Die Farbe meiner Gedanken - Melody Rose - E-Book

Die Farbe meiner Gedanken E-Book

Melody Rose

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Beschreibung

"Ich beschließe, der Stimme in meinem Kopf einen Namen zu geben. Vielleicht wird es leichter, wenn ich die Depression von nun an Saskia rufe." Isas Welt hat an Farbe verloren. Seit sie das erste Mal von ihrer Depression Saskia besucht worden ist, hat sie sich von allen zurückgezogen. Nur ihrem Tagebuch vertraut sie ihr größtes Geheimnis an. Als dieses plötzlich verschwindet, tritt der junge Obdachlose Phil in Isas Leben. Von ihm fühlt sie sich verstanden und schon bald lässt er Isas Herz höherschlagen und Saskia leiser werden. Doch kann sich Isa Phil jemals komplett öffnen? Und welche Dämonen haben Phil auf die Straße getrieben? Eine berührende Coming-of-Age-Story zweier Jugendlicher, die sich selbst und ihren Platz in der Welt finden müssen.

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Seitenzahl: 308

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© privat

Die deutschsprachige Autorin Melody Rose hat ihre Leidenschaft für Bücher in die Wiege gelegt bekommen. Schon mit ihrer Mutter ist sie in fremde Welten eingetaucht. Mit dem Schreiben von Fanfictions hat sie später begonnen und nun ihr Zuhause im Verfassen von Romanen gefunden. Wenn man sie nicht mit einem Buch in der Hand vorfindet, dann steht sie in der Küche und backt.

Bereits erschienene Titel:

•»Winterzauber in den Rocky Mountains« (»Verliebt in Clarcton«- Reihe Band 1)

•»Auf vier Pfoten ins Weihnachtsglück« (»Verliebt in Clarcton«-Reihe Band 2)

•»Winterkuss mit Zuckerstreuseln« (»Verliebt in Clarcton«-Reihe Band 3)

•»Traummann gesucht, Rockstar gefunden«

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Copyright © 2023 bei soul&mate, ein Imprint des Bookspot Verlags

1. Auflage

Lektorat: Yvonne Schmotz

Korrektrat: Ursula Schötzig

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Ilaria Doro

Titelmotiv: Unsplash/Thomas Renaud

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

eISBN 978-3-95669-177-5

www.bookspot.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine eigene Saskia.Mit dieser Geschichte habe ich ihr den Kampf angesagt:Ich habe gewonnen.

 

 

 

 

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält Szenen und Beschreibungen mit potenziell triggernden Inhalten. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Beschreibung der Inhalte.

Dann könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr die Geschichte lesen möchtet.

Vielen Dank!

Eure Melody Rose

1 – Fressen oder gefressen werden

»Es war an einem Morgen, als ich beschloss, der Stimme in meinem Kopf einen Namen zu geben. Vielleicht würde es leichter werden, wenn ich die Depression von nun an Saskia rufen würde. So als wäre sie eine entfernte Freundin, die ab und an zu Besuch kommt und immer Chaos hinterlässt. Es war wieder eine dieser Nächte, in denen ich keine Sekunde die Augen geschlossen halten konnte. Die Zweifel, die dann einen Walzer tanzen, lassen meinen Kopf nicht zur Ruhe kommen. Die Träume, die manchmal für Stille sorgen, haben sich zurückgezogen und mich im Stich gelassen. Demnach habe ich kaum geschlafen. Saskia lag auf mir drauf und hat versucht, mich so fest zu umarmen, dass es schmerzte. Es war so schlimm, dass ich mir schließlich einfach das Kissen gegen das Gesicht drückte und um mein Leben schrie. Meine Stimme brach irgendwann und ohne dass ich genug Zeit hatte, um all meine Sorgen aus mir herauszuschreien, wurde der Schrei immer leiser. Nach einiger Zeit wurde mein Atem regelmäßiger. Wisst ihr, wie erschöpft man in einer Phase ist, in der Saskia zu Besuch ist? Stellt euch einfach vor, eure nervigste Cousine ist bei euch zu Gast, und als wäre das nicht schlimm genug, reibt sie euch ihren Erfolg unter die Nase. Und das Ganze in tausendmal so schlimm.« 

ICH KLAPPE DAS NOTIZBUCH ZU, von dem ich hoffe, dass es niemals jemand lesen wird. Wenn das passieren würde, wäre ich sofort abgestempelt. In unserer heutigen Zeit einen solchen Stempel aufgedrückt zu bekommen, erinnert eher an ein Brandzeichen, das sich in deine Haut frisst und dortbleibt. Ich rücke meine Brille zurecht und sehe mich um. Es ist noch viel zu früh am Morgen, um mich schon auf mein Fahrrad zu setzen und in die Schule zu fahren. Heute ist der erste Tag nach den Sommerferien und das Abschlussjahr steht vor der Tür. Während es meinen Mitschülern, wie ich der Klassengruppe entnehmen konnte, nicht schnell genug damit gehen kann, die Schule zu beenden, fühle ich mich leer. Die Angst vor der Zukunft baut sich vor mir auf wie der böse Wolf vor Rotkäppchens Oma. Wie soll ich mit 15 Jahren wissen, wie mein weiteres Leben verlaufen soll? Wie kann es sein, dass jetzt schon so eine große Entscheidung von mir verlangt wird, ich allerdings noch nicht einmal das Recht habe, wählen zu gehen? Ich schüttele den Kopf. Die Gedanken müssen aufhören. Ich möchte einen guten Abschluss machen, damit mir alle Türen offenstehen. Meinen Eltern erzähle ich immer, dass ich genau weiß, was ich tun möchte. Doch in mir drin? Nichts als ein schwarzes Loch.

