen sieht.“
„Fürchten Sie, ich könnte sie stehlen?“
Er ließ sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken. „Nicht direkt. Immerhin können Sie nichts entwenden, was sowieso schon Ihnen gehört.“
„Es freut mich zu hören, dass Sie mich als Teilhaberin anerkennen.“
„Aber …“, setzte er an, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen. „Sie sind eine wohlhabende Erbin. Bald schon werden zahlreiche Männer Sie umwerben. Einer von ihnen könnte Sie unvorteilhaft beeinflussen.“
„Mir den Kopf verdrehen, meinen Sie.“
„Ja.“
„Ich könnte mich im Rausch der Liebe zu etwas überreden lassen, das sich nachteilig für mich herausstellt.“
Statt einer Antwort nickte er knapp.
„Sie sind also die Sorte Mann, die Frauen für schwachsinnige, von Gefühlen geleitete Kreaturen halten.“
Verdrossen runzelte er die Stirn. „Auch Männer können den Kopf verlieren. Das hat nichts damit zu tun, dass Sie eine anmutige Frau sind.“
Das Wort „anmutig“ überraschte sie ebenso wie ihn. „Außerdem könnten Sie ja tatsächlich heiraten“, fügte er hastig hinzu. „Und Ihr Ehemann könnte verlangen, über Ihre Geschäfte in Kenntnis gesetzt zu werden. Vielleicht würde er Sie sogar einschüchtern, um unsere Geschäftsgeheimnisse zu erfahren.“
Charles würde so etwas niemals tun. Kaum war ihr der Gedanke durch den Kopf geschossen, schalt sie sich dafür. Es war eine Sache, Träumen im Stillen hinterherzuhängen, aber deshalb wollte sie noch lange nicht zu der liebestrunkenen Närrin werden, für die Kevin Radnor sie offenbar hielt.
„Mr Radnor, dasselbe könnte ich ja wohl von Ihnen behaupten. Auch Sie könnten einer Frau verfallen und sich Geheimnisse von ihr entlocken lassen. Oder Sie könnten Unternehmensgelder dazu verwenden, sie bei Laune zu halten oder ihre Spielschulden zu begleichen.“
Diese Vorstellung schien ihn zu amüsieren. „Keine Sorge, ich bin noch nie einer Frau verfallen.“
„Noch nie? Nicht ein einziges Mal?“
Er schüttelte den Kopf. „Noch nie. Diese Erfindung besitzt das Potenzial, Sie unglaublich reich zu machen, Miss Jameson. Reicher, als Sie es sich vorstellen können. Jeder Dampfmotor wird diese Maschine benötigen. Bisher setzt man diese neuartigen Motoren schon weitläufig in Schienenfahrzeugen ein. In zwanzig Jahren wird man sie überall verwenden, in Fabriken und allen möglichen Industriezweigen. Man wird jährlich tausende Dampfmotoren produzieren. Es wäre töricht von Ihnen, Ihren Anteil zu verkaufen.“
Dann sollte sie ihr Vermögen wohl besser in diese Schienenfahrzeuge investieren als in seine Erfindung. Ein Vorteil wäre, dass sie diesen Mann dann nicht mehr regelmäßig sehen müsste. Sein eindringlicher Blick verunsicherte sie und erschwerte es ihr, seinen Argumenten schlagfertige Antworten entgegenzusetzen.
Er schenkte ihr ein freundliches, beinahe aufreizendes Lächeln. „Ich werde mich um alles kümmern. Sie können Ihren übrigen Angelegenheiten nachgehen, bis die Sache ins Laufen kommt und Gewinn erzielt. Dann können Sie sich immer noch überlegen, was Sie mit dem ganzen Geld anstellen wollen.“ Er griff in eine Tasche seines Gehrocks und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. „Da wir gleichwertige Partner sind, müssen wir uns über Entscheidungen hinsichtlich der Geldmittel und Entwicklungen einigen. Aber wenn Sie dieses Dokument unterzeichnen, kann ich Sie von dieser lästigen Aufgabe befreien.“
Sie nahm das Blatt an sich und studierte es. Währenddessen erhob er sich, holte einen Füller sowie das Tintenfass vom Schreibtisch, welches er auf dem Tischchen neben dem Diwan abstellte.
„Verstehen Sie den Inhalt des Abkommens?“, fragte er.
