Die Familie des Teufels - Egyd Gstättner - E-Book

Die Familie des Teufels E-Book

Egyd Gstättner

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Beschreibung

Egyd Gstättner begibt sich auf die Spuren bedeutender Kollegen und schafft aus zehn literarischen Porträts ein großartiges Selbstbildnis. Vor Egyd Gstättner ist niemand sicher: Selbst Nobelpreisträger und Ikonen der Literatur müssen seine spitze Feder über sich ergehen lassen. Von großer Kenntnis und tiefer Einsicht, von Anteilnahme und von Abneigung gleichermaßen sind seine Annäherungen geprägt – sprechen sie doch immer auch von ihm selbst. Er erzählt tragische Geschichten und dramatische Ereignisse, voll Zynismus und Galgenhumor. Und dennoch wird am Ende klar, wie sehr das Leben und das damit untrennbar verwobene Werk aller zehn Porträtierten seine Entwicklung und sein Schreiben beeinflusst haben. Und eines ist sicher: Man kann sich seine Vorbilder nicht aussuchen.

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Seitenzahl: 507

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Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung: © INTERFOTO/Alamy Stock FotoDruck und Verarbeitung:Christian Theiss GmbH, St. Stefan im LavanttalISBN 978-3-7117-2070-2eISBN 978-3-7117-5385-4

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Ständige Publikationen in »Kleine Zeitung«, »Die Presse« und anderen österreichischen und internationalen Medien. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Im Picus Verlag erschienen unter anderem »Das Geisterschiff«, »Am Fuß des Wörthersees«, »Das Freudenhaus«, »Karl Kraus lernt Dummdeutsch« sowie »Wiener Fenstersturz« (2017). 2018 erscheint »Die Familie des Teufels«.http://members.aon.at/gstaettner/index.html

EGYD GSTÄTTNER

DIE FAMILIEDES TEUFELS

ALLEIN GEGENDIE LITERATURGESCHICHTE

PICUS VERLAG WIEN

INHALT

PAPST UND SATAN

APOKALYPTISCHER HOCKEYCLUB WELLSODER: DAS WUNDER DER HYDRAULIK

NACH GRANDIOSER KARRIERE ANSTÄNDIG VERSTORBENODER: BLEIBT BRITISCH, BOYS

DAS JÄHZORNIGE REH

DIE PRINZESSIN DER HIRNE UNDDIE DURCHLASSSTRASSE DER SPHINX(SIE ALLEIN SOLL KAPITÄN DES NACHTFLUGS SEIN)

VERSUCH ÜBER DEN NÄHENDEN MANN

DER GEKREUZIGTE DON QUIJOTE

M ODER: DER ARME TEUFEL VON MOSKAU

DAS FÜNFTE REICHODER: NOCH EINMAL FÜR FERNANDO

COSINIS CRASHODER: DER ERSTE AUTO-AUTOUNFALLTOTE DER MODERNE

DIE LETZTE DREHTÜR

BERICHT AN EINE AKADEMIE ODER:DANKESREDE FÜR DEN BÜCHNERPREIS

POST SCRIPTUM

VERWENDETE QUELLEN

Das praktische Leben schien mir immer

der unbequemste aller Selbstmorde zu

sein.

FERNANDO PESSOA

Tut das Unnütze, singt die Lieder, die

man aus eurem Mund nicht erwartet!

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl

im Getriebe der Welt!

GÜNTER EICH

PAPST UND SATAN

1

WIE JAMES JOYCE PAPST GEWORDEN IST

Darf ich vorstellen, meine Lieben? Das ist die Familie Satan: Mama, Papa, zwei Kinder und ein Hund. Und Onkel Stanislaus. Eine amazing family! Aber wir wüssten nichts von ihr und ihren Mitgliedern ohne ihn, den Herrn Satan, Pappie, Onkel Jim. Alle lebten nur dank ihm und von ihm, bis heute, wo sie längst gestorben sind. Dabei hat Onkel Jim sein Leben lang völlig unverständliches Zeug geschrieben. Er purzelte ständig irgendwo herum und war ein komischer Kauz. Aber sein Leben war ein Werk, und das Werk war ein Abenteuer. Wie die meisten lässigen Onkel war der Satan bettelarm und starb früh und qualvoll. Nach dem Tod des Teufels kamen wie bei vielen eindrucksvollen Persönlichkeiten des Menschengeschlechts Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen an den trauernden Hinterbliebenen vorbei in die Pathologie und wollten seinen Schädelinhalt untersuchen.

Aber fangen wir am Anfang an: James Augusta Joyce – so hieß Onkel Jim in Wirklichkeit – kam am 2. Februar 1882 zur Welt. Er dachte gerne über seinen Geburtstag nach, über Mariä Lichtmess, Tag der heiligen Brigitta, Tag der Murmeltiere; er wollte der Welt das Licht bringen, außerdem Freude, und er freute sich, dass sein Name im Grund die reine Freude war, so wie der des fantastischen Wiener Psychoanalytikers, Song of Joy, Book of Joyce, schöner Götterfunke! Onkel Joyce fügte es so, dass er die ersten Exemplare von Ulysses und Finnegans Wake jeweils am 2. Februar in die Hände bekam. Das waren seine beiden Romane, und kein Mensch der Welt hat sie jemals gelesen. Die Joyces wohnten in Rathmines, einer Vorstadt im Süden Dublins.

James entwickelte ein enormes Interesse an den geringfügigsten Einzelheiten. Er las Ibsens Werke und saugte sie in sich auf. Als Schüler der obersten Klasse erschien James Joyce nie pünktlich zum Unterricht. Er erklärte seinen Lehrern: »Pünktlichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne sie. Darüber hinaus ist Pünktlichkeit ein Mythos, eine Mystifikation – und ein Herrschaftsinstrument. Die Beherrschten müssen pünktlich sein. Die Herrschaft ist nie pünktlich. Oder sie ist immer pünktlich, weil alles erst beginnt, wenn sie da ist.« Seine Lehrer hatten darauf keine Antwort. James’ Kleider waren, als er Student war, gewöhnlich ungebügelt, und er wusch sich von Kindesbeinen an selten. Jim war der Überzeugung, es bringe keinerlei Vorteil, sauber zu sein. Nach seiner stärksten Abneigung befragt, antwortete James Joyce: »Seife und Wasser.« Übermäßiges Waschen führt bekanntlich zu trockener Haut und Geruchsverlust. Joyce war seiner Zeit voraus, auch in Hygienefragen. Merke: Ein richtiger Dichter wäscht sich nicht. Ein richtiger Dichter »setzt sich mit Wasser auseinander«.

Ibsen schrieb dem Studenten Joyce, der eine Rezension (und in einem Brief von der »Gnade der Grünschnäbel«) geschrieben hatte, einen lobenden Antwortbrief. Dieser Brief beflügelte James und ließ sein Selbstbewusstsein exponenziell anwachsen. Vor Ibsens Brief war Joyce Ire, danach Europäer. Er öffnete seine Fenster und rief Richtung Dublin: »Mein eigener Geist interessiert mich mehr als das ganze Land.« Das Land reagierte nicht. James war beleidigt.

Über Ibsen las Joyce später, er sei ein mehr als kompetenter Bühnenarrangeur: Wenn eine seiner Figuren im ersten Akt niest, hat sie im zweiten eine Erkältung und wird im dritten an Lungenentzündung sterben …

Der irische Pöbel, »das zurückgebliebenste Volk in ganz Europa«, dachte Jim, müsse bekämpft und nicht befriedet werden. Kein Dramatiker von europäischem Rang sei aus diesem Theater hervorgegangen. Die Künstler seien keine Riesen, sondern Gigäntchen. (Praktisch jedes Volk Europas ist in den Augen seiner großen Dichter »das zurückgebliebenste Volk in ganz Europa«, womit die großen Literaturwissenschaftler der großen Dichter die miserablen Absatzzahlen ihrer Schützlinge erklären und ihren großen Dichtern andere Einkommenskanäle erschließen.) Die Mehrzahl des Pöbels mochte Joyce trotzdem besser leiden als ihm lieb war. 1903, mit einundzwanzig, veranstaltete Joyce ein Scheinkonklave und ließ sich zum neuen Papst wählen. Rom reagierte gelassen. Dublin genauso. Manche interpretierten das Konklave als Anzeichen beginnender Gehirnerweichung. Und London ignorierte Joyce nicht einmal.

Papst Joyce I. erlitt eine Epiphanie, die damals als unheilbar galt. Epiphanien waren für Joyce plötzliche Offenbarungen der Washeit der Dinge. 1902 flüchtete Joyce (vor sich selbst) nach Paris. Mr. Symons hielt Joyce für eine »Mischung von finsterem Genie und ungewisser Begabung«. Papst Joyce I. trat als Papst wieder zurück, wurde auf diese Weise zum ersten zurückgetretenen Papst der Kirchengeschichte und erhielt einen Platz auf Lebenszeit im Guinness Book of Pope Records.

Der junge Joyce schrieb für den Daily Express eine Besprechung über Sarah Bernhardt (Mensch, die war schön!) und für die Irish Times einen Bericht über den Karneval in Paris. Beide Texte wurden abgelehnt. Die vielen Ablehnungen, das ist die tägliche Brotlosigkeit der jungen Dichter. Gegenmittel Wein. Wein ist Sonnenschein! Seine Romanfigur Stephen Dedalus benannte James nach dem größten Erfinder des Heidentums. Stephen würde ein Heiliger der Literatur werden und wie Daedalus Flügel erfinden, womit er sich über seine Landsleute emporschwingen könnte.