Keine Leidenschaft für irgendeinen Beruf, welcher der Norm entsprechen würde. Ich atme tief ein und fahre mit meinen Händen in meine rotblonden Wellen. Ich muss nachdenken, alle meine Gedanken zu einem Strang verweben und mich vollkommen auf die guten Noten konzentrieren. Alles im Leben dreht sich darum, immer in allem der Beste zu sein. Der beste Verkäufer, die beste Absolventin. Es gibt für alles einen Wettkampf. Mein Vater zum Beispiel erhält bei genügend Abschlüssen im Monat eine Sonderzahlung, auch das ist nichts anderes als die Belohnung für das Streben danach, der Allerbeste zu sein. Doch was ist, wenn es für mich okay ist, gut zu sein, aber nicht überragend? Was wäre, wenn ich zwar gute Noten haben möchte, aber nicht sehr gut sein muss, damit es mir gut geht? Es geht mir mit einer Eins auf dem Zeugnis nicht automatisch besser als mit einer Drei. Doch das wird gesellschaftlich nicht akzeptiert. Bei einem Notendurchschnitt von 1,7 bekommt man einen Preis, es wird im Abschlusszeugnis für immer einen Satz geben, der dich daran erinnert, dass du mit am besten warst. 

Ich bin müde vom ewigen Kämpfen, müde von den Machtspielen, von denen ich weiß, dass ich sie sowieso verlieren werde. Und dann ist da ja auch noch Saskia, die mir mein Leben nicht wirklich leichter macht. Wie kann ich nur so müde sein, aber gleichzeitig so fiese Gedanken haben, dass ich den wohlverdienten Schlaf nicht erreiche? Wohlverdient, das denkst du nur, murmelt Saskia. Sie hat recht. Es steht mir nicht zu, Erholung zu finden, schließlich habe ich noch keinen Schimmer, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will. Erst wenn ich einen groben Plan habe, wird Saskia zufrieden sein. Ich werde nie zufrieden sein. Rosige Aussichten. 

Ich stehe vor dem Schultor und wippe mit den Füßen nervös auf und ab. Meine Schultasche ist nicht so schwer wie der große Panther, der sich in meine Schulterblätter gekrallt hat und mich unbedingt auf dem Weg in die Abschlussklasse begleiten wollte. Die Schule beginnt erst in einer Stunde, die Erfurter Sonne steht bisher noch nicht wirklich hoch und die leichte Herbstbrise wirbelt um mich herum. Ich greife an die Träger meines Rucksacks und umklammere sie. Heute ist der Tag des Neubeginns, aber gleichzeitig auch der Moment, in dem ich wieder in der Welt voller Masken gefangen bin. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass es mich in der Schule schlimmer hätte treffen können. Ich habe Freunde, bin wohl irgendwie auch beliebt oder werde zumindest respektiert. Aber wenn sie in mein Inneres blicken könnten, wüssten sie, dass es dort einer trockenen Wüste gleicht. Ich drohe auszutrocknen, auch wenn mein Gesichtsausdruck das genaue Gegenteil zeigt. Ich stehe morgens auf und gemeinsam mit dem alltäglichen Zähneputzen und Gesicht waschen ist es fast so, als wäre es für mich dann auch an der Zeit, meine Gestik und Mimik noch einmal vor dem Spiegel zu üben, um später mit dieser aufgesetzten Maske das Haus zu verlassen. Ich bin diejenige, die ohne Saskia an ihrer Seite alle zum Lachen bringt. Die allerdings selbst vergessen hat, was es bedeutet, aus tiefstem Herzen zu kichern. All das bin ich und so viel mehr, doch im Moment bin ich vor allem eines: eine Schauspielerin, die seit drei Jahren das Theaterstück ihres Lebens perfekt beherrscht. Getrieben von der Angst, dass entdeckt werden könnte, wie dunkel alles ist, obwohl ich nach außen hin so tue, als würde ich in tausend Farben strahlen.

»Isa. Was machst du denn schon hier?« Ich zucke zusammen, löse die Finger von meinem Rucksack und drehe mich um. Leon steht vor mir. Seine dunkelblonden Haare stecken wie immer unter einer Beanie und das Skateboard lehnt lässig an seinem Bein. Ich höre in mich hinein, ja, ich habe ihn über die Ferien wirklich ein wenig vermisst.

»Ich war ein bisschen früher dran. Wollte nicht in den Ansturm geraten.«

Leon zieht mich in eine kurze Umarmung.

»Abschlussjahr: Fressen oder gefressen werden, nicht wahr?«, meint er und grinst mich spitzbübisch an. 

Er ahnt nicht, dass ich mich fühle, als wäre ich schon vor langer Zeit verdaut und wieder ausgespuckt worden.

»Alles okay bei dir? Du wirkst nachdenklich. Nervös vor dem letzten Jahr?« Leon hat die tolle Angewohnheit, in mir ein bisschen mehr zu lesen, als ich es eigentlich zulassen will.

»Ja.« Ich kichere, um meine Unsicherheit zu verstecken. »Es ist beängstigend, vor allem weil wir noch nicht wissen, ob wir uns danach je wiedersehen werden.« Als Leon die Augen aufreißt, spüre ich, wie Saskia mir ihren Ellenbogen in die Magengrube rammt. Du willst doch nicht, dass er mich entdeckt?, speit sie mir entgegen und sofort rudere ich zurück. »Also ich meine, wie oft man sich dann noch sieht.«

Leon legt locker seinen Arm um meine Schulter.

