Die Familie von nebenan - Charlotte Stevenson - E-Book + Hörbuch

Die Familie von nebenan E-Book und Hörbuch

Charlotte Stevenson

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Beschreibung

Perfekte Nachbarn, perfekte Lügen... Als Violas neue Nachbarn in das Haus mit der Nummer 33 einziehen, scheint alles wie aus dem Bilderbuch zu sein. Doch hinter dem gepflegten Rasen und dem höflichen Lächeln lauern dunkle Geheimnisse in den Schatten. Als Viola, eine ruhige Rentnerin, dem seltsamen Verhalten der Familie nebenan auf den Grund geht, stößt sie auf ein beunruhigendes Netz von Lügen. Der Vater, Rhys, ist feindselig. Die Mutter, Wendy, scheint den Bezug zur Realität zu verlieren. Und ihre Tochter Mirabelle ist eine gelinde gesagt unheimliche Achtjährige. Als Viola sich in die Nummer 33 schleicht, entdeckt sie einen verschlossenen Raum und ein darin verborgenes Geheimnis. Bald wird ihre Neugierde zur Besessenheit. Doch als sie der Wahrheit immer näher kommt, dreht die Familie den Spieß um, und plötzlich ist Viola diejenige, die ihren eigenen Verstand in Frage stellt. Wird Viola die finstere Wahrheit aufdecken ... oder ist sie das nächste Opfer in diesem verdrehten Katz-und-Maus-Spiel? --- "Spannend, abschreckend und absolut fesselnd – Die Familie von nebenan hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Wer auf der Suche nach einem originellen, düsteren und schockierenden Psychothriller ist, wird nicht enttäuscht sein." – MoMoBookDiary "Es ist eine dieser Geschichten, bei denen man immer wieder umblättern muss, obwohl man sich am liebsten hinter dem Sofa verstecken würde." - Bookchatter "Hervorragende Charaktere" – Avid Readers Club "Das war alles, was man sich von einem Psychothriller wünschen kann, voller Spannung, mit einer perfekten, beunruhigenden Atmosphäre, die manchmal düster und gruselig war, mit immer neuen Wendungen, und ich war bis zum Ende immer wieder überrascht. Ein Muss für Fans von Psychothrillern." – ericas_bookreviews "Die Familie von nebenan war einfach nur WOW! Ich bin so ein Krimi-/Thriller-Girl, und das war genau das, was ich in einem Buch dieses Genres gebraucht habe. Charlotte Stevenson webt eine spannende und fesselnde Geschichte, die einen nicht mehr loslässt." – Cosy Kindler

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeit:9 Std. 1 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Beate Rysopp

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Die Familie von nebenan

Die Familie von nebenan

© Charlotte Stevenson 2024

© Deutsch: Jentas A/S 2025

Originaltitel: The Family Next Door

Übersetzung: Kirsten Evers, © Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2064-3

Kein Teil dieses Buches darf ohne Genehmigung des Herausgebers zum Zweck des Trainings von KI-Technologien oder -Systemen verwendet werden.

Published by arrangement with Rights People, London and Bloodhound Books Limited.

Für Hannah

„Glaube nichts, was du hörst, und nur die Hälfte von dem, was du siehst.“

Edgar Allan Poe

KAPITEL EINS

Viola kramt in ihrer Handtasche nach ihren Schlüsseln. Wo hat sie sie hingelegt? Sie ist sich sicher, dass sie sie noch vor einer Minute in der Hand hatte. Viola sucht den Boden und ihre Taschen ab, bevor sie sich wieder auf den Weg nach draußen macht. Sie muss sie verloren haben, als sie den Gartenweg hinaufging. Aber wie ist sie dann ins Haus gekommen? Viola schüttelt den Kopf über ihre eigene Dummheit, als sie ihre Schlüssel entdeckt, die aus dem Schloss der Eingangstür ragen. Entsetzt über ihre ungewöhnliche Unachtsamkeit schnappt sie sich die Schlüssel und geht sofort zurück ins Haus, um sie an ihren üblichen Haken zu hängen. Im Moment ist sie mit ihren Gedanken ständig ganz woanders. Dafür gibt es eigentlich keinen besonderen Grund, nur die Tatsache, dass sie inzwischen weit über siebzig ist und alles selbst machen und sich merken muss.

Viola lacht bei dem Gedanken, was ihr verstorbener Mann dazu sagen würde, wenn sie die Schlüssel in der Tür stecken ließe. Martin ist schon seit Jahren tot, aber sie trägt ihn immer noch überall mit sich herum und wird es bis zu ihrem Tod tun.

Die Umzugswagen, die heute Morgen noch die Straße blockiert haben, sind zum Glück verschwunden. Viola schaut aus dem Fenster auf das Haus nebenan, in der Hoffnung, einen Blick auf ihre neuen Nachbarn zu erhaschen. Sie wird das nette junge Paar vermissen, das vor kurzem ausgezogen ist, und hofft, dass die Neuankömmlinge genauso freundlich sein werden. Jetzt, wo sie allein ist, möchte sie sich nicht mit schwierigen Leuten herumschlagen müssen. So etwas hat sie immer Martin überlassen.

Violas Füße schmerzen nach einem schönen, aber anstrengenden Shopping-Nachmittag mit ihren Freundinnen. Sie lässt sich auf das Sofa fallen, legt die Füße auf den Couchtisch, schließt die Augen und wackelt mit den Zehen. Heute Nacht wird sie bestimmt gut schlafen.

Draußen hört sie Stimmen. Es klingt wie ein Mann und eine Frau. Die Neugierde treibt sie dazu, aufzustehen und zum Fenster zu gehen, aber die Müdigkeit und die Bequemlichkeit ihres Sofas siegen. Sie kann kein Wort verstehen, aber die Unterhaltung klingt angenehm, und sie beschließt, später vorbeizuschauen und Hallo zu sagen. Vielleicht bringt sie ihnen sogar eine Kleinigkeit mit. Es kann nie schaden, bei neuen Nachbarn einen guten ersten Eindruck zu machen.

Viola liebt den Frieden und die Ruhe in ihrem Haus, und sie könnte den Rest des Abends hier sitzen bleiben. Aber die Sonne geht langsam unter, und sie möchte sich den Leuten von nebenan nicht erst im Dunkeln vorstellen. Das erscheint ihr irgendwie unhöflich.

Sie zwingt sich, vom Sofa aufzustehen, und findet in einem der Küchenschränke eine ungeöffnete Dose Shortbread. Sie prüft das Mindesthaltbarkeitsdatum und poliert den Deckel mit dem Ärmel ihres Pullovers. Sie zwängt ihre müden und geschwollenen Füße zurück in ihre Sandalen und betrachtet sich dann im Flurspiegel. Zum Glück sieht sie viel weniger müde aus, als sie sich fühlt. Gepflegt und freundlich. Perfekt.

Viola klopft höflich an die Tür der Nummer 33. Das Paar, das vor kurzem ausgezogen ist – Kevin und Leo – hatte eine dieser fürchterlichen Kamera-Türklingeln. Sie fühlte sich damit immer schrecklich unwohl und ist froh, dass sie sie mitgenommen haben, als sie umgezogen sind. Es sind Schritte zu hören, gefolgt von schabenden und schlurfenden Geräuschen, bevor sich die Tür öffnet und das Gesicht einer erschöpft aussehenden Frau zum Vorschein kommt. Ihr blondes Haar ist zu einem unordentlichen Dutt zurückgebunden, und auf ihrer Stirn stehen Schweißperlen.

