Sozi. Jude. Oberbürgermeister - Peter Feldmann - E-Book

Sozi. Jude. Oberbürgermeister E-Book

Peter Feldmann

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Beschreibung

»Die soziale Frage ist entscheidend für den Nährboden, der sich Extremisten bietet. Wir müssen alle mitnehmen. Wir müssen miteinander reden, streiten und diskutieren, wir müssen allen die gleichen Chancen auf ein würdiges Leben bieten.« Über zehn Jahre war Peter Feldmann Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main. Über seinen Lebensweg davor sind nur die wichtigsten Stationen bekannt: Etwa, dass er einmal ein Jugendhaus geleitet hat und bei Wohlfahrtsverbänden tätig war. Über seine jüdische und sozialdemokratische Vergangenheit, über sein Elternhaus hat er jedoch nie Auskunft gegeben. Das ändert er nun mit dieser Autobiografie, in der er seinen Weg zeichnet von der israelischen Kibbuz-Bewegung bis hin zu den Wirren der Kommunalpolitik. Die Rede ist auch vom Weg seiner Mutter und seines Vaters, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Schweden zum Widerstandskämpfer ausgebildet wurde und nach dem Krieg als Psychologe unter anderem bei der Jüdischen Gemeinde tätig war. Der Titel ist programmatisch wie provokant: »Sozi. Jude. Oberbürgermeister«.

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PETER FELDMANN

SOZI. JUDE. OBERBÜRGERMEISTER

nomen

Copyright © Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2022

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Alina Ammann, Frankfurt am Main

Umschlagfoto: Frank Widmann, Wiesbaden

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-939816-90-4

eISBN 978-3-939816-91-1

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gewidmet meinen Töchtern Hannah und Züleyha

Inhalt

1. Die Stadt

2. Das Gegenteil von Gleichgültigkeit

3. Das Volksheim

4. Im Kibbuz

5. Ein jüdisches Leben

6. Bonames

7. Jüdisches Frankfurt

8. Plötzlich an der Spitze

9. Viele Wahlen, viele Hochhäuser

10. Arbeiterwohlfahrt

11. Jude, Sozi, Oberbürgermeister – und jetzt?

Dank

1. Die Stadt

Frankfurt. Bonames. Eine Hochhaussiedlung. Erster Stock. Ich bin 15 Jahre alt und komme aus meinem Zimmer, weil mich die Stimme meines Vaters und die eines mir unbekannten Mannes anlocken. Ich gehe ins Wohnzimmer und muss erst einmal kurz stehen bleiben. Der Grund ist einer der, wie ich bis dahin vermutete, heiligsten Gegenstände in der Wohnung meiner Eltern. Das Sofa. Nie durfte ich meine Füße darauf ausstrecken (»Du machst das Sofa schmutzig!«), nie darauf trinken (»Du machst das Sofa schmutzig!!«), geschweige denn essen (»Runter vom Sofa!!!«). Ja, das Sofa kam mir als Kind fast heiliger vor als ein siebenarmiger Leuchter. So kann es gehen. Und nun sitzt auf diesem Sofa ein Mann, vielleicht Mitte 40, im selben Alter wie mein Vater, und gräbt seine Hände ins Polster, Hände, die so aussehen, als repariere er damit regelmäßig Autos, dazu gekleidet mit einem Outfit, das ihn vor meinem geistigen Auge irgendwo zwischen Malermeister und Lackierer changieren lässt. Der Mann schaut mich fröhlich an. Mein Vater: auch fröhlich.

Ich lasse mich, ungläubig was ich da sehe, auf einen Stuhl fallen. Mir gegenüber diskutieren mein Vater und der Freund über Israel. Jahre haben sie sich nicht gesehen.

Kennengelernt haben sie sich im schwedischen Exil. Der Freund ist der Meinung, man müsse jetzt weg. Am besten sofort. Er habe den Schritt richtigerweise schon gemacht.

Israel sei die Zukunft, das sei ganz eindeutig. Mein Vater zählt dagegen die Vorzüge Deutschlands auf. Die Sicherheiten. Die Sprache, ohne die es nicht geht, wenn man, wie er, Menschen zu therapieren versucht.