Jetzt stellt sich ein Wissenschaftler ans Ufer der Liffey und lehnt sich ans Geländer der Joyce Bridge. (In Dublin sind alle Brücken nach Dublins Dichtern benannt, und die Liffey besteht, wann man ganz genau schaut, nicht aus Wasser, sondern aus den Dauerwellen der Gattin eines Triestiner Schriftstellers … aber das ist eine andere Geschichte.) Wenn Werk und Leben eins sind, doziert der Wissenschaftler und schaut ins pechschwarze Glupschauge der Kamera, wenn sie im selben Gewebe miteinander verwoben sind: Sein Leben gleichzeitig zu leben und in Dichtung zu verwandeln gestattete ihm, James Joyce, eine gewisse Losgelöstheit von allem zu empfinden, was ihm selbst zustieß …; da ja sein Stoff von den wirklichen Geschehnissen abhing, hatte er gleichzeitig ein Interesse, nur leicht kochende Töpfe zu starkem Sieden zu bringen, indem er den Ereignissen, die er erlebte, eine möglichst dramatische Form verlieh. Das Gefühl, Gestalten in seinem Drama zu sein und die Rolle des Schuldigen in seinem Gerichtshof zu spielen, fiel den meisten seiner Freunde lästig. Na, warten wir einmal ab!

2

WIE JAMES JOYCE NORA KENNENGELERNT HAT

Kommen wir jetzt aber zum wichtigsten Tag im Leben von James Joyce: Wir schreiben das Jahr 1904, wir schreiben den Monat Juni, wir zählen die Tage herunter … nein, hinauf zählen wir sie, von eins weg, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, und kommen zum 16. Juni 1904! Von überall her schlängelten sich Fäden und sie liefen dort zusammen, wo sich gerade das Leben von James Joyce aufhielt. Der 16. Juni 1904 war ein schöner, leicht windiger Tag mit vier Stunden Sonnenschein und einer klaren Nacht. Der 16. Juni 1904 war ein ganz gewöhnlicher Tag, und dennoch ist er in die Geschichte der Weltliteratur eingegangen. An diesem Tag von acht Uhr Früh bis drei Uhr morgens erlebt L… so, liebe Leserinnen und Leser, wer möchte wissen, wie es weitergeht? Wer möchte wissen, was am 16. Juni in Dublin passiert ist, sodass er nicht nur der wichtigste Tag im Leben von James Joyce wurde, ja der wichtigste Tag der gesamten irischen Literatur? Ein Tag, der in Irland noch heute als höchster Feiertag des Jahres zelebriert wird, wie im Guinness Book of Records nachzulesen ist, und den, so sagt man jedenfalls, kein Ire jemals nüchtern beendet hat? Siehst du, Leserin, siehst du, Leser! So erzeugt man Spannung!

Diesen Zustand der gespannten Erwartung nütze ich jetzt kurzerhand, um euch mit einer literarischen Technik vertraut zu machen, der Rückblende: Wir müssen nämlich sechs Tage in der Zeit zurückreisen, zum 10. Juni, ein nasskalter, grauer Tag. (Insgesamt gibt es in Irland mehr nasskalte, graue, nebelverhangene Tage mit null Stunden Sonne als schöne, leicht windige Tage mit vier Sonnenstunden.) Denn am Abend des 10. Juni verließ eine große junge, nicht gar so hübsche Frau, allerdings mit kastanienbraunem Haar, üppigem Gesäß und stolzem Gang das Finn’s Hotel, in dem sie als Stubenmädchen angestellt war, und trabte die Nassau Street hinunter. Die Frau hatte ein bisschen was von einem Pferd, denn sie stammte aus Galway, das berühmt für seine Pferderennen ist. Galway ist das westlichste Städtchen Irlands, das westlichste Städtchen Europas und die Nachbarstadt von New York, nur durch das blaue Meer getrennt, und wenn die Erde kein Ellipsoid wäre, könnte man von Galway direkt nach New York sehen, in die Wahlheimat vieler Iren. In Galway schüttet es vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, und es gab einmal einen Bürgermeister, der schweren Herzens seinen eigenen Sohn zum Galgen verurteilen musste. Und heute gibt es dort eine gute Nusstorte! Der Name des Stubenmädchens aus dem Finn’s Hotel war Nora Barnacle. Auf der Nassau Street lief sie James Joyce über den Weg, der unter seiner Matrosenmütze still vor sich hin rauchte und sinnierte und pfiff und in diesem Augenblick noch sechsunddreißig Jahre, sieben Monate und drei Tage Lebenszeit hatte. Aber in dem Moment, in dem er Nora Barnacle sah, brach er das Rauchen und das Sinnieren und das Pfeifen ab, erlitt wieder eine Epiphanie, und diese plötzliche Offenbarung der Washeit Noras sagte ihm: Das ist meine Frau!

Aus dem Dunkel Dublins drang ein Kichern. James sprach Nora an, sie verabredeten sich. Am Abend des 16. Juni gingen sie zum ersten Mal gemeinsam spazieren und trafen sich von da an regelmäßig. Seinen Ulysses ausgerechnet an diesem Datum, an diesem einen Tag spielen zu lassen, war Joyces beredsamste, wenn auch indirekte Liebeserklärung an Nora, und der Wissenschaftler ergänzt: »… eine Anerkennung der bestimmenden Wirkung, die seine Verbindung mit ihr auf sein Leben ausübte. Der 16. Juni war der geheiligte Tag, der Stephen Dedalus, den rebellischen Jüngling – bis dahin Held des Romans – von Leopold Bloom, dem nachgiebigen Gatten trennte.«

Nora konnte, stubenmädchenstumpf, wie sie nun einmal war, keine wirkliche intellektuelle Gefährtin sein, aber darum kümmerte sich Joyce nicht. »Intellektuell bin ich selber«, dachte sich der Mann mit dem schiefen Hut. Jedem anderen Schriftsteller der Zeit wäre Nora Barnacle alltäglich und durchschnittlich erschienen. Joyce, mit seinem Bedürfnis, das Bemerkenswerte im Alltäglichen zu suchen, nicht. Sie hatte Primarschulbildung, sie hatte kein Verständnis für Literatur und weder Begabung noch Interesse an Selbstbeobachtung. Eigentlich ideale Voraussetzungen, glücklich zu werden, wenn man nicht gerade einen erfolglosen Schriftsteller kennenlernt. Immerhin brachte sie ihm bei, wie man Seite um Seite ohne Beistriche, ohne jegliche Interpunktion schreibt. Das begeisterte Jim. Insofern war Nora einerseits orthografisch zurückgeblieben, andererseits eine Vorreiterin der Moderne. … ich hab gedacht na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er soll doch nochmal fragen ja und dann hat er mich gefragt ob ich will ja sag ja meine Bergblume und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen dass er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will ja. – schrieb Nora, und James schrieb es ab, nur der Punkt nach dem ja ist von ihm, und so endet auf Seite 988 der Ulysses. Nora lachte selten, und wenn, dann wirkte es wie Wiehern. Das Wiehern der Vorreiterin.

Joyces erfolgloser Nebenbuhler Vincent, der Nora ebenfalls gerne abgeschleppt hätte, bekam im Portrait of the Artist as a Young Man den Namen Lynch, den Namen des Bürgermeisters von Galway, der seinen eigenen Sohn gehängt hatte. Ha! Was für ein tiefer Griff in die Literaturtrickkiste! Und ihr glaubt doch nicht, Kinder, dass Onkel Jim Leopold Bloom zufällig »Leopold« genannt hatte? Oder das Haar von Molly »kastanienbraun«? Es gibt in der Literatur keine Zufälle!

In einem Brief an Nora vom 29. August 1904 schrieb Joyce, vor sechs Jahren sei er, Papst Joyce I., aus der katholischen Kirche ausgetreten, die er glühend hasste. Jetzt führe er einen offenen Krieg gegen die Kirche durch das, was er schreibe und sage und tue, schrieb er. Der Gesellschaft könne er sich nicht einordnen – außer als Vagabund. »Mir egal«, dachte Nora. Oder sie dachte gar nichts.

3

WIE JAMES UND NORA AUS IRLAND ABGEHAUT UND NACH POLA AN DER ADRIA GEKOMMEN SIND

James Joyce entschloss sich, Irland den Rücken zu kehren und auszuwandern. In einem Brief an Nora schrieb er: »Hier ist kein Leben – keine Natürlichkeit oder Aufrichtigkeit. Die Leute wohnen ihr Leben lang in denselben Häusern zusammen und am Ende sind sie so weit voneinander entfernt wie je … dass du dich dazu entscheiden kannst, in meinem Leben, das vom Hasard bestimmt ist, neben mir zu stehen, erfüllt mich wirklich mit Stolz und Freude …« Jim schrieb der Berlitz School in London und bat um eine Stelle in Europa. Er schnorrte sich Reiseutensilien zusammen: Zahnbürste, Nagelbürste, Stiefel, Weste, Rock …

Sie nahmen die Fähre nach Holyhead, die noch heute damit wirbt, dass James und Nora sie benützt haben. Als die beiden in London ankamen, ließ Joyce Nora zwei Stunden im Park sitzen und warten, während er Arthur Symons besuchte, um ihn anzuschnorren. Nora fürchtete, Jim würde nicht zurückkehren. Er kam aber zurück. Als seine Londoner Pläne gescheitert waren – er bekam weder die Stelle noch Geld –, reisten James Joyce und Nora Barnacle noch in derselben Nacht nach Paris weiter. Ihr Geld war beinahe aufgebraucht, als ein offener Wagen sie mit dem großen Koffer und dem einzigen Handkoffer von der Gare Saint-Lazare zur Gare de l’Est brachte. Doch nachdem Joyce Nora auch hier in den Park gesetzt hatte, ging er unverzagt seine Pariser Freunde um Hilfe an. In der nächsten Nacht nahmen er und Nora einen Zug, der sie am Morgen des 11. Oktober nach Zürich brachte. So ging das Herumpurzeln immer weiter. Zum Glück war Nora stumpf.