»Die Hummelcrew wird nichts auseinanderreißen, Isa. Wir sind die einzig Wahren. Weißt du noch, das haben wir uns geschworen.«

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Saskia war damals noch nicht an meiner Seite und ich ein komplett anderes Mädchen. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob die Hummelcrew wirklich für immer so eng verwoben bleiben wird. Unsere Wege werden sich trennen und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die Energie haben werde, die Freundschaften zu pflegen. Das tue ich ja jetzt schon kaum noch.

Ich sehe zu Leon und in diesem Moment fühlt es sich an, als wäre ich wieder zurück in dem Augenblick vor drei Jahren. Es war in der fünften Klasse am letzten Schultag vor den Sommerferien.

Ich sehe meine Freunde an und mein Herz schlägt ein bisschen schneller. Auf der Realschule brauchst du eine Clique, das wurde mir immer wieder eingetrichtert. Aber das ist gar nicht so einfach, denn die Menschen sind unterschiedlich. Jeder von uns tickt anders und trotzdem stehe ich hier nun im Kreis der Leute, die ich an mich ranlassen möchte. Und Leons Hand halte ich in meiner linken. Weil er mein Freund ist. Mein erster richtiger Freund. Das ist er auch ohne ersten Kuss, dazu lasse ich mich nicht drängen. Layla, Bettina und Markus stehen ebenfalls bei uns und wir alle strecken unsere rechten Fäuste in die Mitte.

»Wir sind die Hummelcrew. Uns kann niemand trennen. Wir gegen den Rest der Welt.« 

Und dann schlagen wir die Fäuste aneinander und fangen an zu brummen, lachen und alles fühlt sich toll an. Leon streicht mir über die Haare. Seinen Eltern gehört ein Reiterhof, deshalb werden wir uns in den Ferien nicht sehen. Sie werden viel zu tun haben. Das ist okay.

»Du bist so wunderschön wie eine Blume, Isa.« 

Ich werde rot und strahle ihn an. Nichts könnte perfekter sein als dieser Augenblick.

Ein Jahr später hat mich Saskia besucht, das erste Mal. Auch wenn ich anfangs dachte, sie wäre nicht von Dauer, weiß ich jetzt, dass sie es ist. Alle Emotionen werden von ihr in eine Umarmung gezogen und dadurch verlieren sie an Farbe. Das ist okay, denn zum Glück bemerkt es niemand. Außer mir und Saskia. Wir beide sind genau deshalb ein Team, oder? Aber will ich das überhaupt? 

Du hast keine Wahl!, kreischt Saskia unerträglich laut in meinem Kopf.

Am liebsten würde ich mich in die Ecke stellen und die Hände auf die Ohren drücken, stattdessen grinse ich Leon an und füge hinzu: »Und wir waren so verliebt.« Sein Blick wird strahlender. Seine Augen erinnern mich an das Meer, an Rostock, wo ich mit meinen Eltern als Kind immer gewesen bin. Unbeschwertheit, Sand unter den Füßen und keine düsteren Gedanken.

»Das waren wir, ja.«

»Bis ich alles kaputtgemacht habe.« Dieser Satz hängt unausgesprochen zwischen uns. Zum Glück muss ich nicht weiter darüber nachdenken, denn der Rest der Clique kommt schon auf uns zugerannt mit strahlenden Gesichtern und Augen, die von Abenteuern in den Ferien sprechen.

2 – Das Band der Freundschaft 

DIE AUFREGUNG VOR DEM ERSTEN SCHULTAG war früher größer, als man noch nicht wusste, welche Klassenkameraden einen erwarten. Das nervöse Kribbeln, wie kleine Ameisen im Bauch, ist mittlerweile längst verflogen, denn als ich in die Runde blicke, ruft das nur ein Gefühl in mir hervor: Routine. Ich kenne die Leute alle schon mehrere Jahre. Das sind unsere letzten Monate zusammen, alle an einem Strang ziehend, mit nur einem Ziel: einen Abschluss machen. Und feiern, extrem viel Party steht wohl an, zumindest wenn ich nach den Gesprächen um mich herum gehe. 

Ich bin eine der Jüngsten in meiner Klasse. Dadurch, dass ich im März Geburtstag habe, bin ich mit sechs Jahren eingeschult worden. Fast alle meine Mitschüler dürfen Bier schon legal konsumieren – nicht, dass Saskia je zulassen würde, dass wir auf eine Party gehen. Ich schlucke den aufkommenden Schmerz von verpassten Momenten hinunter und blicke auf, als Frau Roth das Zimmer betritt. Sie ist seit letztem Jahr unsere Klassenlehrerin, Ende 40, hat zwei Kinder und liebt das Wandern. Das sieht man ihr auch irgendwie an, zumindest wenn man den Klischees glaubt. Sie ist sehr nett, kann aber auch streng sein, wenn man ihre Regeln nicht beachtet. Für Frau Roth stehen Noten im Vordergrund und ich bin froh, dass sie sich nicht für die persönlichen Probleme ihrer Schüler interessiert, denn genau das rettet mich davor, dass jemand von Saskia erfährt. 

»Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 a. Herzlich Willkommen im härtesten Schuljahr.« Sie lächelt, doch man sieht ihr an, dass sie es genießt, uns alle noch nervöser zu machen. Sie liebt es, uns zu Höchstleistungen anzustacheln, und genau deshalb sind wir die mit Abstand stärkste Klasse des Jahrgangs. »In diesem Jahr werdet ihr über euch hinauswachsen. Ihr werdet neue Perspektiven kennenlernen und vor allem werdet ihr sehr viel Zeit auf euren Hinterteilen am Schreibtisch verbringen. Mehr als euch aktuell bewusst ist.« 

In den Ferien habe ich schon einmal die Bücher durchforstet, die für dieses Schuljahr wichtig werden. Da wir auf eine normale Realschule gehen, haben wir in der neunten Klasse bereits den kompletten Stoff für die Abschlussprüfung durchgenommen. Eigentlich geht es jetzt nur noch um Wiederholung, Lernen und schließlich darum, die Examen zu überstehen.

Ich atme tief durch und höre Frau Roth weiter zu: »Jetzt aber erst einmal der Stundenplan für dieses Jahr. Außerdem gibt es noch einige organisatorische Themen zu besprechen. Die Mittagsschule entfällt heute für euch aufgrund einer Konferenz.«

Es traut sich niemand zu jubeln, außer Emil. Er ist unser Klassenclown, hat immer ein lockeres Lächeln auf den Lippen und einen guten Spruch auf Lager. Seine Eltern sind Landwirte und an seinen Oberarmen kann man erkennen, dass er viel mit anpacken muss.

»Dann kann heute ja die erste Party steigen«, freut er sich.

Ich verkneife mir ein Schmunzeln, als sich Frau Roths Lippen kräuseln. Tja, so viel zu harter Arbeit. Aber wir sind Teenager, wir wollen verdammt noch mal etwas erleben.

Du nicht. Saskia. Immer da, wenn ich sie nicht brauche. 

Das Klingeln zur ersten großen Pause im Schuljahr hat immer etwas Magisches an sich. Ein Jubeln geht durch die Klasse und ich erhebe mich. Schnell fotografiere ich den Stundenplan ab und sende ihn in unsere Familiengruppe. Sie besteht aus Mama, Papa und mir. Mehr als uns drei gibt es nicht und das ist auch gut so. Mama ist Krankenschwester und arbeitet in Schichten. Sie ist auf der Kinderstation zuständig und liebt ihre Arbeit. Papa ist oft auf Geschäftsreise, weil er als Ingenieur viel mit Partnern im Ausland zu tun hat. Trotzdem habe ich großes Glück, denn ich werde von beiden geliebt und habe ein super Verhältnis zu ihnen. Bis auf die Tatsache, dass sie deine Depression und deine Traurigkeit nicht sehen. Ohne sie wäre ich nicht hier, flüstert mir Saskia ins Ohr. Ich schlucke die aufkommenden Tränen herunter.

»Isa, kommst du mit raus? Der Kiosk hat heute Bockwurst zum Sonderpreis.« Layla, das Mädchen in unserer Gruppe, das essen kann wie ein Scheunendrescher, ohne dabei ein Gramm zuzunehmen. »Ich komme gleich hinterher, ja?«, entgegne ich. Sie nickt und zieht die Augenbrauen kurz hoch, bevor sie kehrtmacht und rausläuft. Merkt sie, dass sich langsam, aber sicher meine Depression auch auf meine Freundschaften auswirkt? Ich kehre in mich: Beherrsche ich meine Rolle im Theaterstück meines Lebens nicht mehr gut genug? Als ich die Glastür ansehe, erblicke ich das Spiegelbild eines jungen Mädchens. Meine rotblonden Haare gehen mir bis über die Schultern, ich habe immer leichte Wellen. Beides habe ich von meinem Papa, sowohl die Farbe als auch die Struktur. Ich wurde oft genug als Weasleytochter bezeichnet, aber es gibt wohl schlimmere Beleidigungen. Immerhin zeichnen sich die Mitglieder der Familie Weasley aus Harry Potter durch Loyalität, Mut und Aufopferung für die Menschen, die sie lieben, aus. Und sie sind sehr schlau, auch wenn sie ein bisschen tollpatschig sind. 

Die dunkelgrünen Augen habe ich von meiner Mutter, genau wie die Stupsnase und die Sommersprossen. Ich trage heute ein Sommerkleid mit einer dickeren Strumpfhose. Der Herbst kommt langsam und da ich kein Fan von Hosen bin, trage ich dann meist einfach etwas Dickeres darunter.

»Kommst du jetzt?«, ruft mir Leon zu und ich nicke. Dann laufe ich hinaus in Richtung Kiosk. Der Pausenhof ist gut gefüllt und ich merke, wie mein Herzschlag sich fast augenblicklich beschleunigt. Die vielen verschiedenen Menschen mag Saskia ganz und gar nicht. Ich versuche die aufkommende Panik, die sich wie ein Nebelschleier um mich aufbauen will, wegzuatmen. Das habe ich online gelesen und es funktioniert ganz gut. Glück gehabt, ich sehe wieder klarer und laufe auf meine Freunde zu. Layla hat zwei Würstchen in der Semmel in der Hand und streckt mir eine entgegen.

»Auf unsere erste Bockwurst im Schuljahr. Im letzten Jahr.« Und dann stoßen wir mit unseren Brötchen an und für einen Moment fühle ich Normalität in mir und das Gefühl ist unbeschreiblich gut. Als ich in die Wurst beiße und in die Runde blicke, fällt mir auf, wie sehr wir uns in den letzten Jahren verändert haben. Nicht unbedingt nur äußerlich, auch wenn Layla ihre beeindruckenden schwarzen Locken mittlerweile häufiger ungeglättet trägt, obwohl sie das früher immer vermieden hat, auch sonst sind wir irgendwie reifer geworden.

Ein kurzes Schmunzeln huscht über meine Lippen, als Leon versucht zu essen, ohne sich dabei zu besudeln. »Das war noch nie deine Stärke, hm?«, stichelt Markus. Leon war schon immer derjenige von uns, der es geschafft hat, sich bei jedem Essen zu bekleckern.

