Die Fliederlaube - Heike Hagenmaier - E-Book

Die Fliederlaube E-Book

Heike Hagenmaier

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Beschreibung

Die Fliederlaube - wird zum Treffpunkt der Hoffnung. Jahr für Jahr warten alle in der alten Fliederlaube auf den Frieden. Kriegskind, gestern und heute, es gibt wenig Unterschiede. Jeder erlebt und verarbeitet in diesen Geschichten den eigenen Verlust. Jungen und Mädchen erinnern sich an vertraute Orte, Situationen und Menschen. Sie teilen Beobachtungen und Gefühle mit, schildern wie sie schließlich zu wahren Überlebenskünstlern werden. Sie finden auch manches spannend und ganz einfach nur zum Kaputtlachen. Aber die immer wieder gestellte Frage bleibt unbeantwortet: Warum gibt es denn überhaupt Krieg? Peter Glaser Dieses Buch gefährdet die Bequemlichkeit. Eigentlich müsste man das Büchlein "Die Fliederlaube" auf einem harten Holzstuhl lesen, oder zumindest in einer anderen eher provisorischen Körperhaltung. Das Sofa eignet sich eher nicht. Warum? Weil es eine innere Wachsamkeit braucht, um diese Geschichten nicht nur als "nette Geschichten" zu lesen und sie dabei zu belassen. Und überhaupt: "Wir sollten Kindern besser zuhören, nicht nur in der Heiligen Nacht. Sie können uns viel bessere Geschichten erzählen, als sie in den klügsten Büchern zu lesen sind." (S. 98) Wozu werden denn Geschichten erzählt? Um verstehen zu lernen? Um zu verändern? Um sich zu freuen? Ja, das alles stimmt für das Buch. Man kann verstehen lernen, warum es wichtig ist, sich für den Frieden einzusetzen. Man spürt bei jeder Geschichte, warum es unbedingt nötig ist, alles nur Mögliche zu tun, um Frieden zu ermöglichen. Nicht nur in der Welt draußen, sondern auch in mir. Und weil ich in der glücklichen Situation bin, dass in dem Land, in dem ich wohnen darf, seit langem kein Krieg war, darf mich über alles freuen, was ich als "normal" empfinde. Das scheint mir auch ein Schlüsselwort für das Buch. "Normal" ist im Krieg auch, nur eben anders. Genauso wie Alltag. Den gibt es im Krieg auch. Daraus lassen sich keine Filme machen, aber es lassen sich Geschichten darüber erzählen. Und Krieg ist in jedem Land genauso schlimm für die Menschen, die ihn erleben. Für die so genannte Zivilbevölkerung genauso wie für die Soldaten. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen, die in den Ausschüssen für Verteidigung und Entwicklungshilfe vor jeder Sitzung eine solche Geschichte hören, damit sie nicht über Zahlen entscheiden und Statistiken, sondern damit sie Bilder vor Augen haben, von Menschen, die sich Frieden wünschen, ersehnen, brauchen. Danke, für dieses Buch!

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Zum Frieden braucht es doch nur menschliche Würde und gegenseitige Achtung, so wie es in meiner Heimat vor dem Krieg war!

Das sagte ein Mädchen aus Bosnien

Liebe Leserin!

Lieber Leser!

Als „Kriegskind“ hielt ich es für möglich, dass der Krieg eines Tages nur noch ein Wort in Erinnerung des Menschen fortleben würde. Das war eine illusionäre oder kindliche Vorstellung.

Resignation, Trauer oder gar Wut sind neue Empfindungen. Aber auch sie werden nicht helfen, Krisen und Kriege auf unserer Erde zu verhindern. Kinder und Jugendliche erleben den Verlust von vertrauten Menschen und häuslicher Geborgenheit intensiver als Erwachsene es tun. Sie schauen aber trotzdem voll Vertrauen auf uns und in eine friedvolle Zukunft.

