Die Facebook-Entführung - Jürgen Hoffmann - E-Book

Die Facebook-Entführung E-Book

Jürgen Hoffmann

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hubertus Link, 53, ist ein erfolgreicher Internet-Unternehmer, aber einer auf Abwegen. "Du musst dein Leben ändern!", aber wie? Es muss etwas Großes sein, etwas Radikales, etwas, das ihn an den Abgrund führt. Es muss etwas sein, das ihm zu einer maximalen Sichtbarkeit verhilft, zunächst in den sozialen Medien und anschließend darüber hinaus. Link entführt Sebastian Molitor, 22, den Sohn des Millionärs Friedrich Molitor, in dem er den Vertreter einer Generation sieht, die er zutiefst verachtet. "Sebastian ist das alles ins schöne Gesicht geschrieben, der erfolgreiche Vater, die für einen 22-Jährigen unfassbare Selbstgenügsamkeit, die Denkfaulheit, sein kleinmütiger, unauffälliger Narzissmus, sein Nicht-Getriebensein, diese totale Langeweile, ausstaffiert mit Partys, netten Freunden, interessanten Praktika und einem Studium der BWL. Meine Aufgabe ist, seinen Gesichtsausdruck grundlegend zu verändern. Wenn er es überlebt, wird die Entführung für Sebastian Molitor etwas sein, was alles zum Besseren wendet. Etwas, was einen Menschen aus ihm macht, dem man nicht mehr unbedingt, sofort und mit aller Gewalt, in die Fresse schlagen möchte." Es geht Link nicht um Geld oder Sex, sondern um die Tat an sich, mit der er ein Zeichen setzen will. Deshalb "überträgt" er die Entführung teilweise auf Facebook, was der Entführung einen besonderen Spin geben soll. Das funktioniert, die im Internet-Business geltenden "Leistungskennziffern", also Traffic, Awareness, Social Buzz, entwickeln sich prächtig. Die eigentliche Entführung aber erweist sich zunehmend als Alptraum - in einem dramatischen Showdown schießt sich Link eine Kugel in den Kopf. Sebastian Molitor nutzt seine neue Bekanntheit und gründet nach der Entführung auf Facebook eine politische Bewegung im Sinne Links, die schnell viele Anhänger gewinnt und sich zunehmend radikalisiert. Molitor und seine Mitstreiter ziehen alle Register, zum Einsatz kommen Social Bots, Fake News, Crowd-Sourcing und durch Maschinen erzeugter Traffic.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 340

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Jürgen Hoffmann

Die Facebook-Entführung

Kriminalroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Konzept Entführung, neuester Stand

DAVOR

DANACH

Wie kam es zu der Entführung?

Sebas, wie ihn seine Freunde nennen

First Post, second Post

Was vor den Posts geschah (Das erste Gespräch nach der Entführung)

Nach der Abreibung

On Facebook

Dallanski kommt ins Spiel

Was Link sich vorstellt (aber dann doch nicht tut, vorerst)

Wie ist es Sebastian in der Zwischenzeit ergangen?

Wie Facebook uns guttut

Lovley Rita, Roswitha Maid

Treffen Link / Dallanski: Wenn ich ich wäre

Don’t post it on Facebook

Link rast vor Wut

Schau Sebas, schau: Roswitha!

Sieh dir den an!

Show me the Showdown

Das Interview

Friedrich Molitor:

Roswitha Grub

Hubertus Link

Sebastian Molitor:

Dallanski:

Impressum neobooks

Das Konzept Entführung, neuester Stand

Das Leben ist ein zäher, lahmer Fluss, ganz sicher träumen wir von einem anderen Leben, aber wir sind klug genug, uns mit dem zu bescheiden, was ist. Und doch steht es uns frei, aus dem natürlichen Lauf der Dinge auszubrechen und die unzähligen kleinen Anstrengungen zu ersetzen durch eine einzige Tat.

I Etwas starten wollen

Eine Entführung muss heute so aussehen, so:

Ich schnappe mir eine junge Frau oder einen jungen Mann, sperre sie oder ihn in meinen Keller und mache mit ihr oder ihm exakt das, was ich machen will, es ist komplett mein Ding, meine Sache, meine Melodie, mein Song, mein Film, meine Tasse Tee, mein Projekt. Das Opfer muss jung sein und auf der Sonnenseite stehen, ein Vertreter der Generation, die nichts verdient außer Verachtung. Sie oder er, es ist Sebastian Molitor. Sein Vater, Friedrich Molitor, ist ein großes Tier hier in Frankfurt, groß, aber lächerlich, ein Depp vor dem Herrn, Inhaber einer PR-Agentur mit – und das ist viel für ein Unternehmen dieser Art – 60 Mitarbeitern. Sebastian ist das alles ins formschöne Gesicht geschrieben, der erfolgreiche Vater, die für einen 22-Jährigen unfassbare Selbstgenügsamkeit, die Denkfaulheit, sein kleinmütiger, unauffälliger Narzissmus, sein Nicht-Getriebensein, diese totale Langeweile, ausstaffiert mit Partys, netten Freunden, interessanten Praktika und einem Studium der BWL. Meine Aufgabe ist, seinen Gesichtsausdruck grundlegend zu verändern. Wenn er es überlebt, wird die Entführung für Sebastian Molitor etwas sein, das alles zum Besseren wendet. Etwas, das einen Menschen aus ihm macht, dem man nicht mehr unbedingt, sofort und mit aller Gewalt, in die Fresse schlagen möchte.

Damit es nicht langweilig wird oder damit es noch weniger langweilig wird, werde ich Sebastian Molitor die Möglichkeit geben, während der Entführung unter meiner strengen Aufsicht Nachrichten auf Facebook zu posten. Ich verspreche mir viel davon, die Facebook-Entführung, exklusiv für die Netzgemeinde, für die dumme Crowd, die jetzt mal schön zeigen kann, ob ihr in einem solchen Ernstfall mehr einfällt als dummes Geblöke.

Ist das Schwachsinn, ist das krank? Meinetwegen, es ist mir egal. Dass es womöglich in den Augen irgendwelcher kleingeistiger Idioten kranker Schwachsinn ist, bedeutet nicht, dass es nicht möglich ist. Dass ich es nicht machen sollte. Es ist meine Entscheidung. Und meine Entscheidung ist gefallen.

