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Sommerferien: Das berühmte Erste Mal hat nicht geklappt, sie hat einen anderen, Nusel hat die Nase voll und will einfach nur weg. Der junge Erfinder aus Dortmund bringt mittels Hightech seine Luftmatratze zum Fliegen und düst los. Aber schafft er es ohne Geld einmal um die Erde? Sieht ja zu Beginn ganz einfach aus - und er lernt sogar die hübsche Marina am Bodensee kennen, doch später muss er sich mit Kriminellen auseinandersetzen und er findet sich hinter Gittern wieder. Aber so ein Genie ist kaum aufzuhalten ...
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mein Dank geht an Katharina Klaus, deren Idee es 2003 war, einen Erfinder auf einer Luftmatratze um die Welt zu schicken.
Dank gebührt natürlich auch den Übersetzerinnen Sabina Winkler, Angelika Alboni und Hildegard Schönenberg und nicht zuletzt Matthias Böck für die Ideen zu Plasmalautsprechern und Plasmakanonen.
In diesem Buch sind übrigens alle Personen bis auf eine erfunden, jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Nur der unvergessliche Künstler Hasan aus der Türkei hat wirklich an der Bosporusbrücke gelebt!
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
„Das kann doch nicht wahr sein“, dachte Nusel. „Wo ist denn der Rucksack mit dem Proviant?
Lag der noch unter dem Gartentisch? Klar, zusammen mit dem Koffer! Und er saß hier auf seiner neuen Erfindung, der fliegenden Luftmatratze, hoch über Süddeutschland und schob Kohldampf!
Sein Vater hatte ihm aus den USA gemailt, er sei Mittwochabend wahrscheinlich wieder zuhause. Da war Nusel halt losgedüst, etwas überstürzt vielleicht. Aber mit gutem Grund: Sein Vater hätte ihm nie erlaubt, mal eben so auf Weltreise zu gehen.
Denn Nusel war erst 17! Und wenn sein Vater erst mal das Fluggerät gesehen hätte, wäre er ohnmächtig zusammengebrochen oder hätte einen Herzinfarkt bekommen! Konnte man doch nicht verantworten!
Nusel hatte nämlich eine alte Luftmatratze mit Spezialgas gefüllt und ein zerschlissenes grünes Einmannzelt mit Unmengen Uhu draufgeklebt. Sah verwegen aus. Ausgeblichen und klebeverschmiert wirkte es wie etwas, das man aus der Mülltonne gezogen hatte.
Nein, das musste man realistisch sehen. Sein Vater würde ihm strikt verbieten, mit dieser Konstruktion zu fliegen. Und außerdem würde Nusel in den letzten Tagen vor den Ferien noch zur Schule gehen müssen, was er nun gar nicht einsah. Schließlich wusste er seine Zeugnisnoten schon und die waren alle Eins, bis auf eine Zwei in Sport. Und zum Schluss lief ja nicht mehr viel im Unterricht. Er würde sich nur noch mehr langweilen als sonst!
Seine Klassenkameraden nannten ihn „Dr.“ Nusel, mal spöttisch, mal ehrfurchtsvoll – je nachdem, ob sie seine Hausaufgaben abschreiben wollten oder nicht.
Der Deutschlehrer, ein ulkiger Typ, redete ihn sogar mit „Herr Professor Dr. Nusel“ an. Der Physiklehrer hatte Angst vor ihm. Zum Henker! Was konnte Nusel dafür, wenn der Kerl Einsteins Relativitätstheorie nicht verstand?
Tja, nun hatte er in der Hektik sein Gepäck vergessen. Etwas zerstreut war er schon manchmal. Andere Abenteurer wären wieder umgekehrt. Nicht Nusel. Nicht er! Er würde bestimmt mit der Situation fertigwerden. Irgendwie …
Dummerweise war er auch noch pleite. Wie viel Geld hatte er in der Tasche? Zwei Euro! Er seufzte.
Gleich musste er die Alpen überfliegen und dazu war er zu leicht gekleidet. Was hatte er denn überhaupt dabei? Sein Schweizer Taschenmesser. Sein Handy. Eine große Tube Uhu, war wohl zufällig im Zelt liegen geblieben, ein paar Schnüre, eine Decke, das Sonnenöl. Großartig! Wenigstens konnte er sich nachher in die Decke wickeln. Das musste gegen die Kälte in größerer Höhe reichen.
Aber was tat er gegen den Hunger? Den Pizzaservice antelefonieren? Er versuchte sich den Dialog vorzustellen: „Können Sie mir irgendwas für zwei Euro irgendwo einen Kilometer über Baden Württemberg liefern? Wo genau? Weiß nicht, warten Sie, ich seh schon den Bodensee.“
Blaugrau wie eine Lache aus gegossenem Metall schimmerte die riesige Wasserfläche in der Nachmittagssonne. Nusel lenkte die Matratze hinunter. Kurzentschlossen landete er vor einem Bauernhof, dessen Einfahrt von zwei prächtigen Kastanienbäumen beschattet wurde. Dort parkte er die Fliegmichgutmatratze und machte sich steifbeinig-stakelig auf die Suche nach Bewohnern. Er hatte zu lange gesessen. Wie ein Autofahrer musste er ab und zu Gymnastik machen, wenn er länger unterwegs war. Er hasste Gymnastik.
Auf dem Hof stolperte er prompt über einen hochstehenden Pflasterstein, trat mit dem anderen Fuß in eine tiefe Pfütze, geriet aus dem Gleichgewicht und wollte sich an einer geöffneten Stalltür festhalten. Die musste wohl gedacht haben: „Die Klügere gibt nach!“ Sie schwang weiter auf, er fiel hin und rollte auf den Rücken. Sein Kopf knallte mit einem sehr schönen Dong gegen den schweren Metalleimer, der passend dort stand.
Das musste jemand gehört haben. MEFWS, Metalleimerfrühwarnsystem. Sehr ausgereifte Technologie. Nusel saß noch auf dem Boden, da tauchte eine energische junge Frau in blauem Arbeitszeug in der Stalltüre auf. „Was machst du denn da?“
Nusel blinzelte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er betastete vorsichtig seinen Kopf. Vielleicht war was defekt! „Wollte nur fragen“, meinte er beduselt, „ob ich vielleicht ein Aspirin haben könnte!“
„Aspirin?“
„Ja, nein … ich, äh …“, er riss sich zusammen, die flüchtige Untersuchung seines Schädels hatte ergeben, dass der noch ein paar Tage mitmachen würde. „Also, ich bin Erfinder. Ich fliege nach Italien und habe fast alles vergessen, was ich mitnehmen wollte. Hätten Sie etwas zu essen für mich? Ich will auch gerne dafür arbeiten. Vielleicht kann ich etwas für euch erfinden. Vielleicht braucht ihr eine Kleinigkeit hier auf dem Hof. Irgendetwas Automatisches!“
„Etwas Automatisches?“
„Ja, sagen wir eine AEZ oder einen MKP!“
„AEZ?“
„Ja, eine automatische Eierzählanlage oder einen Mistkomprimierer oder …“
„Mistkomprimierer! Hahahaa, klasse, ein Erfinder“, lachend streckte sie ihm die Hand hin und half ihm auf. „Wir haben ja schon viele Bettler hier gehabt, aber ein ERFINDER“, warum betonte sie das Wort so merkwürdig, „das ist mal was Neues!“
„Ich bin aber …“
„Nein, nein, ist schon in Ordnung! Wenn du Hunger hast, sollst du was bekommen! Und wenn du mir hinterher helfen willst – schön! Komm!“
Er stolperte hinter ihr her in die Küche, wo sie ihn fragte, was er denn gerne haben wolle, ein Butterbrot, zwei oder drei Eier in der Pfanne, auf Speck. Ach, da seien noch die Bratkartoffeln! Sie nahm irgendwas aus den Haaren, sodass die nun frei fielen, zog die blaue Jacke aus und wirkte im weißen T-Shirt sofort um Jahre jünger. War vielleicht gerade mal so alt wie er selber! Jetzt erst bemerkte er ihre blauen Augen, die eigentlich gar nicht blau waren und nicht grün und braune Sprenkel aufwiesen, wie man es nur bei besonders seltenen und kostbaren Edelsteinen findet.
Sie wusch sich die Hände, knallte eine Pfanne auf den Herd und in Nullkommanichts saßen sie vor einem „vernünftigen Abendessen“, wie seine Gastgeberin es nannte. „Ist noch etwas früh, aber ich hab auch schon richtig Hunger! Wie heißt du denn?“
„Nufel“, meinte er mit vollem Mund. Er schluckte. „Alle sagen Nusel zu mir. Du kannst aber auch gerne Hans zu mir sagen!“
„Gut. Ich heiße Marina. Wo kommst du her?“
„Dortmund!“
„Und wie lange bist du schon unterwegs?“
Nusel sah auf seine Uhr. „Drei Stunden.“
Sie runzelte die Stirn: „Drei Stunden, zu Fuß!?“
„Nein, mit meiner fliegenden Luftmatratze!“
Sie stutzte einen Moment, begann dann lauthals zu lachen: „Fliegende Luftmatratze! Hahaa! Du bist witzig. Das ist gut.“
„Aber schau, ich kann sie dir ja zeigen!“ Er erhob sich, aber sie winkte kichernd ab: „Das ist wirklich gut, hihihi, wunderbar, ha!“
Die Tür ging, eine Frau kam mit Einkaufstüten herein. „Marina, was ist das für ein komisches Ding, das da in unseren Kastanien hängt, es schwebt irgendwie und ein Zelt oder so ist da auch drauf!“
„Es schwebt?“, fragte Marina nach.