»Was haltet ihr denn davon, wenn wir diese Woche noch mal an den See fahren, bevor der Herbst kommt?« Der Vorschlag kommt von Markus. Ich bin mir sicher, dass im Duden neben Wasserratte ein Bild von ihm zu finden ist. Er ist im Schwimmteam der Schule, zu Hause hat seine Familie einen Pool, und dass ihm nicht schon Flossen gewachsen sind, grenzt an ein Wunder.

»Es ist viel zu kalt dafür«, bibbert Layla, die sogleich einen Schmollmund als Antwort von Markus bekommt. Sie ist immer die Erste aus unserer Gruppe, die die Winterjacke herausholt, sobald es auch nur zwanzig Grad hat. Bettina hakt sich bei ihr unter.

»Der spinnt wohl, unsere Marielle. Bei einem beheizten Schwimmbad könnten wir uns noch mal darüber unterhalten.« Ich liebe das Wortspiel aus Arielle und Markus, außerdem weiß ich genau, dass Layla um diese Jahreszeit im Schwimmbad erfrieren würde, schließlich hasst sie die Kälte mehr als jeder andere.

Die beiden gehen ein Stück und ich spüre den Stich in meinem Herzen, denn ich habe immer mehr das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. In den letzten Jahren bin ich ruhiger geworden. Saskia flüstert mir ins Ohr: Du bist nicht gut genug, um in dieser Crew zu sein.

Ich zucke zusammen, auf einmal schmeckt die Bockwurst zu salzig und ich fange an zu husten, verschlucke mich.

»Alles okay, Isa?«, hakt Bettina nach und ich winke nur ab.

Klar, außer dass ich krank bin.

Der Unterricht vergeht wie im Flug. Wir behalten die Bücher, die wir bereits vor den Sommerferien erhalten haben. Hinzu kommt nur noch Prüfungslektüre, diverse Lernhefte und als der Gong ertönt und uns in den Feierabend schickt, fühle ich, wie Erleichterung durch meine Adern strömt. Der erste Tag ist überstanden und da die Lehrer sich voll und ganz auf unsere Noten konzentrieren, wird die ewige Fragerei um unsere Zukunft wohl aufhören. Das Karussell in meinem Kopf darf kurz stehen bleiben, sodass ich die Aussicht genießen kann. Ich stelle mir vor, wie ich den Blick über Erfurt werfe. Vielleicht kann ich mir auch noch eine Zuckerwatte holen auf der Kirmes, die sich vor meinem inneren Auge abspielt.

»Isa? Geht es dir gut?« Frau Lehmann, unsere Biolehrerin, steht vor mir und ich verwerfe den Gedanken an den Geschmack von Zucker auf meiner Zunge. Sie muss gerade vorbeigekommen sein, denn Biologie stand heute noch nicht auf dem Plan. In den sechs Ferienwochen scheint sie sich kaum verändert zu haben. Ihren blonden Bob durchziehen dunkelbraune Strähnen und ihre schwarze Brille sitzt wie eh und je auf der Nase.

»Klar, ich räume noch kurz zusammen.«

»Das hast du doch schon.« An ihrem Lachen höre ich, dass sie unsicher ist. Sie weiß gerade nicht, was mit mir los ist, und ich wünschte, ich könnte ihr die Wahrheit sagen. Als ich auf den Schreibtisch vor mir schaue, liegt da nichts mehr. Ich scheine alles aufgeräumt zu haben, als ich auf meiner Gedankenkirmes war.

Wenn du so weitermachst, kommen wir nicht mal bis in die Herbstferien. Sie werden dich wegsperren. Saskias Stimme klingt bedrohlich und ich spüre augenblicklich, wie meine Finger anfangen zu zittern, meine Hände einen leichten Schweißfilm bilden und ich sie lieber zu Fäusten balle.

»Ist alles okay? Du bist ganz blass.« Frau Lehmann legt mir ihre Hand auf den Unterarm und ich zucke zusammen. Bevor Saskia zu mir kam und die Probleme zu groß wurden, um damit Lehrkräfte zu belästigen, habe ich mich Frau Lehmann anvertraut. Ich kann nicht glauben, dass ich nicht den Mut habe, um ihr die Wahrheit zu sagen. Was würde ich dafür tun, jetzt einfach den Mund aufzumachen? Stattdessen lüge ich, denn das kann ich am besten.

»Der erste Tag war sehr anstrengend. Ich gehe lieber nach Hause, mich eine Runde hinlegen.«

»Isa – warte. Willst du mit mir über irgendetwas sprechen?«

Alle Alarmglocken in mir fangen an zu schrillen und Saskia schreit ununterbrochen in meinem Inneren.

»Nein danke, alles in Ordnung. Einen schönen Tag für Sie.« Damit reiße ich meinen Rucksack von dem leeren Platz neben mir und springe auf. Ich verlasse so schnell den Klassenraum, dass es fast an eine Flucht erinnern könnte. Flucht vor mir selbst. 