DAVOR

Das Raunen eines Achtzehnjährigen. Aber ich bin 53.

Kontrolliere dein Gesicht

Kontrolliere, was du sagst

Kontrolliere einen anderen

Als die Entscheidung da war, sie über mich kam wie ein Geschenk von außen oder ein Botenstoff von innen, schien alles mit einem Mal klar. Man muss begreifen, dass manche Dinge nur deswegen nicht passieren, weil wir sie nicht passieren lassen. Mein neuer Lieblingssatz: Es ist in meiner Macht.

Man kann sich vorstellen, einen anderen Menschen zu entführen oder ein Auto an einem belebten Platz in die Luft zu sprengen, und das ist nichts. Lächerliches, dummes Zeug in deinem lächerlichen, dummen Kopf, eine Verschwendung, ein Witz, ein hässliches Gewirr in deinem Innern, das aus dir einen Freak macht, der nichts Gutes verdient.

Oder du tust es wirklich.

All diese Menschen da draußen mit ihren dunklen, verschlossenen Gesichtern sind das Einzige, das es wert ist, mich in Rage zu bringen und alles zu geben, sie sind fantastischer als alles, was die Welt sonst zu bieten hat. Man kann mit ihnen Beziehungen pflegen oder sie feindlich übernehmen. Einen von ihnen. Der es besonders verdient hat.

Man kann es sich vorstellen oder man kann es wirklich tun. Das ist die Erkenntnis, die mein Leben verändert hat.

DANACH

Umso mehr Schmerz ich ihm zufüge, desto besser für ihn.

Im Grunde müsste ich ihn töten, um selbst heil aus der Sache herauszukommen. Ich weiß nicht, ob ich es tun werde. Ich habe es nicht vor, aber ich schließe es auch nicht aus.

Wir haben keine Ahnung, wer wir sind. Ist das Schicksal gnädig, wirst du nie erfahren, ob du in der Lage bist, einen anderen Menschen zu töten. Oder dich selbst.

WER IST HUBERTUS LINK, 53?

Er würde es so nie sagen, aber was er denkt, ist:

Es ist unglaublich einfach, Erfolg zu haben. Wenn man ohne Aufhebens darum zu machen die Standards erfüllt, die Basics. Regel eins ist, fleißig zu sein, diszipliniert, fokussiert. Statt darüber zu lamentieren, früh aufstehen zu müssen: früh aufstehen. Statt darüber zu jammern, die Nacht für eine Präsentation durcharbeiten zu müssen: die Nacht durcharbeiten für eine Präsentation. Statt sich davon vergiften zu lassen, im Meeting von einem Vorstandskollegen ungerecht behandelt zu werden: es akzeptieren, abspeichern, den nächsten Schritt gehen. Regel zwei ist, den eigenen Kopf sauber zu halten von all dem Mist, der draußen in der Welt ist und dauernd bei dir anklopft. Ignoriere die falschen Träume, die dich bedrängen, denke nicht darüber nach, wie du bist, wer du bist und was die anderen von dir halten. Regel drei lautet, auf die Macht des Vorwärtsstrebens zu vertrauen. Wie ein Baseball-Spieler, der ständig angerempelt wird und sich davon einfach nicht beeindrucken lässt. Jeder Sieg erkauft durch Schmerzen.

Hubert Link kennt sein Opfer. Sebastian Molitor, ein hübscher Junge mit einem Gesicht, dem fehlt, worauf es ankommt. Links irrer Gedanke ist, es sei seine Aufgabe, das zu ändern.

Wie kam es zu der Entführung?

Link war bis 22 Uhr in seinem Büro, es ist seine Firma, 300 Mitarbeiter, er ist einer von drei Chefs, wen ihm jemand gefällt, schiebt er ihn in der Hierarchie ein Stück nach oben, wenn jemand anfängt, ihn zu stören, sorgt er dafür, dass er das Unternehmen verlässt.

Das Vergnügen, als Letzter das Gebäude zu verlassen, ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Er geht durch die leeren Gänge und alles, was er sieht, erinnert ihn an ihn selbst. Sein dicker, gepolsterter 7er BMW in der Tiefgarage empfängt ihn wie einen Freund.

Link fährt an diesem Abend nicht gleich nach Hause, sondern zu einem dieser legendären Events, die Friedrich Molitor in unregelmäßigen Abständen veranstaltet. Alle paar Monate bekommen Link und etwa 50 andere Männer, die unter dem Label Rough Trade eine formlose Gemeinschaft bilden, ein Mail, in dem nicht mehr mitgeteilt wird als eine Adresse und ein Datum. Obwohl Link den alten Molitor und dessen Inszenierungen verachtet, geht er hin. „Es ist etwas in uns“, denkt er, „das uns auffordert, etwas zu tun, das nicht in unser Leben passt. Wir brauchen etwas, von dem die anderen nichts wissen. Wenn wir in einem Meeting sitzen oder ein Geschäftsgespräch führen, müssen die anderen eine Ahnung davon bekommen, dass hinter unserer Straightness ein Abgrund lauert, ein Schatten, ohne den wir nicht so stark wären, wie wir sind.“

Die Zusammenkünfte finden in alten Villen oder ehemaligen Industrieanlagen statt, die Räume sind diffus beleuchtet, Räume wie Drogen, das ist das Konzept. Man bewegt sich sofort anders, wenn man das Gebäude betritt, man hat das Gefühl, Sex zu haben, noch bevor irgendeines der Mädchen einen berührt. Man hat keine Vorstellung davon, wie groß die Zimmer sind, der Eindruck ist: sie sind riesig, nahe an unendlich. Die Augen weit geschlossen, eyes wide shut, es ist wie ein billiger Nachbau des Stanley-Kubrick-Films mit Nicole Kidmann und Tom Cruise. Nicht so hart wie das Original, damit es in der Wirklichkeit funktioniert, aber immer noch mit genügend Sex und leichten Drogen, um in einen angenehmen Schwindel zu geraten.