„Entschuldigen Sie.“ Ihr Kopf verschwindet kurz, und Viola hört sie stöhnen. Sie versucht vergeblich, das zu bewegen, was die Tür daran zu hindern scheint, sich vollständig zu öffnen. Schließlich taucht sie wieder auf, die Wangen noch rosiger und das Gesicht noch verschwitzter als zuvor. „Tut mir leid, ich kann diese Kisten nicht bewegen.“ Sie gestikuliert hinter sich, aber die besagten Kisten sind durch den kleinen Spalt nicht zu sehen. Viola wird klar, dass sie den Besuch wahrscheinlich bis morgen hätte aufschieben sollen. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Offensichtlich werden sie am Umzugstag bis zum Hals in Arbeit stecken.

„Nein, nein, machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und Hallo sagen. Ich bin Viola, ich wohne nebenan.“

Die Augen der Frau weiten sich, und sie schenkt ihr ein breites, einladendes Lächeln, bevor sie ein beeindruckendes Manöver vollführt, bei dem sie ihren schlanken Körper durch den winzigen Spalt in der Türöffnung zwängt. Sie wischt sich die Hände an ihrer staubigen Jeans ab und trocknet sich mit dem Unterarm die Stirn.

„Normalerweise bin ich nicht so verschwitzt und chaotisch, das verspreche ich.“ Sie lacht leise, und Viola schafft es, sie anzulächeln, wobei sie sich von Sekunde zu Sekunde schlechter fühlt, weil sie gestört hat, obwohl sie offensichtlich so beschäftigt sind. „Es ist schön, Sie kennenzulernen, Viola. Ich bin Wendy und mein Mann Rhys ist irgendwo da drin, hinter den Millionen von Kisten.“ Sie bläht die Backen auf, atmet tief aus und verdreht lächelnd die Augen. „Ich bin mir sicher, er würde Sie gerne kennenlernen, aber …“

„Oh, machen Sie sich wirklich keine Sorgen. Ich wollte nur ein kleines Geschenk vorbeibringen, um Sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.“ Viola hält ihr das Gebäck hin, und Wendy scheint von dieser Geste gerührt zu sein.

„Ich danke Ihnen vielmals. Das ist sehr nett. Kommen Sie doch morgen auf eine Tasse Tee und einen Tratsch vorbei.“ Wendy zieht die Augenbrauen hoch und verwandelt damit die Aufforderung in eine Frage.

„Das hört sich gut an, aber erst, wenn Sie sich eingelebt haben und die Zeit dafür haben. Ich möchte mich nicht aufdrängen. Ich weiß, wie anstrengend ein Umzug sein kann.“

Wendy verschränkt ihre Arme und lehnt sich gegen den Türrahmen. „Nicht wahr? Wir sind noch nie umgezogen, und ich kann gar nicht glauben, wie viel Zeug wir haben. Aber wie auch immer, kommen Sie morgen Nachmittag vorbei, wenn Sie Zeit haben. Ich kann dann eine kleine Pause sicher gut gebrauchen, und ich werde allein sein. Vielleicht können Sie mir ein bisschen was über die Gegend erzählen. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns umzusehen und kennen hier niemanden.“

Violas Befürchtungen beruhigen sich. Wendy scheint es ernst zu meinen, und eine Tasse Tee am Nachmittag und ein Gespräch klingen wirklich nett. „Wenn das so ist, dann sehr gerne. Ich lebe seit über vierzig Jahren hier, kenne mich also aus, und ich würde Ihnen gerne alles über unser schönes Dorf erzählen.“

Wendys Augen weiten sich. „Wow, vierzig Jahre. Dann muss es Ihnen hier gefallen. Also abgemacht. Sagen wir um zwei?“

Viola will gerade zustimmen, als aus dem Inneren des Hauses ein lautes Krachen ertönt, gefolgt von einer Reihe leidenschaftlicher Flüche.

Wendy zieht eine komische Grimasse und zeigt über ihre Schulter. „Ich sehe besser mal nach, was Rhys kaputt gemacht hat.“

Viola tritt einen Schritt zurück und winkt Wendy ab. „Ja, natürlich. Ich hoffe, es geht ihm gut und es ist nichts allzu Schlimmes.“

Wendy quetscht sich zurück ins Haus und zuckt zusammen. „Eijeijei, ich dachte schon, ich bleibe stecken. Tschüss, Viola. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, und danke noch mal für das Willkommensgeschenk. Wirklich nett von Ihnen.“

Wendy lächelt ein letztes Mal, bevor sie die Tür schließt, und Viola tritt zurück und sieht sich das Haus an. Die meisten Zimmer sind beleuchtet, und die Fenster sind kahl. Sie ist sicher, dass sie irgendwo ein paar Vorhänge hat, die noch zu gebrauchen sind. Sie wird versuchen, sie morgen früh vor dem Treffen mit Wendy auszugraben. Das Haus ist eine genaue Kopie ihres eigenen Hauses, also sollten sie die richtige Größe haben. Viola zählt die Fenster schnell ab, bevor ihr Blick an dem Fenster oben rechts im Haus hängen bleibt. Es ist das kleinere der beiden Schlafzimmer.

Eine kleine Gestalt steht da und beobachtet sie aufmerksam. Sie bewegt sich kaum, und ihr Gesicht ist so dicht an das Glas gepresst, dass mit jedem Atemzug ein kleiner Nebel entsteht. Ein schwaches Licht erhellt den Raum hinter Violas Beobachter, und es scheint ein kleines Mädchen zu sein, vielleicht sieben oder acht Jahre alt.

Viola erinnert sich, dass Wendy ihren Mann erwähnt hat. Wie war sein Name? Irgendetwas walisisch Klingendes, denkt sie. Aber sie ist sich sicher, dass Wendy nicht erwähnt hat, dass sie eine Tochter haben. Das scheint eine seltsame Auslassung zu sein, vor allem, wenn sie ihren Mann ungefragt erwähnte. Rhys. Das war‘s.

Sie sieht wieder zum Fenster hinauf. Das Mädchen hat sich keinen Zentimeter bewegt. Irgendetwas an ihrer Stille und der Tatsache, dass sie sich im dunkelsten Raum des Hauses aufhält, gibt Viola ein unbehagliches Gefühl. Sie schlingt die Arme um sich, um das plötzliche Frösteln abzuwehren, das ihren Körper unangenehm erschaudern lässt.

Viola versucht, das seltsame Gefühl der Beklemmung abzuschütteln, und macht sich auf den Weg nach Hause. Wendy war mit dem Auspacken beschäftigt und hat wahrscheinlich schlichtweg vergessen, ihr von ihrer Tochter zu erzählen. Viola ist sich sicher, dass sie es morgen erwähnen wird. Vielleicht ist das Mädchen sogar im Haus, denn es sind ja Sommerferien. Sie macht sich nur zu viele Gedanken.

Viola wirft einen kurzen Blick über ihre Schulter, um ein letztes Mal nach dem Mädchen zu sehen. Als sie dies tut, scheint das Kind heftig zu zucken, bevor es sich langsam zurückzieht. Viola ist fasziniert von den ungewöhnlichen Bewegungen des Mädchens, die stakkatoartig und roboterhaft und überhaupt nicht kindlich wirken.