»Saskia wird immer besitzergreifender. Der erste Schultag war die Hölle. Sie macht mich wahnsinnig und ich weiß nicht mehr, wie lange ich sie noch verheimlichen kann. Frau Lehmann scheint stutzig zu werden. Wenn meine Klassenkameraden von Saskia erfahren, brandmarken sie mich. Dann bin ich in dieser Schublade gefangen und komme nie wieder raus, niemand wird mehr Isa sehen. Alle werden die Kranke sehen, die von ihren eigenen Dämonen gefressen wird. Wie lange kann ich Saskia noch ohne professionelle Hilfe ertragen? Wie lange wird das noch gut gehen? Ich bin verzweifelt. Wie soll ich mich auf das neue Schuljahr konzentrieren, wenn meine Gedanken doch in einem Autoscooter sitzen und die ganze Zeit woanders andocken? Verdammt. Ich kann diese Zeilen niemals jemandem zeigen, aber manchmal wünsche ich mir nur eines: Hilfe, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Ich wünsche mir Anonymität und eine helfende Hand, die mich nicht von der Klippe schubst, über der ich hänge. Einen Rettungsanker auf hoher See. Doch je länger ich diese Zeilen tippe, desto mehr wird klar, wie ausweglos meine Situation ist. Saskia schreit immer lauter, meine Finger zittern und sie möchte, dass ich aufhöre, über sie zu schreiben. Wie lange wird es noch dauern, bis sie mich eingenommen hat? Wie lange bin ich noch Isa? Ich habe Angst, so fürchterliche Panik vor der Zukunft. Saskia tut weh. Sie tut mir so weh, der Schmerz sammelt sich. Ich muss weg.« 

Meine krampfenden Finger lassen den Stift ins Tagebuch fallen und die Tinte verteilt sich auf dem Papier. Die Tränen kullern meine Wangen herab, nein, sie strömen eher hinunter und ich schlinge die Arme um mich. Ich wiege mich hin und her und versuche, mich mit meiner eigenen Umarmung zu trösten, eine Schutzmauer zu bauen, die sowieso wieder eingerissen wird. Manchmal denke ich, Saskia würde eine gute böse Hexe abgeben. Immerhin macht sie jeden Tag mein Leben schwieriger.

»Isabell? Das Essen ist fertig.« Ich höre den Ruf meiner Mutter, doch kann nicht antworten. Die Schluchzer umschlingen meine Stimmbänder und machen ein zitterfreies Sprechen unmöglich. Zum Glück habe ich ein eigenes Badezimmer und kann kurz darin verschwinden, um mir das Gesicht zu waschen und durchzuatmen. Ich blicke mich im Spiegel an. Die verquollenen roten Augen, die Schatten darunter und die bebende Unterlippe.

Du bist nicht mehr als ein Häufchen Elend. Saskia spinnt meine Gedanken in ihrem Rad und verwebt mich in ihren Stoff. Sie hat recht. Ich bin ein Niemand. Ich bin zu schwach, um ihr zu trotzen. Zu kaputt, um weiterzukämpfen. Die Angst davor, in einem aussichtslosen Kampf gegen sie zu verlieren, ist größer als der Mut, es zu versuchen. 

»Isabell?« Die Stimme meiner Mutter klingt nah, ich habe kaum noch Zeit. Schnell spritze ich mir Wasser ins Gesicht, fahre mit den Fingern durch meine Haare, wobei sie noch chaotischer werden, und gehe dann durch mein Zimmer in den Flur. Dort laufe ich auch direkt Mama in die Arme. »Alles okay, mein Schatz? Hast du mich nicht gehört?« 

Ich war verloren in meiner eigenen Gedankenwelt, Mama. Deshalb konnte ich mich nicht melden, weil meine Stimme versagt hat.

»Ich war kurz eingenickt. Der erste Tag war anstrengend.« Ich küsse ihre Wange, weil wir uns heute noch nicht gesehen haben, und wünsche mir nur eines: irgendwann die Worte auszusprechen, die ich denke, und nicht die, die gehört werden wollen.

»Ich habe Szegediner Gulasch gekocht, danach geht’s dir gleich besser.«

Wohl kaum, denke ich mit einem hoffentlich überzeugenden Lächeln und folge ihr nach unten. 

3 – Guter Tag, für einen guten Tag 

ALS DER WECKER KLINGELT, liege ich bereits seit zehn Minuten wach. Ich strecke mich, blicke kurz auf mein Smartphone und schreibe einen schnellen Guten-Morgen-Gruß in den Gruppenchat der Hummelcrew. Als ich mich aufsetze und in meine Hausschuhe schlüpfe, fühle ich mich wirklich erholt. Die Nacht war gut und als ich mich im Badezimmer vor dem Spiegel betrachte, habe ich das Gefühl: Heute wird ein guter Tag. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich gehe kurz auf die Toilette, wasche mein Gesicht, putze meine Zähne und bin dann im Bad auch schon fertig. Ich bin kein großer Freund vom Schminken, auch wenn alle in der Clique derzeit vernarrt in Beautyvideos sind. Ich kann bei dem Thema einfach nicht mitreden und das ist in Ordnung. Man muss nicht auf jeden Zug aufspringen oder so ähnlich. Ich schlüpfe in eine schwarze Jeans und ziehe ein grünes Shirt an, darüber streife ich meinen Oversize Hoodie. Heute steht mir der Sinn nicht nach einem Kleid. Auch wenn ich hoffe, es heute nicht zu brauchen, verstaue ich schnell noch mein Tagebuch im Schulrucksack. Es beunruhigt mich, wenn ich es nicht dabeihabe. Wenn meine Gedanken zu laut werden, dann muss ich sie niederschreiben, ansonsten platzt mein Kopf. Oder es fühlt sich zumindest so an. Ich stecke mir die AirPods in die Ohren. Mein Vater kommt erst Ende der Woche von seiner Geschäftsreise zurück und Mama ist schon im Krankenhaus. Demnach habe ich heute Morgen – wie so häufig – meine Ruhe. Als ich aus dem Haus gehe, ist die Sonne gerade am Aufgehen. Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass wir bereits 6:45 Uhr haben. Ich genieße es, mich früher auf den Weg zu machen, um noch Zeit zu haben, bevor der Unterricht losgeht. Schnell schwinge ich mich auf mein Rad, mache die Musik leise an und radle durch die Straßen Erfurts zur Schule. 