Link gehört zu denen, die sich zurückhalten, er hat keinen Sex vor den Augen anderer, aber es ist aufregend, berührt zu werden, diese Berührungen zu erwidern und sie dann sanft zurückzuweisen, was immer sofort akzeptiert wird. Voyeure sind kein Problem bei Molitors Partys, es gibt genügend Gäste, die es zu schätzen wissen, beobachtet zu werden und das Schnaufen und Flüstern der anderen zu hören.

Es ist, wie es ist, bis zu dem Moment, als ein junger Mann ihn von hinten umarmt, und Link, nachdem er sich losgemacht hat, erkennt, um wen es sich handelt: Sebastian Molitor, der Sohn des Gastgebers. Er trägt einen Kapuzenpulli und weiße Sneakers. Link muss mit dem Jungen sprechen, sofort, und weil das gegen die Regeln verstößt, packt er Sebastian im Nacken, zieht ihn zu sich heran und flüstert ihm ins Ohr.

„Sebastian, du musst hier weg.“

Der Junge drückt sich näher an ihn, viel zu nah, es ist nichts Sexuelles, es ist besser. Link spürt Sebastians schockierend weiche Wange und fordert ihn auf, mitzukommen. Sebastian willigt arglos ein und besiegelt damit sein Schicksal.

Getrocknetes Blut am Kinn ist eine gute Erfahrung. Sebastian erwacht mit einem sanften Dröhnen im Kopf und braucht Zeit, sich zu orientieren. Er trägt die Kleidung vom gestrigen Abend, ist aber barfuß, die Bewegungen schmerzen wie nach einem harten Workout nach zu langer Pause. Er trägt Handschellen, neu und glänzend, die mittels einer Kette mit einem Haken an der Wand verbunden sind. Er setzt sich auf und lehnt sich gegen die Wand, wie ein Sportler nach einem verlorenen Spiel. Er wartet, aber es stellt sich keine Angst ein, keine Panik. Es ist ihm bewusst, dass die nächsten Stunden schrecklich werden können, die schlimmste Zeit in seinem Leben. Aber so sehr er sich das auch vorsagt, er kann nicht daran glauben. Sein Gefühl sagt ihm, dass schreckliche Dinge nicht geschehen. Das Schlimme, das passiert, passiert nicht ihm.

Sebas, wie ihn seine Freunde nennen

Link ist es gewohnt, sich zu fokussieren und Dinge, die ablenken, auszublenden. Aber das hier war anders, es war kein Akt des Willens, die komplette Abgeschlossenheit war einfach da, es war, als sorgte irgendeine höhere Macht dafür, dass er bereit war.

Sebastian Molitor, so sah es Link, war das Gegenteil, ein verfluchtes Blatt im Wind, das den Wind, den es brauchte, selber machte. Schon im Auto redete er dummes Zeug, junge Leute sind entweder verstockt oder redselig vernarrt in ihr Bescheidwissen, weshalb sie auch nicht auf die Idee kommen, sich selbst hin und wieder Einhalt zu gebieten. Sebastians Hauptthema war sein Vater, was ein ziemlich schlechtes Licht auf ihn warf. Sebas, wie seine Freunde ihn nennen, sprach von Phasen, die er hinter sich habe, in denen er gerade sei oder die unmittelbar davor seien, zu beginnen auf seinem Weg wohin auch immer. Bis vor drei Monaten habe er seinen Vater und dessen Geschäfte, also die PR-Agentur Frontpoint Communications und diese kranken Events, bei denen abgefuckte alte Männer auf dumme Hühner treffen, verachtet, inzwischen aber amüsiere ihn das alles, „ich betrachte meinen Alten wie ein Insektenforscher Insekten betrachtet“, „man muss den Feind studieren, bevor man ihn bekämpft“, es war ein unglaublich dummer und selbstgefälliger Quatsch, den Sebastian von sich gab. Link gab sich wohlwollend und interessiert, war in Wahrheit aber voller Verachtung.

Als Sebastian sich einen Joint anzündete, fragte er nicht, ob das in meiner Wohnung okay sei, sondern ob ich auch einen wolle. Er fragte es beiläufig, weil es sein Ego streichelte, keine große Sache daraus zu machen.

Ich sah alles so, wie man es sehen muss, unverstellt. Ganz anders Sebastian, er schlenderte durch mein Wohnzimmer, rauchte scheinbar selbstvergessen (in Wirklichkeit das Gegenteil von selbstvergessen) und war sich sicher, von mir betrachtet zu werden, wenn er dekorativ ins Nichts schaute. Ich empfand dieses Verhalten als Angriff, als unfreundlichen Akt, als Aufforderung, Gegenmaßnahmen einzuleiten.

„Nimm noch einen Drink, diesmal einen richtigen.“

Die Tropfen wirkten schnell und fabelhaft, als Sebastian Molitor zusammenklappte war das wie ein Naturschauspiel, berückender als ein Sonnenuntergang. Er sah mich an mit verdrehten Augen, ich lächelte freundlich zurück, vielleicht war es auch eher ein Grinsen. Die Minuten, in denen Menschen die Kontrolle über sich verlieren, sind besonders, man muss bei ihnen sein in diesen Momenten und ihnen klar machen, dass sie gerade dabei sind, die Welt, die wir eben noch miteinander geteilt haben, zu verlassen. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht, und wenn man nett ist, sagt man ihnen vor dem Knockout noch langsam und deutlich, dass sie nichts zu befürchten haben, „du bist gerade dabei, das Bewusstsein zu verlieren, Sebastian, aber das ist nichts, was dich zu sehr beunruhigen sollte, es ist nur eine Erfahrung, die ich dir schenke, eine Sache, durch die du ohne Schaden hindurchgehen wirst, es wird alles wieder so, wie es war, bevor du so dumm warst, diesen Drink zu nehmen. Kannst du mich noch verstehen, verstehst du, was ich dir sage? Du wirst jeden Moment das Bewusstsein verlieren, du kannst nichts dagegen tun, dafür ist es zu spät. Wenn du wieder zu dir kommst, wirst du genügend Zeit haben, gründlich nachzudenken. Wenn!“ Und so weiter, und so weiter, Sebastian glotzte mich an, packte mich an der Schulter, er versuchte mich mitzunehmen auf seinem Weg in die Ohnmacht, und wusste doch, dass ich zurückbleiben und so die völlige Kontrolle über ihn und seinen Körper bekommen würde. Das Letzte, was ein Opfer in einer solchen Situation tut, ist, einen Blick aufzusetzen, der es dem Täter unmöglich machen soll, ihn anschließend zu töten.