Die Hoffnung, dass wir es doch schaffen könnten, wenn wir uns nur rechtzeitig erinnern, die haben mir Kinder und Jugendliche aus Kriegsund Krisengebieten zurückgegeben. Deshalb habe ich ihre und meine Kinder-im-Krieg-Geschichten aufgeschrieben.

Ihre

Heike Hagenmaier

Inhalt

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CHATTEN

EINE SCHWALBE

MACHT NOCH KEINEN SOMMER

Wenn es wieder Mai wird, erinnere ich mich an warme Frühlingstage, an heitere Pfingstfeste in Urgroßmutters Fliederlaube.

Ich schließe die Augen und rieche diesen geheimnisvollen Fliederduft. Urgroßmutters Bild erscheint vor mir, wie sie den über uns kreisenden Störchen zuschaut, die zurückkehrenden Schwalben begrüßt, immer auf den Frieden wartet. Alle redeten nur noch vom Frieden und wie alles gewesen war, früher. Früher, da war ich noch gar nicht geboren. Aber diese Fliederlaube hatte es lange vor mir und auch vor Urgroßmutters Geburt gegeben. Sie erzählte von Friedenszeiten.

Wenn wir wieder Frieden haben, dann werden wir auch alles andere haben - so begann jede Unterhaltung in der Fliederlaube. Wir können uns satt essen, Pfingsten wird es Spargel, frische Kartoffeln und Schinken geben, sagten sie und jeder zählte noch mehr und immer wieder neue Speisen auf.

Der Friede erschien mir wie ein Fest oder ein einziger Festschmaus zu sein, mit Gaumengenüssen, die ich noch gar nicht kennen lernen konnte. Oder war der Frieden wie ein Zugvogel, der kommt und auch immer wieder wegfliegt?

Jetzt war es längst Frühling, aber der Zugvogel Friede war immer noch nicht heimgekehrt. Es gab nicht mehr viel zu essen und Kleidung auch nicht. Im Winter hatte mir die nette Frau aus den Säcken mit den Kleiderspenden sogar echte Ledersandalen herausgesucht. Sie waren viel zu groß, aber da hatte sie zu meiner Mutter gesagt: „Weil wir überhaupt keine Kinderschuhe haben, kann die Kleine diese Sandalen mitnehmen. Ein bisschen zu reichlich, aber das ist ganz vorteilhaft!“ Mutter hatte genickt und gemeint: „Dann kann sie die Sandalen sogar auch noch im nächsten Sommer tragen!“

„Na, das will ich nicht sagen. Die Kinder wachsen in diesem Alter ja schnell!“ Sie hatte mir diese viel zu großen Dinger angezogen, mit dem Kopf gewackelt und dann schließlich zu mir gesagt: „So, meine Lütte. Jetzt müssen wir ‘mal ganz genau gucken, ob wir wenigstens passende Söckchen für dich finden.“

Die Söckchen waren viel zu klein, aber ich hatte schnell die Zehen eingezogen. Als wir uns bedankten, hatte sie gemeint: „Ein bisschen knapp sind die ja, aber es wird sicher bald Frühling. Dann musst du gleich deine neuen Söckchen und die Sandalen anziehen!“

Jetzt war doch Frühling! Urgroßmutter hatte auch schon wieder Geburtstag gehabt. Alle hatten wochenlang nur noch vom 7. Mai 1945 geredet. Das war gestern gewesen, und die vielen Gäste waren schon wieder weggefahren.

Gestern und heute! Ich saß mit schlechter Laune auf den Stufen einer mit Brettern vernagelten Ladentür. Eine hübsche Kaffeekanne lachte mich an, und ich steckte ihr die Zunge heraus. Es gab ja gar keinen Kaffee zu kaufen, nicht einmal auf Urgroßmutters Geburtstag hatte es ganz richtigen Bohnenkaffee gegeben. „Nur Muckefuck, die echten Bohnen denken wir dazu!“ hatte Oma gescherzt. Aber ich durfte meine neuen Söckchen natürlich nicht anziehen! Kniestrümpfe und meine schönen braunen Ledersandalen konnte ich nun tragen.