Ich mag Fahrradfahren, die frische Luft lässt einen wach werden. Gäbe es nicht die Autofahrer, die einem das Leben schwer machen, wäre es ein entspannter Sport. Ich könnte auch bald mit meinem Mofaführerschein beginnen, aber irgendwie bin ich noch unsicher. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich noch eine Prüfung schaffe. Schnell verwerfe ich den Gedanken, da ich in meinen Kopfhörern mein Handy klingeln höre. Es ist Layla. Per Sprachbefehl gehe ich ran.

»Hey Layla, alles klar?«, begrüße ich sie und versuche, dabei nicht ganz außer Atem zu klingen. Meine Kondition ist in den Sommerferien nicht gerade zur Bestform aufgelaufen. Ich war noch nie sonderlich sportlich, aber seit ich Saskia zu Besuch habe, ist es mir meist einfach nicht möglich, Sport zu machen.

»Morgen. Ja, alles gut so weit«, begrüßt mich Layla. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich an den Fahrradständern warte. Ich war vor dir dran.« »Cool, danke. Dann bis gleich!«

Sie legt auf und ich genieße die Klänge der Popmusik in meinen Ohren. Es sind nur noch rund fünf Minuten, bis ich in der Schule ankomme. Layla und ich warten meistens aufeinander und diese Routine tut mir gut. Es ist alles beim Alten. Wir sind immer noch wir und das ist wichtig, immerhin haben wir nicht einmal mehr zwölf Monate gemeinsam, bevor jeder in seine eigene Zukunft aufbricht. Wie Schmetterlinge, die in unterschiedliche Richtungen schwärmen und in den verschiedensten Farben leuchten. Der Gedanke an die kleinen Insekten sorgt dafür, dass sich meine Mundwinkel nach oben ziehen. Langsam kommt auch die Sonne heraus und ich kann den Sonnenaufgang fast erahnen, als ich mein Rad abstelle und mich für einen neuen Schultag wappne. Der erste richtige im Abschlussjahrgang. Unbegreiflich. Layla steht schon an den Fahrradständern und hebt die Hand zur Begrüßung. Es ist toll, wenn jemand auf einen wartet.

Zusammen gehen wir rein. Es sind noch fünfzehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn und die Hummelgruppe sitzt bereits gemeinsam im Klassenraum. Wir setzen uns dazu und ich genieße jeden Moment davon.

»Markus, wie läuft’s eigentlich mit Maya? Du hast gestern gar nichts erzählt.« Leon klopft ihm auf die Schulter, um seine Worte zu unterstreichen. Ich versuche, mich an eine Maya zu erinnern, doch ich habe keine Ahnung, von wem sie sprechen. Anscheinend ist es auch nicht wichtig, denn Markus winkt nur ab.

»Vergiss es. Schnee von gestern. In den Ferien ist eher was anderes passiert.« Sein Blick gleitet kurz zu Layla und ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Habe ich etwas verpasst? »Also ich meine, es war viel los. Waren ja auch am Bodensee und nicht viel zu Hause und so.«

Er spricht schnell, Nervosität durchtränkt seine Worte und die roten Ohren sprechen ihre eigene Sprache. Läuft da etwa wirklich etwas zwischen den beiden? Es wäre das erste Mal seit meinem kleinen Abstecher vor zwei Jahren mit Leon, dass es innerhalb unserer Clique eine Liebesbeziehung gibt. Was nicht verwunderlich wäre, immerhin verbringen wir alle viel Zeit miteinander. Unsere Biologielehrerin unterbricht mein Gedankenkarussell, als ich gerade nachhaken will. Das muss ich unbedingt auf dem Schirm behalten. 

»Guten Morgen, liebe 10 a. Das letzte Jahr, wie aufregend. Ich werde euch alle vermissen«, begrüßt Frau Lehmann die Klasse und ich denke kurz an gestern, als sie mich nach der Schule angesprochen hat. Frau Lehmann ist für mich wie eine Mama, auch wenn ich mich bisher nicht getraut habe, mit ihr über Saskia zu sprechen. Es gibt niemanden in der Klasse, der sie nicht leiden kann. Auch wenn ich mit Biologie nicht wirklich viel anfangen kann, schafft sie es immer, mein Interesse für ihren Unterricht zu wecken.

»Wir Sie auch, Frau Lehmann.« Diese Worte kommen aus den verschiedensten Ecken und auch ich flüstere sie.

»Bevor wir uns gleich über eure Prüfungen unterhalten, muss ich euch noch was erzählen.« Ich lausche gespannt und setze mich aufrechter hin. Es wird sich etwas ändern, das spüre ich, als sie die Hand auf ihren Bauch legt. »Ich werde euch leider nur bis zum Halbjahr begleiten können.« Das Strahlen in ihren Augen und die Geste sagen mehr als tausend Worte. Ich würde mich gern für sie freuen, doch der einzige Gedanke in meinem Kopf ist: Sie wird nicht einmal mehr sechs Monate hier sein. Und ich werde nie genug Mut haben, um mit ihr über alles zu sprechen. Ich verdränge es und tue so, als würde ich mich für sie freuen. Die Klasse applaudiert und ich mache mit. Schauspielerei wäre eventuell ein Karriereweg, immerhin spiele ich jeden Tag die perfekte Rolle im Theaterstück meines Lebens, mal mehr und mal weniger überzeugend, doch das muss den besten Künstlern so gehen, oder? 