Als Sebastian weggetreten war, zog ich ihm Schuhe und Socken aus, was eine irritierende Erfahrung war.

First Post, second Post

Sebastian Molitor:

Stoppt die Umbauarbeiten!

Ihr seid keine Baustellen, ihr seid Deppen.

Statt euch zu wehren gegen draußen, wehrt ihr euch gegen euch selbst, und das ist sagenhaft falsch und dumm. Statt euch gegen die Anforderungen, die aus euch kleine Duracell-Hasen machen wollen, zu wehren, sie zurückzuweisen, macht ihr aus euch kleine Duracell-Hasen. Ihr bekämpft euren Körper im Fitnessstudio und ersetzt euren eignen Blick durch einen antrainierten Blick.

Ich habe 147 Facebook-Freunde, ich werde mir jeden einzelnen von euch vornehmen, und ich werde anfangen mit Mila.

Hallo Mila. Nimm das (zur Kenntnis):

Die Scheiße, wie du dich hochkonzentriert lässig an irgendwelche Unimauern lehnst. Man sieht nicht dich, sondern das Bild, das du von dir im Kopf hast und ausperformen willst. Die urbane junge Frau, selbstbewusst, unbequem, dauerspontan, ein gewinnendes, lautes Lachen. Du kannst aber auch nachdenklich sein und weißt genau, wie du dabei schauen musst (aber nicht, was du dabei denken musst). Die Wahrheit ist, dass du gar keine urbaneske Urbanfrau mit verwirrend/faszinierend vielen FACETTEN bist, sondern eine echte Witzfigur reinsten Wassers.

Und ich verrate euch Facebook-Heinis noch ein Geheimnis: Mila ist in Robert verliebt, den die meisten von euch kennen, wie die meisten Mila kennen. Sie versucht ihn zu kriegen, indem sie ihn neckt und reizt. Ein erbärmliches Spiel wie aus einer Soap, sie streiten sich, lassen sich von ihren besten Freundinnen und Freunden vor dem jeweils anderen warnen, und fallen sich am Ende um den Hals. In der Soap. In echt nicht.

Peter Rost:

Hallo, Sebas? Habe versucht dich anzurufen, dich aber leider nicht erreicht. An alle, die deinen Post gelesen haben: Das ist garantiert NICHT Sebas! Vergesst den Post! Was ist da los?

Harald Brauck:

Sebastian Molitor:

Was gut sein kann: Dass du der nächste auf meiner Liste hier bist, Kleinharald. Und zu Peter, wichtig!!!!!!: Stimmt, ich bin es nicht! Oder nicht allein. Die WAHRE Geschichte ist: Ich bin entführt worden. Hoffe, heute noch eine Nachricht dazu posten zu können.

Kemal Rock:

Du studierst Jura, richtig? Oder war es BWL? Jedenfalls keine gute Idee, wenn du dich an Themen versuchst, von denen du keine Ahnung hast. Dieses Zeug „dein wahres Gesicht“, lasst euch nicht manipulieren, wehrt euch etc., ist Kompletthumbug. There ain’t no such thing like a true you. Es gibt keinen Weg zu deinem „wahren Ich“ irgendwo in deinem verfickten Inneren. Was du schreibst ist langweilige Scheiße. Um es höflich zu formulieren. Was hältst du von meinem Vorschlag, einfach die Klappe zu halten?

Sebastian Molitor:

Ich brauche Eure Hilfe, KEIN FAKE! Keine Ahnung, was hier wirklich läuft. FAKT ist: Ich bin entführt worden und sitze in einem beschissenen Keller. Mein Entführer (krass: MEIN ENTFÜHRER) lässt mich unter seiner Aufsicht hier posten. Das macht für mich nur Sinn, wenn klar ist, dass euch klar ist, was Sache ist. Ich nehme an, mein Entführer hat zu meinem Vater gesagt: Keine Polizei! Aber er sagt nicht: keine Öffentlichkeit!

Was vor den Posts geschah (Das erste Gespräch nach der Entführung)

„Du solltest wissen, wie dein Gesicht aussieht, wenn es scheiße aussieht. Blutverschmiert.“

Krummnasig.

Eine Viertelstunde nach dem Wiedererwachen, dem Auftauchen aus einem ohnmächtigen Schlaf, der härter, tiefer, dunkler und zerrender gewesen war als jeder Schlaf davor in seinem Leben, die ihm jetzt alle vorkommen wie eine harmlose Babyvariante von Schlaf (oder war es im Gegenteil so, dass er zum ersten Mal wieder so geschlafen hat wie ein Baby? Ist es nicht so, dass wir in den ersten Monaten unserer Offline-Existenz die Träume von Verzweifelten träumen, die nichts verstehen und sich sehnen nach dem Weg zurück?), hört er Schritte. Sein Herz schlägt schneller als deins. Er fühlt sich wie auf Drogen, ein bisher nicht probierter Stoff, die Kehle ist rau, die Muskeln haben eine andere Textur als davor, sie sind verwandelt. Wie bei allen oder fast allen Männern seiner Generation spielen die Muskeln eine große Rolle in Sebastians Leben, die wichtigsten von ihnen bekommen eine Einzelbehandlung, Sebastian benutzt Geräte für den Rücken, den Bauch, den Bizeps, den Trizeps, wir schenken diesen Partien eine Aufmerksamkeit, die sie nicht verdienen. Wie würde sein Körper sich jetzt anfühlen ohne die Stunden im Gym? Wir bringen unsere Körper in Form, wozu?

Link nimmt sich einen Stuhl und positioniert sich so, dass Sebastian ihn genau gerade nicht erreicht, wenn er sich so weit nach vorne bewegt, wie die Kette es zulässt. Link trägt einen Jogginganzug, was bedeutet, er ist verkleidet. Ein Anzugmann in Casual Wear.