„Jaha, und wer ist das?“
„Äm, das ist Hans, ein, äh, Erfinder – und das ist meine Mutter, Frau Müller.“
„Und das Gerät dort draußen ist meine Fliegmichgutmatratze!“, erklärte Nusel stolz. „Meine Erfindung. Ich will damit nach Rom und dann mal weitersehen.“
„Wenn das so ist, vielleicht könntest du wirklich etwas tun. Wir haben Probleme mit unserer Waschmaschine“, meinte Marina und sah dabei ihre Mutter an. Die nickte und sagte: „Die wackelt immer so komisch.“ „Kenn ich“, meinte Nusel, „Lager ausgeschlagen, muss man austauschen, schau ich mir gleich mal an.“
Es lief darauf hinaus, dass er unbedingt einen Tag bleiben musste, denn es war zu spät geworden, ein Ersatzlager zu bestellen, geschweige denn einzubauen. Er bekam den Hof gezeigt, reparierte nebenbei Marinas Fahrrad, indem er die Acht aus dem Hinterrad zentrierte, und wurde am Abend in einem kleinen Gästezimmer untergebracht, wo er zunächst nicht einschlafen konnte. Das Bett war ganz anders, von draußen drangen die Gerüche und Geräusche des Hofs herein UND er hatte nicht seine Bücherstapel um sich herum. Zum Lesen lagen auf einem Regal nur ein paar alte Heftchenromane und das war nichts für einen Nusel, der im Alter von 13 Jahren ein Buch über eine Schnelllesemethode in der Bücherei gefunden hatte. Innerhalb von drei Wochen hatte er sich das Schnelllesen selber beigebracht und mittlerweile Unmengen spannender, informativer, lustiger, interessanter Bücher verschlungen. So einen albernen, nichtssagenden Heftchenroman überflog er in fünf bis zehn Minuten und warf ihn dann unbefriedigt und gelangweilt in die Ecke.
Nusel überlegte, ob er nicht mit dem Handy ins Internet gehen sollte. Aber das kostete! Um Markus anzurufen, war es wahrscheinlich zu spät. Außerdem, warum musste er immer die anderen anrufen. Sollten die doch mal Kontakt halten!
Ein fetter Mond schien ihm ins Gesicht, wie er ihn selten gesehen hatte, und für eine Sekunde hielt er das Fenster für einen Monitor und suchte die Maustaste, um sich noch näher ranzuzoomen. Seine Hand zuckte schon, als ihm klar wurde, dass das hier die Realität war. Hm.
Er schlief schließlich doch recht gut und träumte von einem Gabelstapler und einem Löffelbagger, die irgendwie zu einem Löffelstapler werden wollten!
Froh und tatendurstig erwachte er um 9 Uhr und bemerkte, als er in die Küche trat, dass Marina heute anders aussah als gestern, aber er kam nicht drauf, wieso. Er war in Gedanken noch mit seinem Traum beschäftigt und dadurch abgelenkt. Er begriff nicht, dass sie sich etwas zurechtgemacht hatte.
Marina hatte sogar Kleidung für ihn. Auf dem Dachboden waren ein paar alte Sachen von ihrem Vater liegen geblieben. Der hatte sich vor einem Jahr von ihrer Mutter scheiden lassen. Sie benutzten das Zeug nach und nach zum Putzen. „Bisschen groß, aber besser als gar nichts“, sagte Nusel und dachte, „hätt’ ich nie geglaubt, dass ich mal Baggy Style tragen würde.“
„Tja“, meinte Marina süffisant, „so hat man wenigstens noch was von dem Lumpen, äh, den Lumpen!“
Maria, Marinas Mutter, war mit irgendwelchen Ämtern beschäftigt und Nusel half Marina, einen Wassertank per Trecker auf eine Weide zu fahren. Er saß neben ihr auf dem harten Notsitz des rostigen Dinosauriers, ließ sich durchrütteln und fand es großartig, wie sie die tonnenschwere Technik ganz selbstverständlich durch die Botanik scheuchte. Das Lager war um elf Uhr noch nicht da. Der Tag entwickelte eine hochofenmäßige Hitze und Nusel meinte, sie könnten doch mal eben zum Bodensee fliegen, baden. Seien ja nur gut 10 Kilometer Luftlinie.
„Super!“ Marina strahlte ihn mit ihren blauen und eigentlich doch nicht blauen Augen an. Nusel meinte, sie müsse einfach so durch ihn hindurchblicken können. Röntgenblick. Oder Magnetresonanztechnik. Irgendwas resonierte anscheinend bei ihm.
„Hast du denn Geld fürs Strandbad?“
„Wieso Strandbad?“, fragte Nusel. „Wir wassern einfach irgendwo auf dem See!“
Das allerdings ließ er dann lieber. Er befürchtete einen Kurzschluss in der Elektrik der Fliegmichgut. Da brauchte ja nur eine Welle drüberzuschwappen und sein kostbares Fluggerät wäre höchstens noch fürs Camping gut: DIE Luftmatratze für den schwierigen Untergrund. „Ob Sumpf oder Eiger Nordwand: Campen Sie doch, wo Sie wollen!“
Er wünschte, er hätte dieses Spezial-Isolations-Öl aus der Werkstatt mitgenommen. Man konnte es in beliebige Geräte sprühen und es isolierte Elektromotoren derart gut, dass sie sogar unter Wasser liefen. Geniale Sache. Die Fliegmichgut als U-Boot!
Nusel verstand zwar nicht, wie ein derart zähes Öl in alle Ecken der Maschinen kriechen konnte, und das musste es ja, sonst konnte es nicht überall wirken. Aber er hatte es schon mal an einer Bohrmaschine ausprobiert und im gefüllten Pool der Nachbarn unter Wasser die Leiter aus Stahlrohren repariert. Na, hier war das einzige Öl, das er dabeihatte, Sonnenöl.
Der kurze Flug alleine war schon unvergesslich für Nusel. Er hatte die Beine eingeklappt und saß im Schneidersitz, sodass Marina vor ihm sitzen konnte. Ihre langen, brünetten Haare wehten ihm ins Gesicht und das fühlte sich an … also, wie, na ja, unbeschreiblich.
Voraus lag eine Kaserne. Militärisches Gebiet überflog man wohl besser nicht. Er wich großzügig aus. Sie konnten aber dennoch die Marschgeräusche einer Kompanie Soldaten hören. Ihre Stiefel platschten monoton auf den Asphalt des Exerziergeländes.
„Muss doch was Sinnvolleres geben, als da mit einem Schießgewehr ziellos rumzulatschen!“, meinte er zu Marina, die einen Lachanfall kriegte, und als der endlich abebbte, lehnte sie sich einen Moment gegen ihn, als habe sie keine Kraft mehr, aufrecht zu sitzen. Schade, dass seine Hände die Steuerknüppel hielten!
„Du kannst das ja nicht wissen“, meinte sie mit einer gehörigen Portion Verachtung in der Stimme. „Mein Vater ist beim Militär. Jetzt ist er in Flensburg stationiert.“
„Ich werde wohl lieber Zivildienst machen und alte Leute pflegen, als mich da so sinnlos rumkommandieren zu lassen“, überlegte Nusel.
„Besser isses! Aber jetzt ein anderes Thema bitte!”
„Oh, ja, gut, äh, kennst du Terry Pratchett?“
Kannte sie nicht und er musste ihr erklären, was eine Scheibenwelt ist und fügte hinzu, dass er sich nun auch aus rein wissenschaftlichen Gründen zwinge, zu glauben, die Erde sei eine Scheibe, bis er sich durch Umrunden derselben vom Gegenteil überzeugt habe.
„Du spinnst“, meinte Marina, aber sie kicherte dabei richtig nett.
Nusel fand eine schöne Villa, deren Jalousien alle runtergelassen waren. Niemand zu sehen. Er setzte die Fliegmichgut auf ein Floß aus Metalltonnen und Holz, das vor dem Grundstück dümpelte.
Sie hatten die Badesachen schon an, zogen also nur die T-Shirts aus und sprangen ins Wasser. Dabei verlor er die Badehose, die er von Marina bekommen hatte. Er bewahrte natürlich Haltung. Würdevoll beiläufig tauchte er nach dem dummen Ding und zog es unter Wasser wieder an. Marina aber, und das nahm er ihr übel, quietschte vor Lachen. Nusel sagte böse, das sei gar nicht witzig! Sie habe ihm extra so eine Schlockerhose gegeben! Reine Berechnung. „Ja klar!“, bestätigte sie kichernd. Für ihn ein Grund, nach ihren Beinen zu tauchen und sie unter Wasser zu ziehen.