Plötzlich rennt das Mädchen zurück zum Fenster und schlägt mit beiden Handflächen gewaltsam gegen das Glas. Viola keucht und zuckt durch die Abruptheit und Heftigkeit der Bewegung zurück.

Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals und ihre Brust zieht sich zusammen, so dass ihr ein wenig schwindelig wird. Sie muss nach Hause gehen und sich hinsetzen. So etwas ist nicht gut für ihren hohen Blutdruck. Dennoch kann sie den Blick nicht abwenden und beobachtet gebannt, wie sich das Mädchen wieder vom Fenster entfernt.

Viola schaut noch ein paar Sekunden zu, ein unheimliches Gefühl kriecht über ihre Haut, aber es gibt kein weiteres Lebenszeichen von dem Mädchen.

Langsam schlendert sie zurück zu ihrer Haustür und ist dankbar, dass Wendy und Rhys nicht gesehen haben, wie sie länger vor ihrem Haus herumlungerte, als es höflich wäre. Diesmal achtet sie darauf, die Tür abzuschließen und doppelt zu kontrollieren. Sie spürt, wie sich ihre Nerven zu beruhigen beginnen.

Gemütlich auf dem Sofa sitzend, mit geschlossenen Vorhängen und einer Tasse warmem Tee in der Hand, lässt Viola in Gedanken noch einmal Revue passieren, was sie gerade gesehen hat.

Viola und Martin waren sich einig, dass sie keine Kinder haben wollten, aber trotzdem hatte Viola immer ein starkes inneres Verlangen verspürt, sie zu schützen und zu fördern. Sie folgte dieser Berufung und schlug eine Laufbahn im Bereich der Kinderfürsorge ein. Nach jahrzehntelanger Arbeit mit bedürftigen Familien dachte sie, dass sie nichts mehr überraschen könnte, doch nun sitzt sie hier, erschüttert und beunruhigt. Während sie an ihrem Tee nippt, beschließt sie, zu versuchen, den Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Einfach nur Nachbarin zu sein. Schließlich ist sie keine Sozialarbeiterin mehr, und sie weiß nichts über diese neue Familie. Sie darf nicht urteilen. Und sie muss ihre berufliche Neugierde für sich behalten. Sie ist sich bewusst, dass der jahrelange Umgang mit Kindern und Familien, die Unterstützung brauchen, ihren Blick auf die Welt verzerrt hat.

Vielleicht ist das kleine Mädchen nicht glücklich über den Umzug. Kinder mögen oft keine Veränderungen, und vielleicht ist sie einfach nur verärgert darüber, dass sie ihr altes Zuhause und ihre Freunde verlassen muss. Kinder schlagen um sich, wenn sie wütend sind – das hat sie schon oft am eigenen Leib erfahren. Das könnte ein einmaliger Trotzanfall gewesen sein. Wahrscheinlich ist es nichts.

Während sie ihren Tee trinkt, versucht Viola, das nagende Unbehagen in ihrer Brust zu beruhigen. Sie muss versuchen, es aus ihrem Kopf zu vertreiben. Wendy hat nicht gesagt, dass sie eine Tochter hat. Aber sie haben ja auch nur ein paar Minuten miteinander gesprochen, also gibt es keinen Grund, warum sie das Mädchen hätte erwähnen sollen. Aber wenn man dann noch das bizarre Verhalten am Fenster hinzuzählt, erscheint das alles zu seltsam, um es zu ignorieren. Außerdem spürte Viola schon von weitem, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte. Ihre Bewegungen und die Art, wie sie durch sie hindurch starrte, hatten etwas Beunruhigendes an sich. Etwas fast Gruseliges.

Viola macht sich innerlich Vorwürfe, weil sie so für ein kleines Kind empfindet. Das ist völlig untypisch für sie. Wenn überhaupt, dann war sie immer auf der Seite derjenigen, die Kindern zu viel Spielraum geben. Sie ist sich sicher, dass sich das alles klären wird, wenn sie Wendy morgen besucht.

Wahrscheinlich sind sie eine nette, völlig normale Familie.

Wahrscheinlich hat Viola zu viel Zeit, ruft alte Erinnerungen an frühere Fälle wach und denkt sich Probleme aus, die es gar nicht gibt. Sie nimmt zwei plus zwei und kommt auf siebenundzwanzig.

Sie seufzt. In Zeiten wie diesen vermisst sie Martin am meisten. Er war ihr Resonanzboden, der Vernünftige. Er hätte sie in einer Minute beruhigt, sie davon abgehalten, etwas Unkluges zu tun, und die Rädchen in ihrem überaktiven Gehirn zum Stillstand gebracht. Sie atmet tief ein und versucht, Martins beruhigende Energie heraufzubeschwören. Sie muss sich um nichts Sorgen machen. Morgen Abend wird sie hier sitzen und darüber lachen, wie dumm sie war, zu denken, dass etwas nicht stimmt.

Dessen ist sie sich sicher.

Zumindest so gut wie.

KAPITEL ZWEI

Viola weiß nicht, was sie bei ihrem Besuch bei Wendy anziehen soll. Sie möchte nicht zu förmlich erscheinen und ist sich bewusst, dass Wendy wahrscheinlich Kleidung tragen wird, die am besten zum Auspacken von Kisten geeignet ist. Sie entscheidet sich für ein geblümtes Maxikleid und eine dünne Strickjacke. Es ist ein wunderschöner Tag, und Viola liebt alles, was einen leuchtenden, kräftigen Aufdruck hat.

Sie wünschte, sie hätten sich gleich heute Morgen verabredet. Die Zeit scheint rückwärts zu laufen, und sie hat kaum mehr getan als zu warten. In den verbleibenden zwei Stunden beschließt sie, dass sie das Haus verlassen muss. Sie wird einen Spaziergang zum Laden machen, ein paar Schritte gehen und etwas dringend benötigtes Vitamin D tanken.

Viola schnappt sich ihre Sonnenbrille und vergewissert sich, dass sie ihre Schlüssel in der Handtasche hat. Sie verlässt das Haus und nimmt sich auf der Türschwelle einen Moment Zeit, um das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht zu genießen. Der Geruch von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft, und sie riskiert einen kurzen Blick hinüber in Wendys Vorgarten.

Das kleine Mädchen vom Fenster sitzt im Schneidersitz im Gras, mit dem Rücken zu Viola und gesenktem Kopf, ihre langen blonden Locken fallen ihr um die Schultern. Wenn Viola sie gestern kennengelernt hätte, würde sie zu ihr hinübergehen und sie begrüßen, aber da sie nichts von der Existenz des Kindes erfahren hat und Wendy nirgendwo zu sehen ist, hält sie es für das Beste, sie in Ruhe zu lassen.

Viola geht leise ihren Gartenweg entlang. Irgendetwas in ihr will das Mädchen nicht auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen, und einen Moment lang überlegt sie, wieder hineinzugehen und sich lieber in ihren eigenen Garten zu setzen, statt einen Spaziergang zu machen. Viola verdreht die Augen über sich selbst. Sie macht sich lächerlich. Sie hat zu viel Zeit allein gelebt und sich nur um ihre eigenen Bedürfnisse gekümmert. Es gibt keinen Grund, einem kleinen Mädchen aus dem Weg zu gehen. Sie ignoriert das beunruhigende Gefühl in ihrem Magen und setzt ihren Spaziergang fort.