In Zürich erfuhr Jim von einer freien Stelle in Triest und machte sich auf den Weg. Am 20. Oktober kamen sie in Triest an, Nora wartete im Park vor dem Bahnhof, und Joyce brauchte bloß eine Stunde, um im Gefängnis zu landen. Auf der »hübschen Piazza Grande« war er beiläufig ins Gespräch mit drei offensiv alkoholisierten englischen Matrosen gekommen und versuchte, zu deren Gunsten einzugreifen, als die Polizei sie festnehmen wollte. Der britische Konsul in Triest intervenierte nur sehr widerwillig für ihn. Immerhin war Jim erstens bloß ein Ire, zweitens bloß ein grotesker Schreiberling, und drittens saß sein Hut in geradezu kubistischer Manier auf seinem Kopf.

In Triest war dann plötzlich doch keine Stelle frei. Aber Signore Artifoni, ein liebenswürdiger Mann, verschaffte ihm eine Stelle in Pola: ein »seltsamer alter Ort«, ein »gottverlassener Fleck«, ein wirkliches »maritimes Sibirien«. Die ganze Istrische Halbinsel tat Joyce als einen »lang gestreckten, in die Adria ragenden langweiligen Fleck« ab, »bevölkert von ungebildeten Slawen mit kleinen roten Kappen.« Österreich war nicht besser. »Ich versuche, so bald wie möglich nach Italien zu kommen, da ich dieses katholische Land mit seinen hundert Völkern und tausend Sprachen hasse, regiert von einem höchstens eine Woche tagenden Parlament, das unfähig ist, Beschlüsse zu fassen, und von dem dekadentesten Königshaus Europas regiert wird.« Als er diese Stelle viele, viele Jahre später las, musste sogar Thomas Bernhard herzlich lachen. Aber dann baute er einen Unfall und wurde ins Krankenhaus von Rijeka eingeliefert. Bernhard, nicht Joyce, liebe Literaturfreunde.

Die Assistentin der Schulleitung in der Berlitz School of Pola hieß Amalija Globocnik. Sie mochte die Joyces gern und besuchte sie oft in ihrem winzigen Zimmer (7 Via Veneto, Pola, Österreich), wo Joyce gewöhnlich auf dem Bett sitzend schrieb. Schreiben kann man auch im Pyjama, erklärte Joyce. Oder in der Badewanne, ergänzte Nora. So eine Frau kann man sich nur wünschen. Die Armut des jungen Paares betrübte Amalija Globocnik: Joyce wechselte nie den Anzug und Nora nie ihr Kleid. Das Zimmer hatte keinen Ofen. Im Dezember wurde es kühl, dann kalt. Die Wände waren nicht einmal schlecht isoliert, sondern gar nicht. Isolierung war ganz etwas anderes als Isolation. Isolierung war damals in Istrien und vor allem in Pola unbekannt. Bekannt war hingegen die Bora, außerdem berüchtigt. In dieser Zeit schrieb Joyce sein Gedicht Nora bei Bora, das aber bis heute unveröffentlicht und in meinem Vorlass ist. Nora war trotzdem gastfreundlich und machte auf Joyces Ersuchen englische Puddings.

Diese englischen Puddings fand Amalija Globocnik extrem ekelhaft. Außerdem litt Amalija entsetzlich unter ihrem Namen Globocnik. Sie wollte sich umtaufen lassen, jedoch waren die Hürden der Bürokratie des absurden Kaiserreichs unüberwindlich.

Nora Barnacle hatte Mühe, sich anzupassen. Sie fühlte sich schmerzlich von ihrer Familie in Galway getrennt und wusste nicht, was sie in Pola mit sich anfangen sollte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Finn’s Hotel in Dublin zu verlassen und mit dem erfolglosen verschrobenen Schreibsonderling nach Südeuropa zu ziehen. Die Schriftstellerei verwirrte sie: Dass man Sätze mit verschieden großer Geschicklichkeit sollte bilden können, war ihr ganz neu und alles in allem unbegreiflich. Joyce schrieb am 3. Dezember 1904 an seinen Bruder Stanislaus: »Ihr ist meine Kunst ganz gleichgültig.«

Stanislaus Joyce, der in Dublin zurückgeblieben war, führte ein höchst bemerkenswertes Tagebuch, in das er notierte, es sei über alle Maßen entsetzlich, einen klügeren älteren Bruder zu haben. Ihm gestehe niemand Originalität zu. Hingegen unterstellten ihm alle, seinen Bruder Jim zu imitieren. »Jim prahlt damit«, notierte Stanislaus, »wie modern er sei. Außerdem verkündet er alle möglichen Arten von antichristlichen Idealen – Selbstsucht, Zügellosigkeit, Mitleidslosigkeit. Was er die häuslichen Tugenden nennt, sind in seinem Mund Synonyme der Verächtlichkeit. Den Begriff der Dankbarkeit erkennt er nicht an. Da er praktisch vom Pumpen lebt und die Leute ihn als Genie behandeln – während er sie wie Idioten traktiert –, hat er massenhaft Gelegenheiten nützen können, Undankbarkeit an den Tag zu legen. Mein Bruder ist der größte Lügner, den ich kenne, eignet sich weiterhin rapide die Mentalität des Trinkers an, proklamiert großartig seine Selbstsüchtigkeit und ärgert sich gleichzeitig über die Selbstsüchtigkeit anderer ihm gegenüber.« So findet Stanislaus Joyce zu einem Satz von alttestamentarischer Wucht: »Ich glaube, ich kann es verantworten, wenn ich sage, dass ich Jim nicht mag.« Nur: Wer ist hier Kain? Wer Abel?

Im Dezember wandte Joyce sich wieder seinem Roman, dem Portrait des Künstlers als junger Mann, zu, hatte am 12. Dezember die Kapitel 12 und 13 beendet, den Großteil der beiden folgenden am Jahresende. Am 13. Jänner 1905 schickte er Stanislaus alle vollendeten Kapitel. Überhaupt hielt er mit seinem Bruder eine stete Korrespondenz aufrecht.

Er sei letzte Woche von dem Arzt im Marinehospital untersucht worden und trage jetzt zum Lesen ein Pincenez an einem Band. Er habe eine sehr hohe Dioptrienzahl. Sobald er Geld habe, werde er hier seine Zähne in Ordnung bringen lassen. (In Paris war es um seine Zähne so schlecht bestellt gewesen, dass Jim, gab er gelegentlich einmal seiner Vorliebe für Zwiebelsuppe nach, die heiße Brühe nicht an seinen Zähnen ertragen konnte und sich vor Schmerzen krümmte.)

4

WIE JAMES UND NORA NACH TRIEST ZOGEN UND ZWEI KINDER BEKAMEN

An einem Sonntagmorgen Anfang März verließen James Joyce und Nora Barnacle Pola und reisten nach Triest. Zur Zeit ihrer Ankunft führten die Österreicher eben ihre ehrgeizigen Pläne zum weiteren Ausbau der Stadt Triest durch; Rilke war teilweise gleichzeitig mit Joyce dort und hatte seinen Wohnsitz in der Nähe. Ibsen, sein Vorbild, erinnerte sich im hohen Alter an den Augenblick, da er nach der Fahrt durch finstere Alpentunnel plötzlich bei Miramare der »Schönheit des Südens« begegnete, einer »wunderbaren sanften Helligkeit« … Miramare selbst ist innen aber erstaunlich dunkel. So viel Himmel! So viel Meer! So viel Sonne! Und so kleine Fenster! Ein Unglücksschloss! Alle, die dort gewohnt haben, haben es bereut! Man sollte Miramare als frisch verliebtes Paar keinesfalls besichtigen, bevor man geheiratet hat. Sonst geht die Ehe schief! Vielleicht hat Ibsen das gar nicht bemerkt.

Auf Joyce übte der Süden eine ähnliche Wirkung aus. So brachte er durch die Gestalt des Odysseus die strahlende, aber gefühlsungeschönte Mittelmeerwelt in das finstere Dublin; zum Beispiel sagte er einmal: »Ich hasse diese verdammte alberne Sonne, die einen zu Butter macht.«

Triest glich Dublin aber hinsichtlich seiner irredentistischen Bestrebungen; während drei Viertel der Stadtbevölkerung italienisch und ihre Sprache ein italienischer Dialekt war, stand sie noch immer unter der Herrschaft der Österreicher, die sie seit 1382 fast ununterbrochen besetzt gehalten hatten. Die Ähnlichkeiten waren so verblüffend, dass Joyce seine italienischen Freunde leicht für die politischen Parallelen in Irland begeistern konnte.

»Der Taschendieb ist die Wiener Regierung und morgen vielleicht die Regierung von Rom; aber Wien, Rom oder London, für mich sind alle Regierungen dasselbe – Räuber.« Oder: »Die Dubliner sind die hoffnungsloseste, nutzloseste und widerspruchsvollste Rasse von Scharlatanen, der ich je auf der Insel oder dem Kontinent begegnet bin. Der Dubliner verbringt seine Zeit mit Schwatzen und Rundgängen durch die Bars, Schenken oder Spelunken, ohne je seine doppelten Quantitäten von Whiskey oder Home Rule satt zu kriegen. Nachts, wenn nichts mehr reingeht und er mit Gift angefüllt ist wie eine Kröte, stolpert er der geraden Häuserfront entlang und schrubbt seinen Rücken an allen Mauern und Ecken. Er ertastet sich den Weg ›mit dem Arsch‹, wie wir auf Englisch sagen.« Applaus. »Und trotz allem bleibt Irland das Hirn des Vereinten Königreichs. Die Engländer, vernünftig, praktisch und langweilig, schenkten dem überfressenen Magen der Menschheit bloß eine vollkommene Erfindung – das Wasserklosett.« Applaus. »Der einzige unsterbliche Wert, für den die Italiener verantwortlich sind, ist die Gründung der römischen Kirche.« Großer Applaus. Kleines Honorar.