Teilweise. Größtenteils. Trotz einiger komplizierter Ausdrücke, glaubte sie, die Kernaussage begriffen zu haben. „Dieses Dokument würde Ihnen die alleinige Kontrolle über das Unternehmen, Vertragsabschlüsse, Finanzen und die zukünftige Verwendung der Erfindung geben, ohne dass es meiner Unterschrift bedarf.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Halten Sie mich für eine Närrin, Mr Radnor? Falls ich meinen Anteil nicht verkaufe – bisher habe ich jedoch nichts gehört, was mich vom Gegenteil überzeugt –, will ich in alle zukünftigen Entscheidungen miteinbezogen werden. Diesen Wisch werde ich keinesfalls unterschreiben.“
Sie ließ das Dokument zu Boden fallen.
Abrupt stand er auf, wandte sich von ihr ab und murmelte etwas vor sich hin. Sie glaubte, die Worte „unmögliches Weibsbild“ zu vernehmen, eingebettet zwischen blumigen Beschimpfungen. Sie wartete einige Augenblicke, bis er sich wieder beruhigte. Endlich drehte er sich zu ihr um, doch der Ärger stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.
„Es wird dreimal so lange dauern, irgendetwas zu erreichen, wenn Sie überall mitmischen wollen. Ich werde Ihnen jede Entscheidung bis ins kleinste Detail erklären und Ihnen die Grundzüge der Mathematik und des Maschinenbaus beibringen müssen“, knurrte er. „Allein, Sie zu finden, war ein langwieriges Unterfangen, das dem Unternehmen bereits beträchtlich geschadet hat.“
Sie erhob sich forsch. „Und doch bin ich nun hier. Beantworten Sie mir noch eine Frage, Mr Radnor: Haben Sie bisher je ein erfolgreiches Geschäft geführt?“
Sein Zögern war Antwort genug.
„Nun, ich schon. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe heute Nachmittag noch andere Termine.“ Hocherhobenen Hauptes marschierte sie aus der Bibliothek. Erst, als sie wieder auf ihrem Zimmer war, ließ sie ihrer Frustration freien Lauf, presste ihr Gesicht gegen das Kissen und schrie, so laut sie konnte.
„Nun, ich schon“, äffte Kevin Rosamund Jamesons letzte Erwiderung nach, während er seinen Cousins von dem Treffen mit dieser nervtötenden Frau berichtete. So ganz traf er ihre Stimmlage jedoch nicht. Sie klang sanfter, beinahe schon samtig. Aber das spielte keine Rolle. Wichtig war, was sie gesagt hatte. „Als wäre ein kleiner Hutladen für Frauen dasselbe wie die Führung eines industriellen Unternehmens.“
Es tat gut, seinem Frust bei Chase und Nicholas Luft zu machen. Sie saßen in Nicholas‘ Ankleidezimmer, auf den hässlichen, blauen Polsterstühlen, die dieser gemeinsam mit Whiteford House und dem Herzogtitel geerbt hatte. Nach einem Monat auf dem Landsitz war sein Cousin nun wieder nach London zurückgekehrt. Sein Gepäck lag noch verstreut im Zimmer herum, da er den Kammerdiener weggeschickt hatte, als Chase und Kevin eintrafen.
Bei einer Flasche Rotwein hatten sie sich über Politik und Chases junges Eheglück unterhalten, bis dieser sich schließlich nach dem Unternehmen erkundigte.
„Das Gespräch war also reine Zeitverschwendung“, fasste Nicholas zusammen.
Kevin beobachtete, wie die orangeroten Flammen des Kamins sich in seinem Weinglas spiegelten. „Sie zeigte keinerlei Einsicht.“
Seine Cousins schwiegen eine Zeit lang. Er wusste genau, was das bedeutete: Sie hießen sein Verhalten nicht gut. Jetzt würde er sich anhören müssen, was er falsch gemacht hatte, wie ein kleiner Junge, der von zwei aufdringlichen Tanten gerügt wurde.
„Ich habe sie in keinster Weise beleidigt“, fügte er hinzu, da Chase den Inhalt des Gesprächs an Minerva weitergeben könnte. Natürlich glaubte er nicht, dass sie ihm wirklich das Leben zur Hölle machen würde, aber sie könnte es, wenn sie wollte.
„Du hast ihr allerdings auch nicht gerade geschmeichelt“, erwiderte Chase.
