Wintererdbeeren - Peter Feldmann - E-Book

Wintererdbeeren E-Book

Peter Feldmann

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Beschreibung

Der Band vereint neuere Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Grafiken des Autors. Es findet sich zum Beispiel die bezaubernde Geschichte des Jungen, der im Winter Erdbeeren am Erdbeerkiosk kaufen will oder die Story vom verpassten Lottogewinn. In den etwas älteren Essays geht es um Erziehung, Vergangenheitsbewältigung und alt werden und um die Unmöglichkeit in einer verlässlichen naturwissenschaftlich-physikalischen Welt leben und gleichzeitig glauben zu wollen. Die Gedichte und Grafiken des Autors sind in den 1980er Jahren in diversen Einzelausstellungen und in einer Museumsausstellung präsentiert worden.

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Für Doro und Michael Weischer

Inhaltsverzeichnis

Kurzgeschichten

Wintererdbeeren

Der Lottoschein

Jesus, Ganescha & Co.Kg

Essays

Die Biografie

Es Werde Licht

Gedichte

Ich

Hoffnungslos

Fasten

Jesus

Danke

Trauer

Oder nicht?

Randnotiz 23. Juli 1986

Nach langer Zeit

Vergebens

Wolken

Viel Neues

Es ist alles 25.7.86

Die Felder

Warnung

Das Kotzen

Früher

Statistische Sicherheit oder Irgendwann in ein paar tausend Jahren

Das Restrisiko

Dali ist gestorben

Mitten in der Nacht

Ausverkauf

Menschenrechte

Es gibt viel zu tun

Eintausend Milliarden Dollar

Kalligrafie der Käfer

Kalligrafie der Käfer

Dienstjubiläum

Ganz schöne Sauerei

Flucht

Es geht auch ohne

Kleine Handreichung So zerstört man Menschen

Serendipity für Ricarda Schubert

Leiwes Kaffee für Familie Leiwes

Ein ruhiger Moment

Opa - ein kleiner dicker Mann

ich bin das volk

pegida

Herbstträume

Leseproben

Exposee - Die fliegende Luftmatratze

Sommerferien

Exposee - Taekwondo im Märchenwald

Exposee - Wünsch dir keinen Drachen

Unter Pseudonym

Exposee

Im Park

Grafik aus den 1980er Jahren

KURZGESCHICHTEN

WINTERERDBEEREN

Silvia versuchte nun schon seit 10 Uhr ihm klarzumachen, dass es endgültig vorbei war. Seit Kai mit seinem Schlüssel die Haustür aufgeschlossen hatte und zum dritten Mal behauptete, er würde gern zu ihr zurückkommen, denn diese „Sache" mit seiner Sekretärin sei vorbei.

Zum dritten Mal! Sie war doch nicht verblödet! Vorher eine Kollegin und davor? Eine Kneipenbekanntschaft!

Und sofort machte er sich wieder höchst selbstverständlich breit, zündete ein Feuer im Kamin an, half Mike am Wohnzimmertisch mit seinem Puzzle und Mike war natürlich begeistert. Vater war wieder da. Dass er immer wieder wegblieb und seine Aufgaben als Vater völlig negierte, er zahlte ja nicht mal Unterhalt, um seine Abenteuer voll ausleben zu können, störte Mike nicht sonderlich, er nahm sowieso kaum etwas übel, er war ein Sonnenschein, ein Down Syndrom Kind von 14 Jahren, gleichmütig und meist gut gelaunt.

Kai brüstete sich damit, er habe gerade die Leitung des neugeschaffenen Ressorts des Koordinators für „Jugend, Sport, Gesundheit" beim Ministerium übernommen, etwas, wobei er für wenig Arbeit ein enormes Gehalt bekam. Er könne jetzt Unterhalt zahlen, na klar!

Er verstand nicht, dass Silvia ihn nicht verstand! Sie hatten doch studiert, waren so richtige Freigeister gewesen, es solle keiner dem anderen gehören, war ihnen klar gewesen, und die Ehe, na ja, das war ein überholtes bürgerliches Konstrukt, aber ganz praktisch für den Alltag, praktischer als die wilde Ehe.