Ich versuche mein Inneres zu beruhigen und zu meiner eigenen Überraschung klappt es tatsächlich. »Ich werde dennoch mein Bestes geben, um zu eurer Abschlussfeier zu kommen. Ich bringe dann nur jemanden mit«, verspricht Frau Lehmann.

Die Liebe in ihren Augen ist nicht zu übersehen und wie sie dabei unwillkürlich über ihren Bauch streicht, zaubert mir dann doch ein echtes Strahlen ins Gesicht.

Die Schulstunden heute waren noch einmal mit vielen organisatorischen Dinge gefüllt und ich habe so viel mitgeschrieben, dass ich gar nicht wirklich einschätzen kann, was alles auf mich zukommen wird.

»Wir gehen später die Schulsachen kaufen und danach noch ein Eis essen. Die Eisdiele hat nur noch diese Woche offen. Um zwei im Anger1?« Layla blickt mich lächelnd an und ich nicke, recke beide Daumen nach oben.

»Bis später, Leute«, sage ich.

Wir verabschieden uns und ich radle nach Hause, um noch kurz eine Kleinigkeit zu essen und die Liste mit den Einkäufen fertigzumachen. Das anschließende Treffen mit meinen Freunden wird sicher toll. Zu Hause wartet im Kühlschrank eine Portion Gulasch auf mich, die ich mir in der Mikrowelle erwärme. Auf dem Esstisch liegt ein Umschlag mit meinem Namen darauf und als ich reinschaue, entdecke ich Geldscheine, die wohl für die neuen Schulsachen gedacht sind.

Ich fahre mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Das Anger1 ist direkt in der Stadtmitte und mit dem Fahrrad wäre es zu weit, immerhin wohne ich am Stadtrand von Erfurt. Mit der Bahn benötige ich 30 Minuten. Während der Fahrt lausche ich der Musik und schreibe kurz in die Familiengruppe: »Danke für den Umschlag. Ich geh mit Layla, Markus, Bettina und Leon ins Angerl und besorge die Schulsachen. Wollen dann noch ein Eis essen. Hab euch lieb.«

Ich setze noch einen Bussi-Emoji hinterher und wechsele dann in den Gruppenchat der Clique: »Bin in 15 Minuten da. Die Bahn hatte Verspätung.«

Der kotzende Smiley passt echt perfekt. Die Sonne steht am Himmel und wir haben noch einen tollen Herbsttag erwischt, um die Läden unsicher zu machen. Außerdem freue ich mich auf einen riesigen Eisbecher. Heute komme ich aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus. Mit meinem Fuß wippe ich passend zum Beat der Musik, die Bahn ist nicht sonderlich voll. Außer mir sitzen noch drei andere Menschen im ganzen Abteil. Ein älterer Herr, eine Mutter mit einem Kinderwagen und ein Mädchen, das wohl in meinem Alter sein wird.

Von der Haltestelle Anger bis zum Einkaufszentrum Angerl sind, es genau wie der Name vermuten lässt, nur wenige Meter. Die Innenstadt ist gefüllt und ich hoffe, Saskia hält sich zurück. Wir mögen keine Menschenmengen, doch was genau habe ich am zweiten Schultag erwartet?

Ich erinnere mich noch genau daran, wie aufregend es immer war, mit meinen Eltern loszuziehen und mir die Schulordner aussuchen zu dürfen. Vor dem Haupteingang stehen schon Markus und Layla und ich schließe beide in eine kurze Umarmung, um sie zu begrüßen.

»Na ihr beiden? Wartet ihr schon lange?« Sie blicken sich gegenseitig an, bevor sie antworten. Schon wieder habe ich das Gefühl, dass hier irgendwas im Busch ist.

»Ne, sind gerade erst angekommen«, meint Layla kichernd und ihre Wangen färben sich rot. Heute ist ein guter Tag. Ich sage kein Wort dazu, dass ich die Vermutung habe, belogen zu werden. Trotzdem bildet sich in meinem Inneren Lava und Saskia zieht sich gerade ihre Boxhandschuhe über, bereit zum K.-o.-Sieg. Ich schlucke die Wut hinunter und werde zum Glück abgelenkt, als sich zwei Hände auf meine Augen legen.

»Leon«, entweicht es mir lachend und er zieht mich in eine feste Umarmung. Sein Parfüm erkenne ich immer noch, immerhin trägt er dasselbe seit ungefähr fünf Jahren und ich genieße es, kurz in seinen Armen zu liegen.

»Bettina muss auf ihre Schwester aufpassen, deshalb ist sie zu Hause geblieben und geht heute Abend gemeinsam mit ihren Eltern los, um sich ihre Schulsachen zu besorgen«, erklärt er uns.

Wann ist es passiert, dass die anderen auch abseits unserer gemeinsamen Treffen Kontakt zu einander haben und ich danebenstehe und alles nur am Rand mitbekomme? Ich habe das Gefühl, als würde sich das Leben aller anderen weiterdrehen und ich bin ein Zuschauer und stehe am Rand. Alle entwickeln sich weiter, nur ich bleibe stehen mit Saskia an meiner Seite, unfähig, mich zu bewegen. Klar, ich habe mich in den letzten zwei Jahren zurückgezogen und natürlich ahnt niemand, dass Saskia, meine Depression, daran schuld ist. Dennoch fühle ich mich von Einsamkeit ummantelt und ziehe instinktiv die Arme an meinen Körper, weil mich ein inneres Frösteln überfährt.