„Okay, Sebastian, hör mir zu. Die beiden wichtigsten Punkte sind, erstens: Das hier ist eine richtige Entführung. Das kommt uns beiden grotesk vor, aber das ist exakt die Lage, in der du dich befindest. Zweitens: Ich weiß nicht, was ich eigentlich vorhabe. Du bist eine Laborratte, auf die irgendwelche Experimente warten. Ich halte das für eine sehr gute Ausgangsposition, und der Punkt ist jetzt, ob uns beiden das Richtige dazu einfällt. Hörst du, wie ich die Luft durch die Nase ziehe? Es fühlt sich so echt an, das ist fantastisch, es ist so real, mit dir hier in diesem Keller zu sitzen. Ich glaube, das ist eine richtig große Sache, die wir hier vorhaben.“

Ich dachte immer, ich bin ein Feigling, denkt Sebastian, und wahrscheinlich bin ich das auch. Aber sein Instinkt sagt ihm, dass Link nicht gefährlich ist. Er denkt aber auch, dass man das ja nicht wissen kann. Die Menschen haben Abgründe, sagt man und liest man, sie sind unberechenbar, und auch wenn Sebastian bisher nicht die geringste Erfahrung in dieser Richtung vorzuweisen hat (im Gegenteil, nach seiner Erfahrung sind die Menschen nachhaltig harmlos, ganz eindeutig), bedeutet das ja nicht, dass in Link nicht doch etwas absolut Krankes wuchert, das jederzeit zum Ausbruch kommen kann.

Sebastian drängt sich gegen die Wand, als könnte die Schutz bieten, er duckt sich und krümmt sich und kann doch nicht verhindern, dass ihn vier Schläge voll ins Gesicht treffen.

Nach der Abreibung

Ändert sich etwas, wenn du 20 Minuten lang nichts anderes tust, als dein blutverschmiertes Gesicht im Spiegel zu betrachten? Wie lange dauert es, bis du dir fremd wirst?

Was ist falsch daran, brav zu sein? Und Sebastian bemüht sich ja, nicht zu brav zu sein, weil er weiß, dass das in seinem Alter eine große Sünde wäre. Die Alten erzählen mit einem debilen Leuchten in den Augen ihre Jugendgeschichten, und man sieht ganz genau, wer es damals wirklich ernst gemeint hat und wer nur irgendwelche RTL-Geschichten erzählt, in denen die falschen Bands vorkommen. Die dunklen Schatten einer zu braven Jugend verlassen dich nie. Die dunklen Schatten einer zu braven Jugend verlassen dich nie! Sie hinterlassen Spuren in deinem Gesicht! Feigheit in der Jugend ist ein nicht zu tilgender Makel. Das ist der Preis, den du zu zahlen hast, wenn du dich in jungen Jahren nicht getraut hast, wenn du ein Pickelgesicht warst, nicht hübsch warst, wenn du nur traurig vor dich hingewichst hast, wenn du die Tür nicht gefunden hast, durch die du gehen musst, wenn du deine Jugend nicht verschleudert hast, dieses große Glück, das alle so besoffen macht. Tausend Bilder davon im Kopf, wie Jugend aussieht, aber auf keinem einzigen davon ist dein eigenes trauriges Gesicht zu sehen.

Sebastian kennt die Gefahr, so ein Altersgesicht möchte er niemals haben, aber, das ist das Problem: Er meint es einfach nicht ernst. Er ist brav by nature oder qua Einsicht, es widerstrebt ihm, unvernünftig zu sein oder ungerecht oder hochfahrend oder idealistisch, er kommt sich sofort albern vor, wenn er sich in etwas hineinsteigert. Auch die zweite Art der Unvernunft, der Exzess, er wird müde, wenn er nur daran denkt. Er hält sich pflichtschuldig auf dem Laufenden, in welche Bars man in Frankfurt gehen muss, es beeindruckt ihn kein bisschen, was ihn immerhin davor bewahrt, sich falsch zu verhalten, aufgeregt und hibbelig, entweder bist du in diesen Bars der Auch-Dabei oder der Grund, warum Auch-Dabeis in diese Bar gehen. Alles furchtbar, ein unglaublicher Stress für Sebastian, die anderen lassen ihn einfach nicht in Ruhe und er selbst lässt sich erst recht nicht in Ruhe. Er hasst es, die Standards einer richtigen Jugend erfüllen zu müssen, aber die Strafe dafür, wenn man es nicht tut, ist so brutal, dass er es versucht, und es klappt ja auch. Sebastian kann überall hingehen und komplett angstfrei jedes Gespräch aufnehmen, er ist kein ängstlicher Verlierer, nicht einmal im Ansatz. Wenn ein hübsches Mädchen in seinem Alter wieder auf dem Markt ist, ist Sebastian ein natürlicher Kandidat.

Aber er meint es nicht ernst, und deswegen ist alles, was er tut, zu wenig. Für seinen Vater, das weiß Sebastian, ist er eine einzige Enttäuschung. Dessen Kraft ist so umwerfend, dass es seinen Sohn anwidert, er kann ihm nicht einmal beim Essen zusehen, ohne Hass zu empfinden, dieses übertrieben Vitale und Willentliche sogar hier, diese virile Art in allen Lebensäußerungen. Der alte Molitor würde es lieben, mit seinem Sohn zu kämpfen, umso kämpferischer und unbequemer Sebastian, desto mehr „das ist mein Sohn“, umso mehr Streit, desto mehr Beziehung, die Krise als Motor für alles, es heißt ständig „dahin gehen, wo es wehtut“ und „da musst du jetzt durch“. Und wie toll es ist, den Sohn demonstrativ nicht zu loben, aber mit einem pseudo-versteckten (tatsächlich aber total ausgestellten) Lächeln zu zeigen, wie beglückt man in Wirklichkeit über ihn ist. Das alles geht mit Sebastian nicht, es ödet ihn an, diese ganzen Spiele, Widerstand ohne Sinn und Verstand. Wenn sein Vater keine Gefühle für ihn hat, hat er keine Gefühle für ihn - keine Lust, sie künstlich zu erzeugen mit irgendwelchen Taktiken.

Und jetzt, im Keller?

Haben wir Mitleid mit Sebastian, wenn wir ihn am Boden sehen, sein malträtiertes Gesicht? Es sieht schlimm aus, aber Sebastian findet selber: womöglich nicht schlimm genug. Was sofort klar ist, total klar: Er muss ein Bild machen und es posten. Wenn Link aus der Entführung eine Facebook-Sache machen will, muss dieses Bild raus. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Entführung zu geniessen. Auf die perverse Art.