Er hatte sich entwickelt, er brauchte seine Freiheit, er wollte genau genommen noch mehr Frauen kennenlernen und mit so vielen schlafen, wie nur möglich, was er dummerweise nun auch so äußerte.

Silvia warf ihm vor, die Midlifecrisis nicht nur nicht verarbeitet zu haben, sondern völlig falsch und pubertär darauf zu reagieren. Frauen reihenweise zu verbrauchen, war doch nachgerade unmoralisch! Und wieso verstand er nicht, dass sie NEIN meinte, wenn sie NEIN sagte. Insgeheim verfluchte sie ihre Weichheit und Unentschlossenheit, hatte sie doch zweimal schon den Fehler gemacht nachzugeben! Was hatte ihr das gebracht? Heftigste Neurodermitis Schübe, die mit jeder Menge Cortison behandelt wurden, die sie arbeitsunfähig machten und den letzten Rest Lebensqualität vernichteten.

Zeitweise trank sie jeden Tag eine Flasche Rotwein, manchmal kam noch Calvados dazu, das verschlimmerte die Krankheit, ließ sie noch mehr zunehmen, kraftloser werden, unentschlossener. „Nein, verdammt nochmal!" Sie wollte nicht brüllen, also zischte sie ihn an. „Ich habe mir vorgenommen, mich selbst ganz neu zu erfinden. Da passt du nicht mehr rein. Du hast deine Chancen gehabt. Ich lasse mich nicht weiter von dir demontieren und als Notnagel missbrauchen. Ich glaube sowieso, dass du nur deine Wäsche gewaschen haben willst! Und als Erstes gibst du jetzt den Schlüssel her!"

„Notnagel! Ich finde das ungerecht! Nach all den Jahren ..."

„Ich geh jetzt zum Pilz runter, Erdbeeren kaufen!", unterbrach Mike sie. Mit Erdbeeren konnte er beiden und sich selbst eine Freude bereiten und vielleicht würden sie dann nicht mehr streiten. Bei Vanilleeis mit Erdbeeren hatten sie sich noch nie gestritten.

Verblüfft musterten sie den Jungen, der breit grinsend in Stiefeln und Anorak vor ihnen stand, sein kleines Portmonee in der rechten Hand. Schließlich sagte Silvia: „Der Pilz ist doch schon ewig geschlossen, es ist Winter!"

„Ach so", meinte Mike, „dann ... dann ... dann geh ich raus und baue einen Schneemann."

„Aber mit Handschuhen, du weißt schon!", rief Silvia.

„Er geht doch zum Pilz, oder?"

„Wenn er sich was vornimmt..."

„Da musst du schon auf ein Wunder warten!", brüllte Kai hinter Mike her, der Unmengen kalte Luft hereinließ, bis die Tür ins Schloss fiel. „Und du auch, mit deinem Dich-neu-Erfinden!"

Im Kamin fauchte etwas.

„Kannst du ihn ... kannst du uns denn nicht einfach in Ruhe lassen, verdammt nochmal, du Superpädagoge, du! Das schadet doch nicht, wenn er die 400 Meter runter zum Hof geht. Er muss selbst sehen, was los ist und draus lernen!"

Hangabwärts lag der hübsche alte Bauernhof, der frische Milch verkaufte und saisonal Kartoffeln, Äpfel, Gemüse in dem großen roten Fliegenpilzhäuschen. Der Spaziergang tat Mike gut, er wanderte tatsächlich ganz bedächtig im Schnee am Rand der schmalen Straße, eher ein Wirtschaftsweg, entlang, nicht in der Mitte, um nicht von Treckern oder Autos überfahren zu werden und immer an die Erdbeeren denkend. Ab und zu kontrollierte er, ob er auch das Portmonee eingesteckt hatte, denn er hatte beim Milchkaufen schon zweimal gehen müssen, da er das Geld auf dem Schuhschränkchen vergessen hatte.