Heute hatte meine Mutter schon wieder mit bedeutungsvollem Blick gesagt: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!“ Ich schaute auf die Schwalben, die vom Hafen her durch die Deichstraße flogen und alles zu begrüßen schienen. Ich überlegte, wo sie wohl so lange gewesen waren, und was Mutter damit gemeint hatte. „Wenn die Schwalben wiederkommen, dann kommt auch der Frieden zurück!“ Das hatte Urgroßmutter doch zu den Gästen gesagt, und dann hatten alle gemeint: „Dieser verdammte Krieg muß doch endlich ‘mal zu Ende gehen!“ Wie immer hatte Urgroßmutter darauf geantwortet: „Langsam mag ich auch nicht mehr, einhundertundfünf lange Jahre, so viele Kriege, so viele Tote...“

Mutter war hübsch angezogen gewesen und hatte ganz laut zu Tante Liese gesagt: „So einen hohen Geburtstag feiern wir sicher nicht zweimal in unserer Familie!“ Damit war für alle das Thema Krieg erledigt gewesen. Aber zu mir sagte meine Mutter nur ungeduldig: „Nun hör’ endlich mit dem Betteln auf. Söckchen ziehst du noch nicht an. Meinetwegen die Sandalen, wenn du denn unbedingt gleich wieder krank werden willst.“

Bei diesem Gedanken wurde mir immer noch ganz unheimlich zu Mute. Denn Urgroßmutter, Oma. Tante Liese, Mutter und auch ich, alle waren sehr krank gewesen. Die Gäste hatten auf Urgroßmutters Geburtstag immer wieder von einem Wunder gesprochen, und dass die alte Frau und die lütje Deern, damit war ich gemeint, nicht an der Ruhr gestorben waren. Es hatte viele Tote gegeben, auch bei uns in der kleinen Stadt an der Elbmündung. Nein, noch einmal wollte ich nicht so krank werden. Ich schaute auf die Schwalben, die ganz tief über den Marktplatz flogen. Sie kamen fast bis vor meine Beine, drehten dann aber ab. Ich lauschte, sah nachdenklich auf meine alten Kniestrümpfe und die neuen Sandalen. Ich streifte sorgfältig mit dem Zeigefinger den Staub von den Lederriemchen ab, und mit ein wenig Spucke polierte ich nach.

Plötzlich brauste etwas herab, wie lautes Schwirren von großen Vogelschwingen kam es von unserem Kirchturm herunter. Ich hatte Angst, ich duckte mich. Dann rannte ich über den Marktplatz hinweg und gleich in die Flethstraße hinein! Ich kam außer Atem vor meinem Großelterhaus an. „Jetzt ist Frieden“ sagte meine Oma. Aber Opa schüttelte den Kopf, er wollte es nicht glauben. Der Krieg sollte tatsächlich zu Ende sein?

Er schaltete den Volksempfänger ein und murmelte nach einer Weile: „Nur Waffenstillstand oder Kapitulation...“ Meine Oma schüttelte den Kopf und betonte jedes einzelne Wort: „Endlich Frieden, und du hast gerade die Friedensglocken gehört!“

DRUCKEREI AUGUSTIN

Paulus saß steif auf dem alten Stuhl in Onkel Johannes Werkstatt. Er dachte darüber nach, was er in der Druckerei Augustin heute Mittag gehört und gesehen hatte. Er schloss die Augen und sah wieder, wie sich die Druckmaschinen geheimnisvoll bewegten und noch viel geheimnisvollere Schriftzeichen aufs Papier druckten.

„Das ist chinesisch!“ hatte der Mann ihm erklärt und ihn vielsagend dabei angeschaut. „Kannst du das lesen?“ Paulus runzelte bei dieser Erinnerung die Stirn. Er hatte den Drucker höflich angelächelt, war aber schnell weggegangen. Als er sich an der Ecke noch einmal umdrehen wollte, ja, da wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen..

