Der Untergang des Morgenlands - Egyd Gstättner - E-Book

Der Untergang des Morgenlands E-Book

Egyd Gstättner

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Beschreibung

Was wäre passiert, hätte Robert Musil seine Heimatstadt Klagenfurt verlassen und sein Glück in der weiten Welt gesucht? Wie hätte es ausgesehen, wäre Carl Spitzweg in einem abgelegenen oberbayerischen Nest auf einen ambitionierten Fremdenverkehrs-Visionär und seine devote Frau getroffen? Wie sieht es in einer typisch österreichischen Polizeistube aus? Wer hat das Sagen, wie werden Morde aufgeklärt und welche Aktivitäten beschäftigen die Kommissare und ihre Mitarbeiter privat? - Dieser und noch ganz anderen Fragen geht Egyd Gstättner in seinen köstlichen Geschichten von verlorenen Posten auf den Grund, in denen er nicht davor zurückscheut, seine Heimat, Idole und Autoritäten auf die Schaufel zu nehmen. Er erzählt aber auch mit liebevoller Ironie die Geschichte einer Amerikanerin und eines Amerikaners, die zur Identifizierung ihrer verunglückten Mutter beziehungsweise seines Vaters auf den Arlberg kommen, dort festsitzen - und einem ungeahnten Ende entgegensehen.Egyd Gstättners feiner Humor und seine ebenso doppelbödigen wie vergnüglichen acht Erzählungen führen die Vielfältigkeit der menschlichen Natur vor Augen.

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Egyd Gstättner

Der Untergang des Morgenlands

Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Jack Birns/Getty Images Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5072-3 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Egyd Gstättner

Der Untergang des Morgenlands

Geschichten von verlorenen Posten

PICUS VERLAG WIEN

Der Humorist erfasst das Tiefsinnige, aber im gleichen Augenblick fällt ihm ein, dass es die Mühe nicht wert ist, es zu erklären. Diese Zurücknahme ist der Scherz.

Søren Kierkegaard,

Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 1846

Istanbul darf nicht Berlin werden

Ich bin bestimmt kein Ausländerfeind. Die Würde und die Gleichheit aller Menschen sind mir oberstes Prinzip, friedliches Miteinander unter allen Umständen erstes Gebot. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe oder Nationalität gegeneinander aufzubringen halte ich für gefährlich und für ein großes Übel. Hetzparolen gegen Ausländer sind mir ebenso unerträglich wie gesetzlose Abschiebungen oder rüpelhafte Ausfälle gegen Asylanten und Zuwanderer. In meiner Jugend hatte ich einen Sticker auf meiner Jacke, auf dem stand: Wir alle sind Ausländer. Fast überall. Wenn ich am Stammtisch das aggressive Gerede gehört habe, dass etliche unserer sogenannten Mitstaatsbürger schon auf den ersten Blick erkennbar von fremden Erdteilen stammen, dann habe ich dem immer standhaft entgegengehalten, dass es in früheren Jahrhunderten genau umgekehrt war: dass unsere Vorfahren es waren, die andere Erdteile unsicher gemacht hätten und dass die gegenwärtige Entwicklung einfach die natürliche, letztlich von uns selbst in Gang gebrachte Gegenbewegung sei. So einer war ich.

Seither ist freilich vieles anders geworden. Nicht nur bin ich älter und gesetzter geworden (Tradition, Geschichte, Kultur oder wenigstens kulturelle Identität sind eben Werte, die man vor allem in der zweiten Lebenshälfte entwickelt, auf dem Weg bergab sozusagen), auch die Welt hat seit der letzten Völkerwanderung ein anderes Gesicht angenommen. Und im Vergleich zur letzten dramatischen Völkerwanderung waren ja alle vorhergehenden historischen Völkerwanderungen niedliche Betriebsausflüge. Wenn also auch ich mich diesmal mit dem Gedanken trage, heuer erstmals in meinem Leben die Türkei-zuerst-Partei von Sven-Göran Atatürkson zu wählen, dann bin ich von dumpfem Chauvinismus, von billigen Ressentiments, fanatischem Rechtsextremismus oder gar blindwütigem Rassismus Lichtjahre entfernt. Heute agiert die Türkei-zuerst-Partei selbst nicht mehr extrem oder rechtspopulistisch, sondern durchaus gemäßigt, und ihr charismatischer Führer ist kein wilder Junger mit aufhetzerischen, menschenverachtenden Parolen mehr, sondern ein elder statesman, der – hoffentlich – genügend Erfahrung mitbringt, das ins Schlingern geratene Staatsschiff durch Wind und Wetter zu bringen.