Aus einiger Entfernung sah er, dass die Klappe tatsächlich geschlossen war. Er ließ sich nicht beirren. Der alte Meister der Werkstatt in der Tagesstätte hatte mal zu ihm gesagt, wenn er etwas wolle, wenn er einen Traum habe, solle er nicht aufgeben, irgendwann würde er es schon schaffen. Und das hatte sich immer mal wieder bewahrheitet. Kurz vor dem Pilz war auf der Straße eine Schiinderbahn entstanden. Er schlinderte recht geschickt acht Meter weit und stolperte dann am Ende, fing sich aber wieder. Der Schnee um den Pilz war unberührt. Tropfen von der Dachkante hatten rings ums Häuschen einen perfekten Kreis gezogen, den Mike minutenlang musterte. Kleine Trichter im Schnee und es wurden mehr.

Mike klopfte an der Klappe, rüttelte am Türgriff links an der schmalen Holztüre. Hier war niemand. Hatte seine Mutter doch recht gehabt. Aber er hatte es sich doch so gewünscht! Er fühlte sich schlecht, wenn sie stritten, und der Einfall mit den Erdbeeren war doch richtig gut.

Hinter ihm hielt knirschend ein Auto, das gerade von der Hauptstraße abgebogen war. Mike drehte sich um, es waren Herr und Frau Lohmann, denen der Hof gehörte, sie wollten nicht Bauern genannt werden, aber Mike fiel der richtige Ausdruck nicht ein.

„Was machst du denn da, Mike?", fragte Frau Lohmann.

„Ich wollte Erdbeeren kaufen."

Für einen Moment war sie sprachlos. „Aber es ist doch Winter, du weißt doch, dass es dann keine Erdbeeren gibt, das weißt du doch?"

„Aber ich hab es mir so gewünscht! Weil ... sie ... sie streiten sich schon wieder."

„Ist der Alte wieder mal da?", fragte Willi Lohmann leise seine Frau.

„Hab ich nicht mitgekriegt."

„Was für ein Arsch!"

„Pschht!" machte sie, aber das Dieseln des Mercedesmotors schluckte ihre Stimmen fast vollständig.

„Weiß du was, gib ihm doch eine Schale! Wir haben genug mitgebracht. Müsste für den Kuchen immer noch reichen."

Sie nickte, stieg aus, öffnete den Kofferraum und reichte ihm eins der drei Schälchen, die sie im Großmarkt gekauft hatten.

„Danke schön", er öffnete das Portmonee, aber sie meinte: „Lass mal, ist ein Geschenk, ist doch bald Weihnachten!" Sie strich ihm übers Haar, als er sich nochmals bedankte, dann stieg sie ein und der Wagen knirschte die Hofeinfahrt entlang.

Laute Stimmen schollen Mike entgegen, als er die Tür aufschloss. Vorsichtig nahm er das Schälchen, das er auf der Treppe abgesetzt hatte, und trug es hinein wie einen kostbaren Schatz, den es ja auch tatsächlich darstellte.

„Ich bin wieder da!", rief er und, ja, da war der breit grinsende Mike und in seinen Händen die Pappschale mit den roten großen Erdbeeren.

Kais Blick ruckte zum Fenster hinaus, soweit er erkennen konnte, war der Kiosk-Pilz geschlossen. Und er sah Silvia an, blickte wieder zu den Erdbeeren und sie sagte: „Da ist dein Wunder!"

DER LOTTOSCHEIN

Jens war ja immer schon ein schwieriger Junge gewesen, würde seine Mutter sagen und auf die frühe Kindheit hinweisen, auf Phasen, in denen er nachts nicht schlafen konnte oder wollte, so dass er auch tagsüber eher ein missgelauntes Kind abgab. Nicht wirklich ein Wonneproppen. Der Gerechtigkeit halber müsste man natürlich diverse Krankheiten anführen: frühe Verdauungsprobleme, Infektionen, Neurodermitis.

Gestern hatte er sich quergestellt und stundenlang über eine Taschengelderhöhung herumdiskutiert, obwohl er sich gleichzeitig weigerte, einfach mal eben Staub zu saugen und den Müll runterzubringen. Sie war hart geblieben, nur um viel zu spät festzustellen, dass er die Deutsch Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und sie schrieb ihm keine Entschuldigung. Um 22 Uhr waren sie endlich fertig, sie öffnete völlig genervt eine Flasche Rotwein und ging ins Bett. Das Zeug schmeckte schon beim zweiten Glas eher nach roter Tinte und verbesserte auch so gar nichts an ihrem verkorksten Leben mit der Scheidung von einem LKW-Fahrer als Ehemann, der sowieso selten dagewesen war. Er fuhr Spezialtransporte quer durch ganze Kontinente und wenn er mal anlandete, brachte er exotische Geschenke mit, aber bei der Erziehung half er kein bisschen. Er spielte höchstens Fußball mit Jens.