»Ich glaube, bisher hat noch kein Schriftsteller Dublin der Welt dargestellt. Es ist seit Jahrtausenden eine europäische Hauptstadt, man spricht von der Stadt als der zweiten des britischen Imperiums, und sie ist fast dreimal so groß wie Venedig …; was mich anbetrifft«, erklärte James Joyce, »ich schreibe immer über Dublin. Denn wenn ich zum Herzen von Dublin vordringen kann, kann ich zum Herzen aller Städte der Welt vordringen. Im Besonderen ist das Allgemeine enthalten.« Wie die irische Göttin Morrígan ernährte sich Joyce von Streit. Für William Butler Yeats, den alten Lyriker aus Sligo, hatte er überhaupt nichts übrig: Er war ein »langweiliger Idiot …«

James borgte sich bei Bruder Stanislaus ein Paar Hosen aus und behielt sie. Andere kleine Ausbeutungsversuche dieser Art, denen Stanislaus zunächst von Herzen, später etwas zögernder und schließlich widerwillig zustimmte, kennzeichneten die Beziehung der Brüder von Anfang an. Vielleicht sollte ich einmal das Abenteuer wagen, ein Buch über das Leben des Stanislaus Joyce zu schreiben. »Ich bin entschlossen, so wenig wie möglich zu handeln«, notierte diese Pascal’sche Natur, »mein vorwiegender Charakterzug heißt Betrachtsamkeit. Ich habe eine Abneigung gegen das allmorgendliche Aufstehen. Ich verschmähe studentischen Geist und Lektüre und Abenteuer – solche Abenteuer nämlich, wie sie einem infolge Saufens aufstoßen. Ich ziehe es vor, lieber missvergnügt, übelnehmisch (sic!) und steril zu verharren.« Alles sehr lobenswert, Stanislaus! Und den durchgeknallten Bruder zu überreden, Turgenjews Tagebuch eines Überflüssigen zu lesen: Recht ordentlich! – »Aber«, jammerte Stanislaus, »zu was sind meine Gedanken mir nütz, wenn sie mich weder prominent noch klug machen?«

James sah jedenfalls keinen Grund, weshalb sein Bruder seine Opfer an das Genie einschränken sollte, ganz besonders, da das Genie eine Familie durchzubringen hatte. Er hatte Nora mittlerweile zwei Kinder geschenkt, Giorgio und Lucia, beide waschechte Triestiner. Nora hatte bei der ersten Entbindung ebenso gegrunzt wie bei der zweiten. Da begann Joyce langsam einzusehen, dass sie, Nora, wie die Frau als solche das »vollkommen gesunde volle amoralische befruchtbare unzuverlässige fesselnde gerissene beschränkte vorsichtige gleichgültige Weib« war. »Ich bin der Fleisch, der stets bejaht.«

Die Joyces gingen auch weiterhin oft auswärts essen, gewöhnlich ins Restaurant Bonavia. Nora nannte James »Schatzi«, starrte aber meistens mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin. Stanislaus bescheinigte Miss Barnacle »eine sehr nette Art. Aber der Ausdruck ihres Gesichts will mich ein klein wenig gewöhnlich bedünken. Ihr Haar ist prachtvoll.«

Die Joyce’schen Hauptthemen: seine finanzielle Not, seine Familie, sein Land, seine Religionslosigkeit, seine Liebe zur Literatur. Selbstredend war das Trinken die Hauptbelastung seines Einkommens. Ehefrauen machen Hahnreie. Italien ist, abgesehen von der Kirche, ein Schwindel, und die Kirche ist eine alte Hure. Auf ein Anmeldeformular schrieb Joyce auf die Frage nach seiner Religion kurz: »Senza«. Irland ist schrecklich, aber unvergesslich.

James Joyce übersiedelte (purzelte) nach Rom: Denn es war ein großartigeres Schicksal, mit Rom unzufrieden zu sein als mit Triest. Aber im August befand er, Rom habe im Gegensatz zu Triest kein einziges anständiges Café. Ich schreibe den 18. September 1906, James war vierundzwanzig, hatte noch vierunddreißig Jahre, drei Monate und fünfundzwanzig Tage zu leben. Er war also in einem Alter, in dem man keine Epiphanien mehr erleidet, sondern Schreibkrisen: »Ich habe durchaus genug geschrieben, und bevor ich damit weitermache, muss ich wenigstens einen gewissen Grund dazu sehen – ich bin kein Jesus Christus der Literatur.« Was gab es in Rom schon zu sehen und zu hören? Was am Ufer des Tiber? Die Familie purzelte schon nach ein paar Monaten reumütig nach Triest zurück. Prezioso betraute Joyce mit einer Artikelserie für den Il Piccolo della Sera über die Übelstände der Fremdherrschaft, wie sie sich in Irland zeigten. Prrrrrezioooso, grrrrazie! Die Leser des Piccolo würden die Parallele mit den Übelständen in Triest mit Sicherheit erkennen. Er bat den Schriftsteller Silvio Benco, diese Artikel nach allfälligen Fehlern durchzusehen. (»Ich bin vielleicht nicht der Jesus Christus, der zu sein ich mir gerne einbildete«, wiederholte Papst Kain I. – seines Zeichens die neue Bescheidenheit selbst.)

Der selbstverbannte Joyce hielt krampfhaft am Charakter des Verbannten fest und bestrafte sich selbst und sein Vaterland, nach dem er sich so sehnte und dem er so gründlich misstraute. Goethes Darstellung von Mephistopheles als dem Geist, der stets verneint, half Joyce bei der Gestaltung von Buck Mulligan, der alles verneint, was die anderen Hauptfiguren bejahen.

Jim brachte es fertig, inmitten der Armut verschwenderisch zu sein. Ein Verleger, der ihn besuchte, notierte nachher: »Er gibt Geld aus wie ein betrunkener Matrose!« Auf Reisen wollte James immer im »Palace«-Hotel des jeweiligen Ortes absteigen, und er tat es, obwohl er es sich nicht leisten konnte. Manchmal stellte Jim Noras Geduld auf eine zu harte Probe: Am Dienstag, dem 28. Jänner 1908 nahm sie Geld aus seiner Rocktasche, um die überfällige Rechnung eines Schuhmachers zu bezahlen. Nora drohte ihm, ihrer Familie in Galway zu schreiben, dass sie mit einem Mann zusammenlebe, der sie nicht ernähren könne. Als James in ein Café gehen wollte, rief sie aus: »Ja, geh nur und besauf dich. Das ist alles, wozu du taugst! Taube Nuss! Vincent Cosgrave sagte mir ja, du seist verrückt. Ich gebe dir mein Wort, dass ich morgen die Kinder taufen lasse.« Immer wenn Nora ihm drohte, die Kinder taufen zu lassen, riss sich James Joyce anschließend zusammen. Noch mehr als die Taufe fürchtete er nur Gewitter. Der Fleisch, der stets bejaht, war aber nicht nur befruchtbar und beschränkt, sondern auch amoralisch, unzuverlässig, gerissen, falsch und hinterhältig, denn in Wahrheit hatte sie die beiden Kinder hinter dem Rücken des armen Teufels längst heimlich taufen lassen.

James Joyce ließ seinen Bruder Stanislaus nach Triest kommen. Stanislaus sollte ebenso wie er in der Berlitz School in der Via San Nicolo, zwischen der Piazza Grande, dem Teatro Verdi und dem Canal Grande gelegen, Englisch unterrichten und Geld verdienen. Ende Mai hatte Joyce einen so schweren Anfall von Iritis – eine Entzündung der Regenbogenhaut –, dass Blutegel angesetzt werden mussten. Das jagte ihm einen solchen Schrecken ein, dass er für einige Monate dem Trinken entsagte. Im Juni beschloss Joyce, ein »Quartier« aufzutreiben, eine dauernde Wohnung im zweiten Stock in der Via Scussa 8. Die erste Schwierigkeit bestand im Auftreiben der Kaution von sechshundert Kronen. Einer seiner Schüler, Ettore Schmitz, der allerdings einundzwanzig Jahre älter war als sein Lehrer, erklärte sich bereit, ihm zweihundert Kronen vorzustrecken.

Ettore Schmitz war ein Mann mittleren Alters und hoher Stirn, Angestellter und Handelsreisender der Firma seiner Schwiegereltern, die nach einer streng gehüteten Geheimformel Unterwasserlacke für Schiffsrümpfe produzierte und auch eine Fabrik in Deptford, einem der scheußlichsten Teile Londons, unterhielt. Dorthin beordert beschloss Schmitz, Privatstunden bei dem verrückten jungen Burschen Joyce zu nehmen, um sein Englisch zu verbessern. Diese Stunden mit il mercante di gerundi, mit dem Gerundienhändler, wie Schmitz Joyce nannte, fanden dreimal wöchentlich in Servola, einem Vorort von Triest statt und bestanden hauptsächlich aus Blödeleien und sprachlichen Spitzfindigkeiten. Joyces Geringschätzung der Disziplin trug ihm die Zuneigung der Mädchen – Schülerinnen – ein. Auch Signora Schmitz lernte ein bisschen Englisch mit, allerdings ohne jegliches Geblödel, und als Joyce seinen Schülern einmal zu Übungszwecken seine Erzählung The Dead vorlas, war Livia so angerührt von dieser Dichtung, dass sie in den Garten ihrer Villa ganz in der Nähe der Fabrik huschte und für James Joyce einen Blumenstrauß pflückte. James Joyce mochte aber keine Blumen. Nachwachsendes Grünzeug: ja, Blumen: sicher nicht. Trotzdem zeigte sich der irre Ire viele Jahre später erkenntlich, indem er die feuerrote Haarpracht der Livia Schmitz topografisch ans andere Ende Europas verlegte und in die Wellen und Wogen der Liffey verwandelte, die Dublin durchschneidet: eine einzigartige Metamorphose in der Weltliteraturgeschichte! Nicht nur können wirkliche Menschen vom Schöpfer Simsalabim in Romanfiguren verwandelt werden, auch wirkliche Menschenkörperteile in Romankulissendetails! Wasser in Wein kann jeder verwandeln! Aber Haare in Wasser! Ja, die Macht der Kunst ist grenzenlos! Auch du, Leserin, Leser, könntest eines Tages als Romanfigur in meinem Buch aufwachen! Warum die Wellen der Liffey feuerrot sein sollen, ist nach wie vor Gegenstand der Joyce-Forschung. Nora bekam von Livia einen Job als Büglerin. Aber wenn Livia Nora beim Promenieren an der Barcola passierte, übersah sie den Trampel geflissentlich.