Dass die Deutschen damals nach dem großen Crash in Deutschland, der die Weltgeschichte förmlich auf den Kopf gestellt hatte, zu uns zogen, war nachvollziehbar. Sie hofften, ihrem Elend im Norden entkommen und hier bei uns in der goldenen Türkei ihren Traum von einem besseren Leben verwirklichen zu können. Nur die Hartherzigsten unter uns eingeborenen Türken hätten sich damals von vornherein gegen diese Entwicklung gestemmt.

Zuerst waren die Deutschen, also die deutschen Türken, also die türkischen Deutschen, also die Türken mit Migrationshintergrund, noch eine kleine, überschaubare Minderheit. Sie wurden von der alteingesessenen türkischen Bevölkerung zwar ein wenig argwöhnisch angesehen, aber doch geduldet als billige Arbeitskräfte, die die schmutzigen und niedrigen Tätigkeiten verrichteten, für die sich die einheimische Bevölkerung bereits zu schade war. Sie verdingten sich als Controller, Freizeitcoaches, Consulter, Marketingmanager, Prozessmanager, Aquarienvermieter, Eventer, Lobbyisten, Lifestyledesigner, Haarstrukturanalytiker, Typberater, Finanzoptimierer, Area Manager, Key Account Manager, Chief Accountants, Business Analysts, Verfahrenstechniker oder Mystiker. Kurzum: Sie ergriffen Berufe, in denen man andere Menschen türken kann. Naja, die Aquarienvermieter nehme ich einmal aus. Das sind wirklich gute Menschen, die einfach die Welt verbessern wollen. Und eine Welt mit Aquarien ist nun einmal besser als eine Welt ohne – außer vielleicht wenn man die Sache aus Sicht der Fische sieht.

Das Problem war einfach das: Es sind zu viele Einwanderer zu schnell gekommen. Die Einwanderer sind nicht eingewandert, sondern sozusagen eingesprintet, in Autokolonnen eingefallen, mit Billigfluglinien eingeflogen, mit Sack und Pack und Kind und Kegel. Und sie sind übrigens auch nicht von überall gekommen: Wir hatten kaum Immigranten aus Litauen zu registrieren, so gut wie keine Norweger, keine Spanier, keine Isländer. Immer nur Deutsche, Deutsche, Deutsche, dann und wann ein Schweizer oder ein Österreicher, was aber stammesgeschichtlich keinen großen Unterschied macht. Nicht das einzelne Lebewesen mit seiner Persönlichkeit, die ungeheure Masse der Fremden ist es, die eine Bedrohung der kulturellen Identität der einheimischen Bevölkerung – fast muss ich schon sagen: der türkischen Ureinwohner – ausmacht. Die Millionen und Abermillionen in kürzester Zeit! So viele Motivforscher und Finanzoptimierer kann kein Land der Welt verkraften!

Anfangs wurden die Mahner in der Wüste, die für die Türkei eine türkische Leitkultur einforderten und die vielleicht unglückliche Metapher vom »Boarding completed« verwendeten, als Reaktionäre diffamiert, wenn nicht gar als Rassisten oder Faschisten. Als dann aber ausgerechnet ein deutscher Drogensüchtiger Fenerbahçe übernahm, wurden selbst die Liberalsten der Liberalen kleinlaut und mussten reumütig einbekennen: Jetzt war die Heimat in Gefahr! Wenn man heute durch Istanbul spaziert, wird man schnell feststellen, dass Mecidiyeköy oder Kadıköy rein deutsche Viertel sind. Ganze Häuserschluchten voller Albinos, Blonder mit Sommersprossen oder Schweinchenhaut, allesamt schnurrbartlose Nichtraucher und Eigengeruchler. Aus den Fenstern hängen ungeniert schwarz-rot-goldene Fahnen, und wenn sie den Stöpsel ihres MP3-Players aus dem Ohr ziehen, tröpfeln ihnen aus der Muschel noch Musikreste von Andrea Berg heraus. An jeder Ecke in Istanbul findet man heute eine Weißwurstbude oder einen Bratwurststand. Dagegen ist es in gewissen Stadtteilen Istanbuls schon beinahe unmöglich geworden, einen anständigen Döner zu bekommen. Wenn, dann wird für den Döner nicht Hammelfleisch, sondern Schweinefleisch von der Stange gesäbelt. Was für eine Perversion und Barbarei! In der Istiklal-Straße nicht mehr eine einzige Karawanserei! Niemand isst Honig, alle trinken Bier. Die Stimme des Muezzin ist kaum noch zu hören, weil vor der Moschee ein Bierzelt steht, daraus dröhnt in einem fort Oans, zwoa, gsuffa! oder Viva Colonia! oder Ein Prosit der Gemütlichkeit! Es tut mir in den Ohren weh!