Permanent musste sie alleine klarkommen, den Halbtagsjob als Kassiererin runterreißen, den Haushalt schaffen und sich um Jens' Hausaufgaben kümmern.

Jens selber war auch rundum unzufrieden, er fand es ungerecht, dass so viele in der Klasse wohlhabender waren als seine Familie und er. Gut, da gab es auch die drei oder vier Hartz-IV-Empfänger, aber selbst da stach Patrick heraus, der immer Geld von Oma, Onkel, Tante bekam, immer Süßigkeiten am Kiosk kaufte oder Chips und dauernd mit neuen Elektroautos und Playstation-Spielen prahlte. Wenn All-Terrain-Jeeps in waren, hatte er einen ferngesteuerten Jeep, wenns Miniracer waren, hatte er eben einen Miniracer! Und manch andere hielten es genauso.

Markus war anscheinend am reichsten, lebte in einer Villa mit Partykeller, wo Schulklassen Abschlussfeste feierten! Die ganze Klasse war im Sommer mal zum Grillen eingeladen gewesen. Da hatte Jens mal pinkeln müssen und sich tatsächlich im Keller verlaufen, für 20 Sekunden hatte er nicht mehr gewusst, wie er da rauskommen sollte!

Andere fuhren scharfe Karren, zum Beispiel einen gewaltigen Mercedes, der fett getunt auf breiten Schlappen daherkam und ein Geräusch abgab – die Leute auf dem Bürgersteig fielen vor Schreck tot um, wenn Vater Schlüter aufs Gas trat.

Übrigens hatten sie auch alle einen Quadro-Kopter, einige sogar mit Kamera. Jens wartete auf den nächsten Sonntag, da sollte Vater ihn eigentlich besuchen und er hatte fest versprochen, einen mitzubringen.

Jens besaß auch kein I-Phone und nur eine uralte Playstation, auf der die aktuellen Spiele der anderen nicht liefen. Dementsprechend war er ein Außenseiter, der nicht mitreden konnte. Dafür träumte er viel. Unter seinen wenigen Spielzeugen fand sich eine kleine Plastikyacht ohne Motor.

Eigentlich war er mit 13, fast 14, zu alt für das Ding, aber oft setzte er die Yacht ins Waschbecken im Bad und stellte sich vor, er stünde am Steuer, ein Glas in der Hand mit einer in der Sonne golden schimmernden Flüssigkeit und auf dem Sonnendeck lägen zwei scharfe Tussis und wenn er weiter rausfuhr, würden sie ihre Bikini Oberteile ablegen...

Die Wirklichkeit ließ ihm keine Chance bei den Mädchen aus seiner Klasse. Er war nicht sportlich genug, um Bewunderung zu verdienen und konnte nicht ins Kino, ins Schwimmbad oder auf ein Eis einladen.

Neulich war er allein ins Schwimmbad gegangen, dazu hatte es einiger Vorbereitung bedurft. Er war zum Kiosk an der Alleestraße gefahren, der eher ein Tabakwarenladen war als alles andere. Dort hatte er für einen Euro weiße Mäuse, saure Würmer und die blauen Gummitiere verlangt. Der alte Mann drehte sich um, weil auf einem Tisch an der Rückwand die Gläser standen und Jens nahm mit rechts ein Disney Taschenbuch aus dem Fach vor der Theke und ließ es in die geöffnete Sporttasche fallen. Das ging wirklich nur hier. Dann fuhr er zu einem kleinen unterbesetzten Supermarkt, wo an der Kasse die üblichen Schokoriegel und Kaugummis aufgebaut waren. Er passte genau auf, dass er als einziger zur Kasse ging, während die Kassiererin Dosen in die Regale räumte. Er griff einen Schokoriegel, machte zwei Schritte weiter und während er den Kopf wandte, um zu sehen, ob er gerade nicht beobachtet wurde, nahm er seinen Einkauf, eine kleine Flasche Cola, setzte sie aufs Band und steckte den Riegel in die Hosentasche. Jetzt würde das Schwimmbad so richtig Spaß machen.