On Facebook

Den nächsten Text schreiben sie gemeinsam, „es muss etwas passieren, wenn nicht, wird es eng für dich und eng für mich“. Links Plan ist, etwas in Gang zu setzen, das ihm eingibt, was die nächsten Tage zu tun ist.

Auf den ersten Post gab es innerhalb der ersten 24 Stunden 14 Kommentare. Das ist nicht berühmt, aber vielleicht ein Anfang.

Stoppt die Umbauarbeiten!

Sebastian Molitor:

IS! Nur ohne Gewalt!

Mein Gesicht ist durchlöchert von der Anstrengung, eines zu machen. Ein Gesicht, das zu euch passt. Wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich lauter Dinge, die ich nicht verstehe. Wenn ich auf Facebook schaue, sehe ich Hass. Ihr verkauft euere Seele für ein paar beschissene Likes.

Das ist euch zu wehleidig, zu Hippie? Ja, klar. Dann nehmt das:

Das ist hier ist ein Bekenntnis zur Tat. Ein Versprechen. Statt larmoyant zu larmoyieren, halte ich es für fairer, euch zu warnen. Statt mir weiter selber Zucker in den Arsch zu blasen, werde ich auf euch scheißen.

Was für ein armer Irrer ich bin? Euer Problem ist: Auch ein Verlierer kann euch die Rübe vom Kopf schießen. Den Kugeln ist es egal, ob sie von einer Witzfigur abgefeuert werden. Euer Problem ist: Ich weiß, wo ihr seid. Wie viele von euch es erwischen wird, hängt davon ab, wie schnell die Polizei mich stoppen wird.

An Facebook: Das ist Literatur, das ist ein artifizieller Text. Also: NICHT LÖSCHEN.

Pius Küppers:

Krasse Scheiße. Ich hoffe, die Polizei zieht dich so schnell wie möglich aus dem Verkehr. Typen wie du machen mich krank.

Sebastian Molitor:

Böser Fehler. Mit diesem Text rutscht du auf Platz 1 meiner Liste. Du bist erledigt, Pius, du weißt es nur noch nicht. Das heißt - jetzt weißt du es ja.

Katie Morag:

Der große Fehler, den wir alle machen, ist: Wir glauben, wir gehören nicht dazu. Dass jeder anders ist. Atomarer Kälteschock. Der Westen hat sich total verrannt in sein Hardcore-Individualisierungs-Programm. Deswegen, richtig: IS, aber ohne Gewalt! Dann bist du mit deinen Drohungen aber ziemlich auf dem Holzweg, lieber (?) Sebastian.

Hans Trayer:

Michael Damerius:

Wow, dass es so etwas heute noch gibt! Was für ein Retro-Scheiß! Was ihr da veranstaltet, ist Kapitalismus-Kritik für ganz Dumme. Vielleicht ist Facebook ja doch nicht so toll wie ich immer dachte und eigentlich immer noch denke. Jedenfalls: Facebook ist echt der einzige Ort in der Welt, wo man noch für den allergrößten Superscheiß Mitstreiter findet.

John Reisner:

Du weißt, wo einige von uns wohnen - aber wir wissen auch, wo du wohnst. Zeit für ein bisschen Wahrheit hier: Du bist massiv uncool, dein Standing an der Uni ist unter Maus. Hast du irgendeine Idee, wie die Leute hinter deinem Rücken über dich reden? Und dir bestimmte Dinge nicht ins Gesicht sagen, weil man Loser wie dich grundsätzlich schont, was ja vielleicht ein großer, großer Fehler ist. Wenn du nach den Semesterferien wieder hier auftauchst, wird es Zeit für einen kleinen Fakten-Check. Wird keine lustige Sache für dich, glaub mir das, little idiot.

Mona Laurens:

An alle die, die Sebastian hier fertigmachen wollen: Ihr bekommt es auch mit mir zu tun. Sebastian hat Recht! Alles Arschkriecher.

Katie Morag:

Die Wahrheit ist, dass sich da draußen gerade etwas zusammenbraut. Sehr dumm, sehr blind, sehr leichtfertig, das nicht zu sehen. Alle haben die Schnauze voll. Alle!, bis auf ein paar Narkotisierte. Die Frage, die einzige Frage ist, welche Partei sich durchsetzt. Die wild gewordenen (werdenden) Spießer und Retro-Nazis, die über alles schimpfen, was auch nur einen Zentimeter größer ist als sie selbst, also auf alles und jeden, Politiker, Manager, irgendwie Erfolgreiche. Und die gleichzeitig über alles schimpfen, was scheinbar einen Zentimeter kleiner ist als sie, also Ausländer, Flüchtlinge, Schwule, Emanzen. Alles scheiße, bis auf das Volk! Das so ungerecht behandelt wird! Die einen saugen sie aus (die Politik), die anderen lassen sich von ihnen aushalten (Flüchtlinge). Das Problem ist nur, DAS PROBLEM: In einem haben diese Killerpilze Recht, nämlich dass wir in einer komplett kaputten, kranken Welt leben. Wir werden in den nächsten zehn Jahren einen Aufstand erleben, der alles niedermäht, so viel ist klar. Die Frage ist nur, wer ihn anführt: Die Drecksnazis oder Leute wie wir.

Wilfried Loll:

Es ist Zeit für eine neue Bewegung. Ganz im Ernst! Ich bin dabei, sagt mir nur, was ich machen soll.

Karen Gropper:

Leute wir ihr machen alles kaputt, das kotzt mich wirklich an. Dekadenter Scheiß! Euch ist langweilig, deshalb dreht ihr so durch, ihr seid einfach zu blöd, etwas mit euch anzufangen. Diese ganzen Radikalitäts-Posen sind dermaßen was von lächerlich!!!! Leute, macht die Augen auf: Wir leben in einem freien, reichen Land. Wer damit nicht zurecht kommt und dauernd nach irgendwelchen Aufständen ruft, hat einfach einen an der Klatsche. Wenn man keine Probleme hat, macht man sich welche. Dann fühlen sich auch Volltrottel, die im wirklichen Leben nichts geregelt kriegen, plötzlich wieder wichtig. Und speziell zu dir, Sebastian: Ich denke, du gehörst ganz einfach in die Klapse. Das ist der Ort, wo du am besten aufgehoben bist. Psychiatrische Anstalten: The place to be für Typen wie Sebastian. Und jetzt halt bitte dann dein dummes Maul und nerv die Leute nicht mit deiner präpotenten Scheiße. Okay? Ist das okay? Hast du das verstanden? Werd ich ja merken.