Ich amüsiere mich und sage nichts. Doch dann wendet sich der Freund plötzlich zu mir. »Der Junge muss mal raus«, meint er, während er mich mustert. Und: »Günter, ich sage dir: Der Junge muss nach Israel, weg von Frankfurt.«

Obwohl die Sätze nicht mein Vater sagt, vermute ich, dass er sie im selben Augenblick denkt. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher. Die beiden Männer schauen mich an. Vielleicht haben sie recht. Vielleicht muss ich raus. Weg aus der Hochhaussiedlung. Weg aus Bonames. Weg aus Frankfurt.

Das ländliche Israel wäre die Gegenwelt. Natur. Staub. Sternenhimmel. Keine Großstadt in der Nähe. Keine Flugzeuge und keine Autos und keine Bahn. Keine Partys in irgendwelchen Kellern. Weit weg sind Hochhaussiedlung, Bonames, Frankfurt.

Ich bin gerne in Frankfurt. Bin ich auch gerne in Israel? Heute verstehe ich den Zusammenhang. Denn Gegensätze sind manchmal gar keine. Wie die Unterschiede zwischen den Menschen:

Kleiner als man denkt. Ein Vorurteil.

Die Vorurteile über Frankfurt sind Floskeln, oft gehörte Wörter, die man zu vermeiden sucht: Finanzmetropole. Verkehrsdrehkreuz. Besonders schlimm: Mainhatten. Als ob man etwas Größerem nacheifern wollte.

Frankfurt am Main ist das alles, natürlich. Aber Frankfurt, wie ich es heute verstehe, ist: Eine Stadt, in der die Menschen diskutieren und streiten und ja, in der sie sich manchmal auch anschreien. Und danach bei einem Apfelwein, einem Cortado, einem Chai wieder zusammensitzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Frankfurt ist keine Stadt des Hasses. Und Menschen, die andere hassen, haben hier nichts verloren. Das macht die Stadt für mich viel mehr aus als die drei Floskeln. Klar, die Finanzinstitute, die IT-, die Pharma- und Chemieunternehmen, der Flughafen, sie alle legen die Grundlage für die Weltläufigkeit dieser kleinen europäischen Großstadt.

Und ebenso klar, dass die Internationalität eines der fünf großen Themen meines ersten Wahlkampfs und damit auch meiner Zeit als Oberbürgermeister wurde. Es ging darum, dass die Internationalität Chance und Verpflichtung ist, dass wir Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit mutig entgegentreten.

Die soziale Frage ist entscheidend für den Nährboden, der sich Extremisten bietet. Wir müssen alle mitnehmen. Wir müssen miteinander reden, streiten und diskutieren, wir müssen allen die gleichen Chancen auf ein würdiges Leben bieten.

Und das Schöne ist: In Frankfurt wird Toleranz und Mitmenschlichkeit gelebt.

Deutlich über die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner haben einen internationalen Hintergrund. Der Theatermacher Wolfgang Kaus überschrieb seine Autobiographie mit den Worten: »Mensche gibt’s – all sin se anners.« Fand ich ganz passend.

In den vergangenen Jahren habe ich die Gelegenheit gehabt, den Vorhang zu lüften und dem Geheimnis der Weltläufigkeit nachzugehen.

Ansatzpunkte dafür finden sich in den großen historischen Instituten unserer Stadt. Im Jüdischen Museum, im Institut für Stadtgeschichte, dem Historischen und dem Archäologischen Museum und in den Worten der vielen Heimatforscher, die jeden Winkel der Vergangenheit ausmessen und Forschern gleich den Staub wegpinseln und Schlussfolgerungen für unsere Gegenwart und Zukunft ziehen. So erfuhr ich nach und nach, dass das, was diese Stadt ausmacht, nicht immer bloß ein Gefühl war, nicht immer bloß eine Feststellung, eine Erkenntnis, sondern dass dies alles tief in der Frankfurter Geschichte verankert ist – dass die Menschen, die hier inmitten von Europa leben, schon seit über 2000 Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass sie nicht nur besser zurechtkommen, wenn sie Fremde empfangen und bewirten und über ihr Leben ausfragen, sondern ganz schlicht die Geschäfte besser laufen, wenn man seine Türen öffnet und die Fremden einlädt und sich ihre Geschichten erzählen lässt.

Das hört sich jetzt alles so nett an. Aber es geht gar nicht ausschließlich darum, dass die Menschen hier zugänglich sind. Ich erlebe sie, so paradox es sich anhören mag, in einem angenehmen Sinne als frech, respektlos, diplomatisch würde man sagen: sie fordern Toleranz und Transparenz ein.