Als ein Mitschüler erzählte, dass seine Eltern 20.000 Euro im Lotto gewonnen und sich einen schicken Audi davon gekauft hatten, kam ihm die Erleuchtung: Er musste Lotto spielen. Wie sollte er sonst reich werden? Seine Noten wurden ganz langsam immer schlechter. Verschiedene Lehrer hatten seiner Mutter schon zu Nachhilfe geraten, aber das war zu teuer. Er würde bestimmt nicht zur Uni gehen, obwohl er mal davon geträumt hatte, Biologie zu studieren. Er hatte die neue Biolehrerin klasse gefunden, aber die war auch nur ein Jahr als Vertretung dagewesen.

Fast jede Woche gewann jemand eine große Summe, es musste ja auch keine Million sein, 500000 würden auch reichen für ein schickes altes Kabrio, ein handliches Motorboot und ein altes Bauernhaus draußen auf dem Land mit einer Wiese zum Fußballspielen. Weit draußen, wo einen nachts nicht das Anfahren der LKW am Bahnübergang aus dem Bett warf.

Er musste Lotto spielen! Die Zahlen ermittelte er nach seinem eigenen System, nämlich mittels Pendeln mit dem magischen Kugelschreiber, in dem sich eine nackte Frau verbarg, die nur sichtbar wurde, wenn man ihn umgekehrt hielt.

Wie war er erstaunt, als man ihm sagte, dass er dazu zu jung sei. Nun gut, er nahm den Schein mit nach Hause und erklärte seiner Mutter, dass sie das für ihn machen müsse und er legte die 1,25€ auf den ausgefüllten Schein.

Sie schüttelte den Kopf. „Kinder spielen kein Lotto."

Er kam nicht gegen sie an, Sucht, die auflaufenden Kosten, wenn man dauernd spielte, die praktisch nicht vorhandene Chance. Großmutter hatte immer getippt und das höchste, was sie je gewonnen hatte, waren zweihundert Mark gewesen.

„Wenn ich all das Geld hätte, das sie verspielt hat, könnten wir einen neuen Wagen kaufen! Der Fiesta ist total durchgerostet!"

„Aber ich will doch nur einmal spielen. Ich hab so ein gutes Gefühl! Und es sind ja nur 1,25€. Und es geht um 17 Millionen!"

„Wenn 16 das Gleiche wie du tippen, musst du mit 16 anderen teilen."

„Ja, stimmt, du hast recht", sagte er unerwartet sarkastisch. „Eine Million, das reicht uns natürlich nicht."

Sie lenkte ein. „Na gut, einmal, ja, aber dann wars das auch!"

Er nickte. „Logisch! Einmal!" Plötzlich kamen ihm Zweifel. „Und du machst das wirklich? Versprochen?"

„Versprochen", sie nahm den roten Schein und das Geld, stand auf und steckte beides in ihre Handtasche an der Flurgarderobe.

Über die Mathearbeit und Vater, der tatsächlich den Quadrokopter mitbrachte, vergaß er den Schein. Am Montag schrieben sie Englisch, am Dienstag gab es einen Ausflug nach Warner Bros Movie World und am Mittwoch las er in der Zeitung, dass der alte Jackpot geknackt war und der neue gerade mal eine Million betrug.

Die Zahlen ... waren seine. Er kannte sie auswendig, er schrie laut vor Freude, dann dachte er, er könnte sich ja auch irren, also holte er den Zettel aus seinem Etui, wo er im winzigen Geldfach steckte.

Es waren seine Zahlen. 17 Millionen! 6 Richtige mit Zusatzzahl!