Viola bleibt erschrocken stehen, als sich das Mädchen plötzlich aufrichtet. Viola starrt unbewegt, als das Mädchen beginnt, seinen Kopf zu drehen. Die Bewegung ist langsam und gemessen, ganz im Gegensatz zu den plötzlichen, ruckartigen Bewegungen, die sie gestern Abend beobachtet hat. Der Kopf des Mädchens dreht sich weiter, bis ihr Körper fast deformiert aussieht. Es sollte menschlich nicht möglich sein, den Kopf so weit zu drehen. Viola keucht und schaut mit morbider Faszination weiter zu. Der Körper des Mädchens hat sich immer noch nicht bewegt, und sie schaut Viola durch ein Auge an, das andere ist vollständig von ihrem Haar verdeckt. Viola erstarrt. Gelähmt von den unheimlichen Bewegungen und dem durchdringenden Blick des Mädchens. Ihr Mund ist trocken, und sie möchte am liebsten zurück ins Haus rennen.

Das Mädchen legt seine Hände auf den Boden und dreht seinen Körper so, dass er sich mit seinem Kopf verbindet. Eine rasche Bewegung. Langsam zieht sie sich die Haare aus dem Gesicht, als würde sie einen Vorhang öffnen. Viola glaubt nicht, dass sie das Mädchen blinzeln gesehen hat. Plötzlich wird das Gesicht des Mädchens zu einem breiten, strahlenden Lächeln. Das Lächeln hat sich nicht vergrößert. Es ist einfach erschienen – als hätte man einen Lichtschalter umgelegt. Viola zwingt sich, zurückzulächeln, dankbar für die Sonnenbrille, die ihre Augen verdeckt. Martin hat ihr immer gesagt, dass ein Blick in ihre Augen der Welt genau zeigt, was sie denkt, und was sie gerade denkt, sollte sie unbedingt für sich behalten.

Viola geht zögernd auf das Mädchen zu, die einzige vernünftige Maßnahme, die ihr einfällt, und wünscht sich, sie könnte stattdessen auf dem Absatz kehrt machen und so weit wie möglich wegrennen.

„Hallo, ich bin Viola. Ich wohne nebenan.“ Viola zeigt unnötigerweise auf ihr Haus.

Das Mädchen hält sich die Hand vors Gesicht, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen, und blickt zu Violas Haus hinauf. „Ist das dein Zimmer?“ Ihre Stimme ist sanft und leicht, fast singend, und Violas Herz schlägt schneller, als das Mädchen auf das zeigt, was tatsächlich ihr Schlafzimmer ist.

„Äh, ja. Das ist es.“ Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll.

„Oh, gut. Das werde ich mir merken.“

Viola ist erstaunt über die ungewöhnliche, fast schon bedrohliche Reaktion, aber das Mädchen bleibt locker und sanft. Das breite Lächeln nimmt immer noch den größten Teil ihres Gesichts ein.

Viola versucht, das Thema zu wechseln. „Wie gefällt dir dein neues Zuhause? Ich habe gestern deine Mum getroffen.“ Das Mädchen verzieht augenblicklich das Gesicht und murmelt etwas vor sich hin, das Viola nicht verstehen kann. „Tut mir leid, Liebes, das habe ich nicht verstanden.“ Sie geht ein paar Schritte vorwärts und betritt den Garten.

„Mein Name ist Mirabelle. Findest du, dass das ein schöner Name ist?“

Zunächst ist Viola von der Unverblümtheit der Frage verblüfft, doch schließlich gelingt es ihr, zu lächeln, dankbar, dass sie ehrlich antworten kann. „Ja. Ich finde, das ist ein sehr schöner Name.“

„Danke. Dein Name gefällt mir auch. Viola.“ Sie sagt den Namen wehmütig und starrt in die Ferne, bevor sie in den Moment zurückkehrt und hinter sich etwas aufhebt. „In unserem Garten gibt es all diese gelben Blumen. Ich mag sie. Ich glaube, ich werde ein paar davon in mein Zimmer stellen.“ Viola blickt zu dem Fenster, gegen das Mirabelle am Abend zuvor gestoßen ist. „Es tut mir leid, dass ich gestern so gegen das Fenster gepoltert habe. Ich mag es, wenn meine Fenster offen sind, und die waren gemein.“ Mirabelle gestikuliert aggressiv in Richtung des Hauses, und ein paar Butterblumen fliegen ihr aus der Hand. Sie springt auf, schnappt sie sich und zieht sie zu sich heran.

Wieder einmal ist Viola überzeugt, dass dieses Kind sich ungewöhnlich verhält. Nicht zuletzt, weil sie ihre Eltern gerade mit „die“ und in einem offenkundig abschätzigen Ton beschrieben hat. Sie räuspert sich und ringt die Hände, um das Unbehagen zu lindern, das sie in Mirabelles Gegenwart verspürt.

„Das ist schon in Ordnung, Mirabelle. Ich habe einen kleinen Schreck bekommen, aber keine Sorge.“ Viola lacht nervös, und Mirabelle zeigt keine erkennbare Reaktion. „Ich komme nachher zu deiner Mum zu Besuch. Als ich gestern vorbeigeschaut habe, waren deine Mum und dein Dad sehr beschäftigt, also hat sie mich heute zu einem richtigen Gespräch und einer Tasse Tee eingeladen.“ Das Gefühl, sich vor diesem kleinen Mädchen rechtfertigen zu müssen, ist seltsam – aber dennoch vorhanden. Der intime, unverblümte Augenkontakt lässt sie zusammenzucken, und sie muss den Blick abwenden. Als sie auf ihre Schuhe schaut, sieht sie etwas im Gras liegen, und bei näherer Betrachtung erkennt sie, dass es sich um eine sehr scharfe Gartenschere handelt. Mit so etwas sollte man ein junges Mädchen auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen.

Viola beugt sich langsam hinunter, um sie aufzuheben, wobei ihre Knie und ihr Rücken knarren und protestieren. Bevor sie den Griff erreichen kann, packt Mirabelle die Schere und schleudert sie mit einem heftigen Grunzen in Richtung des Hauses. Die Schere schlägt mit einem dumpfen Aufprall gegen die Haustür und kracht auf die vordere Stufe, zum Glück ohne die kleine Glasscheibe oben an der Tür zu erreichen.

Viola ist sprachlos. Alles, was sie bisher von Mirabelle gesehen hat, verblüfft und beunruhigt sie.

Mirabelle schaut mit großen, unschuldigen Augen auf. „Die kannst du nicht haben. Die gehört mir.“

Viola hat Mühe, ihre Fassung wiederzuerlangen, bevor sie endlich einen Satz zustande bringt. „Oh, ich will sie nicht. Aber sie ist sehr scharf, weißt du. Weiß deine Mum, dass du sie hast?“

Mirabelle zuckt mit den Schultern und zupft ihr Haar auf eine Weise, die sie beunruhigend älter aussehen lässt, als sie ist. „Sie braucht es nicht zu wissen, denn es ist ja meine.“ Mirabelle lächelt, als wäre das völlig normal und Viola würde sich nur dumm anstellen und wegen nichts aufregen.

Viola ist mehr als dankbar, als Wendy die Haustür öffnet. Sie weiß nicht, wie sie auf das reagieren soll, was Mirabelle gerade gesagt hat, und möchte nicht noch mehr Zeit mit ihr allein verbringen, aus Angst davor, was sie als Nächstes tun oder sagen könnte. Dieses kleine, putzige Kind macht ihr das Leben schwer, und sie kommt sich ziemlich dumm vor.