Der See war hier gut zwei Meter tief. Lianenartige Wasserpflanzen wehten in der Strömung sanft hin und her, kleine Fischchen flitzten davon und das Licht zauberte zarte Muster auf den hellen Sandboden. Marina kam ihm entgegen, das Haar im Wasser aufgefächert wie in einer Shampoowerbung im Fernsehen. Märchenhaft. Er wollte gar nicht mehr auftauchen. Konnte man eigentlich unter Wasser küssen?
Sie erfanden ein Spiel mit einer Coladose, die sie am Grund aufgelesen hatten. Einer warf die Dose vom Floß aus ins Wasser, der andere musste sie so schnell wie möglich finden und heraufholen. Nusel schaffte es zweimal, bevor sie überhaupt bis zum Grund gesunken war. In einem früheren Leben, wenn es so was gab – was Nusel stark bezweifelte – musste er entweder ein berühmter Erfinder gewesen sein oder ein Delfin.
Nusels Sportnote wäre übrigens nur Drei ohne seine Eins im Schwimmen, denn für Leichtathletik und Geräteturnen bekam er vom Sportlehrer nur ein mitleidiges Lächeln statt guter Noten.
Das war maximal und ultimativ unfair, denn im gleichen Sportkurs ackerten zufälligerweise Typen, die für die Jugendeuropameisterschaften angemeldet waren (wirklich wahr!). Kerle mit Oberarmen wie Baumstämme. Die machten doch nichts anders als trainieren. So was konnte man ja später höchstens mal als Gouverneur von Kalifornien verwenden … Dagegen konnte man nicht anrennen oder werfen. Und im ersten Halbjahr hätte seine Schwimmnote auch nur Drei sein sollen!
Laufen: Na, es gab doch Fahrräder, Inliner, Motorboards und sogar Muskelkraft-Leichtflieger! Wer sich zu Fuß abhetzte, war sowieso jenseits von Gut und Böse.
Geräteturnen: Wer sich da mit widernatürlichen Bewegungsabläufen auf nicht kinderspielplatztauglichen Geräten abhampelte, war selber schuld. Ende der Durchsage.
Aber Schwimmen? Bitte, ja! All die Urlaube in Dänemark, mit dem Häuschen genau zwischen dem alten Bunker und dem militärischen Sperrgebiet. Im Bunker durfte er nicht spielen, denn der war unterspült und konnte jederzeit von der Düne auf den Strand kullern. Und das Sperrgebiet war natürlich auch verboten, denn dort wurde oft geschossen. Als müssten die Dänen den deutschen Urlaubern, die Dänemark diesmal ganz friedlich erobert hatten, gerade im Sommer zeigen, wie wehrhaft und stark sie seien!
Aber im Wasser blieb er so lange, bis sie ihn mit Gewalt rausholten. Er sei doch schon ganz blau, hieß es dann! Dabei hätte er immer noch locker zum Festland und zurück schwimmen können! Und der DLRG-Ausweis! Den hatte er damals auch schon gehabt.
Das einzig Schwierige war das Beatmen der Puppe gewesen. Nusel war rot geworden.
Die Drei hatte Nusel jedenfalls so gewurmt, dass er vier Mal wöchentlich ins Hallenbad gefahren und eine Dreiviertelstunde geschwommen war. Er und eine Drei im Schwimmen, wo er doch sozusagen im Wasser groß geworden war!
Sie lagen einige Zeit einfach nur auf den warmen Brettern des Pontons in der Sonne. Marina erzählte von Spanisch in der Schule und dass sie da auch einen Gitarrenkurs hatten. Leider hatte sie zu wenig Zeit zum Üben. Nusel nickte, er wusste genau, was sie meinte.
Beide mochten sie Simon & Garfunkel und Uriah Heep. Er sang: „She came to me one morning, one lonely sunday morning …“
„Au“, meinte Marina, „gut, dass du andere Qualitäten hast, ein Popstar wird aus dir nicht.“
„Ich bin tief getroffen!“, antwortete Nusel düster. „Ich ertränke mich.“ Er rollte sich vom Ponton und tauchte weg. Nach drei Minuten hielt sie es nicht mehr aus und sprang hinterher. In dem Moment kletterte er ans Ufer, von wo er ihr höflich winkte, als sie wieder auftauchte.
„Wenn ich dich erwische!“, schrie sie.
„Ich freu mich drauf! Komme schon.“ Und er hechtete ins Wasser und vergaß wieder mal das Problem mit der Badehose …
Nach etwas Balgerei trieben sie auf dem Wasser. „Faire la planche“ hieß das auf Französisch, wussten beide. Toter Mann machen, auf Deutsch. Bei ihm guckten Kopf und Füße aus dem Wasser, bei ihr auch noch der Busen in dem blauen Bikinioberteil.
Das Wasser war fast spiegelglatt. Wellen gab es nur, wenn eine Fähre vorbeigerauscht war. Nusel hätte stoppen können, wie lange die Wellen brauchten, um vom Bug des Schiffes zum Strand zu gelangen. Dann hätte er ausrechnen können, wie schnell die Wellen waren. Hatte er keine Lust zu. Seltsam.
Zur Abwechslung krabbelten sie wieder auf den Ponton und irgendwie kam Marina plötzlich drauf, dass die Westfalen ja erst in einer knappen Woche Ferien bekamen. „Wieso machst du denn schon Ferien?“
„Woher weißt du das mit den Ferienterminen?“ Termine konnte er sich nicht merken.
„Wir vermieten unsere Gästezimmer meistens an Familien aus Nordrhein-Westfalen.“
„Ach so. Ja, ich steh sowieso ziemlich gut und am Ende läuft eh nichts mehr im Unterricht. Da werden nur irgendwelche Filme geguckt oder man geht in die Eisdiele. Da hab ich was Besseres zu tun.
Außerdem …“, er zögerte, dann sagte er es doch: „Ich hab sogar ein Jahr übersprungen. Die können mir bei meinen Noten nichts. Würden sich nur lächerlich machen.“ Er setzte hinzu: „War doch auch genau richtig, hierher zu fliegen. Ich finds einfach toll hier!“
„Kennst du die Insel Mainau?“, fragte Marina. „Die ist hübsch und gar nicht weit weg von hier. Kannst du mit der Matratze ganz easy erreichen.“
„Ach!“, meinte Nusel. „Ich seh noch viel hübschere Dinge ganz in der Nähe!“
„Sag mal“, lenkte Marina ab, „woher hast du denn den blauen Fleck auf dem Fuß?“
„Da ist ein schweres Metallteil draufgefallen.“
„Ist ja richtig gefährlich, so ein Leben als Erfinder!“
Nusel nickte nur cool und dachte, dass er sie gerne küssen würde, er wusste nur nicht, wie er das anstellen sollte. Später würde er ganz genau wissen, was er hätte sagen und was er hätte tun sollen – später. Aber dann wäre es natürlich ZU spät.
„Wie hast du das überhaupt gemacht?“
„Hm?“
„Na, dass die Luftmatratze fliegt! Und wie kommt man dazu, Sachen zu erfinden?! Erzähl doch mal was von dir!“
JETZT müsste er sagen: „Lieber würd ich dich küssen!“ Dann konnte sie ja lachen, „nein“ sagen, ihn hauen, aber er hätte es wenigstens gesagt. Stattdessen begann er widerwillig zu erzählen, wobei er sie gleichzeitig mit den Augen verschlang, ihre wunderbaren Haare, ihre leuchtenden Augen, ihren lustigen Mund, ihren was auch immer Busen …
„Ich hab von der Matratze geträumt. Die Ideen für die meisten meiner Erfindungen habe ich im Traum.“
Schon Nusels Mutter, sie war seit drei Jahren tot, hatte immer zu ihm gesagt: „Junge, du bist ein Träumer. Was soll nur aus dir werden.“
Tja, Erfinder natürlich! Schon mit zehn Jahren hatte er zusammen mit seinem Freund Markus den Anker für einen Elektromotor gewickelt, dessen Kollektorstrom über Optokoppler gesteuert wurde. Als sie das Maschinchen der Firma Bosch anbieten wollten, hieß es: „Schön, gibts aber schon.“
Mit zwölf hatte er die Tapetenrecyclingmaschine gebaut, mit vierzehn den Krüsaro. Traurigerweise schickten ihn die Firmen, denen er seine Ideen anbot, einfach wieder nachhause: „Ruf uns nicht an, wir rufen dich auch nicht an!“
Vielleicht wirkte er nicht überzeugend genug! Oder er sah zu jung aus. Dabei konnte er einige echte Genieblitze vorweisen: Der Krüsaro z.B. war ein intelligenter Krümelsammelroboter. „Intelligent“, weil er den Unterschied zwischen einem Brötchenkrümel und einem verlorenen Ohrring lernen konnte!