„Das stimmt nicht.“ Immerhin hatte er sie als anmutig bezeichnet, was er seinen Cousins jedoch nicht unbedingt auf die Nase binden wollte. Es war ihm einfach so herausgerutscht und hatte sie beide überrascht. Aber trotz ihrer hitzigen Diskussion hatte er ihre offensichtliche Schönheit nun einmal nicht ignorieren können. Leider hatte sich das für ihn als unfairer Nachteil erwiesen. Hätte er sich nicht von ihrer Attraktivität und Selbstsicherheit ablenken lassen, wäre er nun im Besitz eines unterzeichneten Dokuments.
„Tatsächlich habe ich angedeutet, dass sie eine äußerst vernünftige, clevere Frau zu sein scheint.“ Das war zwar ziemlich weit hergeholt, aber immerhin hatte er sie nicht als einfältig, gefühlsbeherrscht oder dumm bezeichnet, was automatisch bedeutete, dass er sie für das Gegenteil hielt.
„Gut zu wissen“, sagte Chase mit einem Anflug von Erleichterung.
Also hatte Minerva ihn doch dazu angestiftet, Einzelheiten über das Gespräch herauszufinden.
Nicholas streckte die Beine aus. „Andeutungen reichen nicht aus. Es klingt nicht so, als wärt ihr im Guten auseinandergegangen. Du solltest dich bei ihr entschuldigen. Jetzt sieh mich nicht so an! Im Moment bleibt dir nichts anderes übrig, denn du kannst es dir nicht leisten, ihr den geerbten Anteil abzukaufen, also hast du sie in nächster Zeit am Hals. Du musst einen Weg finden, mit ihr auszukommen. Ein freundschaftliches Verhältnis würde die Wogen glätten und dir viel mehr bringen als gegenseitiger Verdruss.“
„Damit hat er recht“, pflichtete Chase bei. „Und das würdest du auch sofort einsehen, wenn du nicht von der Bitterkeit darüber geblendet wärst, dass Onkel Frederick dieser Frau einen Teil deines Unternehmens vermacht hat.“
Widerwillig musste Kevin zugeben, dass Nicholas nicht ganz unrecht hatte. „Na schön, ich kann sie ja in Richmond besuchen und ihr vorschlagen, eine Lösung zu finden, die unser beider Interessen vertritt.“
„Das musst du gar nicht“, erwiderte Chase. „Sie wird noch eine Weile bei uns bleiben, während sie sich nach einem Haus in London umsieht.“
Diese Neuigkeit gefiel ihm überhaupt nicht. Er hatte gehofft, sie würde bald wieder von der Bildfläche verschwinden. „Dann schaue ich eben bei euch vorbei.“
Nicholas wandte sich an Chase. „Womit genau hat Kevin es zu tun? Was hältst du von ihr?“
„Sie ist definitiv nicht auf den Kopf gefallen. Außerdem sollte ich erwähnen, dass sie ziemlich attraktiv ist. Findest du nicht auch, Kevin?“
Dieser nickte gleichgültig, wie ein Mann, der sich bislang keine großen Gedanken darüber gemacht hatte.
„Ach, tatsächlich“, sagte Nicholas interessiert. „Wie attraktiv? Mittelmäßig oder überdurchschnittlich?“
„Als verheirateter Mann sollte mir so etwas eigentlich nicht auffallen …“, begann Chase. „Aber mein erster Eindruck von ihr war … Nun, sie ist irgendwie sinnlich.“
Kevin bemühte sich weiterhin um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck.
Nicholas grinste breit. „Na, dann dürftest du ja keine Probleme haben, dich mit ihr anzufreunden, mein Lieber.“
„Genug davon“, entgegnete Kevin und fügte in der Hoffnung, das Thema zu wechseln, hinzu: „Ich habe mich etwas gefragt, Nicholas. Als unverheirateter Herzog in der Blüte seiner Jahre dürftest du diese Saison doch der begehrteste Junggeselle unter den heiratswütigen Damen der Gesellschaft sein, nicht wahr? Letztes Jahr ließ man dich wegen der Trauer um unseren Onkel in Ruhe, aber dahinter kannst du dich nicht länger verstecken. Wie willst du dir in den kommenden Monaten die aufdringlichen Mütter sämtlicher junger Damen aus gutem Hause vom Hals halten?“
Rosamund ging die schier unendliche Liste an Dingen durch, die sie zu erledigen hatte. Für diesen Nachmittag stand eine der dringlichsten Angelegenheiten an: Sie wollte sich mit einem Gentleman treffen, der ihr dabei helfen sollte, schnellstmöglich ein geeignetes Heim in London zu finden. Immerhin konnte sie ihren Gastgebern nicht ewig zur Last fallen.