Wendy blickt zur Türschwelle hinunter und hebt die Schere auf. Sie sieht Mirabelle an und legt sie dann auf das äußere Fensterbrett. Ihr Gesichtsausdruck ist unleserlich. Sie schaut auf ihre Uhr und sieht Viola fragend an, und bevor Wendy fragen kann, warum sie so früh hier ist, spricht Viola.

„Ich gehe gerade einkaufen. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?“

Wendy sieht erleichtert aus. „Eigentlich wäre etwas Milch ganz toll. Ich danke Ihnen sehr. Als ich Sie sah, bin ich in ein wenig Panik geraten. Ich dachte, die Zeit sei mir komplett davon gelaufen.“

Viola schenkt Wendy ein mitfühlendes Lächeln. „Es ist so ein schöner Tag, nicht wahr? Ich dachte, ich mache einen kurzen Spaziergang, bevor ich vorbeikomme.“

Wendy wischt sich über die Stirn und blickt in den Himmel. Es ist keine einzige Wolke zu sehen. „Es ist wirklich ein schöner Tag, und ich freue mich schon darauf, wenn wir uns später treffen. Aber ich muss Sie warnen, im Haus herrscht das totale Chaos.“

Viola lächelt und schiebt Wendys Bedenken beiseite. Sie spürt Mirabelles Blick auf sich. Kein einziges Mal hat sie sich zu ihrer Mutter umgedreht oder sie gewürdigt. Auch über die Gartenschere wurde nichts gesagt, weder dass sie für ein Kind ein gefährliches Werkzeug ist, noch dass sie an die Tür geworfen wurde. Die Dynamik ist so seltsam, und die Spannung zwischen Mutter und Tochter hängt in der Luft wie ein unangenehmer Nebel. Vielleicht möchte Wendy mit Mirabelle einfach lieber unter vier Augen darüber sprechen. Viele Leute mögen es heutzutage nicht, ihre Kinder in der Öffentlichkeit zu disziplinieren.

„Mirabelle hat mir gerade die schönen Butterblumen gezeigt, die sie in eurem Garten gefunden hat.“ Viola blickt zu Mirabelle hinunter und sieht, dass ihre Fäuste fest geballt sind. Das Mädchen hebt ihre rechte Hand und entrollt langsam ihre Finger, so dass die zerquetschten Überreste der Butterblumen zum Vorschein kommen, bevor sie ihre Hand beiläufig umdreht und sie auf das Gras fallen lässt. Eine Welle der Verlegenheit überkommt Viola, und sie lächelt Wendy entschuldigend an, obwohl sie nicht weiß, wofür sie sich schämen oder was ihr leid tun sollte.

Wendys Gesicht ist ausdruckslos, kein Fünkchen einer sichtbaren Emotion. Viola will gehen. Und zwar auf der Stelle. Was auch immer es ist, sie will nicht in dessen Nähe sein. Irgendetwas an Mirabelle und ihrem Umgang mit ihrer Mutter fühlt sich bedrohlich an, und Wendys Teilnahmslosigkeit ist nicht weniger beunruhigend.

Viola tut ihr Bestes, um entspannt zu wirken. „Wie auch immer, ich gehe jetzt besser. Ich werde die Milch nicht vergessen.“ Sie winkt Wendy zu, die mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht zurückwinkt, bevor sie zu Mirabelle hinunterschaut, die sie immer noch intensiv anstarrt. „Ich lasse dich jetzt mit deiner Mum allein. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“ Viola dreht sich um und geht weg, ihr Herz hüpft in ihrem Brustkorb. Ein sanftes Klopfen auf ihrem Unterarm lässt sie aufschrecken, und sie schreit fast auf vor Überraschung. Mirabelle steht direkt neben ihr. Dieses Mädchen wird noch ihr Tod sein. Wie hat sie sich so lautlos bewegen können?

Mirabelle hält ihr eine einzelne Butterblume hin, die sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelt. Viola nimmt das Geschenk an und schaut zu Wendy, die Viola nun herzlich anlächelt.

„Die ist wirklich wunderschön. Danke, Mirabelle. Sehr lieb von dir.“ Mirabelle sagt nichts und steht weiter da, als würde sie darauf warten, dass Viola etwas anderes tut oder sagt. Sie fühlt sich unfreundlich, weil sie dem kleinen Mädchen den Rücken zugekehrt hat, aber nach mehreren quälenden Sekunden zeigt Mirabelle immer noch keine Anzeichen, sich zu bewegen oder wegzusehen. „Na ja, ich sehe euch beide später. Passt auf euch auf.“

Viola macht sich auf den Weg und hofft, dass ihr Weggang nicht noch einmal unterbrochen wird. Aber gerade als sie den ersten Schritt machen will, hört sie ein winziges Flüstern von Mirabelle. Es ist so leise und sanft, dass Wendy die Worte unmöglich hören kann.

„Sie ist nicht meine Mum.“

Viola gefriert das Blut in den Adern, aber sie zwingt sich, einen Schritt und dann noch einen zu machen und so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Zum Glück gibt es kein weiteres Flüstern oder Zupfen an ihrem Arm, und sie geht ein paar Sekunden lang, bevor sie einen kurzen Blick hinter sich riskiert. Der Garten von Nummer 33 ist jetzt völlig leer, und die Tür zum Haus ist geschlossen.

Wendy und Mirabelle sind weg.

Das Gleiche gilt für die Gartenschere.

KAPITEL DREI

Viola geht völlig benommen die Straße entlang. Ihr Kopf schwirrt vor lauter Gedanken an Mirabelle und das, was das Mädchen gerade enthüllt hat.

Sie ist nicht meine Mum.

Es war nicht zu überhören, was sie gesagt hatte. Ja, ihre Stimme war kaum ein Flüstern, aber es war so klar wie der Tag. Um die Ecke steht eine kleine Holzbank, die den Spielplatz überblickt. Viola braucht nur etwa fünfzig Meter zu gehen, bis sie sich außer Sichtweite von Nummer 33 setzen und versuchen kann, das alles zu verdauen. Ihre Füße sind schwer, und das zuvor angenehme Sonnenlicht wirkt plötzlich seltsam drückend. Der Schweiß rinnt ihr den Rücken hinunter, und ihr Kleid klebt unangenehm an ihrer Haut. Wäre da nicht Wendys Bitte um Milch, würde Viola zweifellos einfach wieder zurück zu ihrem Haus schleichen.

Als Viola die Bank erreicht, ist ihr Kopf benebelt, und an der Schädelbasis machen sich Kopfschmerzen breit. Mit zitternden Händen legt sie ihre Handtasche auf die Bank und betet, dass sich niemand neben sie setzt und versucht, Small Talk zu machen. Normalerweise würde sie die Gelegenheit begrüßen, mit einem freundlichen Fremden zu plaudern, aber sie ist sich nicht sicher, ob sie jetzt ein normales Gespräch führen könnte.