Ein Staubsauger konnte das nicht! Und wie viele Ohrringe waren schon wegen minderbemittelter Staubsauger auf Nimmerwiedersehen verschwunden?! Nusel hatte ihn aus einem sechzig Zentimeter großen Spielzeugroboter gebaut. Sah gar nicht so schlecht aus. Besaß auch ein intelligentes Sprachzentrum … aber was Nusel Marina nicht erzählte: Ausgerechnet während einer Vorführung bei „Jugend forscht“ hatte er feststellen müssen, dass die kleinen Nachbarskinder ihm höchst unpassende Ausdrücke beigebracht hatten. Einer der Juroren hatte gelacht, die anderen waren schnell weitergegangen, sich wohl bewusst, dass eine Menge Kameras zuschauten.
Für beengte Wohnungen hatte Nusel den Miwabü-Au konzipiert: einen kombinierten Mikrowellenwaschmaschinenbügelautomaten. Das Luxusmodell, Miwabü-Aunä, besaß sogar eine ausklappbare Nähmaschine. Hatte keiner haben wollen.
Er wohnte selber in einem Dachgeschoss, wo er wenig Platz hatte. Die Dachschräge ließ nur einen einzigen größeren Schrank zu. Schreibtisch, Bett, Stereoanlage und Computer und die Regale nahmen sämtlichen übrigen Raum ein. Wie ein Bauchtänzer musste man um Kamin, Stuhl, Bücherstapel und Kommode herummanövrieren, wollte man zum Fenster. Seine Erfindungen musste er in der Werkstatt zusammenbasteln.
Werkstatt, das klang gut, war jedoch nur ein alter Schuppen. Defekte Geräte, Küchenmixer, Radios, Toaster, welche die Nachbarn ihm brachten, reparierte er lieber auf dem Schreibtisch. Auch dort lagen deshalb immer Schraubenzieher, Isolierband und Lötkolben herum. Es war alles ziemlich vollgekrempelt. Freunde konnte er nur einladen, wenn er vorher einen Tag lang aufräumte. Gehäuse, Kabel, Schrauben, Metallteile, Software, Handbücher, Schaltpläne, Schraubendreher, Zangen, Cutter und Akkus, Bücher und Zeitschriften packte er in den Schuppen. Nachteil der Aktion: Der war dann so voll, dass er selber da nicht mehr hineinpasste.
Die fliegende Luftmatratze schusterte Nusel innerhalb weniger Tage zusammen. Im Schuppen schaltete er dazu das antike Tonbandgerät seines Vaters ein, das im Dauerbetrieb die alten Titel von Slade herunterrockte, wenn es nicht gerade Bandsalat produzierte. Die Bänder waren schon ziemlich fadenscheinig und klangen mal blechern, mal dumpf.
Völlig falsch summte Nusel „Far Far Away“ vor sich hin, während er wie ein Verrückter an allem Möglichen gleichzeitig herumbusselte. Er musste zunächst das Spezialgas herstellen, das genügend Auftrieb geben würde. Das war ja der ursprüngliche Traum gewesen. Inspiriert durch die Laser-Forschung seines Vaters, hatte er ein Gas (welches, ist selbstverständlich Betriebsgeheimnis) mit einem violetten Laser angeregt, sodass es bei nur minimal steigender Temperatur plötzlich viel mehr Raum einnahm. Der Auftrieb wurde dadurch wesentlich größer als zum Beispiel bei Helium. Nusel hatte sich ausgerechnet, dass er sogar normale Luftmatratzen damit zum Fliegen bringen können müsste.
Während es in den Reagenzgläsern kochte und brodelte, klebte und nietete er einen Steuerungsmechanismus auf seine alte Luftmatratze. Ganz nebenbei suchte er, vergeblich, das grüne Einmannzelt, das eine Art Kabine abgeben sollte. Wann hatte er das zuletzt gebraucht und wo hatte er das bloß hingepackt? Auf den Dachboden, oder nicht? War aber möglich, dass sein Vater da heftig herumgeräumt hatte.
Er sah auf seine Plastik-Armbanduhr und seufzte. Die Uhr war hässlich, wusste aber als Funkuhr immer die exakte Atomzerfallszeit. Und auf zwei millionstel Sekunden genau sagte sie ihm, dass es schon fünf nach elf war. Das ging alles viel zu langsam. Er wollte los! Es gab so viel zu sehen. Die großartigsten Zeugnisse der Menschheitsgeschichte warteten auf ihn, das Kolosseum, die Pyramiden, das Taj Mahal … Einmal um den kleinen Planeten Erde rutschen!
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich wusste er schon länger, dass sein Vater irgendwann in dieser Woche wiederkommen würde. Und ein Klassenkamerad hatte ihm signalisiert, dass die Schule „sauer“ sei, dass er nicht mehr kam. Die anderen durften das ja auch nicht. Er war doch nicht die „Anderen“!
Schließlich fand er das Zelt. Hatte sich gemeinerweise hinter den Alu-Kühlkörpern und der Kiste mit den alten Winterjacken versteckt. Zweimal war er auf den Dachboden gestiegen, bis er auf die Idee gekommen war, die vier schweren gerippten Alu-Klötze wegzunehmen und die Kiste vorzuziehen. „Man muss also im Leben auch mal hinter die Dinge blicken!“, brummelte Nusel und schaute wieder auf die Uhr: schon Mittag! Er stellte die Kühlkörper wieder schön auffällig hin, damit er sie schnell wiederfinden konnte. Sobald er zurück war, würde er damit endlich den lautlosen PC für Markus bauen, der seine Gitarrenaufnahmen direkt auf die Festplatte spielen wollte.
Nusel hatte die vier schuhkartongroßen Teile für ein paar Euro bei eBay ersteigert. Damit brauchte der PC bestimmt keinen einzigen Lüfter mehr. Nur musste dann der Prozessorkühler mittels dicker Kupferdrähte mit dem Gehäuse verbunden werden. Dafür hatte Nusel einfach keine Zeit. Das musste warten. Er warf das Zelt durch die Bodenluke und rutschte mit seiner Spezialmethode die Dachbodenleiter herunter, mit den Füßen auf den Holmen und mit den Händen auf den Handläufen abgestützt. Die letzten drei Sprossen übersprang er. Die Leiter knirschte empört und wippte noch ein paar Sekunden, als ob sie ein Eigenleben hätte.
Damit das Zelt in Form blieb, klebte er leichte Carbonrohre hinein. Klettbänder rafften den Stoff vorne etwas zurück. Er musste sich ja umschauen können. In die Rückwand schnitt er ein Loch, um den solargetriebenen großen Ventilator montieren zu können. Als Rückenlehne ein großes Sofakissen einkletten, die Akkus vorne festkleben.
Fertig.
Nein – Scheinwerfer brauchte er noch. Er hatte schon geträumt, er würde ein paar Taschenlampen dafür nehmen. Drei Stück stöberte er auf. Sie lagen in einer Schublade unter Socken und einigen Heften, welche die Schönheit des weiblichen Teils der Menschheit in ganz besonders gelungener Weise würdigten.
Die Lampen funktionierten sogar noch. Klar, waren gute Cree-Leuchten mit unkaputtbaren LEDs. In irgendwelchen Ecken mussten noch ein paar kleinere Lampen herumliegen. „Man kann Taschenlampen nicht genug haben!“, sagte Nusel immer. Er hatte wohl einen Taschenlampen-Tick.
Als Letztes musste er einen Namen für das Fluggerät finden! Ja genau: Fliegmichgutmatratze!
Schließlich war es so weit: Proviant zusammensuchen. Noch eben eine Pizza backen. Fertigteig und Thunfisch hatte er da. Sogar selbstgemachte Bolognesesauce war noch in der Truhe, eine Pizza ohne Bolognesesauce war für ihn keine Pizza.
Ach Quatsch, keine Zeit, ein Butterbrot tats auch! So, den Koffer in den Schuppen bringen, frisches T-Shirt und eine Shorts anziehen. War ja Sommer. Sonnenbrille, Sonnencreme – oben auf so einer Fliegmichgutmatratze konnte man mehr Sonne abbekommen, als mit ‘nem Jahresabo im Sonnenstudio.
Im Bad fand er ein halbleeres Fläschchen Sonnenöl. Als er es in die Hand nahm, stieg ein Duft auf, der ihn zurückversetzte in glückliche Zeiten, in unbeschwerte Sommerferien, als seine Mutter …
Das Öl lag schon jahrelang hier rum. Konnte das schlecht werden? Egal. (Er wusste halt nicht, dass abgelaufener Sonnenschutz Hautschäden verursachen kann.)
Und welche Uhr sollte er aufsetzen? Am besten die wasserdichte mit Alarmfunktion, Stoppuhr und Solarzelle. Oder doch lieber die MP3-Uhr, falls er Langeweile bekam. Aber die war nicht wasserdicht.
Uhren besaß er jede Menge: die billige Funkuhr, die er dauernd trug. Eine ganz leichte No Name Titanuhr.
Eine alte mechanische Citizen. Ohne Batterie. Ging sehr genau! Die musste aufgezogen werden! Von Hand! Kurioses Ding!