Harry Wolf:

Blabla, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir gefällt das, was Sebastian schreibt. Endlich mal was anderes als die ganzen Katzenvideos hier und was man gerade isst oder in was für einem tollen Hotel man abhängt. Interessiert doch keinen. Lasst uns mal ein bisschen Rabatz machen, wenn wir schon Stunden über Stunden hier auf Facebook rumstreunen. Macht uns ja alle total süchtig irgendwie.

Lily Lembach:

Zwei Stunden später postet Sebastian das Selfie, das zeigt, was Link mit seinem Gesicht angestellt hat, und schreibt dazu:

Sebastian Molitor:

Damit ihr wisst, dass es mir ernst ist. Oder sieht so jemand aus, der es nicht ernst meint? Und an alle, die mich kennen: Sieht so jemand aus, der nicht ich bin? The fucking truth ist: Ich bin tatsächlich Sebastian Molitor und ich bin tatsächlich entführt worden. Langsam Zeit, dass jemand von euch da draußen etwas unternimmt. Langsam Zeit, dass irgendjemand damit beginnt, mich aus dieser Geiselhaft hier zu befreien. Lange halte ich nämlich nicht mehr durch. Herzliche Grüße und Glück auf, Sebastian.

Peter Rost:

Ich bin geschockt. Ich will, dass du weißt, dass ich mich darum kümmere.

Dana Cebulla:

Wow. Furchtbar. Mann, Basti! Mein lieber Sebas, mein guter Sebastian. Das sieht ja furchtbar aus, das ganze Blut. So ein liebes, armes Gesicht. Würde dich sooo gerne streicheln jetzt. Hübscher Junge. Sehr hübsch. Was machen die nur mit dir? Wäre jetzt gerne bei Dir, um Dir etwas Mut und Stärke zu geben. Aber ich glaube, du bist stark. Bin völlig durcheinander, wenn ich das Bild sehe. Das ganze Blut.

Harald Menk:

Das musste ja jetzt kommen. Kleine Mädchen, die es scharf macht, ein geschundenes Jungsgesicht zu sehen. Oh, wie süß, komm her, ich leck dir das Blut ab. In Wahrheit geht es hier doch nur um Sex in der ganzen - ich lach mich krank: - Diskussion. Ihr sitzt vor eueren PCs und Smartphones und holt euch in eurer tödlichen Langeweile einen runter, die Höschen sind schon feucht. Und die Jungs zeigen ihre Muskeln. Ah, geil, ich bin ja auch nicht anders. Am aller-aller-allerliebsten würde ich jetzt ficken. Wer macht mit? Zur Not lasse ich mir davor auch ein bisschen das Gesicht matschig schlagen, wenn es dir dafür schneller kommt. Meldet euch!

Dallanski kommt ins Spiel

Friedrich Molitor ist stark, er kann nicht anders. Manchmal versucht er, bescheiden zu wirken oder so etwas wie Demut zu empfinden, aber das ist lächerlich. Er ist Inhaber einer PR-Agentur, Frontpoint Communications, 60 Angestellte, das ist enorm für ein Unternehmen dieser Art. Nach Steuern und Abschreibungen bleibt ein Gewinn von 500.000 bis 600.000 Euro in der Kasse, das ist der Kern, aber daneben hat Molitor noch Mandate auf eigene Rechnung, mit weniger als 800.000 Euro netto ist er in den vergangenen zehn Jahren nie nach Hause gegangen. Die Leute behandeln ihn mit Respekt, und wenn ihm irgendwelche Typen nicht mit Respekt begegnen, was logischerweise immer wieder vorkommt, ständig, unvermeidbar, erfüllt das Molitor nach all den Jahren immer noch mit einem Zorn, den er nur mit Mühe beherrschen kann. Er blickt den Menschen hart in die Augen, und wenn nicht die Blicke zurückkommen, die er erwartet, bereitet ihm das körperliche Schmerzen. Molitor hat sich noch nie mit jemandem geprügelt, aber es muss sich so anfühlen, als wäre er jederzeit dazu bereit.

Mit Bruno Dallanski ist es vielleicht anders, sein alter Freund aus den Jahren im Goethe-Gymnasium, Frankfurt am Main, beide 59 inzwischen und gut in dem, was sie tun. Dallanski hat ein rundes, schönes Gesicht mit ganz wenig Mimik. Er bewegt seinen Kopf nach links, nach rechts, aber meistens schaut er geradeaus. Er ist eher klein, 1,63, vor allem aber ist er kompakt, ein runder Körper, zweifellos zu dick, aber nicht schlaff, volle Backen, fester Bauch, muskulöse Oberschenkel ohne unschöne Einbuchtungen. Wenn er im Schneidersitz aus dem Fenster blickt, sieht er aus wie eine Buddhafigur, der man über den Hinterkopf streichen möchte. Molitor macht ständig Wind, Dallanski, dem die Gutmütigkeit ins Gesicht geschrieben steht, nie. Er ist Privatdetektiv, ein komplett idiotischer Beruf, findet Molitor, aber im Moment ist es genau das, was er braucht.

Molitor steht am Kamin, Dallanski sitzt in einem schweren, schwarzen Ledersessel, der wie für ihn gemacht ist. Molitor lächelt gequält und versucht Dallanskis Blick festzuhalten, er will jetzt einen wirklichen Augenkontakt. Freunde in der Not sind ein schönes Konstrukt, aber dann muss es in der Praxis auch funktionieren, wenn es darauf ankommt.

Dallanskis Stärke besteht darin, kein Widerstand zu sein, wenn es die Situation nicht erfordert, er spürt, dass es seinem alten Freund ernst ist und macht es ihm leicht, ohne große Vorrede das zu sagen, was er unbedingt sagen will. Es geht um Sebastian, seinen Sohn, „er ist weg, ich meine, wie es aussieht, hat ihn jemand entführt“.