Zuvor wollte sie jedoch die angesagtesten Einkaufsstraßen erkunden. Im Spiegel prüfte sie ihre Haube, strich sich die purpurne Pelisse glatt und schnappte sich dann ihren Pompadour und die Handschuhe. In dem Wissen, dass sie das Bestmögliche aus ihrer Erscheinung herausgeholt hatte, ging sie hinunter in die Eingangshalle.
Dort wurde sie von einem Bediensteten begrüßt. „Soll ich Ihnen eine Kutsche vorfahren lassen? Ich wurde angewiesen, den Kutscher zu rufen, um Sie in die Stadt zu bringen, für den Fall, dass Sie ausgehen möchten.“
„Ich werde lieber zu Fuß gehen, danke.“
„Aber ich wurde doch angewiesen …“
Der arme, junge Mann schien darüber besorgt, einen Befehl zu missachten, den sie jedoch nicht selbst erteilt hatte. Sie wollte nicht neben einem Kutscher im Einspänner sitzen, der ungeduldig darauf wartete, dass sie ihre Angelegenheiten erledigte. Außerdem wäre es besser, gerade zu ihrem heutigen Termin zu Fuß zu erscheinen.
„Wenn der Einspänner bereitsteht, kann ich die Dame fahren.“
Sie drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Oh, Sie sind es.“
Kevin Radnor verbeugte sich leicht.
„Was wollen Sie hier?“
„Ich habe auf Sie gewartet.“
„Wir haben für diese Woche doch bereits genug Zeit miteinander verbracht, finden Sie nicht?“
„Wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich nicht sonderlich freundlich oder respektvoll war, stimme ich Ihnen zu.“
Sein Geständnis überraschte sie. Männer gaben ihre Fehler für gewöhnlich nie zu. Die Bereitwilligkeit, sein unangebrachtes Verhalten einzugestehen, war entwaffnend.
„Meine Angelegenheiten würden Sie wohl kaum interessieren. Es ist besser, wenn ich zu Fuß gehe.“
„Es macht mir wirklich nichts aus, Sie zu fahren.“
Der Butler hatte bereits nach der Kutsche rufen lassen. Sie konnte Mr Radnor nicht loswerden, ohne selbst unfreundlich oder respektlos zu erscheinen, daher ließ sie sich anstandslos von ihm nach draußen geleiten.
„Ihre Haube gefällt mir“, sagte er.
Offensichtlich wollte er ihr nur schmeicheln, aber nichtsdestotrotz berührte sie mit einem verstohlenen Lächeln die Krempe.
„Haben Sie sie angefertigt?“
„Ich trage ausschließlich eigene Kreationen.“
„Die Farbe passt zu Ihrem Kleid und steht Ihnen ausgezeichnet. Fertigen Sie individuelle Stücke für jede Ihrer Kundinnen an?“
„Selbstverständlich.“ Sie erklärte ihm ausführlich, dass die Hauben den unterschiedlichen Gesichtsformen angepasst werden mussten, dass manchen Frauen ein dünnes Kinnband mehr schmeichelte, anderen wiederum ein breiteres. Er schien ihr aufmerksam zuzuhören, doch als die Kutsche vorfuhr, fragte sie sich, ob er wirklich bei der Sache war.
„Ich wollte mich auf der Oxford Street umsehen, ob es dort Ladenlokale zu mieten gibt“, sagte sie.
Sobald sie beide auf dem Kutschbock saßen, fuhr er los. „Sie wollen also ein Geschäft in London eröffnen?“
„Vielleicht.“
„Was wird dann aus Ihrem Laden in Richmond?“
„Den würde ich eventuell auch behalten. Alles hängt davon ab, wie sich die nächsten Tage hier gestalten.“
„Chase sagte mir, Sie würden gerne hierher ziehen.“
„Auch das hängt von den nächsten Tagen ab.“ Sie sollte nicht vergessen, dass die Radnors Cousins waren und ihr Gastgeber Kevin gewiss alles erzählen würde, was dieser zu wissen verlangte.