Viola setzt sich hin und spielt die Ereignisse in Gedanken noch einmal durch. Macht sie zu viel daraus? Ihr ganzes Leben lang wurde ihr von Freunden und Verwandten gesagt, dass sie, weil sie keine eigenen Kinder habe, keine Ahnung hätte. Und obwohl sie nie versucht hat, Ratschläge zu erteilen oder sich zu den Kindern ihrer Angehörigen oder deren Erziehung zu äußern, haben diese ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass es höchst unerwünscht wäre, wenn sie es täte. In gewisser Weise ist sie immer der Meinung gewesen, dass diese Haltung völlig gerechtfertigt ist. Stattdessen hat sie den erschöpften und frustrierten Eltern, die sie kennengelernt hat, immer Unterstützung angeboten und ihnen ein offenes Ohr geschenkt, was stets dankbar angenommen wurde. Aber das hier fühlt sich anders an. Irgendetwas stimmt hier nicht, und es ist anders als alles, was sie bisher erlebt hat. Viola spürt es tief in ihrer Seele.

Sie kann Martins Stimme in ihrem Kopf hören. Lass es gut sein, Viola. Und sie weiß, dass sie auf ihn hören sollte.

Doch irgendetwas nagt an ihr. Ein halbfertiger Gedanke, der immer wieder versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es geht nicht nur um das, was Mirabelle gesagt hat, oder gar um ihr ungewöhnliches Verhalten. Es ist auch nicht nur, dass Wendy ihre Tochter gestern Abend nicht erwähnt hat. Es ist nicht einmal so, dass all diese Ereignisse zusammen mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Da ist noch etwas anderes, das völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Viola schließt die Augen und atmet tief ein. Sie schaltet ihr Bewusstsein aus und konzentriert sich auf den gegenwärtigen Moment. Sie lauscht auf die Autos und Schritte und atmet tief und bewusst. In der Ferne bellt ein Hund, und sie hört die Füße eines Joggers auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite aufstampfen. Sie nimmt das Gefühl des Hier und Jetzt in sich auf. Sie verdrängt alle quälenden Fragen, sobald sie versuchen, in ihren Kopf zu kommen. So sitzt sie ein paar Minuten einfach da und spürt, wie sich ihr Körper zu entspannen beginnt. Ihre aufkeimenden Kopfschmerzen verschwinden, und ihr Geist wird ruhiger und klarer.

Und dann wird es ihr klar. Es trifft sie nicht wie ein Blitz, sondern eher wie ein allmähliches Gefühl der Erkenntnis. Weder Wendy noch Mirabelle würdigten sich eines Blickes. Sie sprachen nicht miteinander und tauschten weder Lächeln noch Gesten irgendeiner Art aus. Sie existierten nur im selben Raum. Wäre es nicht normal, wenn Wendy mit Mirabelle gesprochen hätte, als sie die Tür öffnete? Hätte sie Mirabelle nicht über das Klopfen an der Tür befragen sollen, das sie alarmiert hatte? Es schien sie nicht einmal zu stören, dass Mirabelle mit einem scharfen Gartengerät gespielt hatte, geschweige denn, dass sie ihn gegen das Haus geschleudert hatte. Diese einzelnen Vorkommnisse sind sicherlich beunruhigend, aber die Tatsache, dass sie sich nicht wie Mutter und Tochter verhielten oder so taten, als würden sie sich überhaupt sehen, lässt Viola erschaudern.

Sie ist nicht meine Mum.

***

Mit der Milch in der Hand klopft Viola an Wendys Tür. Auf dem Rückweg vom Laden hat sie sich eine strenge Standpauke gehalten. Dies wird die letzte Einladung sein, die sie von Wendy annimmt, und sie bezweifelt, dass Rhys mehr als ein oberflächliches Hallo sagen wird, wenn sich ihre Wege kreuzen. Sie wird kurz eine Tasse Tee trinken, sich entschuldigen und nach Hause gehen. Alles, was sie tun muss, ist höflich zu sein. Sie wird keine unnötigen Fragen stellen, und dann wird sie die beiden einfach in Ruhe lassen, damit sie mit ihrem Leben weitermachen können. Wie sie das tun, geht sie nichts an. Mirabelle ist eindeutig ein gesundes, gedeihendes kleines Mädchen. Viola ist stolz auf ihre unvoreingenommene Haltung, und das sollte auch in dieser Situation nicht anders sein.

Wendy öffnet die Tür und tritt zurück, um Viola hereinzulassen. „Lassen Sie die Schuhe an, Viola. Es ist staubig, und überall liegt Kram herum.“ Viola nickt und folgt Wendy in die Küche.

Viola ist überrascht und beeindruckt, wie wenig Unordnung und Chaos herrscht. Sie sind kaum einen Tag hier und es sieht schon so aus, als ob sie mit dem Auspacken fertig wären.

„Wow, Wendy. Sie haben in so kurzer Zeit aber eine Menge geschafft.“

Wendy strahlt. „Wenn ich nicht sofort damit anfange, verliere ich die Motivation. Ich wollte, dass sich das Untergeschoss so schnell wie möglich normal anfühlt.“ Wendy gähnt. „Tut mir leid, ich habe letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen.“

Viola wittert eine Chance. „Das kann ich mir vorstellen. Nun, keine Sorge. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.“

Wendy holt einen Esszimmerstuhl für Viola und dann einen weiteren für sich selbst. „Nein, bitte nicht gleich wieder gehen! Ich brauche dringend eine Pause und jemanden, mit dem ich ein bisschen quatschen kann.“

Viola lächelt, innerlich enttäuscht über das Scheitern ihres Versuchs einer vorzeitigen Flucht. Im Haus ist es sehr still, und sie muss sich zurückhalten, um nicht zu fragen, wo Mirabelle ist. Sie muss sich an den Plan halten und ihre Neugierde im Zaum halten. Keine überflüssigen Fragen.

Der Esszimmerstuhl ist aus glänzendem, weißem Kunststoff gefertigt. Er hat keine Beine wie ein normaler Stuhl. Er hat eine seltsame Z-Form und sieht nicht ganz stabil aus. Viola setzt sich zögernd darauf und ist überrascht, wie robust er tatsächlich ist. Die Tischplatte aus gehärtetem Glas ist mit weißen Marmortellern gedeckt, und sowohl eine Tee- als auch eine Kaffeekanne sind mit glatten weißen Porzellantassen und Untertassen aufgestellt.

Viola nimmt sich einen Moment Zeit, um den Raum zu betrachten. Alles ist stark stilisiert, und der ganze Raum wirkt kalt und klinisch. Das sieht nicht nach einer Umgebung aus, die für ein Kind förderlich ist.

„Tee? Kaffee?“

Viola wird wieder in den Moment zurückgeholt. „O ja, Tee, bitte. Nur Milch. Entschuldigung, ich habe mich nur umgesehen. Es ist alles sehr beeindruckend.“ Viola versucht, leicht und unbeschwert zu klingen, aber ihre unterschwellige Nervosität führt dazu, dass sie sich verhält, als wäre sie in einem Vorstellungsgespräch.

Wendy beginnt einzugießen. „Danke! Fast alle unsere Möbel sind neu. Wir wollten dieses Haus zu unserem eigenen machen. Rhys und ich haben das Glück, dass wir einen sehr ähnlichen Geschmack haben.“

Viola nickt und nimmt einen Keks vom Teller, den Wendy ihr hinhält, und legt ihn auf ihre Untertasse.

„Dieser Tisch ist wirklich etwas Besonderes.“ Viola fährt mit dem Finger an der Metallkante entlang, die das perfekte Glas umgibt.