5

WIE JAMES JOYCE VOR EIFERSUCHT BEINAHE GEPLATZT WÄRE

Am 24. März 1909 schrieb James Joyce einen Artikel für den Piccolo della Sera über seinen Landsmann Oscar Wilde, der vor einem knappen Jahrzehnt bloß sechsundvierzigjährig vergessen und verfemt nach einer Ohrenoperation in seinem Pariser Exil gestorben war. Mit dem Honorar reiste Joyce mit seinem Sohn Georgie nach Dublin. Dort traf er seinen Jugendfreundfeind Vincent Cosgrave, der ihm erzählte, der Fleisch, der stets bejaht, sei damals am Flussufer mit ihm in der Dunkelheit spazieren gegangen. James Joyce war fassungslos. Er fühlte sich verraten.

Vincent hatte Joyces Stolz tiefer getroffen, als ihm bewusst war. Diese Dreckshure! Sie machte ihn zum Gespött! Warum brachte er sie nicht um? Weil man das nicht tut. Weil man sich quält. Da taucht schon wieder der Wissenschaftler auf und erklärt, Joyce schrieb Verbannte, und seinen Helden Richard lässt er zu seinem angeblich besten Freund sagen: »Weil ich es mir im Innersten meines niederträchtigen Herzens wünschte, von dir und ihr betrogen zu werden … Ich habe mir das inbrünstig und niederträchtig gewünscht, in der Liebe und in der Lust für immer entehrt zu sein … für immer eine geschändete Kreatur zu sein und meine Seele aus den Trümmern ihrer Schande neu aufzubauen.« Allerdings sind Autor und Icherzähler nicht eins! Tatsächlich war James entsetzt über die Möglichkeit, dass Nora ihm untreu gewesen sein konnte. Sofort schrieb er ihr einen Brief voller Wehklagen und schweren Anklagen.

»Nora«, schrieb er ihr aus Dublin nach Triest, »ich fahre nicht nach Galway, Georgie auch nicht. Die geschäftliche Angelegenheit, derentwegen ich hergekommen bin und von der ich mir eine Besserung meiner Lage erhofft hatte, schmeiße ich hin. Ich war dir gegenüber immer ehrlich«, schrieb James Nora, »Du mir gegenüber nicht. Du hast Dich neben mir mit Cosgrave verabredet, Du bist hinter meinem Rücken mit ihm spazieren gegangen, dieselben Straßen, am Kanal entlang, hinunter zum Ufer der Dodder. Du standst mit ihm: Er legte seinen Arm um Dich, und Du hobst Dein Gesicht zu ihm auf und küsstest ihn. Was habt ihr noch zusammen getan? Und am nächsten Abend trafst Du Dich mit mir! Ich habe dies gerade vor einer Stunde aus seinem Mund gehört. Meine Augen sind voller Tränen, Tränen des Kummers und der Demütigung. Mein Herz ist voller Bitterkeit und Verzweiflung. Oh Nora, muss alles zwischen uns vorbei sein? Schreib mir, Nora, um meiner toten Liebe willen. Ich habe nur Dich geliebt. Und Du hast meinen Glauben an Dich zerbrochen!«

»Ist Georgie mein Sohn? Wurdest Du von einem anderen gefickt, bevor Du zu mir kamst?«, schrieb James Nora von Dublin nach Triest.

»Hast Du Deinen Körper zwischen mir und einem anderen geteilt? In Dublin hier geht das Gerücht um, dass ich nahm, was andere übrig ließen. Bist also Du auch wie ich, einen Augenblick hoch in den Sternen, im nächsten niedriger als die niedrigste Kreatur? Vielleicht lachen sie, wenn sie mich mit ›meinem‹ Sohn durch die Straßen paradieren sehen.« Diese Irrungen! Diese Wirrungen! Niemals hat man in Dublin ein menschliches Wesen schlimmer zerrüttet gesehen!

Nora führte kein Tagebuch und schrieb selten Briefe, die dann auch noch häufig verloren gingen. Merke: Schriftstellergattinnen sollten die Briefe, die sie schreiben, immer unbedingt eingeschrieben aufgeben – da dürfen sie auch in der schlimmsten Not nicht am falschen Platz sparen! Und sie sollten unbedingt akribisch Tagebuch führen, das im Idealfall zwischen höchster Geistigkeit und außerordentlicher sexueller Aufrichtigkeit hin und her schwanken sollte, damit die Forschung postum etwas zu erforschen hat! Das treibt nebenbei auch den Preis des Nachlasses in die Höhe! Dazu sind sie ja schließlich da, die Schriftstellergattinnen und die Tagebücher! Aber keine Sorge, Kinder! Es ist noch kein Wissenschaftler vom Himmel gefallen. Noch nie ist eine Wissenschaft wegen Erfolglosigkeit gekündigt und hinausgeworfen worden. Sie forscht einfach beinhart selbstzufrieden immer weiter vor sich hin, gut bezahlt, ergebnislos, verbindliche Übereinkünfte aushandelnd. Sie erfindet zum Beispiel das Wort Washeit, erklärt dem gerade amtierenden dussligen Minister, wie unentbehrlich und großartig das ist, und lebt wieder drei Jahre fürstlich davon. Und in zwanzig Jahren ändert sich die Mode mit den handelnden Personen wieder. Wissenschaft. Mode. Diktatur: Wo ist da der Unterschied? James Joyce war nie in einer geschützten Werkstätte, liebe Kinder. James-Joyce-Forscher waren immer in einer geschützten Werkstätte. Freiheit der Forschung, Sicherheit des Einkommens und der Existenz: Ideale Mischung für Willkür und Intrigantentum, Selbstgerechtigkeit und selbstherrliche Verschlagenheit! Besser, ihr gewöhnt euch so früh wie möglich an diesen Mechanismus, liebe Kinder! Die Literaturwissenschaftler sind schlimmer als die Pfaffen! Philologie, Theologie: Wo ist der Unterschied? Die Zaubersprüche und Verhexungen des Kirchenlateins und des Philologenlateins: Wo ist der Unterschied? Die Kommunionen und die Exkommunizierungen! Korrupte Cliquenwirtschaft, mafiöse Systeme da wie dort. Weltweit agierende Konzerne, die sich ungeniert an einem Produkt bereichern, das es nicht gibt.

Jedenfalls kam Joyce dann doch noch zur Überzeugung, dass Cosgraves Geschichte Prahlerei und Lüge, Nora treu und unschuldig und sein Sohn Giorgio sein Sohn war: Er begann sich wegen seines hysterischen Selbstmitleids zu schämen und bereute es, dass er dem miesen Cosgrave vertraut und der lieben Nora misstraut hatte.

Es begann eine neue Etappe in der Lebensgemeinschaft von Nora und James. Da er ihrer Treue nun sicher war, hatte er sich von Zeit zu Zeit ein gewisses Vergnügen daraus gemacht, ihre Anziehungskraft auf andere Männer und sich selbst zu beobachten. Nora war mit der Zeit hübscher geworden, ihr Körper bekam vollere Formen und hatte nun etwas von dem Königlichen, das Joyce als ergebener Gatte für sie beanspruchte. Wie aus dem hässlichen Entlein ein prächtiger Schwan hatte sich aus dem Gaul von Galway ein edles Ross herausgeschält. Cavallo Triestino. Signore Prezosio, Herausgeber des Piccolo, war ein Journalist von geistigem Rang. Mehrere Monate lang hatte er die Gewohnheit, Nora nachmittags einen Besuch abzustatten. Joyce hatte nichts gegen diese Besuche einzuwenden und ermutigte sie eher noch. Prrrrezoooosio, avanti! Nora genoss Prezosios Bewunderung und ging so weit, sich die Haare zu einer Frisur herrichten zu lassen.

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WIE JAMES JOYCE EIN ERFOLGLOSER KINOUNTERNEHMER UND NOCH ERFOLGLOSERER SCHRIFTSTELLER GEWORDEN IST

Joyce wurde dreißig Jahre alt, ohne dass sich das Unglück von ihm abgewendet hätte. Lebenshalbzeit. Am 2. Februar 1912 feierte er seinen Geburtstag mit der Unfähigkeit, die Miete zu zahlen. Seiner Schwester Eva Joyce gefiel an Triest nur eines, die Kinos, und sie wunderte sich, dass eine so große Stadt wie Dublin kein einziges habe. So wurde Joyce vorübergehend Kinounternehmer.

Er ging zu seinem väterlichen Schüler Schmitz, um Vorschuss für zwölf Unterrichtsstunden zu erbitten, um nach Irland reisen zu können, und ließ bei Schmitz auch den missgestalteten Hund Fido in Verwahrung. Der haute gleich ab und zeugte im Schwanzumdrehen zwölf Junge. Das Dubliner Kinoabenteuer verlief bald im Sand. Joyce stellte in einer alten Lagerhalle eine Menge Stühle auf, auf die sich niemand setzte. Immerhin ein großes weltliterarisches Motiv, das Joyce allerdings nicht erkannte.

Joyce hatte sein ganzes Leben lang merkwürdige Schmerzen und kam regelmäßig darauf zu sprechen, wenn er Nora Vorwürfe machte. Einmal Ischias, einmal Iritis, einmal die verdammten Zähne. Irgendetwas Elendes immer. Nora war so hilflos wie ein Arzt, aber nicht so redegewandt. Unter den abergläubischen Gegenständen war ihm einer der liebsten ein Ring, den er gegen Erblindung am Finger trug.