„Verpiss dich, Schlitzauge!“ hatte der Mann ihn angeschnauzt und ihn gegen die Schaufensterscheibe geworfen. Paulus hielt bei diesem Gedanken die Luft an. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn die alte Frau Schult nicht gerufen hätte: „Sie Rassist, Sie! Lassen Sie sofort den Jungen in Ruhe!“ Sie kam aus ihrem Gemüseladen gerannt, und alle Kunde waren gleichzeitig bei ihm gewesen.

Er hatte eine Tafel Schokolade von Frau Schult geschenkt bekommen. „Der kleine Asiate ist nämlich das Patenkind vom alten Tischler aus der Burgstraße“, hatte sie einer erstaunten Kundin erklärt. „Er hat auch keine Familie mehr und in seine Heimat kann er nicht zurück, da ist wohl immer noch Krieg. Seine Mutter ist tot...“ Aber diese Geschichte kannte er ja genau. Seine Mutter war eine von vielen Bootsflüchtlingen gewesen, die hier auf genommen worden waren. Er war noch ein Baby, als die Mutter plötzlich starb.

Paulus rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Der Hund legte die Schnauze auf seinen Schoß und sah ihn fragend an. Hier saß er nun schon seit einer Stunde. Bei Onkel Johannes fühlte er sich wohl. Mit ihm konnte er wirklich reden, ihn fragen. Aber heute wusste er einfach nicht, wie er es anfangen sollte. „Blöd!“ murmelte er, „Lassie, der ist doch echt blöd, oder? Ich red’ doch nicht Chinesisch, und der Typ hat doch selber ganz echte Schlitzaugen!“

Er streichelte zärtlich den Hund.

"Oder lange Haare, kurzer Sinn?" fragte Onkel Johannes und lachte freundlich. „Was heißt das denn?“ fragte Paulus. „Eigentlich nur ´ne Redensart, sogar ‘ne ziemlich dumme für einen alten Mann mit Vergangenheit,“ antwortete er verlegen.

„Und was heißt das?“ Paulus war wie immer wissbegierig. Seitdem er in der großen Stadt die Internatsschule besuchte, verbrachte er seine Sommerferien bei Onkel Johannes. Er wollte möglichst immer alles ganz genau wissen. Er fragte seinem alten Patenonkel beinahe Löcher in den Bauch.

Paulus beobachtete den Hund. Er hatte ein langes Fell. „Ist Lassie ein alter Mann mit Vergangenheit?“ Der alte Johannes lachte. „Du hast Ideen, Paulus! Es heißt Lassie, du lernst doch Englisch. Und sie ist erstens eine alte Dame und zweitens ein Collie oder ein schottischer Schäferhund! Das weißt du doch ganz genau!“ Er nahm ein kleines Sägeblatt aus der Schublade und hielt es prüfend gegen das Licht. Paulus schüttelte den Kopf. „Sie heißt in Wirklichkeit doch Lassie! Das hast du früher immer selber gesagt! Lass Sie, Paulus! Das hast du gerufen!“

„Stimmt, wenn du wieder so wild mit ihr herumtobtest!“ Der Tischler lächelte.

„Was ist ein Collie, ist Lassie denn gar kein echter deutscher Hund, Onkel Johannes?“ Paulus sah seinen Patenonkel aufmerksam an. Der alte Mann seufzte. „Ach, mein Junge, das ist nur ein Name für eine bestimmte Hunderasse, eine Züchtung, um ganz genau zu sein!“ Paulus rutschte wieder unruhig auf dem Stuhl hin und her. Dann nahm er sich ein Herz und fragte: „Onkel Johannes, was ist dann ein Rassist, ist das denn auch ein Name für eine Züchtung?“ Der alte Mann ließ erschrocken das Sägeblatt fallen.