Eine klobige Uhr mit Fernbedienung. Damit hatte er mal eine dämliche Religionsreferendarin, die eigentlich einen Film hatte zeigen wollen, so verrückt gemacht, dass sie heulend aus der Klasse gerannt war. Aber das war eine andere Geschichte, an welche Nusel nicht gern dachte. Die war nämlich darauf hinausgelaufen, dass sein Vater die Uhr vom Direktor hatte abholen müssen.
Vom Uhrentick hatte Nusel das nicht geheilt. Uhren konnte er nicht genug haben. Sogar in seinem Kuli, seiner Schreibtischunterlage, Nachttischlampe, Gürtelschnalle und im Fahrradkoffer waren Uhren einbaut. Er freute sich, denn man hatte neulich angekündigt, es sei nur eine Frage der Zeit, dann gebe es Displays aus der Lackdose. Dann konnte man sich eine Uhrenanzeige auf Fingernagel oder Sonnenbrille lackieren, den winzigen Steuerungschip dazukleben, fertig.
Nusel setzte seine Fliegeruhr auf. Das passte ja wohl. Er bugsierte die Luftmatratze auf den Rasen und befestigte sie an den beiden Apfelbäumen. Da, ein Windstoß, die Matratze schwankte, der Koffer fiel ihm auf den Fuß.
„Auuu!“, schrie er mit schmerzverzerrtem Gesicht und hüpfte auf einem Bein herum wie ein Emu bei der Balz. Das würde einen dicken Bluterguss geben! Warum musste das Ding auch Metallecken haben? Gummiecken wären doch viel besser!
Dadurch wurde ihm klar, dass er noch einen Verbandskasten benötigte. Ihm konnte wer weiß was passieren mit der Fliegmichgut! Eine Ausbildung als Luftmatratzentestpilot hatte er nicht! Und die paar Flugmodelle, die er gebaut hatte … Ein richtiges Flugzeug würde ihm ja auch niemand anvertrauen, außer Osama bin Laden vielleicht!
Es klingelte an der Haustür, aber dass er sich nun noch ablenken ließ, kam nicht infrage! Er humpelte zum Auto seines Vaters und holte den Verbandskasten heraus. Da erschien Frau Dirkling von gegenüber im Gartentor, sie lächelte ihn gewinnend an: „Hallo Nusel! Ich sammle für die Goldene Hochzeit der Thomsons!“ Das waren Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Goldene Hochzeit, da hätte sein Vater sicher auch etwas gegeben. Nusel unterdrückte ein Seufzen. Er zückte seinen letzten Zehneuroschein. Damit war er praktisch pleite. Aber das konnte ein Genie wie ihn natürlich nicht irritieren.
Nusel hopste mit Schwung auf die Matratze und überlegte nochmal, ob er die Kellertür abgeschlossen hatte?
Ja.
Kaffeemaschine aus?
Ja.
Bügeleisen war auch nicht an, er bügelte ja nicht, das erledigte Oma. Die Jalousien am Wintergarten waren alle dicht, damit mögliche Einbrecher entmutigt wurden.
Ihr Haus, von Nusels Onkel 1985 erbaut, besaß einen zweistöckigen Wintergarten. Der hatte innen eine schwarz gestrichene Betonwand als eigentliche Hauswand. Diese würde sich im Sommer trotz des Grünzeugs davor auf unerträgliche Temperaturen aufheizen, wenn nicht Wasserrohre darin die überschüssige Energie in Wärmespeicher unter dem Keller leiten würden. Der Strom für die Pumpen und die Elektronik, die das alles regelte, kam von Solarzellen und Windrädern auf dem Dach und einem litfaßsäulenartigen Darieusrotor im Garten. Das alles war teuer gewesen, aber hatte sich im Laufe der letzten Jahre mehr als bezahlt gemacht.
Dass Nusel die Jalousien runtergelassen hatte, würde Vater natürlich ärgern, weil einige Tage Energieeinspeisung fehlen würden, aber die großen Glasfronten lockten eine ganz bestimmte Sorte Menschen herbei: die mit Glasschneider und gestörtem Verhältnis zu Mein und Dein.
Nusel holte tief Luft und zog an den Leinen, die von den selbstlösenden Knoten zu ihm zurückführten, und als die Matratze tatsächlich stieg, fühlte er sich endlich befreit. Er ließ Häuser, Bäume, Straßen und natürlich die lästige Schule hinter sich – oder genau genommen unter sich.
Merkwürdig puppenstubenhaft sah das alles von hier oben aus. Als schaute er auf eine Modelleisenbahn hinunter. Einziger Unterschied: Hier in der Wirklichkeit gab es mehr Verkehr und mehr Lärm: Alle möglichen Geräusche hörte Nusel durcheinander. Das klang mehr als seltsam: Eine Motorsäge jaulte, ein Milchwagen klingelte, irgendwo stritt sich lautstark ein Ehepaar und eine Wasserspülung rauschte wie der Niagarafall. An einer Ampel starteten Autos durch, als ginge es um den Großen Preis von Monaco. Das alles zusammen, das war sie: die Dortmunder Sinfonie.
Eine Katze miaute so laut, dass sie eigentlich vor ihm hätte sitzen müssen. Irritiert blickte er sich um. Vielleicht steckte sie in einer Baumkrone fest! Aber er konnte sie nicht finden.
Kreischende Kinder rannten hinter einem Ball her. Eine Gruppe von Radfahrern in bunten Trikots zischte eine gewundene Straße zu einem See hinunter.
Die Autobahn kam auf ihn zu, ein dröhnendes Band voller schnell bewegtem Blech. Nusel schüttelte den Kopf. Wie die alle fuhren! Hatten wohl keine Ahnung von Physik!
Als Nusel die Autobahn überquerte, wusste er, dass er Dortmund hinter sich gelassen hatte. Er war so richtig glücklich hier oben, schade nur, dass er alleine flog, dass er dieses unglaubliche Erlebnis nicht mit jemandem teilen konnte. Es kam ihm vor wie kombiniertes Riesenrad- und Achterbahnfahren, nur ohne Achterbahn und Riesenrad.
Es war das absolut Beste, was er je erlebt hatte! Und es war einfach, Marina davon zu erzählen. Aber etwas Wesentliches verschwieg er ihr. Sein Problem mit Cordula. Sie war eigentlich der Auslöser gewesen, die Fliegmichgut überhaupt zu konstruieren.
Cordula himmelte er heimlich schon seit fast ‘nem Jahr an. Sie war mit ihm zusammen in der Medien-AG. Nusel meinte, noch nie so niedliche Grübchen und Sommersprossen gesehen zu haben. Außerdem war sie Vereinsmeisterin im Voltigieren. Musste wohl gut für die Muskeln sein, denn wenn sie sich bewegte, glaubte man, die Nähte ihrer engen Jeans krachen zu hören.
Wochenlang wollte er sie in ein Restaurant einladen. In einer Pause hatte Nusel endlich genug Mut zusammengekratzt, um sie zu fragen. Und plötzlich ging alles viel leichter, als er gedacht hatte. Und überhaupt. Sie konnte eh nur zwei Dinge sagen, ja oder nein. Der Wahrscheinlichkeitsrechnung zufolge waren die Chancen dafür 50 zu 50. Nicht schlecht. War doch besser als beim Lotto! Aber er hielt sich mittlerweile für einen Pechvogel. Und Glück oder Unglück, Zuneigung oder Abneigung konnte er nicht berechnen.
Zu seiner grenzenlosen Verwunderung stimmte sie zu. Sein Schweißausbruch ebbte langsam ab und sein Herz, das wie eine antike Ford V-8 Maschine bei Vollgas gedröhnt hatte, ging auf gemäßigte 200 Umdrehungen pro Minute. Damit verbrauchte es immer noch mehr Energie, als der Schulkiosk an Mars und Knoppers bereitstellen konnte. Später, im Unterricht, hing Nusel lässig abwesend auf seinem Stuhl, außerstande, dem Gequassel des Lehrers zu folgen.
Der Abend verlief dann auch ganz nach Nusels Vorstellungen. Sie setzten sich in einer Nische nebeneinander und schlemmten gebackenen Käse mit Pommes und Sauce Bearnaise … mmmmh! Wegen dieser Sauce Bearnaise ging er immer mal wieder dorthin. Er musste doch mal fragen, wie sie die machten. Zweimal hatte er schon den Fehler begangen, das Zeug im Supermarkt zu kaufen: Einmal im Glas – schmeckte, als ob sie Motoröl mit Eiern und Weißwein verrührt hätten. Das andere Mal in einer Klarsichtfolie, die im Wasserbad erwärmt wurde. Schmeckte etwas besser, schmeckte nach Hydrauliköl. Diese Art von Mayonnaise musste man schon selber anrühren, wie seine Mutter es damals getan hatte. War eine Spezialität von ihr gewesen.
Cordula und er unterhielten sich jedenfalls toll. Sie waren irgendwie automatisch etwas näher zusammengerückt und Nusel wurde es immer wärmer! Die Heizung war doch gar nicht an! Schließlich, nach einigem Tief-in-die-Augen-Schauen, küssten sie sich.
Leider eröffnete sie ihm nur eine Woche später, dass er zwar „süß“ sei, sie aber jetzt einen anderen Freund habe. Es stellte sich raus, dass sie damit Timo meinte. Timo! Der letzte Idiot! Der langweilige Sitzenbleiber hörte irgendwelche brutalen Raps, lief, was out war und total albern aussah, in schlabberigem Baggy-Style rum wie’n Dreizehnjähriger und hatte Ränder unter den Augen, die ihn wie vierzig aussehen ließen. Das kam von den nächtelangen LAN-Partys. Und die tiefe, raue Stimme hatte er vom Rauchen und Saufen.
Nusel war dadurch klargeworden, dass er praktisch alles verstehen konnte, aber ausgerechnet das wichtige Thema „Mädchen“ nicht. Es gab Survival-Kurse, die einem sagten, wie man sich in der Wüste verhielt, aber für das Zurechtkommen mit Mädchen gab es nichts. Nada. Niente.
Vielleicht war er letztlich einfach ein Pechvogel. Er hatte es sowieso geahnt, dass das mit Cordula schief gehen würde. Hatte er Markus vorher schon gesagt.
„Das ist doch keine Einstellung!“, hatte der gemeint. „Ich versteh ja, dass du dich einsam fühlst. Aber du findest schon die Richtige! Nur vielleicht nicht an unserer Schule! Sei doch nicht so ungeduldig. Und vergrab dich nicht dauernd in deinen Büchern und deinem scheiß Schuppen!“ „Und du willst ein Freund sein?“
„Ja, gerade weil ich dein Freund bin, sage ich dir das!“
Und gerade, weil sie Freunde waren, hatten sie dann einen kleinen informellen Judowettkampf ausgetragen, den keiner so richtig gewonnen hatte. Verloren hatte das Bücherregal. Es hatte ohne Gegenwehr aufgegeben und sich in seine Einzelteile zerlegt.
War wohl von Ikea …
Braves Ding.
Woher kamen diese Schwierigkeiten? Trug er nicht die richtige Jeans? Hörte er nicht die richtige Musik? Möglich! Markus legte ab und zu Creed und Nickelback auf. Kurze Zeit hielt Nusel das aus. Dann quengelte er, bis Markus auf die Beatles, Led Zeppelin, Uriah Heep oder die Stones umschaltete, die wahre klassische Musik des 20. Jahrhunderts.
Aber wenn er mit sich selber ehrlich war, was man ab und zu wohl mal sein sollte, gab es einen treffenderen Erklärungsansatz für seine Probleme bei Cordula: Er hatte halt versagt. Und das war so gelaufen: Sie hatte ihn nachhause eingeladen.
„Oh, toll, sturmfreie Bude?“
Ja, genau! Quiche Lorraine bei Kerzenschein, Federweißer, leise Musik. Perfekt!
Bei Nusels war man ja nie sicher, ob man wirklich ungestört blieb. Da konnte immer mal die Oma vorbeischauen, die nur drei Straßen weiter wohnte. Oder sein Onkel, der eigentlich dauernd auf ihn aufpassen sollte. Er kam recht unregelmäßig vorbei, immer mit einer Ausrede, ob Nusel nicht dieses oder jenes Programm hätte und was man machte, wenn der Rechner nicht sofort hochfuhr oder das Löschen der Festplatte nicht klappte oder ähnlichen Vorwänden.
Cordulas Mutter war auf einer Familienfeier und konnte nicht stören. Nusel fühlte sich lässig und mutig und als sie – endlich – heftig im Clinch waren, ließ er seinen Händen freien Lauf. Die wanderten denn auch freizügig über Cordulas umfangreiche Software. Was für ein Gefühl. Nein, Plural, was für Gefühle, Sensationen! Da gab er Cordula gegenüber zu, dass er noch nie … öm … ja … also …
Sie grinste nur und machte sich auf der Couch lang. Er kippelte mehr oder weniger auf der Kante, immer kurz davor herunterzurutschen. Die rechte Hand hatte er schon in ihrer Hose. Das Handgelenk war so abgeknickt, es würde wahrscheinlich ein Dauerschaden bleiben. Aber egal, das war es wert. Schließlich war er praktisch am Ziel. Er glühte vor Aufregung. Das erste Mal! Und er würde es richtig machen. Etwas tiefer sollten doch die Wunder dieser Erde auf ihn warten, weiche Schalter und Apparate, die man zunächst betätigen musste. Das bekam man ja rein schematisch und oberflächlich in Büchern und Aufklärungsfilmen beigebracht. Aber wie das genau aussah, wusste Nusel nur, weil er höchst strapaziöse Recherchen im Internet angestellt hatte. Zu seinem Erstaunen bereitete es ziemliche Schwierigkeiten, zwischen abstrusen Monstrositäten und ekligem Müll eine ästhetische Verfilmung des Vorgangs zu finden, der die Existenz der menschlichen Rasse sicherstellte.
Gut, dass er sich nicht hatte entmutigen lassen, exakt das Geheimwissen zu erlangen, welches die Erwachsenen egoistischerweise für sich behalten wollten. Es war schließlich dringend notwendig, über dieses Wissen zu verfügen!
Wissen war immer gut! Wissen hatte einen gewissen Selbstzweck! Behaupteten ja auch die Lehrer! Und Nusel war sich sicher: Nur wenn man genug wusste, ergaben dieses verrückte Universum und das chaotische Puzzle des Lebens einen Sinn. Na ja, ansatzweise zumindest.
Jedenfalls lernte Nusel gerne. Und er hatte im Biounterricht gelernt, dass die Weibchen mancher Arten in Stimmung kamen, wenn sie in den Hals gebissen wurden. Bei manchen Vögeln bestand das Vorspiel daraus, dass das Männchen Geschenke überreichte.
Das Geschenke- und das In-den-Hals-beiß-Stadium hatte Nusel hinter sich, jetzt musste noch gestreichelt werden. Aber seine Hand kam nicht viel weiter, er rieb da nur in den Haaren rum! Und diese beknackte Designerjeans hatte den Reißverschluss hinten. Warum zog sie denn das Ding nicht aus? Er überlegte, ob er nicht was sagen sollte …
„Cordula? Hast du noch Besuch!“, tönte es von draußen.
„Meine Mutter!“, zischte Cordula. „Dass die schon wieder da ist!“ Sie richtete sich auf, zog die Bluse glatt und ging zur Tür, um mit ihrer Mutter zu verhandeln. Das endete damit, dass Nusel um elf, also in zehn Minuten gehen sollte.
„Und wenn ich ganz leise bin?!“, fragte er frustriert.
Sie schüttelte den Kopf. „Meine Mutter kriegt alles mit! Die Wohnung ist leider so hellhörig.“
Er wollte nicht aufgeben. Das Wort gab es in seinem Sprachschatz nicht. „Und wenn wir warten, bis sie einschläft und ich komme durchs Fenster wieder rein?“ Die Wohnung lag im Parterre.
„Du spinnst! Wir sehen uns doch morgen.“
„Na gut, morgen. Aber dann gehen wir zu mir!“
Seltsamerweise kam es nie dazu. Cordula hatte eine Ausrede nach der anderen, bis sie ihm zwei Tage später von Timo erzählte. In der Schule war sie nett zu ihm fast wie immer, nur, dass sie nun in den Pausen bei Timo auf dem Schoß saß. Das machte Nusel krank vor Eifersucht. Er rätselte andauernd herum, ob er nicht einfach zu schüchtern und zu langsam gewesen war. Es hatte alles viel zu lange gedauert. Er hätte zuerst sie und DANN die Quiche vernaschen sollen! „Man muss im Leben das richtige Timing haben!“, murmelte er andauernd vor sich hin. Markus fragte zweimal, wovon er eigentlich redete, aber Nusel schüttelte nur traurig den Kopf.
Das war nicht alles, was an ihm nagte. Timo war immerhin zwei Jahre älter als Nusel. Er hatte einen Führerschein und kam im Auto seiner Mutter zur Schule. Nusel versuchte nicht darüber nachzudenken, was die göttliche Cordula mit Timo in diesem Auto nach Sonnenuntergang alles anstellen mochte.
Irgendwie klar, dass Nusel Marina gegenüber all das nicht erwähnte! Stattdessen sagte er, nun sei Marina dran, was zu erzählen. Die aber stöhnte, das sei alles so langweilig, die ewigen Probleme mit der Schule, den Tieren, dem Traktor, der Hitze, dem Geld, vor allem dem Geld! Sie habe die Nase voll von dem ganzen Mist.