Galatasaray gegen Fenerbahçe interessiert hier niemanden mehr. Lieber hängen die Bewohner dieser Stadtteile jetzt in Königsberger Klöpserien ab, lutschen Werthers Echte und gucken im Sky-TV Hansa Rostock gegen Arminia Bielefeld oder ziehen sich alte »Derrick«-Folgen rein! Der Untergang des Morgenlands! Rund um das Stadion von Beşiktaş gibt es ganze Straßenzüge, in denen sich ein Bayern-Shop an den anderen reiht. Da gibt es blau-weiß karierte Badetücher zu kaufen, Krachlederhosen und Filzhüte, und in allen Auslagen hängen riesengroße Beckenbauerposter. Was ist bloß aus meiner guten alten Türkei geworden? Was soll das für ein Bazar sein, auf dem nicht mehr gefeilscht, sondern nur noch gedumpt wird? Ist das noch meine Heimat? Auch in der Straßenbahn hört man kaum noch ein türkisches Wort, nur noch deutsche Satzfetzen: Ich sach mal und Ich denk mal und Guten Tach und Da hab ik keene Lust zu und Mensch, alles anjesauuut und Tschüss, war nett. Dasselbe Phänomen findet man in Schulklassen. Es gibt schon Klassen in Istanbul, in denen ein einziger Schüler Türkisch als Muttersprache angegeben hat. Ein sinnvoller Unterricht ist so nicht mehr möglich. Wer es sich leisten kann, steckt seine Kinder in sündteure Privatinstitute. Mittlerweile sind wir tatsächlich Fremde im eigenen Land.

Die Deutschen in Istanbul, das sind ja keine Clans, das sind nicht einmal mehr Familien: Der Mann hat nichts zu sagen, die Frauen haben die Hosen an, aber zu sagen haben sie auch nichts, und die Kinder sind an ihre Gameboys angeschlossen. Mann und Frau sind gewöhnlich geschieden, leben aber in gutem Einvernehmen miteinander. Denk-an-Dich-Typen wie aus dem Werbefernsehen. Es gibt eben doch deutliche Unterschiede in der Mentalität und Lebensauffassung, daran kommt man einfach nicht vorbei. Um sechs Uhr abends sperren sich die Deutschen in ihre Wohnungen ein und geben keinen Laut mehr von sich, als gingen draußen auf der Straße die zehn ägyptischen Plagen um. Kein Wunder, dass die Deutschen außerhalb Deutschlands überall die Schweigenden heißen! Unsereins tut sich schwer, ein solch wunderliches Verhalten anders als mit Hinterlistigkeit zu erklären: Denn warum sonst sperrt man sich weg und stellt sich tot? Tatsächlich leben unsere Deutschen, als wären sie schon gestorben. Gespenstische Wesen! Was sie von wirklichen Leichen noch unterscheidet, ist ihr frappantes Dauerduschen, ihr Duschzwang. Das hat nichts mehr mit Reinigung oder Hygiene zu tun. Die Deutschen duschen sich, weil sie sich selbst nicht ertragen und versuchen, sich mittels Duschen loszuwerden. Sie duschen und duschen, sie duschen sich weg, sie duschen sich die Seele aus dem Leib. Aber bitte, das könnte man noch tolerieren. Früher einmal hat es geheißen: Andere Länder, andere Sitten. Heute muss man sagen: Andere Menschen, andere Sitten.