„Wie kommst du denn in aller Welt darauf!“ rief er. „Ja, weil die immer Schlitzauge rufen und selber echt blöd aussehen!“ Paulus betrachtete jetzt den Hund. Johannes zog die Augenbrauen hoch. „So ist das also“, meinte er „und weiter?“

„Der bei Augustin meint, ich kann Chinesisch! Ich bin doch kein Chinese. Was für eine Rasse bin ich? Frau Schult sagt, ich bin ein Asiat, was ist das?“ „Ach, weißt du was, Paulus, ob Asiat oder Chinese, Afrikaner, Amerikaner oder Europäer, was sagt das schon?“ „Na ja, das ist doch aber zu sehen, oder?“ Paulus streichelte den Hund, „so wie bei deiner Lassie!“ Johannes überlegte lange.

„Wenn du auch kein Chinese bist“, meinte er schließlich, „sei einfach stolz, dass sie das glauben!“ „Warum denn das“, wollte Paulus fragen. Aber sein Onkel unterbrach ihn schon. „Die konnten bereits schreiben, als alle Augustins zusammen noch gar nicht hier lebten! Natürlich konnte da auch kein Augustin chinesische Bücher drucken, denn Gutenberg war noch nicht geboren! “

„Was bedeutet das, Onkel Johannes?“ fragte Paulus überrascht. Aber der Tischler sagte nur: „Kultur und Geschichte fängt immer mit dem Aufschreiben an, Paulus. Das musst du dir für immer merken, hörst du?“ Der Junge nickte. „Deutsch kannst du ja perfekt lesen“, fuhr der Patenonkel fort. „Du kannst ja mal im Lexikon nachschauen!“

Das ließ sich Paulus nicht zweimal sagen. Er rannte sofort ins Wohnzimmer und schleppte einen dicken Bücherstapel herbei. “Soll ich dir vorlesen“, fragte er etwas atemlos. „Nur zu, ich höre!“ antwortete der alte Mann.

WIEGENLIED

DER KRIEGSKINDER

Trockene Gräser wiegen im Winde

Fliehend Vögel singen dem Kinde

Endlich Frieden es doch werde

Deine Heimat, nur verbrannte Erde

Ferne Wolken ziehen im Winde

Wecken Sehnsucht in jedem Kinde

Grausam Krieg es niemals wieder werde

Gib uns Heimat auf fruchtbarer Erde

Satte Ähren seufzen im Winde

Alte Frauen summen jedem Kinde

Endlich Frieden es doch werde

Gib uns Heimat auf Gottes Erde

BEFRAGUNG

Die neusten Nachrichten über die Kriege ganz in unserer Nähe machten alle betroffen. Wie können wir friedlich Frieden machen helfen - was können wir tun? Wir wollen uns das nicht länger bieten lassen, darin waren sich schließlich alle Konfirmandinnen und Konfirmanden einig gewesen. Irgendwer muß auch bei uns im Dorf anfangen. Da waren sie schon mittendrin im friedfertigem Friedenschaffen. Sie hatten sich einen Friedensplan ausgedacht. Gleichzeitig wollten sie auch Eltern, Großeltern und Nachbarn befragen. Die Frage sollte lauten: Wie kommt es eurer Meinung nach immer wieder zu Krieg. Die Zwillinge Peter und Klaus hatten einen schriftlichen Pax-Plan entwickelt. Jeder Haushalt sollte befragt werden. Sie konnten es nach der Schule mit dem täglichen Zeitungsaustragen verbinden. Zuhause konnten sie schon anfangen. Ihre Uroma hatte zwei Weltkriege miterlebt, Großmutter berichtete von 1933 bis 45. Beim Abendbrot fragten sie den Vater nach seiner Meinung. „Mit der Befragung werdet ihr wohl wenig Glück haben“, meinte er. „Warum das?“ fragte die Uroma erstaunt. „Ganz einfach! Nachmittags ist doch niemand Zuhause!“ Oma schüttelte verständnislos den Kopf. „Wieso nicht, bei uns im Dorf ist doch fast überall jemand im Haus!“ „Niemand ist da, ihr braucht gar nicht zu klingeln!“ sagte der Vater. Peter und Klaus antworteten gleichzeitig: „Da ist immer jemand, zumindest die Oma!“ „ Ja, nur Frauen, was verstehen die denn von Politik?“

MAMA MUH

Jeden Nachmittag fuhr er mit dem Rad bis an den Stadtrand. Dort standen Kühe auf einer Weide direkt am Radweg. Auch heute kamen sie gleich gelaufen. Er hatte wie immer ein paar Scheiben Brot mitgebracht. Es sah fast so aus, als ob die Kühe schon auf ihn warteten.