„Vom Mist und der Gülle?“
„Ja!“, schrie Marina und spritzte ihn nass. Das kühle Wasser auf seiner sonnen-durchbackenen Haut ließ ihn zusammenzucken wie unter einem 120 Volt Stromstoß. Er schubste sie ins Wasser. Reflexartig grapschte sie nach ihm und kratzte lange Striemen über seinen Unterarm. Dann, sie war praktisch schon im Wasser verschwunden, packte sie am Handgelenk zu und zog ihn mit sich. Er kullerte über den Rand des Pontons und schrammte sich auch noch die Hüfte auf. Er machte eine kreisförmige Bewegung mit dem Arm, um den Griff zu brechen und hechtete auf den Ponton zurück, um Schadenskontrolle zu betreiben. Marina tauchte auf und sah die hellroten Kratzer. „Oh, war ich das?“
„Egal, ich liebe leidenschaftliche Frauen.“
Sie lachte laut los und warf sich prustend rückwärts ins Wasser, dann kam sie wieder heran und sagte entschuldigend: „Mann, das muss doch wehtun.“
Natürlich brannte es wie Hölle, aber er sagte ganz nebenbei: „Egal, Indianer kennen keinen Scherz, äh Schmerz!“
Sie kicherte, kletterte zu ihm aufs Trockene zurück und meinte. „Ich glaub, ich könnte mich an dich gewöhnen.“
Er war zu sehr damit beschäftigt, die Zähne zusammenzubeißen. Erst hinterher wurde ihm klar, dass sie ihm sehr nah gewesen war in diesen Moment. Und dass sie ihn angeschaut hatte. Und das Kinn etwas gehoben hatte. Aber nein, Nusel war mit sich selber beschäftigt gewesen. Nusel hatte Aua gehabt.
Nusel fand sich ultradämlich, denn als sie zurückflogen, war diese spezielle Stimmung vorbei. Immerhin meinte Marina: „Hej, das war einfach galaktisch!“
„Komm, du schwimmst doch bestimmt oft hier.“
Marina schüttelte den Kopf: „Nö, da muss ich stundenlang mit dem Bus fahren! Oder mit dem Rad die Landstraße lang!“ Dann fügte sie hinzu: „Der Hof macht auch einfach zu viel Arbeit.“
Nusel fühlte sich rundum phantastisch. Er mochte diese einzigartig gesprenkelten blauen Augen! Und irgendwie war Marina lebendiger als Cordula. Und hübscher. Auch das Heck …
„Sag mal, voltigierst du?“, fragte er sie.
„Nein! Wie kommst du denn darauf?“
„Ach, nur so!“
Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Aber ich kann mit einem Pferd pflügen. Das macht Laune!“
„Aha!“ Pflügen war also als gleichwertig mit Voltigieren einzustufen, was die Ausbildung des Glutaeus Maximus anging. Interessant. Marina war schon ein Klasseweib! Und sie saß einfach so locker vor ihm und quatschte mit ihm. Es konnte ja im Leben wirklich nicht nur um Basteleien, Programmiersprachen und Maschinen gehen! Er spürte wieder dieses Glühen, dieses warme Gefühl der Zuneigung, ohne welches ihm mittlerweile das Leben abartig sinnlos erschien. Konnte natürlich auch der warme Fahrtwind sein, der sein T-Shirt bügelte und seine Haare föhnte …
Ein Nachbarsjunge mähte den Rasenstreifen vorm Hof an der Straße. „Das ist Andreas“, erklärte Marina, „der hilft uns oft. Wir könnten das alles alleine gar nicht schaffen. Da wären wir rund um die Uhr beschäftigt.“ Andreas sah sie anfliegen und kriegte den Mund nicht mehr zu. Natürlich wollte er auch einmal mitfliegen. Nusel drehte bereitwillig mit ihm eine Runde über dem Hof. Begeistert winkte Andreas. Marina winkte zurück, während Maria weiter den Hof fegte.
Danach hüpfte Andreas von der Fliegmichgut, gab Nusel die Hand und sagte: „Danke schön!“
Nusel meinte zu Marina und ihrer Mutter, der Junge sei ja sehr gezogen. „Wie bitte?“
„Ja, im Gegensatz zu zwei Kindern aus meiner Nachbarschaft, die sind ziemlich ungezogen!“ Er erzählte von dem Flop mit dem Krüsaro. Und machte mit abgehackten Bewegungen und quäkender Roboterstimme die Schimpfwörter nach, die der gelernt hatte, bis Marina halb erstickt vor Lachen fragte, wo denn der Knopf zum Ausschalten sei.
„Da“, quäkte Nusel, drückte auf seine Nase und blieb so stehen.
„Wenn der ausgeschaltet ist“, sagte Marinas Mutter und stellte den Besen weg, „können wir ja das Eis essen, das ich mitgebracht habe. Was meinst du?“
„Das ist unfair!“, quäkte Nusel und hörte übergangslos auf ein Roboter zu sein.
Spätnachmittags kam das Lager, der Einbau dauerte und er musste noch eine Nacht bleiben. Dagegen hatte er nichts. Es gefiel ihm hier. War wie Ferien! Er überlegte, ob er nicht noch länger bleiben könnte. Für immer vielleicht. Marina war wirklich nett. Man konnte mit ihr über ernste und lustige Dinge reden. Er sagte z.B.: „Ich denke manchmal, die ganze Arbeit bringt nichts. Vor einiger Zeit habe ich einen Mikrowellenwaschmaschinenbügelautomaten erfunden, eine wunderschöne Maschine, tolles Design, aber leider …!“
„Wieso ‚aber leider’?“
„Tja, man kann sich nicht an ihr sattsehen!“
Es dauerte einen Moment, aber dann lachte Marina, bis sie Schluckauf bekam.
Über sein Mansardenzimmer zuhause sagte er, er wüsste nicht, ob die Decke zu niedrig sei oder der Teppich zu dick!
„Übrigens“, meinte er, „ich bin ein alleinerziehender Sohn!“ Und dann musste er erklären, dass sein Vater dauernd Gastprofessuren in anderen Ländern innehatte. Er war Professor für Lasertechnologie.
„Und deine Mutter?“, fragte Marina.
„Ist vor drei Jahren bei einem Autounfall gestorben.“
„Das ist nicht einfach“, sie zögerte, „dann weißt du ja, wie das ist, wenn man alleingelassen wird.“
„Aber ich meine, äh, dein Vater ist doch nicht tot!“
„Für mich schon!“, sagte Marina. Sie verzog den Mund verächtlich.
„Na dann: Ruhe in Frieden!“, flachste Nusel.
„Selbst das gönn ich ihm nicht!“, grummelte Marina.
Drei Tage später hatte er im Stall Energiesparröhren installiert, die Waschmaschine wieder hergerichtet, mit Marina ohne Ende Schach gespielt und den Stall ausgemistet. Das Schachspielen gefiel ihm besser.
Nebenbei hatte er einen Lampenfuß mit Uhu geklebt, die Glühkerzen des Treckers gewechselt und das dumme Betriebssystem des Familien-Computers neu installiert.
Jetzt musste Nusel sich eigentlich, schweren Herzens, verabschieden und losdüsen. Aber der Abflug verzögerte sich, weil irgendwas mit der Melkmaschine nicht stimmte. Nusel wackelte an ein paar Drähten und das Ding lief wieder, etwas, das Nusel auf den Tod hasste!
„Ach, wird schon in Ordnung sein“, sagte Maria, als er mehr Werkzeug ranschleppte.
„Ne komm!“, meinte er. „So geht das nicht, oder willst du, dass bei einem Kurzschluss deine Kühe bis zur Decke hopsen? Da wird doch die Milch sauer!“
Eine Stunde später war auch das erledigt. Maria fuhr mit dem Trecker vom Hof, von ihr hatte er sich schon zweimal verabschiedet.
Als es dann tatsächlich losging, schenkte Marina ihm eine riesige Tüte mit Lebensmitteln. Und weil er erzählt hatte, dass er die Alpen überfliegen wollte, gab sie ihm noch eine Jeans, einen dicken Wollpullover und ziemlich merkwürdige, aber warme Ringelsocken. Das sei zu viel, protestierte Nusel schwach. Marina grinste nur und er seufzte: „Ich muss verrückt sein, dass ich jetzt von hier wegfliege!“
War das ein Nicken gewesen, war sie einen Zentimeter näher gekommen? Er küsste sie vorsichtig auf die Wange und … der Abflug verzögerte sich noch etwas.
„Kommst du mal wieder?“, fragte Marina beiläufig, als er auf die Matratze stieg und mit etwas zittrigen Händen nach den Kontrollhebeln griff. „Klar!“, nickte er. „Klar komm ich wieder!“
„Das sagt ihr Kerle immer!“
Nusel lachte, gab Gas und statt davonzudüsen, drehte er erstmal eine großzügige Runde über dem Hof. Sofort geradeaus wegfliegen, das konnte er einfach nicht. Er winkte ihr aus zwanzig Metern Höhe zu, kurz bevor er sie nicht mehr sehen konnte, weil die überdachte Einfahrt sie verdeckte. Sie hatte das eben so komisch gesagt. Als meinte sie wirklich, er würde nicht zurückkommen.
Er setzte zum Sturzflug an und dasselte in den Hof, wo sie auf das Wohnhaus zuging.
Sein Herz klopfte wie ein überdrehter Motor, als er an der Pumpe hielt und rief: „Siehst du, bin schon wieder da!“
„Du verrückter Kerl!“
Wenig später sah Marina über Nusels Schulter hinweg Andreas, der auf sie beide zukam, um irgendwas zu fragen. Er schien sich mächtig zu amüsieren.