Als die Dubliners erschienen waren, bedankte Joyce sich regelmäßig brieflich bei den Rezensenten, um seinen Namen ihrem Gedächtnis umso fester einzuprägen. (Merke: Auf diese Weise kann man Rezensenten umgekehrt aber ganz schön auf die Nerven gehen. Die Autoren sehen ja nicht, wie die Redakteure in den Redaktionen die Augen verrollen, aber sie tun es! Trotzdem beherzigen viele, viele Autoren diese Strategie, auch und gerade die ganz, ganz mittelmäßigen. Sei lästig! Sei aufdringlich! Sei impertinent! Ich gehe auf die Nerven, also bin ich. Merke weiters: Mittelmäßig ist in der Branche eine ganz offenkundige Umschreibung für grauenhaft.) Binnen eines Jahres wurden nur dreihundertneunundsiebzig Exemplare von Dubliners verkauft, die von Joyce gekauften hundertzwanzig Stück inbegriffen. (Merke: Dass ein Buch veröffentlicht wird, heißt noch lange nicht, dass es wahrgenommen und verkauft, also gekauft wird. Viele, viele Bücher werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit veröffentlicht.) Als Joyce sich darüber beklagte, die Lage sei »verheerend«, versicherte ihm sein Verleger, während des Krieges verkauften sich die wenigsten Bücher gut. Joyce hatte kein Geld, keine Hoffnung, keine Jugend mehr. Er wollte einen Revolver kaufen, um »ein bisschen Tageslicht in meinen Verleger hineinzulassen«.

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WIE JAMES JOYCE DEN ULYSSES GESCHRIEBEN HAT

Seit sieben Jahren hatte sich Joyce darauf vorbereitet, den Ulysses zu schreiben. Auf die Frage, warum er seinem Buch den Titel Ulysses gegeben habe, antwortete Joyce: »Das ist mein Arbeitssystem.« Die Hauptaufgabe war, einen heidnischen Helden zu finden, den er in einer katholischen Stadt leben lassen konnte, um aus Odysseus einen Dubliner zu machen, doziert der Wissenschaftler ans Geländer der Joyce Bridge gelehnt. Stephen Dedalus war auch Ikarus, Hamlet, Shakespeare, Luzifer. Die Odysseus-Rolle konnte er als unreife Persona aber nicht übernehmen, dafür wählte Joyce Leopold Bloom. »Die guten Dinge«, sagte er, »kommen einem beim Schreiben in den Sinn.« Joyce wusste anfangs nur, dass sein moderner Ulysses in einer Reihe von Episoden durch Dublin wandern musste. Der Zyklop begegnet ihm als Nationalist, Circe als Bordellmutter; in der Circe-Episode gleicht die Zigarre, die Bloom ständig vor dem Bürger wie eine Waffe schwingt, dem Speer, den Odysseus benutzt. Nur Freud widerspricht, das sei ausgemachter Blödsinn. Die Zigarre sei selbstverständlich der Penis! Was sonst? Was machte Odysseus mit seinem Penis? Er versteckte ihn! Bei seiner Heimkehr versteckte er sich hinterm Haus und musste mitansehen, wie sein Haus voller Freier war und Penelope mittendrin. Odysseus baute seine Seele aus den Trümmern der Schande Penelopes neu auf.

Joyce war nie ein Schöpfer ex nihilo. Er gestaltete das um, woran er sich erinnerte, und er erinnerte sich an das meiste, was er gesehen hatte.

Die Verwandtschaft zwischen Stephen und Bloom, die oberflächlich betrachtet so unwahrscheinlich anmutet, begründet James Joyce mit großer Geschicklichkeit. Er nimmt zwei Quellen zu Hilfe, beide literarischer Art. Die erste ist Leopold von Sacher-Masoch. Während Joyce die Circe-Episode niederschrieb, verwertete er weitgehend Sacher-Masochs Buch Venus im Pelz. Das meiste Material über die Geißelung ist daraus entnommen. Venus im Pelz erzählt die Geschichte eines jungen Mannes namens Severin, der sich vor seiner Geliebten Wanda so erniedrigt und sie zu Grausamkeit ihm gegenüber so ermutigt, dass sie immer tyrannischer wird, ihn zu einem servilen Handlanger macht und schließlich, in einem stürmischen Finale, ihrem neuen Geliebten zum Auspeitschen ausliefert. Es gibt viele Ähnlichkeiten zur Circe-Episode.

Joyce bezahlte keine Einkommenssteuer während der meisten Zeit seines Triester Aufenthalts, weil der Steuereinzieher einer seiner Bewunderer war. Dann verlangte ein neuer Einzieher, dass er zahle. Joyce war so verärgert, dass er zu rauchen aufhörte, bis er die Regierung um einen entsprechenden Geldbetrag an Tabaksteuer geschädigt hatte.

Ein anderer Gefährte Joyces in Triest war der venezianische Maler Tullio Silvestri, der 1913 ein Porträt von Nora malte. Sie pflegten miteinander zu trinken und zu singen. Manchmal plauderten sie über Wagner, der in Venedig gestorben war. »Wagner puzza di sesso«, sagte Joyce. Wagner stinkt nach Sex.

James Joyce und seine Familie lebten unter oft wechselnden Adressen fast elf Jahre in Triest, und später erledigte er alles Gerede über demokratische Utopien mit der Bemerkung, nie sei er glücklicher gewesen als unter der laxen Herrschaft des österreichisch-ungarischen Kaisers in Triest. »Man nannte es ein wackliges Reich. Ich wollte bei Gott, es gäbe mehr solche Reiche.« Gott war aber nur so eine Redensart.

Aber als der Krieg ausbrach, setzte sich die Familie Joyce in den Zug und verließ Triest. Wenn man den Krieg auch nur erwähnte, zitterte Joyce. Selbst ein Streit in seiner Umgebung war ihm unangenehm, und er sagte: »Ich bin ein friedlicher Mensch!« In Zürich staunten die Joyces über die Reinlichkeit der Stadt, die sich so stark von Triests selbstgefälliger Unordnung abhob. Gleich zu Beginn ihres Aufenthalts wurde Nora von einem Polizisten angehalten, ein Stück Papier aufzuheben, das sie in einem Flur hatte fallen lassen. Statt eines Meeres gab es einen See, statt der Barcola eine Goldküste, und seinen bevorzugten Opernkomponisten Verdi nahm Joyce nach Zürich mit. Er konnte sich an einem einzigen seiner Sätze, wie etwa »Addio, del passato bei rogni ridenti« aus La Traviata, den er immer wieder sang – was heißt sang? Trällerte!!! Schmetterte!!! –, geradezu berauschen. (Wien interessierte James Joyce trotz laxen Kaisers hingegen so gut wie gar nicht. Wien: Weder Meer noch See. Das war zu wenig!)

Obwohl in Zürich, zog James Joyce deutschsprachige Literatur wenig an, und er spottete selbst über Goethe, den er »un noioso funzionario« (einen langweiligen Staatsbeamten) nannte. Joyce war körperlich faul und sagte, in jedem Zimmer sollte sich mindestens ein Bett befinden. Bettgeschichten sind nicht nur solche, die im Bett spielen, sondern vor allem solche, die im Bett erdacht und geschrieben werden. Liebe Leserinnen und Leser! Besucht einmal ein Dichtermuseum und besichtigt das Arbeitszimmer: Achtet immer darauf, ob ein Bett darin steht. Falls nicht, vergesst den Dichter! Der taugt nichts! Manchmal ließ sich Joyce aber trotz Faulheit zu langen Spaziergängen auf den Uetliberg oder auf den Zürichberg oder den Zürichsee entlang nach Küsnacht überreden. Zuweilen brach während der Spaziergänge ein Gewitter los, und Joyce war entsetzt über diese krachenden Weltzusammenbrüche. Donner und Taufe, Wasser und Seife, Erblindung, Krieg, hochgelegene Orte, Sex und Zwiebelsuppe, zottige Hunde und Stefan Zweig: Es gibt vieles zwischen Himmel und Erde, wovor sich ein richtiger Dichter fürchten kann. Und am fürchterlichsten vor dem Fleisch, der stets bejaht.

Joyce lernte die Schwestern Bliznakoff kennen und las ihnen öfters aus dem Manuskript des Ulysses vor, ließ aber Sätze oder ganze Abschnitte mit der Begründung aus, sie eigneten sich für junge Mädchen nicht. Literaturjugendschutz! Es ist ein schwerer und verhängnisvoller Fehler der Erwachsenen, Kinder zur Literatur hinzuführen. Im Gegenteil sollte man sie von der Literatur fernhalten! In der Schule vor allem! Die Circe-Episode ist nichts für Kinder. Es gibt ja auch keinen staatlich verordneten Drogenunterricht! Winnetou geht gerade noch, aber alles Weiterführende: Danger! Pericoloso! Lebensgefahr! Man darf also zu der langen Zensurgeschichte des Ulysses sagen, dass Joyce selbst der erste Zensor war.

James Joyces Einkommen aus dem Privatunterricht war immer noch dürftig, und er sah sich dauernd nach anderen Arbeiten um. Ende 1915 erhielt er etwas Arbeit bei einem bärtigen, messianischen Wiener Professor, Siegmund Feilbogen. In der Schweiz enthielt sich Joyce aller Politik und sprach wenig vom Krieg. Ob er denn nicht für Irland sterben würde?, wurde Joyce einmal gefragt. Er antwortete: Soll mein Vaterland doch für mich sterben …

8

DAS SCHAFFHAUSER MANIFEST, DAS GALWAY-HORSE-SYNDROM UND WAS JAMES JOYCE IN DER ZÜRCHER BAHNHOFSTRASSE PASSIERT IST

Auch in Zürich veranstaltete Joyce eine Odyssee. Zuerst nahm er mit der Familie Aufenthalt im Gasthaus Hoffnung, dann in einer spartanisch möblierten Zweizimmerwohnung in der Reinhardstrasse 7, dann in der Kreuzstrasse 10, dritter Stock, dann in der Seefeldstrasse 54, eine genauso kleine, stickige Wohnung … Es war zum Wahnsinnigwerden! Die kleine Tochter Lucia wurde wahnsinnig.