„Oh, ich weiß, ich liebe ihn. Es war ein kleiner Luxuskauf, aber wir konnten einfach nicht widerstehen.“

Viola beobachtet Wendys Gesicht genau, während sie spricht. Es ist leicht, sie unbemerkt zu beobachten, da sie kaum Augenkontakt aufnimmt. Tatsächlich schaut sie überall im Raum hin, nur nicht zu Viola. Viola hält sich für eine ziemlich gute Menschenkennerin, und es ist schmerzlich offensichtlich, dass Wendy sich unwohl fühlt. Es scheint, als würde sie sich zu sehr bemühen, Viola von ihrem Glück zu überzeugen, aber ihre Worte wirken unaufrichtig.

Trotz ihrer Versprechen, die sie sich selbst gegeben hat, kann Viola jetzt, wo sie hier sitzt, nicht weiter mit dieser Frau sprechen, die ihr Kind noch nicht anerkannt hat. Das ist mehr als seltsam, und wenn Viola vorhat, sich nach dem heutigen Tag von dieser Familie zu distanzieren, dann muss sie ihre Gedanken in Ruhe lassen. Außerdem hat Viola die Erfahrung gemacht, dass Eltern nicht anders können, wenn es darum geht, Geschichten über ihre Kinder zu erzählen. Normalerweise überschlagen sie sich, wenn es darum geht, die neueste Errungenschaft des kleinen Jonny zu verkünden oder eine lustige Anekdote zu erzählen, die eigentlich gar nicht lustig ist.

Viola versucht weiterhin, ihren Ton leicht und unbeschwert zu halten. „Diese Glasscheibe wird aber nicht lange so aussehen wie jetzt, wenn Mirabelle hier ist. Ich kann mir vorstellen, dass sie mit Kratzern und Wachsmalstiftspuren übersät sein wird, bevor du dich umschauen kannst.“ Viola hofft, dass ihre Bemerkung unbeschwert und heiter klingt, aber sie sieht, dass Wendy sich sofort verkrampft. Ihre Körpersprache wird verschlossen und abwehrend.

Zum ersten Mal, seit sie sich zusammengesetzt haben, sehen sich die beiden Frauen in die Augen. Es ist kurz und flüchtig, aber etwas geht zwischen ihnen vor. Viola lehnt sich in ihrem Sitz zurück und schlägt die Beine übereinander. Was war das? Sie studiert weiter Wendys Gesicht. Die Frau versucht eindeutig, ihr in aller Stille etwas mitzuteilen. Aber warum? Es ist doch sonst niemand hier. Welchen Grund könnte es geben, dass Wendy sich weigert zu sprechen? Viola kann den Blick, den Wendy ihr zuwirft, nicht entziffern. Versucht sie, sie zu warnen? Oder ist es eher ein Flehen? Eine Bitte, nicht mehr nach Mirabelle zu fragen. Das Thema zu wechseln.

Sie sitzen nun schon eine seltsame Zeit schweigend da, und die Atmosphäre wird immer unangenehmer. Wenn Wendy nicht wollte, dass Viola Fragen über ihr Familienleben stellt, warum hätte sie sie dann so bereitwillig zu sich eingeladen? Viola weigert sich, die Stille zu füllen. Sie muss abwarten, was Wendy zu ihrer Bemerkung über den Tisch sagen wird. Schließlich richtet Wendy ihre Position neu aus, lehnt sich zurück und wirkt dadurch zum Glück schon einladender. Es fühlt sich gezwungen an, und Viola ist nicht dumm, aber sie kann zumindest die Mühe anerkennen.

„Sie hat diesen Namen selbst gewählt, wissen Sie. Mirabelle.“ Viola zieht die Augenbrauen zusammen, wartet aber darauf, dass Wendy weiter ausführt. „Als sie geboren wurde, habe ich sie Isabelle genannt. Aber jetzt besteht sie auf Mirabelle.“ Wendy zuckt mit den Schultern. „Ich habe versucht, einen Kompromiss zu schließen und sie Belle zu nennen, aber das kam nicht gut an.“

Viola weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass Kinder alternative Namen für sich selbst erfinden, und sie ist erleichtert, dass Wendy etwas gesagt hat, um die Spannung zu lösen.

„Ah, okay. Auf jeden Fall beides schöne Namen.“ Was gibt es dazu noch zu sagen?

Viola beobachtet, wie Wendy ihre Tasse in die Hand nimmt. Ihre Hand zittert so heftig, dass sie sie sofort abstellt, eine Stoffserviette aus einem silbernen Ring nimmt und sich die Hände abwischt.

„Du hattest gesagt, du hättest gute Insider-Informationen über die Gegend? Ich würde gerne alles darüber wissen.“ Es ist, als ob in Wendy ein Schalter umgelegt worden wäre. Sie ist wieder in den Gesprächsmodus geschaltet, und die Nervosität und das Unbehagen sind aus dem Gesicht der Frau verschwunden. Der Schutzwall ist wieder abgebaut, und Viola sieht dieselbe Frau vor sich, die sie gestern Abend an der Tür empfangen hat. Umgänglich, freundlich, zumindest äußerlich die perfekte Nachbarin. Viola nimmt einen Schluck von ihrem Tee, froh, dass Wendy wenigstens Mirabelles Existenz anerkannt hat, und sei es nur, um unnötigerweise ihren Namen zu erklären. Es gibt noch viel mehr, was Viola gerne wissen würde, aber sie ahnt, dass es so wäre, als würde man versuchen, Blut aus einem Stein herauszuquetschen.

„Ja, natürlich. Haben Sie es schon geschafft, ein bisschen spazieren zu gehen oder so?“

Wendy atmet erleichtert über den akzeptierte Themenwechsel aus. „Nein, noch nicht. Ich habe das Haus nicht einmal verlassen, seit wir angekommen sind.“ Sie versucht ein kleines Lachen, und Viola lächelt sie an.

„Na, in diesem Fall werde ich …“ Viola wird durch das plötzliche, lautlose Eintreten von Mirabelle unterbrochen. Sie steht plötzlich direkt neben Violas linker Schulter. Ihre Haltung ist pfeilgerade, die Hände hinter dem Rücken, wie ein kleiner Soldat, der stramm steht. Viola dreht ihren Kopf, um sie zu begrüßen. Mirabelle hat sicherlich nicht die offensichtlichen Probleme ihrer Mutter mit Blickkontakt. Sie starrt Viola direkt in die Augen. Keinerlei Anzeichen von Unbehagen über ihre Nähe. Viola bewegt sich auf ihrem Stuhl, wendet ihren Körper dem kleinen Mädchen zu und schiebt gleichzeitig ihren Stuhl zurück, um Platz zwischen ihnen zu schaffen. Sofort macht Mirabelle einen Schritt nach vorne und nimmt den von Viola geschaffenen Platz ein, wobei ihre Beine fast Violas Knie berühren. Es fühlt sich schrecklich unangenehm an, aber wenn sie wieder zurückgehen würde, könnte das Mädchen beleidigt sein oder, was wahrscheinlicher ist, einen weiteren Schritt auf sie zugehen.