„Sollten Sie dann nicht lieber nach Häusern statt nach Ladenlokalen suchen?“
Würde er ihr jetzt etwa den ganzen Tag über ungebetenen Rat erteilen? „Zunächst möchte ich mir die Geschäfte ansehen, wenn es Ihnen recht ist.“
Er bog auf die Oxford Street ein und hielt die Kutsche an, band die Zügel an einem Pfosten fest und gab einem Jungen eine Münze, um den Einspänner zu bewachen. Anschließend half er ihr beim Absteigen.
„Vielen Dank, von hier aus komme ich allein zurecht“, begann sie hoffnungsvoll. „Für den Rückweg nehme ich mir nachher einfach eine Droschke.“
„Ich werde Sie begleiten. In der Stadt ist es für eine Frau allein nicht sicher. Außerdem habe ich noch nie zuvor nach einem Ladenlokal gesucht, das interessiert mich.“
Auf der Oxford Street selbst gab es nichts Passendes, aber in den Querstraßen entdeckte sie ein paar Geschäfte, die zu vermieten waren. Durch das Schaufenster betrachtete sie einen Laden auf der Gilbert Street, bevor sie wieder auf die Haupteinkaufsstraße zurückkehrte und den Blick Richtung Himmel hob.
Kevin Radnor, der neben ihr herging, tat es ihr gleich. „Wonach suchen wir?“
„Nach Räumlichkeiten, die nicht auf Straßenhöhe sind, wie zum Beispiel diese hier.“ Sie hielt vor einem Fenster an, in dem ein „Zu vermieten“-Schild hing. Das fragliche Geschäft befand sich im zweiten Stock.
„Die meisten Frauengeschäfte in London befinden sich in den oberen Stockwerken“, sagte sie, mehr zu sich selbst. „Natürlich ist das wesentlich günstiger. Andererseits …“ Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete den Laden auf Straßenhöhe. Es war ein Juwelier. „… ist es auch wesentlich abgeschiedener. Sobald eine Frau den Laden betritt, wird sie unsichtbar, bis sie ihn wieder verlässt. Niemand kann sie durch das Schaufenster beobachten. Die Frage ist doch …“ Sie ging zurück um die Ecke und überquerte die Straße, um zu prüfen, wie sichtbar der Standort für Passanten war.
Kevin Radnor folgte ihr auf dem Fuße. „Die Frage ist?“
„Wäre ein Laden auf Straßenhöhe vorteilhafter oder nicht? Mein Geschäft in Richmond blickt direkt auf die Straße, und eine gut sichtbare Warenauslage zieht neue Kundschaft an. Auch der Hutmacher, für den ich früher in London arbeitete, befand sich im Erdgeschoss. Die Modistinnen in Mayfair bevorzugen jedoch noch aus anderen Gründen als den Kosten eine höhere Lage. Ein Etablissement, das zu leicht zugänglich ist, genießt kein hohes Ansehen. Wissen Sie zufällig, ob die Läden auf Straßenhöhe hier als zu vulgär gelten?“
„Keine Ahnung. Ich kaufe keine Frauenware.“
„Viele Männer kaufen Frauenware, Mr Radnor. Ich würde Sie für einen äußerst ungewöhnlichen Gentleman halten, wenn das nicht der Fall wäre.“
„Ach, Sie meinen für Geliebte und dergleichen. Es gibt für mich keinen Anlass, diese Art von Geschenken zu kaufen.“
Unwillkürlich musste sie lächeln. „Sie sind also noch nie einer Frau verfallen, und jetzt behaupten Sie, es hätte noch nie eine Geliebte gegeben, der Sie Geschenke gekauft haben. Sind Sie etwa ein Mönch?“
Er sah ihr geradewegs in die Augen. „Keinesfalls.“
In diesem Moment lernte sie eine neue Seite an Kevin Radnor kennen. Plötzlich wirkte er nicht mehr grüblerisch, sondern regelrecht sinnlich. Es überraschte sie, dass er sich ihr auf diese Weise präsentierte, doch dann wurde ihr klar, was wirklich dahintersteckte: Er interessierte sich für sie.
Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Noch weniger auf die Reaktion ihres Körpers. Sein glühender, eindringlicher Blick hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen und jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.