Durch seine ausgedehnten geselligen Abende lernte Joyce bald eine ansehnliche Zahl von Leuten in Zürich kennen, genauso wie er fast jedermann in Triest gekannt hatte. Bevorzugter Treffpunkt war das Restaurant Zum Weissen Kreuz am Anfang der Seefeldstrasse. Tagsüber gab er gelegentlich Stunden und arbeitete am Ulysses. Die Odyssee ist nämlich das schönste und alles umfassende Thema, erzählte Joyce einem seiner Schüler im Café Pfauen. »Es ist größer, menschlicher als Hamlet, Don Quijote, Dante, Faust«, schwadronierte Joyce. »Das Jungwerden des alten Faust berührt mich unangenehm; die schönsten, menschlichsten Züge enthält die Odyssee. Als Zwölfjährigem gefiel mir am Ulysses das Mystische …« – und wer lehnt da an einem Brückengeländer, wo die Limmat in den Zürichsee mündet und fällt Joyce ins Wort? Der Wissenschaftler! Ihn überrascht es nicht, dass Joyces Beschreibung von Odysseus als Pazifist, Vater, Wanderer, Musiker und Künstler das Leben des Helden eng mit seinem eigenen verbindet! Homer war bekanntlich auch blind. So hängt alles mit allem zusammen. Allerdings stammte Homer nicht aus Dublin, sondern aus Izmir, nicht jedem Blinden gelingt eine Odyssee, beide starben noch bevor der Hörspielpreis der Kriegsblinden ins Leben gerufen wurde, und mittlerweile ist der Hörspielpreis der Kriegsblinden auch schon wieder gestorben. Nichts ist für die Ewigkeit.

Obgleich James und Nora das schwüle Zürcher Klima nicht behagte, konnten sie doch nicht umhin, die Stadt interessant zu finden. Sie war voller Flüchtlinge, Spekulanten, politisch Verbannter, Künstler. Die Atmosphäre des literarischen Experiments stärkte Joyces Vertrauen in seinen Ulysses. 1915 wurde im Café Voltaire in der Altstadt die surrealistische Bewegung durch Tristan Tzara, Hans Arp, Hugo Ball und andere entfacht. Joyce hatte mit ihnen aber nichts zu tun.

Im Café Odeon, das Joyce oft besuchte, war Lenin regelmäßig Gast; im März fuhr Lenin mit dem Russenzug in einem versiegelten Wagen vom Züricher Bahnhof ab. Niemand hatte darauf geachtet. Joyce interessierte sich für Frank Wedekind, die Dichter trafen sich auch – aber es entstand keine nähere Bekanntschaft. Wedekind traf sich auch mit dem Maler Franz Wiegele, der aber weder Wedekind noch Joyce jemals malte. Nicht einmal Nora. Leider, leider! Ein schwerer Fehler! Die Nora Barnacle von Franz Wiegele wäre weltberühmt geworden, und das Museum des Nötscher Kreises wäre heute so berühmt wie der Louvre. Aus der ganzen Welt würden sie zum Mona-Nora-Schauen kommen und zwölf Monate im Jahr die Hotelzimmerbetten des ganzen Gailtals füllen! Aber wer das falsche Motiv wählt, den bestraft die Geschichte! Joyces Haltung gegenüber der Dramaturgie war überraschend lax für einen Schüler Ibsens. »Wenn’s langweilig wird, muss man eine Frau auf die Bühne bringen.«

Am Abend des 18. August, des Geburtstags von Franz Joseph, worauf er später großen Wert legte, erlitt James Joyce bei einem Spaziergang durch die Zürcher Bahnhofstrasse einen so schweren Anfall von grünem Star, dass er zwanzig Minuten beinahe bewusstlos vor Schmerzen war. Heute findet man in der Bahnhofstrasse ausschließlich Juwelen, Brillanten und goldene Schweizer Uhren. Das Essen wiederum ist teurer als Juwelen, Brillanten und Schweizer Uhren zusammen, sodass Ausländer in Zürich in der Bahnhofstrasse in kürzester Zeit tot umfallen, von den reinlichen Schweizern aber sofort weggeräumt und diskret entsorgt werden. So gesehen ist Izmir besser.

Bei einem Nachtessen lernte James Joyce den Engländer Frank Budgen kennen, der für das Informationsministerium arbeitete. Obwohl man das Verhältnis von Irland und England kennt, wurden die beiden wie durch ein Wunder intime Freunde und Vertraute. Sie zogen weiter zu den »Zimmerleuten«, einem Restaurant am rechten Limmatufer, vergaßen die Polizeistunde und zechten und feierten zusammen mit den Kellnern, Köchen und Zimmermädchen bis zum Morgengrauen.

Budgen bemerkte schnell, dass Nora ihren Mann behandelte, als wäre er noch ein halbes Kind – und sein Buch schätzte wie einen Griff ins Klo. Joyce war immer ein wenig bestürzt über Noras grenzenlose Gleichgültigkeit und sogar Abneigung gegenüber seiner Schriftstellerei. Er beschwerte sich bei Budgen, er sei kein halbes Kind, sondern eine Art Persönlichkeit, die eine gewisse Wirkung auf Leute ausübe, nur seine eigene Frau sei gegen diese Persönlichkeit völlig immun. Sie beschwerte sich bei Budgen: »Mein Mann schreibt ein Buch, aber ich sage Ihnen: Das Buch ist ein Schwein!« Zuerst schimpfte Nora mit James, weil sie meinte, er langweile die Gäste mit Literatur. Erst als sie einsah, dass sie ganz und gar nicht gelangweilt waren, kam es ihr, dass vielleicht etwas am Werk ihres Mannes sein könnte, und fühlte sich durch diese Einsicht gedemütigt und erniedrigt. Man nennt diesen psychischen Mechanismus heute den »Galway-Komplex«, manchmal auch das »Galway-Horse-Syndrom«. Nora hätte an dieser Stelle darauf hinweisen können, die Tatsache, dass man im Stall geboren sei, belege noch nicht, dass man ein Pferd sei. Aber das ist ihr halt nicht eingefallen.

Die Wahrheit ist: James Joyce war ein halbes Kind und eine Art Persönlichkeit. Ein halbes Kind mindestens und eine Art Persönlichkeit mindestens. Märchenfiguren ist nichts verboten. Mit Frank Budgen fachsimpelte Joyce über Christus und erklärte, Christus war Junggeselle und lebte nie mit einer Frau zusammen. Das Zusammenleben mit einer Frau sei aber zweifellos etwas vom Schwierigsten, was ein Mann tun müsse, und das habe Christus nie getan!

Die Wahrheit ist: James Joyce sammelte weibliche Charakterzüge – angefangen bei der Unfähigkeit zur Philosophie bis zur Abneigung gegen Suppe. Trotzdem liebte James Nora, oder wie es der Wissenschaftler ausdrückt: Er war ihr in tiefer Zuneigung verbunden, oder wie es der Poet ausdrückt: Er sandte ihr Gnadengebete mit der ekstatischen Selbstaufgabe des Liebenden; eine Haltung, die Schmerz und Verlangen vermischt. Oder wie es der Analytiker ausdrückt: Wie er nach einer totalen Kontrolle über seine Bücher strebte, träumte Joyce von der marternden Selbstaufgabe unter die Macht der Frau. Die Wahrheit ist: Joyce beschloss, seinem Odysseus Leopold Bloom als zweiten Vornamen einen weiblichen zu geben: Paula. Paula Odysseus, Leopold Paula Bloom, so wie Rainer Maria Rilke oder James Augusta Joyce, wegen der Y-Chromosome. Die Wahrheit ist: Nora war eine strenge, störrische Erzieherin, und wenn es ihr notwendig schien, schlug sie ihre Kinder Giorgio und Lucia, von ihrem Vater besonders verzärtelt und vielleicht ein wenig verzogen. James Joyce strafte beide Kinder überhaupt nicht und sagte: Kinder müssen durch Liebe, nicht durch Bestrafung erzogen werden! Daraufhin zog Nora brüskiert, schnaubend und grrrend von dannen und spielte mit ihrem starken Galway-Akzent eine Nebenrolle in einem Stück von Synge. Übrigens, das tut man nicht, »grrrend von dannen ziehen«, wenn man Unrecht hat. Nur der Trampel zieht »von dannen«! Einmal hatte der Fleisch, der stets bejaht, drei Monate lang Nervenzusammenbrüche, und James redete drei Monate lang so gut wie nicht mit ihm.

Als friedensstiftende Maßnahme unternahm Joyce, jetzt achtunddreißigjährig, mit Nora einen Ausflug zum Rheinfall nach Schaffhausen. Dabei erzählte ihm ein Bekannter Noras von einer Mutter, deren Kind gestorben war und die sich sorgte, das Polsterkissen, auf dem sein Köpfchen im Sarg ruhte, könnte nicht weich genug sein. Sofort zückte Joyce sein Notizbuch, machte eine Eintragung und kommentierte: »Das werde ich verwenden!«

Das werde ich verwenden: Der zentrale Satz für alle Schriftsteller, denen es um Tatsachentreue geht! Um Details! Um die Details des Teufels! Das Schaffhauser Manifest! Manchmal sind Tatsachentreue und Persönlichkeitsrecht uneins, und wenn ein Duett nicht möglich ist, dann kommt es zum Duell. Mag der Schriftsteller noch so bettelarm und desperat sein, mag das Problem des Lebens noch so ernst, bitter und tragisch sein, seine Wahrnehmung gehört ihm, seine Wahrnehmung verwendet er, seine Wahrnehmung beutet er aus, kompromisslos, bedingungslos, erbarmungslos. Das werde ich verwenden! Lebendig oder tot! Der Wissenschaftler sagt dazu: Joyce wurde von seinem Dokumentierdämon angetrieben. Allerdings: Der Schriftsteller drückt aus. Er teilt nicht mit. Manches Mal war ihm eine Geschichte aber auch zu außergewöhnlich, um sie verwenden zu können. Ein Schriftsteller, meinte er, solle nie über das Außergewöhnliche schreiben. Das sei für Journalisten.