Viola bleibt, wo sie ist, und schenkt Mirabelle ein warmes Lächeln. „Na sowas, hallo, meine Liebe.“ Sie möchte keine Namensverwirrung verursachen, also bleibt sie bei einem Kosenamen. „Es ist schön, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?“

Mirabelle antwortet nicht. Stattdessen zieht sie eine ihrer Hände hinter ihrem Rücken hervor und hält sie nur wenige Zentimeter vor Violas Gesicht. Ihre Hand ist in etwas eingewickelt, das eine ganze Rolle Toilettenpapier sein muss. Sie ist mit mehreren Stücken Tesafilm unordentlich befestigt und sieht aus wie ein weißer Boxhandschuh. Viola zuckt zusammen und dreht sich zu Wendy um, in der Erwartung, dass sie eingreift und herausfindet, was das Mädchen da gemacht hat. Stattdessen starrt Wendy Mirabelle finster an, ihre Augen brennen ihrer Tochter förmlich ins Gesicht. Sobald Wendy bemerkt, dass Violas Aufmerksamkeit ihr und nicht mehr ihrer Tochter gilt, ändert sie schnell ihren Gesichtsausdruck, und auf ihrem Gesicht erscheint ein Anflug von Ruhe und Besorgnis. Mirabelle lässt Viola nicht aus den Augen und schwingt den selbstgebastelten Boxhandschuh vor ihrem Gesicht hin und her wie ein Pendel.

Viola muss sich überlegen, was sie tun oder sagen soll. Dies ist vielleicht die seltsamste Situation, in der sie sich je befunden hat, und das will schon etwas heißen.

Zum Glück durchbricht Wendy schließlich das Schweigen und stellt die offensichtliche Frage. „Was hast du mit deiner Hand gemacht?“

Mirabelle ignoriert sie und schwingt weiter ihre Hand, während sie Viola anstarrt. Ein beunruhigendes Grinsen ist auf ihrem Gesicht zu sehen.

Der wachsende Druck und das unstillbare Bedürfnis zu wissen, was um alles in der Welt vor sich geht, zwingen Viola zum Sprechen. „Was ist das, Schätzchen?“ Viola streckt ihre Hand nach dem Mädchen aus und berührt fast die Oberfläche des Klopapierhandschuhs, bevor Mirabelle sie wegreißt und beide Hände wieder hinter ihren Rücken legt. Die Augen des kleinen Mädchens bewegen sich langsam und entschlossen auf Wendy zu, das hässliche Grinsen ist immer noch auf ihrem sonst so putzigen Gesicht angebracht. Wendys Mund ist zu einer geraden, festen Linie verzogen, ihre Wangenmuskeln zucken sichtlich. Viola kann sich nicht entscheiden, ob es ein Gesicht der Wut, der Angst oder der Verlegenheit ist. Vielleicht alles drei.

Mirabelle geht hinter dem Stuhl von Viola auf Wendy zu. Viola verdreht den Kopf und folgt jeder Bewegung des Mädchens. Ihre Schritte sind klein und leise. Viola kann Mirabelles Gesicht nur noch im Profil sehen und hält den Atem an, um zu sehen, was das Mädchen als Nächstes tun wird. Sie hat keine Ahnung, was sie erwarten wird. Nichts, was in der kurzen Zeit, in der sie Mirabelle kennt, geschehen ist, war vorhersehbar. Die Spannung bringt sie um.

Mirabelle gibt die Antwort in ihrem üblichen kindlichen Tonfall. „Mein Finger wurde abgeschnitten. Also habe ich ihn wieder angeklebt und eingewickelt. Sieh mal, alles repariert.“

Sie schwingt ihre umwickelte Hand erst vor Wendy und dann nach Viola. Alles Blut fließt aus Wendys Gesicht, und sie springt auf die Beine. Viola ist wie erstarrt und versucht immer noch zu begreifen, was Mirabelle gerade gesagt hat. Sicherlich ist das nur ein Scherz. Aber was, wenn nicht? Viola verabscheut den Anblick von Blut und kann den Gedanken nicht ertragen, Mirabelles möglicherweise amputierten Finger zu sehen. Sie weiß, dass sie helfen muss, aber allein bei dem Gedanken daran wird ihr furchtbar übel. Ein kalter Schweiß bricht ihr auf der Stirn aus. Würde das Mädchen nicht vor Schmerzen schreien, wenn das alles wahr wäre? Und würde nicht auch Blut durch das Toilettenpapier sickern? Violas Magen dreht sich um, und eine noch stärkere Welle der Übelkeit überkommt sie.

Bevor Wendy Mirabelle erreichen kann, sprintet das Mädchen aus dem Zimmer und rennt singend die Treppe hinauf. Viola erkennt das Lied wieder – ein Kinderlied, denkt sie, und ihr gefriert das Blut in den Adern.

„Mumienfinger, Mumienfinger, wo bist du? Hier bin ich, hier bin ich. Wie geht’s, wie geht’s, wie geht’s?“

Viola dreht sich um, mit offenem Mund, ohne Stimme, und starrt Wendy an. Der entsetzten Frau stehen die Tränen in den Augen. Wendy wischt sich mit ihrem Ärmel über das Gesicht und verschluckt sich beim Sprechen an ihren Worten.

„Finden Sie selbst raus? Ich kümmere mich schon um alles. Machen Sie sich bitte keine Sorgen!“

Machen Sie sich keine Sorgen? Was kann man in einer solchen Situation anderes tun, als sich Sorgen zu machen? Viola ist verblüfft. Sollte nicht einer von ihnen einen Krankenwagen rufen oder so? Wendy taumelt aus dem Zimmer und stößt die Haustür auf, bevor sie die Treppe hinaufspringt. Viola sitzt wie betäubt da und hat das Gefühl, dass sie mit ziemlicher Sicherheit in Ohnmacht fällt, wenn sie jetzt aufsteht. Sie nimmt einen Löffel, kippt zwei große Stücke Zucker in ihren Tee, rührt ihn um und stürzt ihn hinunter, dankbar, dass er so weit abgekühlt ist, dass sie sich die Zunge nicht verbrennt. Nach ein paar tiefen Atemzügen steht Viola langsam auf. Sie wirft einen letzten Blick in die karge und ungemütliche Küche und macht sich auf den Weg zur Haustür.

Oben ist es gespenstisch still. Kein einziges Geräusch. Keine Anzeichen für verzweifelte Anrufe im Krankenhaus, keine Geräusche, die darauf hindeuten, dass Wendy nach Mirabelle sieht. Kein einziges Wort. Kein einziger Schritt. Kein einziger Hinweis auf irgendeine Art von Bewegung. Viola weiß, dass sie nicht einfach gehen sollte. Dies ist ein Notfall. Sie sollte bleiben und sich vergewissern, dass es Mirabelle gut geht, dass es auch Wendy gut geht und dass sie alle notwendigen Schritte unternimmt, um sicherzustellen, dass Mirabelles Hand versorgt wird. Aber Viola sehnt sich nach ihrem Zuhause. Sie sehnt sich danach, in ihrem Wohnzimmer zu sitzen und von diesem ganzen Wahnsinn abzuschalten. Es ist alles viel, viel zu viel für sie, um damit fertig zu werden. Sie hat hier keine Rolle zu spielen. Das alles hat sie schon vor langer Zeit hinter sich gelassen. Sie ist nur eine Nachbarin – mehr nicht. Sie kennt diese Leute nicht, und nach dem, was sie bisher gesehen hat, möchte sie eigentlich, dass das auch so bleibt.

Und so geht sie aus der Tür, schließt sie hinter sich und macht sich auf den Weg nach Hause.

Sie blickt nicht zurück.

KAPITEL VIER