Sie wedelte, ohne dass Nusel es mitbekam, hinter seinem Rücken mit der Hand, er solle weggehen. Kichernd zog er von dannen. Mit dem musste sie mal ein Wörtchen wechseln. Aber nicht jetzt.
Den Bodensee überquerte Nusel in drei Minuten und schon kamen die Alpen bedrohlich auf ihn zu.
Grandiose schneeglitzernde Berge, soweit das Auge reichte. Die höchsten Gipfel waren von Wolken verschleiert, als hätte jemand Zuckerwatte auf den Bergen aufgespießt. Nusels naturwissenschaftlich-technisch geschultes Gehirn begann automatisch auszurechnen, wie viele Millionen Tonnen Zucker man brauchen würde, um so viel Zuckerwatte herzustellen.
Aber dann wurde ihm kalt und er erinnerte sich an die Ringelsocken, die Jeans und den dicken Pullover. Vorsichtig, damit die Matratze nicht ins Schaukeln geriet, zog er sich wärmer an. Bei heftigeren Bewegungen jaulten die kleinen Gyrostabilisatoren, die er aus alten Elektromotoren und Videorecorderschwungscheiben konstruiert hatte, protestierend auf. Die Gyros waren eigentlich nichts weiter als elektrisch angetriebene Kreisel. Man nutzt dabei die eigensinnige Eigenschaft rotierender Systeme, sich ungern aus ihrer Lage bringen zu lassen.
Mitten über den Alpen meldete sich sein Spezial-Handy, das Radio, LED-Lampe und MP3-Spieler gleichzeitig war. Die Lampe zog satte fünf Watt, der Player hatte fast 250 GB und Nusel hatte einen feuerzeuggroßen Lötbrenner eingebaut, für den Fall, dass er in irgendwelchen Geräten Kontakte nachlöten musste.
Er lötete mehr mit dem Handy, als dass er damit telefonierte.
Das Radio hatte sich wegen des Wetterberichts eingeschaltet: Sturmwarnung! Hinter den Alpen staute sich ein Unwetter. Dem musste er ausweichen. Sofort flog er noch höher. Bald konnte er unter sich nur kochende weiße und graue Wolkenfelder sehen, in denen ab und zu Blitze hin und her zuckten. Als er davon genug hatte, schaute er mal in Marinas Lebensmitteltüte: Konserven, Dauerwürste, Schinken, Möhren, Kohlrabi, Sellerie, Zwiebeln – was fehlte, war ein Kochtopf.
Da fehlte noch was: Marinas Telefonnummer. Handy hatte sie sowieso keins. „Spinnst du?“, hatte sie gesagt. „Wir versuchen verzweifelt den Hof zu behalten. Für solche Spielereien haben wir kein Geld.“
Gut, unter „Maria Müller“ konnte er ja die Telefonnummer des Hofes bei der Auskunft erfragen. Er war aber auch durcheinander gewesen bei diesem Abschied. Er hatte gemerkt, dass sie ihn für eine Art modernen Vagabunden hielt, der nichts ernst nahm. Schließlich hatte er ihr geschworen, dass er wiederkommen würde. Das letzte Mal, dass er was geschworen hatte, war vor vier Jahren gewesen, als die Nachbarskinder eine Scheibe am Wintergarten zerschossen hatten. Sein Vater hatte ihm natürlich nicht geglaubt.
Nach Süden flog Nusel übrigens, weil er das Kolosseum in Rom sehen wollte. Und vorher wollte er noch das Leonardo da Vinci Museum besuchen. Leonardo war sein großes Vorbild. Der hatte den Hubschrauber, das U-Boot, das Fahrrad und die Mona Lisa erfunden.
In der Schule hatten die Lehrer behauptet, dass 1628 William Harvey, der Arzt des englischen Königs, den Blutkreislauf entdeckt hatte. In einem seiner Bücher über geniale Erfinder aber entdeckte Nusel, dass Leonardo dazu schon 100 Jahre vorher Untersuchungen angestellt hatte! Nusel war ziemlich sicher, dass die Ehre eigentlich Leonardo gehörte! Der hatte sogar Herzklappenmodelle angefertigt! Er war seiner Zeit Jahrhunderte voraus gewesen!
In Vinci gab es ein Museum, das die nachgebauten Erfindungen von damals zeigte. Ein ganzes Museum nur für Leonardo! Natürlich musste er dorthin. Daran führte kein Weg, äh, keine Luftmatratze vorbei. Er döste ein wenig und als er aufwachte – schwebte er über dem Meer!
Er stutzte, drehte sich um und tatsächlich, hinter ihm lag die Küste! Und eigenmächtigerweise entfernte sie sich immer weiter von ihm. Eigentlich sollte er über Land fliegen. Wasser war nicht eingeplant. Er wendete und überlegte, zu welchem Meer ihn denn die Winde geweht haben mochten. Links und rechts neben dem Stiefel gab es gleich zwei verschiedene. Westlich das Ligurische Meer und östlich die Adria. Stand leider nicht dran. Müsste man erfinden: die Meeres-Etikettierung! Könnte man mit Kolonien leuchtender Algen oder Bakterien machen. Da gab es doch so einen Effekt, Biolumineszenz. Würde nachts schön aussehen und die Schifffahrts- und Luftsicherheit erhöhen! Gute Idee, aber wenn er damit zum Patentamt kam, würden sie ihm wahrscheinlich wieder nur sagen: „Gibts schon!“
Während er auf das Ufer zusteuerte, grübelte er, woran er den Küstenstreifen wohl erkennen könnte, und ob er vielleicht landen und nachfragen müsste. Das war ihm aber irgendwie unangenehm.
Er hatte wirklich nicht genug vorgeplant. Eine Karte und einen Kompass hätte er schon mitnehmen sollen, obwohl er immer der Meinung war, dass er sich nie verirren könnte.
Tja und nun? Die Sonne stand links von ihm. Es war früher Nachmittag. Die Küste zog sich also von Südwest nach Nordost.
Und dann sah er etwas, das er kannte. Häuser, die ins Wasser gebaut worden waren. Boote, die als Taxis dazwischen herumgondelten: Venedig. Er befand sich an der Adria. Na also, von wegen verirrt. Er doch nicht! Nach der Musik seines Handys laut „We Are The Champions“ singend, düste er weiter.
Hinter Venedig suchte er die Autobahn. Er ging noch etwas tiefer, bis er die Schilder lesen konnte. Und verursachte dreiundzwanzig Unfälle, weil die glotzenden Autofahrer, die ja in der ganzen Welt gleich neugierig sind, zu lange nach oben starrten.
Bis Bologna und schließlich Florenz folgte er dem Straßenverlauf, dann ein Stückchen am Arno entlang, das war in Deutschland sein Cousin, hier war es ein Fluss. Und schließlich nach rechts abbiegen, also nach Norden. Aber welches der Käffer war denn Vinci?
Er wusste nur, dass eine Burg über der Stadt stand, aber das war hier nichts Ungewöhnliches. An einer Kreuzung konnte er Schilder ausmachen, aber da war ständig Verkehr. Und nochmal wollte er nicht tiefer fliegen. Die würden alle nur ineinanderrasseln. Ein Fernglas müsste man mitnehmen, zum Kuckuck, ein ganzes Warenhaus müsste man mitnehmen. Einen Moment lang war das Bild vom „Fliegenden Supermarkt“ durch sein Gehirn geblitzt, Konkurrenz für diese Ausbeuterfirmen wie Aldi und Schlecker, aber die Matratze hatte nun mal ihre Grenzen, trotz Spezialgas.
Nusel kreiste minutenlang über der Kreuzung, aber immer, wenn er runtergehen wollte, kamen die nächsten Wagen oder Radfahrer oder Motorräder oder Trecker – oder alle auf einmal. Sogar einen legendären, bei uns praktisch ausgestorbenen Straßenverkehrsteilnehmer konnte Nusel hier bewundern. Er taucht in Deutschland eigentlich nur noch in Fahrschul-Prüfungsheften auf: der Mann mit dem Handkarren. Hier schob er leibhaftig mit etwas Grünzeug die Straße entlang.
Aber es gab ja Alternativen: Nusel landete in einem Weinberg und marschierte zur Straße hinunter. Es war heiß. Es war staubig. Er kratzte sich. Immer noch hatte er Pullover und Jeans an!
Hinter der nächsten Kurve parkte ein Mercedes in einem Feldweg. Das Kennzeichen schien deutsch zu sein. „Ro“, was immer das heißen mochte. Eine ziemlich korpulente Dame schenkte ihrem Mann Kaffee aus einer großen Thermoskanne ein und setzte sich dann neben ihn auf das Mäuerchen, das den Weinberg eingrenzte.
Nusel beschleunigte seinen Gang und winkte: „Hallo, kann ich Sie was fragen? Buongiorno!“
„Grüß Gott! Schau o, a Landsmann!“ Bayern waren das!
„Ja, Nusel mein Name, sagen Sie, wissen Sie, wie ich nach Vinci komme?“
„Münchstettner!“, sagte die Dicke, der Mann trank seinen Kaffee. „Nach Vinci wollen Sie. Da warn mer scho vor einer Woche. Schaumamal nach die Karten!“