Ein neuer Anhänger war Stefan Zweig, ebenfalls Stammgast im Odeon. Joyce schien »seine eigene Härte zu lieben«, vermutete Zweig, »nie habe ich ihn lachen oder eigentlich heiter gesehen. Immer wirkte er wie eine in sich zusammengeballte dunkle Kraft, wenn ich ihn auf der Straße sah, die schmalen Lippen scharf aneinander gezogen und immer raschen Schritts, als ob er auf etwas Bestimmtes zuginge …« Vielleicht hat Joyce auch bloß Reißaus vor Zweig genommen. Zweig hat Joyce nur um ein Jahr überlebt.

9

DIE EINKOMMENSVERHÄLTNISSE DES TEUFELS

Reden wir jetzt übers Geld! Der geschäftsführende Direktor der Eidgenössischen Bank Zürich unterrichte James Joyce, der zu diesem Zweck vorschriftsgemäß einen geborgten schwarzen Anzug hatte anziehen müssen, vom Inhalt eines Briefes vom 27. Februar 1918: »Ein Kunde unserer Bank, der sich sehr für Ihre Arbeit interessiert, weiß, dass Sie finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet sind, und möchte Ihnen eine Art Stipendium geben. Es sind bei uns 12.000 Franken auf Ihr Konto hinterlegt worden. Sie werden ab 1. März ein Jahr lang tausend Franken monatlich erhalten.« James Joyce war erstaunt und verblüfft über diese Spende … Noch zweiundzwanzig Jahre, zehn Monate und siebzehn Tage bis zum Tod. Viel? Wenig? Zu viel? Zu wenig? Wofür?

Der Bankkunde entpuppte sich als eine Frau McCormick, die in Zürich wohnte, Joyce für einen großen Künstler hielt und auch viele andere Schriftsteller, Künstler und den Psychologen Carl Gustav Jung finanziell unterstützte. Frau McCormick war jedoch als launisch bekannt und ärgerte sich bald über Joyce, weil er sich heftig dagegen verwahrt hatte, sich – auf ihre Anregung und Kosten – von Jung analysieren zu lassen. »Sicher nicht!«, jaulte Joyce und bekam gleich wieder einen Anfall von Iritis. Man sollte einmal die Psychoanalyse psychoanalysieren! Und dann noch dazu dieser Schweizer Schwerenöter! Der macht mir doch mein ganzes Genie kaputt! Burghölzli, bleib bei deinem Leisten! Analysieren! Therapieren! Was für ein gigantischer Schwindel! Ich hätte Lust auf eine feine Therapeutenverprügelungstherapie!

Zum Glück stellte sich noch eine zweite spendable Gönnerin bei Joyce ein, die erst nach langer Geheimniskrämerei ihr Incognito lüftete: Harriet Weaver überwies ihrem darbenden Genie ein monatliches Salär zu ihrem Privatvergnügen und verlangte absolut keine Gegenleistung! So gehört sich das! Sie fütterte James Joyce sein restliches Leben lang durch und bezahlte anschließend auch noch seine Beerdigung. Harrrrriettt, grrrrrrazie! Millllle grrrrrazie!

Ach, Leserinnen und Leser, wo gibt es Menschen wie Harriet Weaver heute noch? Solch großherzige Gönner, Mäzene, Kunstfreunde, Freunde? Lichtträger in die Finsternis der Dichterexistenz! Liquid, bescheiden und diskret. Ich werde das Incognito meiner Harriet natürlich nicht lüften, aber ihr hier von Anonymus zu Anonymus einmal von ganzem Herzen danken: Danke! Merci! Thanks! Teschek! Obrigado! Grrrrrazzzzieee, Harrrriettt! Ohne dich ginge es nicht! Ohne euch! Ohne euch ginge die eigensinnige, die selbstbestimmte – die wirkliche Literatur zugrunde, und die skrupellose Literaturmafia hätte ihr übles Spiel gewonnen!

Giorgio erzählte seinen Schweizer Schulkameraden, sein Vater sei Schriftsteller, und sie fragten ihn, was für Bücher er denn schreibe. Giorgio antwortete, sein Vater arbeite schon seit fünf Jahren an einem Buch und brauche noch etwa zehn Jahre, um es zu beenden. Dann wollten sie wissen, wie sein Vater denn Geld verdiene. Giorgio erklärte, wenn kein Geld mehr da sei, schreibe sein Vater nach England und erhalte von einem Lord ein paar Hundert Pfund.

Eines Tages lud Giorgio seinen Schulfreund Walter Ackermann nach Hause ein. Der war neugierig zu erfahren, wie die Wohnung eines Schriftstellers aussieht, und enttäuscht, denn sie sah genau wie die seiner Eltern aus, die alles andere als Schriftsteller waren. Beim Weggehen trafen sie im Flur einen »völlig schwarzen Mann«. Ackermann meinte, Giorgios Vater sehe genau wie der Teufel aus. Seine Vermieterin nannte Joyce »Herr Satan«. Dabei hat er ihr gar nichts getan und sie nicht einmal verwendet. Das werde ich verwenden! Das und vieles andere. So, jetzt aber Schluss mit der Schweiz.

James Joyce kam nach Paris, um eine Woche zu bleiben, und blieb zwanzig Jahre. Bei seiner Ankunft nannte er Paris »die letzte der menschlichen Städte«. Später aber sagte er: »Paris ist eine hochmütige Ruine wie ich selbst.« Auch in Frankreich sprach die Familie weiterhin italienisch – weil Joyce behauptete, es sei zum Sprechen die leichtere Sprache. Stanislaus, der in Triest zurückgeblieben war, beauftragte seinen Bruder James, ihm einen Burberry-Mantel zu kaufen.

Der Ruhm tauchte auf, in Rilkes Sinn die Quintessenz aller Missverständnisse. Nach und nach entwickelte Joyce eine Art bäurische Verachtung des Pariser Intellektualismus. James machte Stanislaus stolz Mitteilung von kleinen Indizien und Beweisen für die wachsende Hochschätzung, die er genoss, vergaß aber, ihm den versprochenen Burberry-Mantel zu schicken.

»Man unternimmt, wie ich bemerke, heimliche Versuche, einen gewissen Mr. Marcel Proust hier gegen den Unterzeichner dieses Briefes antreten zu lassen. Ich vermute nach wie vor, dass ein Sturz meinerseits gewisse Bewunderer alles in allem nicht enttäuschen würde.« Tausende winzige Nadelstiche Tag für Tag! Man weiß nicht, woher sie kommen! Man weiß nicht warum! Man kann sich nicht vor den Nadelstichen schützen. Man kann sich nicht gegen die Nadelstiche wehren. Sie sind argumentsimmun. Sie stechen direkt in die Seele, immer wieder, immer wieder, bis man gar ist, bis man tot ist.

Es wäre eine Erleichterung gewesen zu wissen, wer den Ulysses herausbringen würde, im Augenblick war aber alles offen. Am 25. August musste Harriet Weaver die letzte Hoffnung auf eine englische Ausgabe in England fahren lassen, als auch der letzte einer ganzen Reihe von Druckern das Risiko ablehnte; das Buch war zu hermetisch-ordinär, zu mystisch-pornografisch.

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WIE JAMES JOYCE BERÜHMT WURDE UND WIE GLÜCKLICH SEINE EHE WAR, DIE GAR KEINE EHE WAR

Um Molly Blooms Kindheit und Jugend in Gibraltar literarisch meistern zu können, las Joyce alles, was er über die Halbinsel finden konnte. Ein Mann aus Gibraltar konnte später nicht glauben, dass James Joyce nie einen Fuß auf diesen Felsen gesetzt hatte. »Die Penelope-Episode«, erklärte James Joyce, »ist der Clou des Buches. Der erste Satz besteht aus zweitausendfünfhundert Wörtern. Die Episode hat acht Sätze. Sie beginnt und endet mit dem weiblichen Wort Ja. Sie dreht sich wie der mächtige Erdball, langsam, sicher und gleichmäßig rundherum, ihre vier Kardinalpunkte sind die weiblichen Brüste, Arsch, Uterus und Fotze, ausgedrückt durch die Wörter because, bottom (in allen Bedeutungen: Boden Gesäß, Boden des Glases, Grund der See, Grund seines Herzens), woman, yes. Ich bin der (sic) Fleisch, der stets bejaht.«

Bei einer Abendgesellschaft erschien Onkel Jim zu spät und entschuldigte sich, dass er nicht korrekt gekleidet sei. Zu dieser Zeit trug er zwar vier Armbanduhren, aber jede zeigte eine andere Tageszeit. Und er besaß keinen Gesellschaftsanzug. Joyce trank viel, um seine Verlegenheit zu verbergen, als sich die Tür öffnete und Marcel Proust in einem Pelzmantel erschien. Nadelstich. Joyce wurde Proust vorgestellt und blieb neben ihm sitzen. Bei ihrer Unterhaltung sagte Joyce: »Ich habe jeden Tag Kopfschmerzen. Meine Augen sind fürchterlich.« Proust erwiderte: »Mein armer Magen. Was soll ich nur tun? Er bringt mich fast um. Ich muss eigentlich gleich wieder gehen.« »Mir geht’s genauso!«, versetzte Joyce. Das ist das Grundmuster aller Gespräche, die zwischen Dichtern stattfinden. Es sei denn, es geht um Geld oder um abwesende Drittdichter, die man gemeinsam madigmachen kann. Proust starb am 18. November 1922 mit einundfünfzig Jahren, vier Monaten und acht Tagen, Joyce nahm an der Beerdigung teil. Mehr kann man von Dichtern im Umgang miteinander nicht verlangen.

Am 7. Dezember 1921 fand in Adrienne Monniers Buchhandlung eine Lesung aus dem Ulysses