Aber dann kommen sie, die Deutschen, die Lautlosen, klingeln bei uns, stören uns ungeniert beim Leben, Lieben, Lachen, Lärmen, Tanzen, Musizieren und Feiern und beschweren sich allen Ernstes, dass wir nicht ebenso leichenleise sind wie sie! In unserem Land! Nicht genug damit: Die Deutschen hetzen uns Türken hier in der Türkei die türkische Polizei wegen Lärmbelästigung an den Hals! Da hört sich doch alles auf! Die Polizei muss zwar offiziell einschreiten. Aber niemand kann es den Beamten verargen, wenn sie gleich beim Amtshandeln mitleben, mitlieben, mitlachen, mitlärmen, mittanzen, mitmusizieren und mitfeiern, anstatt sich von den Verschrobenheiten der Deutschen terrorisieren zu lassen. Wir werden uns keine Patchworktürken aufzwingen lassen!

Diese sogenannten Türken mit Migrationshintergrund machen mittlerweile aber einen so erheblichen Teil der Gesamtbevölkerung aus, dass sie keine Notwendigkeit mehr sehen, sich anzupassen und zu integrieren, sondern selbstbewusst Parallelgesellschaften entwickeln und ihre eigene Kultur leben. Die Frauen wollen permanent die Hand geschüttelt und die Wangen geküsst bekommen (am liebsten übrigens von katholischen Religionslehrern – das gibt ihnen scheinbar einen ganz ungeheuren Kick); dagegen verzichten sie darauf, Türkisch zu lernen, sondern gehen lieber joggen, in den Beauty-Salon, zur Esoterik-Beratung oder in den Swingerclub, um ihr Bedürfnis nach Vielmännerei zu befriedigen, sodass ich allmählich ein gewisses Verständnis für die Parole von Sven-Göran Atatürkson aufbringe, der überall plakatieren lässt: Istanbul darf nicht Berlin werden!

Anfangs haben wir naiv gedacht, die Deutschen würden eine Zeit lang bleiben und dann wieder gehen, und die, die bei uns heimisch werden wollen, würden sich anpassen und ihre Religion zu Hause lassen. Aber die Deutschen haben ihre Religion kaltschnäuzig mitgebracht, diese Wischiwaschireligion mit ihrem Wischiwaschigott, den sie nach ihrem Ebenbild erschaffen haben und den sie sich zu einem transzendenten Weichei zurechtbiegen, wie sie ihn gerade brauchen, die sogenannten Gläubigen ebenso wie die Priester und die Spitzenkleriker mit dem deutschen Oberboss in Rom. Der von den moralischen Gummimenschen erschaffene moralische Gummigott lässt seinen Erfindern jede Schweinerei durchgehen, verlangt keinerlei Unterwerfung, schickt keine Schicksalsschläge und gestattet den Frauen lange Haare und lange Beine und Miniröcke und Stöckelschuhe. Gerade, dass dieser Gott sie nicht persönlich penetriert und die Frauen wimmern: »Oh Gott, ich komme!« Die Deutschen glauben an einen Gott, an den sie gar nicht glauben. Wenn die Tiefkühlblütigen gestorben sind, trödeln sie noch tagelang bis zur Beerdigung herum und lassen sich mit dem Kopf nicht Richtung Mekka, sondern Richtung Wall Street begraben. Unsereins, dem Religion noch etwas Heiliges ist, muss solche Unsitten hier im eigenen Land natürlich als Provokation empfinden. Religionsfreiheit ja; aber wer die Blaue Moscheefür ein Etablissement und die Hagia Sophia für eine Gogotänzerin hält, der geht zu weit. Das darf man sich nicht bieten lassen!