„Wie es aussieht? Du weißt nicht, ob Sebastian nur verschwunden ist oder entführt wurde?“

„Doch, klar, entführt. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich dir genau erzählen kann. Es ist... kompliziert.“

Kompliziert, weil: Der Entführer seines Sohnes hat womöglich belastendes Material gegen ihn, den alten Molitor, in der Hand. Also keine Polizei.

„Es ist nicht so, dass ich Geheimnisse vor dir habe, Bruno. Aber ich kann dir einfach nicht alles sagen. Du wirst antworten, dass du mir unter solchen Umständen nicht helfen kannst, dass wir Freunde sind, alles richtig, mein Lieber, aber worum ich dich bitte, ist: Bring mir meinen Jungen zurück ohne groß Staub aufzuwirbeln.“

Nachdem er das gesagt hat, tritt, wie Molitor gehofft hatte, eine Pause ein. Es ist, als hätten die beiden eine Reihe von Molekülen in wilde Bewegungen versetzt und warteten nun gemeinsam in Ruhe darauf, bis alles wieder an seinen Platz zurückkehrt. Dallanski schliesst die Augen, sein rundes Gesicht leuchtet in der Sonne, die durch das riesige Panoramafenster scheint.

Als Dallanski das Anwesen Molitors verlässt und seinen alten Ford durch die Toreinfahrt steuert, hat er zwei Namen, Roswitha Grun und Peter Rost, sowie einen Freibrief, sich in Sebastians Wohnung umzuschauen.

„Ich weiß nicht, ob ich einen Zweitschlüssel für die Wohnung habe.“

„Den brauche ich nicht. Lass erst einmal alles sein, Friedrich. Ich komme heute Abend vorbei und sage dir, wie wir die Sache einschätzen. Bis dahin kommst du zu dir. Ich brauche dich ruhig und klar.“

Es ist in Wirklichkeit nicht viel, was ein Privatdetektiv tun kann. Das Gute ist, dass dieses Wenige meistens genügt. 90 Prozent der Fälle sind einfach zu lösen, was es braucht sind ein paar Standards und ein klarer Blick. Es ist eine melancholische Arbeit, das behagt Dallanski. Er hat kein Problem damit, stundenlang im Wagen zu sitzen und Listen durchzuarbeiten. Die Art, wie die Menschen mit einem Detektiv sprechen, kommt ihm entgegen. Die meisten sind nicht, wie man es aus dem Fernsehen kennt, ungehalten und schroff, sondern erzählen gern, was sie wissen, solange Dallanski ihnen das Gefühl gibt, dass das, was sie sagen, bei ihm gut aufgehoben ist. Die Leute mögen es, wenn jemand wirklich etwas von ihnen wissen will. Wenn es auf das, was sie sagen, vielleicht wirklich ankommt. Wenn unsere Einschätzung anderer Menschen gefragt ist und wir uns Mühe geben können, etwas Intelligentes oder Bedeutsames zu antworten. Die Einschätzungen, die Dallanski zu hören bekommt, sind in der Regel falsch, die Menschen sehen mehr, als wirklich ist, oder sie sehen eben das Falsche, aber das ändert nichts daran, dass die Hinweise, wenn man sie richtig interpretiert, hilfreich sind.

Dallanski überlegt, wo er anfangen soll, bei Roswitha Grun, Sebastians Freundin, bei Peter Rost, dem besten Freund, oder mit der Wohnung des Entführten. Die Antwort lautet Titus Moog. Dallanski ruft ihn an, „ich muss dich sehen“, das will Moog auch, das will er immer. Moog ist der Mensch auf der Welt, der Dallanski immer sehen will.

Moog weiß nicht, warum die Menschen ihn nicht mögen. Sie haben es noch nie getan, und irgendwann steht man vor der Entscheidung, ob man das akzeptiert oder daran kaputtgeht. Oder ob man daran kaputtgeht und trotzdem einfach weitermacht, so unbeeindruckt wie möglich.

Es ist früher Nachmittag, als Dallanski Moog in dessen luxussanierten Altbauwohnung im Westend aufsucht. Es knarzt, leise und dezent, das ist gut. 200 Quadratmeter für einen alleinstehenden Herrn Mitte 50.

Zur Begrüßung umarmen sich die beiden, was Dallanski bei Molitor niemals in den Sinn käme. Wenn Freundschaft bedeutet, nicht performen zu müssen, sind Moog und Dallanski beste Freunde. Wenn es bedeutet, seine innersten Gefühle zu offenbaren, sind sie es nicht. Was Moog bedauert, aber umstandslos akzeptiert (wie er alles akzeptiert, was den einzigen Freund, den er hat, betrifft). Die einzige Indiskretion, die er sich erlaubt, ist, Dallanski zu bitten, im Flur die Schuhe auszuziehen, was im Grunde nicht zu Moog passt und alle anderen Besucher auch nicht tun müssen, Gott bewahre. Eine Begebenheit ohne Bedeutung für Dallanski, ein Quell heimlicher Freude für Moog.

Es gibt mehrere Zimmer, die sich für eine Besprechung eignen, die Wahl fällt auf die Wohnküche, Fliesenboden statt Parkett. Dallanski kommt gleich zur Sache und erzählt von Sebastians Entführung.

„Der einfältige Junge von Friedrich. Das ist erstaunlich.“

„Wie gut kennst du Sebastian?“

„Nicht besonders gut natürlich, aber wahrscheinlich besser als du denkst. Er war ein paar Mal hier, ich habe ihm geholfen, ein paar Punkte in seinem Praktikum bei der FAZ zu machen.“

„Interessant.“

„Interessant ist etwas ganz anderes. Mein Lieber, vielleicht kann ich dir sagen, wer Sebastian entführt hat. Wann ist er genau verschwunden?“

„Wann genau, weiß ich nicht. Friedrich hat ihn seit drei Tagen nicht mehr gesehen, der Entführer hat sich heute morgen gemeldet.“

„Okay. Dann ist Hubert Link der Entführer.“

„Link von Batten & Brook?“

„Genau der.“

Dallanski schüttelt den Kopf und lacht. Er klopft sich auf die Schenkel und packt Moog im Nacken, „verdammt, was erzählst du da? Das kann ja wohl nicht wahr sein. Ganz sicher nicht.“