Warum musste Mutter nur jetzt gerade einkaufen? Sie mussten zur Annahmestelle und den Schein vorlegen. Vor Aufregung kippte er fast um. Wow. Na also, es ging doch. Vorbei die Zeiten, da er sich Schokoriegel und Comics zusammenklauen musste und man bei Regenwetter im Fiesta auch nass wurde und er kaum je ins Kino gehen konnte. Und ... und wo er ums Taschengeld betteln musste.

Als sich die Türe öffnete und Mutter mit dem Schwall miefiger Luft aus dem Treppenhaus hereinkam, war er völlig fertig vom Herumhopsen und Schreien. Die Nachbarn hatten begonnen, an die Wände zu klopfen, aber darüber konnte er ja nur noch mehr lachen.

„Die Zahlen", brüllte er heiser. „17 Millionen!"

„Was? Schrei doch nicht so!"

„Die Zahlen, wir haben gewonnen!" Automatisch schloss er seine Eltern mit ein. Das Geld wurde natürlich geteilt, es war ja genug für alle da!

Sie setzte sich. „Bist du sicher?"

„Klar!", er holte die Zeitung ran, aber seine Mutter meinte, die Zeitung könne sich auch mal irren.

Mit einem kurzen heißen Anflug von Angst, dass er sich zu früh gefreut haben könnte, sagte er, dann solle sie halt ihr Smartphone nehmen und die Ergebnisse googeln.

Als sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck das Phone sinken ließ, begriff er, dass etwas nicht stimmte und gewaltige Schraubzwingen drückten seine Brust zusammen.

„Sind es nicht die richtigen ...?" Er griff wieder nach der Zeitung.

Sie sah ihn an, sah wieder weg: „Jens, ich habe den Schein nicht abgegeben, es ist doch nur Geldverschwendung!"

„6 Richtige, mit Zusatzzahl", wiederholte der Junge. „6 Richtige ... du hast ihn doch abgegeben?"

„NEIN! Ich habe ihn nicht abgegeben! Es tut mir leid!"

„6 Richtige ...", seine Stimme versagte. „Warum...", setzte er erneut an.

„Wer konnte das denn ahnen, Oma hat immer gespielt und nie gewonnen."

„A ... aber ich habe dir doch ...", und nun kam nichts mehr aus seiner zugeschnürten Kehle heraus. Dafür strömten Tränen wasserfallartig über sein Gesicht.

„Das Geld", sie zuckte die Schultern, „das gebe ich dir wieder. Wär natürlich schön gewesen." Sie zog ihr Portemonnaie heraus und öffnete es umständlich. Ihre Finger suchten wie fette Schnecken im Kleingeldfach nach den lächerlichen 1,25€. Sie reichte ihm das Geld, er schlug es ihr aus der Hand. Und rannte aus der Küche. Bevor sie die Hand heben konnte, um zurückzuschlagen.

Sie folgte ihm und blieb vor der Tür des Kinderzimmerchens stehen, um die Zeitung aufzuheben, die Jens hatte fallen lassen. „17 Millionen Jackpot an einen Gewinner im Ruhrgebiet" hieß es da. Und plötzlich stand ein Koffer voller Geld vor ihren Augen, ein Bild, das sie schnell wieder wegwischte.

„Kinder spielen nun mal kein Lotto!", rief sie halbherzig, sich immer noch verteidigend, weil sie noch nicht begriffen hatte, wie gründlich sie die Träume des Jungen und wie endgültig sie sein ganzes Leben zerstört hatte.

JESUS, GANESCHA & CO.KG

Die Erfahrung in einem grauen Jenseits aufzuwachen, zu wissen, dass man tot ist, und das ganze Drumherum erspare ich uns lieber. Schlimm genug, dass vor dem Krankenhaus ein Schild stand: „Shuttlebus für Verstorbene" und darunter ein Pfeil zur Straße. Das Ding hatte doch vorher da nicht gestanden!

Tatsächlich wartete ein Bus, ein abgehalftertes Teil mit Museumswert an der Bushaltestelle. Statt der typisch gelben Haltestellenschilder aber waren grauschwarze montiert:

Linie 1 Sammelstelle

Für alle Religionen, Transgender,

Veganer, Laktoseintolerante

Atheisten, Häretiker, Agnostiker: Linie 2 →

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Politiker: Linie 4 ↓