Apropos Religion: Ich bin noch mit einem Hakan Sükür aufgewachsen, einem Hakan Sas, einem Rüstü, einem Semi Semtürk. Früher hießen unsere Fußballer Mehmet, Ildiray, Ekrem, Yüksel, Ümit oder Mohamed. Heute heißen sie Fritz, Uwe, Lothar oder Oliver. Damit man mich recht versteht: Ich spreche jetzt von der nationalen Profifußballliga, nicht von der türkischen Immigrantenmeisterschaft, die in den Vorstädten der großen Metropolen organisiert wird, wo Eintracht Istanbul gegen Borussia Istanbul und Alemania Ankara gegen Bayern Izmir spielt. Letztens hat aber in unserem glorreichen türkischen Nationalteam ein neuer Wunderstürmer namens Johann Müller sein Debüt gefeiert und gleich drei Tore geschossen. Respekt. Er ist – berichten jedenfalls die Zeitungen und das Fernsehen unseres Landes – ein waschechter Türke, in Istanbul geboren und hier aufgewachsen, spricht dementsprechend perfekt Türkisch und war angeblich überhaupt erst zweimal in seinem noch so jungen Leben in Deutschland, jeweils zu Weihnachten, um seine Großeltern im Schwarzwald zu besuchen. Dass die Familie Müller nun auch in Istanbul einen Adventkranz aufhängt, einen Christbaum schmückt und Weihnachtslieder singt, dass Johann Schwarzwälder Kirschtorte liebt und in seiner Freizeit nicht nur Emine Sevgi Özdamar, sondern auch Thomas Mann, Burkhard Spinnen und Robert Gernhardt liest, das kann man ihm natürlich nicht verdenken. Aber nichtsdestotrotz ist es ein seltsames Gefühl, wenn sich im Ali-Sami-Yen-Stadion, in diesem Hexenkessel, in den bloß zwanzigtausend Menschen passen, die dort aber eine Stimmung entfachen, als wären sie zweihunderttausend, wenn sich dort also bei türkischen Triumphen in das gute alte Türkie-Gebrüll immer öfter die zerdehnten Haaansi-Haaansi-Rufe mischen. Die Türktürken versteifen sich auf den für alle türkischen Worte unerlässlichen Umlaut ü und skandieren: Mü-Mü-Müller! Aber trotzdem: Ist ein solcher Sieg noch ein Sieg, und wenn ja: Wer hat dann eigentlich gewonnen? Welche Geschichte wird hier geschrieben? Was noch vor zwei, drei Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen wäre, ist in diesem Wahlkampf tatsächlich passiert: Johann Müller hat tatsächlich in einer ganzseitigen Annonce in der größten Tageszeitung des Landes mit seinem lachenden Konterfei in Großaufnahme Wahlwerbung für den türkischen Sozialistenführer gemacht und ihn als den »richtigen Mann für uns Türken der zweiten Generation« beschrieben! Solche Inserate passieren nicht zufällig. Dahinter steckt beinhartes politisches Kalkül, das auf demoskopischen Ergebnissen beruht. Wir Originaltürken sollen gar nicht mehr unterwandert, wir sollen übernommen werden! Mittlerweile kommen schon viele Tiefkühlblütige regelmäßig ins Ali-Sami-Yen, und man erkennt sie leicht, denn sie bilden den eisigen Teil des Stadions. Das Allerschlimmste ist: Wenn die Türkei gegen Deutschland spielt, dann gefriert ihnen das Blut in den Adern, dann halten diese Türken zu Deutschland! Aus dem nämlichen Grund bekommt Deutschland beim Song Contest von der Türkei schon seit Jahren ausnahmslos 12 Punkte! Sie tun das, was eigentlich verboten ist: Sie wählen sich selber!

Nicht, dass man mich falsch versteht: Man darf nicht alle in einen Topf werfen! Mit etlichen Tiefkühlblütigen bin ich befreundet, und ich schätze ihre Qualitäten sehr. Es gibt überaus nette, intelligente Sommersprossengesichter, denen unsere Türkei zu großem Dank verpflichtet ist, zum Beispiel dem Österreichdeutschen Heinrich Krippel, der das erste Denkmal Atatürks auf der Saray-Spitze in Istanbul errichtete. Oder dem Architekten Clemens Holzmeister und den Bildhauern Anton Hanak und Josef Thorak, nach deren Plänen das Denkmal des Vertrauens im Güvenpark von Ankara erbaut worden ist. Als Inschrift trägt es ein Zitat von Atatürk: Türk, öğün, çaliş, güven! – was man für die tiefkühlblütigen Türken mit Migrationshintergrund am besten wie folgt übersetzt: »Türke, rühme dich, arbeite und vertraue!«