Er deutete auf das Geschäft. „Ich weiß zwar nicht, was üblich ist, könnte mir aber vorstellen, dass eine Dame nur ungern die Stufen bis in den zweiten Stock erklimmen würde. Nur, weil etwas ungewöhnlich ist, muss es nicht zum Scheitern verurteilt sein.“
„Ich werde Minerva diesbezüglich zu Rate ziehen, aber vermutlich haben Sie recht. Warum sollten Frauen sich abmühen müssen, nur um eine Haube oder ein Kleid zu kaufen?“ Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg zurück zur Kutsche, wobei sie sich Kevin Radnors Wärme an ihrer Seite nur allzu bewusst war.
Als Kevin den Einspänner vor einem Haus auf der Chapel Street anhielt, wartete der Makler bereits auf sie. Während er die Zügel festband, betrachtete er die Fassade. Das Gebäude wirkte alles andere als bescheiden. Über dem erhöhten Eingang erstreckten sich drei Stockwerke. In einer Nachbarschaft wie dieser würde man dafür einen beachtlichen Preis hinlegen müssen.
Offenbar konnte Miss Jameson es kaum erwarten, ihre Erbschaft mit vollen Händen auszugeben.
Er half ihr beim Absteigen und stellte sie dem Makler vor, nachdem dieser ihm seine Visitenkarte überreicht hatte. Mit einem Lächeln öffnete Mr Maitland ihnen die Tür. „Wenn es Ihnen recht ist, sehen wir uns die Küche und die Räumlichkeiten im Kellergeschoss zuletzt an, Sir. Die meisten Paare sind mehr an den öffentlichen Räumen interessiert. Hier vorne ist die Bibliothek.“
„Ich glaube, es liegt ein Missverständnis vor, Mr Maitland“, mischte Miss Jameson sich ein. „Mr Radnor begleitet mich heute zwar, aber ich werde das Haus alleine beziehen.“
Der Makler zeigte keine Überraschung, warf Kevin jedoch einen vielsagenden Blick zu, bevor er die luftige Geräumigkeit der Bibliothek anpries.
Miss Jameson wanderte umher und schien nicht bemerkt zu haben, welche Schlüsse Mr Maitland über sie gezogen hatte. Kevin sah keinen Grund dazu, sie darauf hinzuweisen oder den Makler aufzuklären. Er würde die Wahrheit schon herausfinden, sobald sie den Mietvertrag unterzeichnete.
Vor den leeren Bücherregalen, die die gesamte Wand um den Kamin einnahmen, blieb sie stehen. „Sie wirken etwas trostlos.“
„Das wird sich ändern, sobald Sie sie befüllen“, gab Mr Maitland zu bedenken.
Miss Jameson nickte kaum merklich. Sie folgte dem Makler durch das Esszimmer in das Wohnzimmer. Im ersten Stock befanden sich der Salon, eine Galerie sowie separate Wohngemächer. Darüber gab es weitere Schlafzimmer, und im obersten Geschoss schließlich die Kammern der Bediensteten.
„Ein wirklich wunderbares Haus“, sagte Kevin, als sie die Stufen wieder hinunterstiegen. „So groß.“ Wozu brauchte eine Frau allein so viel Platz?
Miss Jameson verlangsamte ihre Schritte, bis er sie auf der Treppe eingeholt hatte. „Diese Straße liegt in einer guten Gegend, nicht wahr?“, fragte sie leise.
„In einer hervorragenden sogar. Aber für dieses Haus bräuchten Sie mindestens drei Angestellte, wenn nicht sogar fünf oder sechs. Und zusätzlich noch Stallburschen oder Kutscher, wenn Sie sich Pferde oder ein Gefährt zulegen wollen.“
Vor der Bibliothek hielt sie inne und wartete, bis Mr Maitland sich etwas weiter von ihnen entfernt hatte. „Es ist also ein Haus, in dem eine Lady wohnen würde, sagen Sie.“
„Jeder, dem es gefällt und der es sich leisten kann, würde hier wohnen. Aber, ja, es wäre definitiv angemessen für eine Lady.“
„Das finde ich auch.“ Sie legte den Kopf schief. „Wo wohnen Sie?“
„In meinem Elternhaus, wann immer ich in London bin.“
„Sie wohnen noch bei Ihren Eltern?“
„Es gibt nur noch meinen Vater, und das Haus ist riesig. Würde ich mich nicht hin und wieder zum Abendessen bei ihm blicken lassen, würden wir uns überhaupt nicht sehen.“
„Interessant.“ Sie ging auf Mr Maitland zu, der geduldig vor der Tür wartete, die zum Untergeschoss führte.