Hinter der Frechheit steckt Neugier. Ein ganz starkes Bedürfnis mitzubekommen, wer der andere, der sogenannte Fremde ist.

Das ist selbstverständlich durch den Handel geprägt. In dieser Stadt, die von ihrer Gründung an von so vielen Verkehrswegen durchkreuzt wurde und wird, sieht man sich nicht nur zweimal wieder, sondern drei-, vier-, fünf- oder zehnmal.

Das macht es hier so friedlich. Es öffnet die Stadt.

Und ist folgenreich.

Die Menschen, die hierherkommen, müssen beispielsweise ertragen, dass ihre Kinder andere Kinder kennen und lieben lernen, die aus anderen kulturellen Kreisen und Religionen kommen. In Frankfurt mit dem Vorhaben zu leben, dass man nur unter seinesgleichen bleibt, ist unmöglich.

Wer versucht auszugrenzen, ist verloren.

Das ist das eine.

Das andere ist, dass das Kommen und Gehen zur DNA gehört. Und weil das Kommen und Gehen, das Ankommen und Abreisen, das Kennenlernen und Verabschieden schon weit vor der Römerzeit seinen Grundstein fand, sehe ich darin einen sehr angenehmen konservativen Geist.

Wer in Frankfurt am Alten festhält, der muss konsequenterweise die Tür für Neues öffnen. Wenn ich das auf den Demokratiereisen, die die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt weit in die Region führen, sage, dann sind manche sehr überrascht.

Dadurch, dass hier alle miteinander irgendwie klarkommen müssen, dadurch, dass es hier keine abgegrenzten ethnischen Viertel gibt, keine Chinatowns und keine Banlieues, wird jedem relativ schnell klar, dass das Verharren im eigenen Club, das Abgrenzen tatsächlich ziemlich aussichtslos ist.

Oft habe ich mich gefragt, warum Frankfurt nach der Nazi-Zeit so ein Anlaufpunkt für jüdischgeprägte Akademiker wurde. Adorno, Habermas, Marcuse, warum wollten die ins Land der Täter zurück?

Wenn man sich die Stadtgeschichte anschaut, mit ihrem schon lange vor 1933 ambivalenten Umgang mit den Juden, gab es immer eine Wurzel, die in eine andere Richtung gewiesen hat.

Hier liegt der Ursprung der Romantiker, die von einer anderen, freien Gesellschaft geträumt haben wie etwa Bettine von Arnim, die Kontakte zu Karl Marx oder Ferdinand Lassalle pflegte und sogar Armutsforschung betrieb.

Nur ein Beispiel dafür, dass auch in früheren verschlosseneren Gesellschaften immer gleichzeitig der bemerkenswertere Teil da war, der Veränderungen wollte, der Aufbruch wollte, soziale Gerechtigkeit und Toleranz und Freiheit.

Diese Gedanken, diese Menschen, diese Einstellungen wirken wie ein Magnet. Trotz der Verbrechen der Nationalsozialisten.

Ich habe Bilder im Kopf, nicht nur von der Frankfurter Schule und ihren Diskussionen mit den Studentinnen und Studenten. Ich sehe auch Fritz Bauer, den Staatsanwalt, der die Auschwitzprozesse in Frankfurt vorantrieb, wie er im schummrigen Licht des Club Voltaire das Publikum selbstbewusst agitiert. Ich kann verstehen, welche Freude es für die Zurückkömmlinge bedeutet haben muss, als die jüngere, deutsche Generation sich in den Studentenprotesten aufgelehnt hat und die richtigen Fragen gestellt hat – die Fragen nach den Verbrechen und den Tätern und den Verantwortlichen, viele davon nach kurzer Abkühlphase wieder in Amt und Würden und oft noch von der jungen Bundesrepublik hochdekoriert.

Für mich ist das alles kein Zufall: Kein Zufall, dass die Frankfurter Schule hier begründet wurde, kein Zufall auch, dass Frankfurt eines der Zentren der Studentenproteste Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre wurde.

Natürlich war Frankfurt eine andere Stadt. Noch in den 1920er-Jahren war hier der höchste Anteil jüdischer Bevölkerung in ganz Deutschland.

Im Ostend waren es sogar über 50 Prozent.