Ich hingegen bin misstrauisch geworden und finde nichts mehr zu rühmen. Wir geben mit dem stereotypen, blauäugigen Hereinspaziert! Hereinspaziert! unsere eigene Geschichte dem Vergessen preis. Es leben immer mehr Türken in der Türkei, die von Atatürk gar keine Ahnung haben – und keine haben wollen! Sie wissen nicht, dass es in der Türkei eigene Gesetze gibt, die das Andenken Atatürks schützen sollen und dass noch heute jede herabsetzende Äußerung über ihn unter Strafe steht. Sie wissen nicht, dass im Dolmabahçe-Palast Atatürks Arbeits- und Sterbezimmer postum zum Museum umfunktioniert worden sind. Sie wissen nicht, dass Atatürk an Leberzirrhose gestorben ist (was allerdings als herabsetzende Äußerung missverstanden werden könnte und daher ohnehin besser nicht gesagt werden sollte). Ja, unsere Neutürken wissen nicht einmal, dass das Geburtshaus Mustafa Kemal Atatürks in Thessaloniki steht und Atatürk eigentlich gar kein Türke war. Aber es gibt ja viele Beispiele von Völkern und Ländern, die sich von einem Ausländer beherrschen ließen und lassen, und es ist nur ein Indiz für die Aufgeschlossenheit und Toleranz von uns Türken, dass wir unsere Staatengründung einem Griechen überlassen haben. Und selbstverständlich wissen unsere Neutürken auch nicht, wie viele andere Herrscher unseren Mustafa Kemal Atatürk um seine schönen blauen Augen beneidet haben.

Unsere Neutürken haben andere Sorgen: Wenn sie nicht gerade Johann Müller zujubeln, dann warten sie vor dem Bildschirm gespannt auf den aktuellen großen Sohn Trabzons, auf Karl Hopsbauer, dieses Jahrhunderttalent, das die Türkei bei der kommenden Vierschanzentournee in Bischofshofen und Garmisch zur führenden Skisprungnation machen soll. Ich selbst – das gebe ich zu – habe keine Lust mehr, diese Entwicklung mitzumachen, auch auf die Gefahr hin, als Reaktionär abgestempelt zu werden. Am Bosporus ist es nicht mehr schön! Wenn bei den kommenden Wahlen nicht alles anders wird und man in seinem eigenen Land nicht mehr nach den jahrhundertealten traditionellen Sitten und Gebräuchen leben kann, dann überlasse ich Istanbul den Tiefkühlblütigen und ziehe schweren Herzens zurück zu meinen Eltern nach Nürnberg.

Kind Gottes

Ich bin der Sohn Gottes. Das ist freilich weder eine besondere Leistung noch eine hohe Auszeichnung, und ich bilde mir nichts darauf ein. Aber besser, man erfährt es von mir selbst, denke ich mir, wenn ich von hier heroben auf die gute alte Erde hinunterschaue, als dass hinter meinem Rücken getuschelt wird. Schön ist die Erde, von hier aus gesehen!

Dass ich der Sohn Gottes bin, habe ich nicht gleich am Anfang meines Lebens gewusst. Wie schon bei meinem ersten Erdeinsatz als Menschensohn, ist mir erst bei Eintritt ins Mannesalter ganz allmählich klar geworden, wer ich wirklich bin, und ich bin nur sehr langsam in meine schwierige Rolle hineingewachsen. Vom Aufkeimen des göttlichen Sendungsbewusstseins bis zum Beginn meines öffentlichen Wirkens sind noch einmal ein Dutzend Jahre ins Land gezogen. Erst in meinem dreißigsten Jahr habe ich zum ersten Mal ein Podium bestiegen, um das sich Leute versammelt hatten, um mich zu hören. Und auch diese Auftritte verlangten anfangs sehr viel Frustrationstoleranz. Man predigt für die Wände. Es ist leider nicht so, dass alle auf einmal wie auf Knopfdruck an einen zu glauben beginnen, und sei es der Menschensohn. Denn so nenne ich mich mit Vorliebe. Den Begriff mag ich dagegen gar nicht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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