Nach der Führung ließ der Makler sie allein, um sich das Gebäude noch einmal in Ruhe anzusehen oder, wie Kevin vermutete, zu besprechen, ob es für die Geliebte eines Mannes zufriedenstellend war. Miss Jameson kehrte in die Bibliothek zurück und betrachtete abermals die Bücherregale.
„An eine eigene Bibliothek hatte ich nie gedacht.“ Sie warf ihm einen Blick zu, als hätte sie ihn jetzt erst bemerkt. „Ich besitze keine Bücher. Leere Regale würden doch merkwürdig aussehen.“
„Dann müssen Sie einfach welche kaufen. Sie können sich aussuchen, was immer Sie wollen. Oder Sie beauftragen einen Buchhändler, Ihnen eine Auswahl zusammenzustellen.“ Er bemerkte, wie sie die Stirn runzelte. „Sie können doch lesen?“
„Ja, wenn wohl auch nicht gut genug, um die Empfehlungen eines Buchhändlers wertschätzen zu können.“ Sie schlenderte an ihm vorbei zur Tür. „Ich sollte besser ein wenig üben, damit ich zukünftig alle wichtigen Dokumente verstehe, die mir vorgelegt werden.“
Am liebsten würde er sich für seine taktlose Frage ohrfeigen. Immerhin hatte sie ja vor seinen Augen den Vertrag durchgelesen, den er sie unterzeichnen lassen wollte. „Übung macht den Meister. Was lesen Sie denn gerne?“
„Vor einigen Jahren versuchte ich mich an einem Roman über Ritter und Hofdamen. Er hat mir gefallen, aber leider konnte ich ihn nicht zu Ende lesen, da die Bibliothek ihn an jemand anderen verliehen hatte. Vielleicht finde ich irgendwo eine andere Ausgabe der Geschichte.“
Nach der Besichtigung schloss Mr Maitland die Haustür ab und verabschiedete sich. Miss Jameson legte den Kopf in den Nacken und musterte die Fassade des Gebäudes, wobei Kevin einen Blick auf ihr Profil erhaschte. Das Wort „liebreizend“ kam ihm in den Sinn. Ihr Gesicht war mehr klassisch elegant als hübsch. Sinnlich, so wie Chase sie beschrieben hatte, war sie vom Hals abwärts. Selbst unter ihrer Pelisse konnte er ihre vollen Brüste und die schmale Taille ausmachen. Während des letzten Tages hatte er zu viel Zeit damit verbracht, sie in Gedanken zu entkleiden, um den prachtvollen Körper unter den Stofflagen zu erkunden.
Er musste sich zusammenreißen, wenn er im Zuge ihrer weiteren Verhandlungen nicht wie ein Idiot dastehen wollte. Vielleicht hatte sein Onkel sich ja einen skurrilen Scherz damit erlaubt, ihm Miss Jameson als Geschäftspartnerin aufzuhalsen. Manchmal war der Humor des Herzogs nur schwer zu verstehen gewesen.
Miss Jameson wandte sich der Kutsche zu. „Ich denke, ich werde den Mietvertrag unterzeichnen.“
„Das Haus ist sehr groß.“ Er wollte um jeden Preis verhindern, dass sie über die Stränge schlug und ihr Vermögen mit vollen Händen ausgab. Denn wenn sie mehr Geld bräuchte, würde sie gewiss ihren Anteil des Unternehmens ohne zu zögern verkaufen.
„Das sagten Sie bereits. Man bräuchte mindestens drei Bedienstete. Aber es gefällt mir, dass es den Ansprüchen einer Lady genügen würde.“
„Wollen Sie denn wie eine leben?“
Sie ließ sich von ihm auf die Kutsche helfen. „Ich möchte wie die Erbin leben, die ich nun bin. Sobald ich alles durchgerechnet habe, werde ich meine Entscheidung treffen.“
Nach dem Abendessen zog Rosamund sich gemeinsam mit Minerva in die Bibliothek zurück.
„Das Haus klingt wunderbar“, nahm ihre Gastgeberin den Gesprächsfaden vom Dinner wieder auf. „Die Gegend ist ziemlich gehoben.“