Er stieg vorsichtig vom Fahrrad, er musste noch immer aufpassen, dass er nicht stürzte. Auch an seine Beinprothese musste er sich noch gewöhnen. Alles ging schon ganz gut und niemand bemerkte etwas. Dann stellte er sein Rad an den Zaun. Er bewunderte wieder den Eichenpfahl. Er strich zart über das Holz, schloß die Augen und lächelte. Da stieß eine Kuh seine Hand mit der feuchten Nase an. Er lachte und griff in seine Anoraktasche. Alle drängelten und wollten gleichzeitig von ihm gefüttert werden. Jede kam an die Reihe. Was für ein weiches Maul sie hatten, so sanft nahmen sie die kleinen Stückchen von seiner flachen Hand. Sie sahen ihn mit blanken Augen an, was für lange Wimpern sie hatten. „Mama Muh!“ flüsterte er.

Danach schob er sein Fahrrad und die Kühe kamen hinterher. Jeden Tag ging er bis zu den großen Steinen, stellte sein Fahrrad ab und kletterte vorsichtig über den Stacheldrahtzaun. Die Kühe schlugen mit ihren Schwänzen, die Fliegen blieben aber unermüdlich in ihrer Nähe.

Dann saß er auf den Steinen und schaute den Zugvögeln zu. Auch sie kamen und gingen wieder, alles hatte seine unergründliche Ordnung. Er war traurig und glücklich zugleich. Die Kühe weideten zu seinen Füßen, und er dachte an Zuhause.

STRAßE DER ANGST

Es war Sommer. Die Luft duftete nach Weintrauben, die in meiner Heimat so reichlich wachsen. Ich sah den schönen Sommertag, aber die Angst in meinem Herzen war so stark, dass ich ihn nicht fühlen konnte. Es gab nur noch einen Gedanken. Er besetzte alles: Krieg.

Unter unserem Haus verlief die Hauptstraße. Vor dem Krieg konnte man von einer Stadt zur anderen fahren oder zu den kleinen Dörfern abbiegen. Da war immer viel Verkehr, auch an Feiertagen. Wir sind gesellige Menschen, haben viele Verwandte und besuchten uns gerne gegenseitig. Aber in diesem Sommer war alles anders.

Ängstlich blieben wir zu Hause. Diese Straße, die uns alle verband, nannten wir nur noch: Straße der Angst. An diesem Tage war es besonders schlimm. Ich konnte kaum noch atmen, schaute nur auf diese Straße:

Hunderte ziehen mit traurigem Blick an unserem Haus vorüber. Sie müssen ihre Häuser verlassen, nur, weil sie keine Serben sind. Die kleinen Kinder verstehen es nicht, sie schauen verwirrt von ihren hilflosen Eltern zu den bewaffneten Soldaten. Ihr Weg führte sie an meinem Elternhaus vorbei und weiter ins Unbekannte.

Am nächsten Tag mussten wir unser Haus verlassen. Wir nahmen nur das mit, was wir am Körper tragen konnten. Jetzt gingen wir auf der Straße der Angst ins Unbekannte. Aber ein letzter Blick auf unser Haus machte mir Mut, weiterzugehen, zu überleben. Die ersten Monate waren für mich wie ein böser Traum.

Jetzt leben wir in der Fremde mit einer fremden Sprache. Aber ich hatte Glück, die Lehrer und Mitschüler haben mir dabei geholfen, mich schnell zurechtzufinden. In meinen Gedanken bin ich oft bei den Freunden, Verwandten und in der vertrauten Umgebung. Ich denke viel nach und frage: