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Kommissarin Heide Rose und ihr Partner Peter Grahne werden zu einem furchteinflößenden Tatort gerufen: Im Moor ragt eine menschliche Hand aus dem Wasser. Bei der Toten handelt es sich um Marie Fuchs, eine junge Floristin, die mit ihrem Hund im Wittemoor spazieren war. Aber warum musste sie sterben? Seit einiger Zeit wurde sie von einem Stalker verfolgt und belästigt. Konnte der Mann ihre Abweisung nicht ertragen? Und was hat es mit dem Unbekannten mit schwarzer Kapuze auf sich, der zuletzt immer wieder vor ihrem Blumenladen gesehen wurde? Heide Rose und Peter Grahne ermitteln fieberhaft. Doch keine Indizien erhärten sich. Dann taucht eine ganz neue Spur auf, die die Ermittler in eine völlig andere Richtung zu führen scheint...
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Das Buch
Kommissarin Heide Rose und ihr Partner Peter Grahne werden zu einem furchteinflößenden Tatort gerufen:
Im Moor ragt eine menschliche Hand aus dem Wasser. Bei der Toten handelt es sich um Marie Fuchs, eine junge Floristin, die mit ihrem Hund im Wittemoor scheinbar spazieren war. Aber warum musste sie sterben? Seit einiger Zeit wurde sie von einem Stalker verfolgt und belästigt. Konnte der Mann ihre Abweisung nicht ertragen?
Und was hat es mit dem Unbekannten mit schwarzer Kapuze auf sich, der zuletzt immer wieder vor dem Blumenladen gesehen wurde?
Heide Rose und Peter Grahne ermitteln fieberhaft. Doch keine Indizien erhärten sich. Dann taucht eine ganz neue Spur auf, die die Ermittler in eine völlig andere Richtung zu führen scheint...
Die Autorin
Andrea Wendeln schreibt seit ihrer Jugend. Wurde 1967 in Oldenburg geboren, wo sie noch heute im Landkreis lebt.
Zahlreiche Gedichte und einige Kurzgeschichten sind in Anthologien erschienen.
Dies ist ihr zweiter Krimi von Heide Rose und Peter Grahne.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Er schaute abermals auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb sieben, sie müsste jeden Augenblick herauskommen. Verstohlen schaute er sich um, ob ihn auch keiner bemerkte, doch die Leute nahmen ihn nicht wahr. Sie waren damit beschäftigt, pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Plötzlich kam sie mit ihrem kleinen Hund aus dem Hinterhof. Ihm wurde ganz warm ums Herz, es gab keinen Zweifel, sie war für ihn bestimmt. Wie anmutig sie sich bewegte, eine lose Haarsträhne mit der Hand wieder zurückstrich, ihre Stimme. Da konnte sie noch so oft eine gerichtliche Verfügung erwirken, dass er sich ihr nicht nähern, sie nicht anrufen durfte.
Er konnte einfach nicht von ihr lassen, wollte er auch nicht, sie würde es irgendwann einsehen müssen, dass sie ihn auch liebte.
Langsam löste er sich aus dem Schatten des Hauses auf der gegenüberliegenden Seite und folgte ihr. Er hatte eine Jacke mit Kapuze an und diese über den Kopf gezogen. So fiel es kaum auf, dass er sie beobachtete.
Sie lief heute mit ihrer Fibi, wie der kleine Hund hieß, in Richtung Innenstadt.
Ja, natürlich wusste er, wie ihr Hund hieß, alles, was sie betraf, interessierte ihn.
Sicher würde sie wieder in die Elisabethstraße einbiegen und Fibi am Ufer der Mühlenhunte schnuppern lassen, wieschon so oft. Ganz selten ging sie auch mit ihr in den Schlossgarten auf der anderen Seite der Mühlenhunte, dem Wassergraben des Oldenburger Schlosses.
Wie beschwingt sie wieder ging, er liebte es einfach, jede Bewegung von ihr.
Oh verdammt! Er drehte sich schnell weg, da sie sich aufmerksam umsah. Er holte sein Smartphone aus der Tasche und hantierte daran herum, als wäre er damit beschäftigt, anstatt damit, sie zu beobachten. Dann tat er, als würde er telefonieren, und sah rein zufällig wieder zur anderen Straßenseite hinüber. Sie lief weiter, und er steckte augenblicklich sein Handy wieder in die Jackeninnentasche. Nun ging er eiligen Schrittes weiter, blieb aber auf der anderen Seite, damit sie ihn nicht bemerkte.
Er nahm im Vorbeigehen gerade wahr, dass beim Kiosk wieder mal Hochbetrieb herrschte, und ging zügig weiter zur Ampel.
Da, sie bog wieder in die Elisabethstraße, er hatte es sich doch gleich gedacht.
Schnell wollte er auf die andere Seite, aber so einfach war das nicht, bei dem Betrieb hier auf der Straße.
Keine Sekunde ließ er sie aus den Augen. Wie schön sie wieder war! Eine Strähne von ihrem rötlichen Haar schaute unter ihrer schwarzen Strickmütze hervor und ihre Sommersprossen konnte er sogar bei dieser Entfernung erkennen. Oder erinnerte er sich nur daran, genauso wie an ihren lieblichen Duft? Ja, als er sie im Sommer das erste Mal gesehen und gesprochen hatte, da hatte er sich alles genau eingeprägt.
Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, die Autos hielten alle an, und die Ampel zeigte ihm Grün. Zügig lief er über die Straße und ging ihr in die Elisabethstraße hinterher. Doch Vorsicht, er musste aufpassen, dass er ihr nicht zu nah kam. Laut Gerichtsurteil durfte er sich ihr nurbis zu fünfhundert Metern nähern. Weil er sie einfach in den Arm genommen und leidenschaftlich geküsst hatte, als sie nicht gespürt hatte, dass sie zusammengehören.
Er hatte keine Ahnung, warum sie ihm dann eine Ohrfeige verpasst hatte, es sei denn, sie hatte es immer noch nicht gespürt. Doch er gab nicht so einfach auf, hatte sie wieder an sich gerissen, und … dann waren leider Leute dazwischengekommen, denn sie hatte um Hilfe gerufen. Natürlich wollte er das Missverständnis aufklären, aber sie war völlig durcheinander gewesen, hatte gemeint, sie kenne ihn nicht und er habe sie zum Kuss gezwungen. So leicht gab er sich nicht geschlagen, dachte er nun und folgte ihr in einigem Abstand. Gut, es waren keine fünfhundert Meter, aber solange er nicht gesehen wurde …
Ob sie heute wieder am alten Gefängnis entlang zurückging? überlegte er und lief etwas schneller, während sie am Ufer der Mühlenhunte gerade die Hinterlassenschaft ihrer Hündin mit einem Beutel aufnahm. Es war auch hier in der Seitenstraße einiges los, Autos fuhren ständig vorbei, und viele Fußgänger kamen ihm entgegen. Dann schaute er sich um, suchte mit seinen Augen das Ufer der Mühlenhunte ab, doch er sah sie nicht mehr. Er erweiterte seinen Radius, doch sie blieb verschwunden. Schnell ging er die Stufen des ehemaligen Vereinte-Versicherungs-Gebäudes hoch und blickte sich wieder nach ihr um.
Da war sie, immer noch am Ufer, und kam langsam in seine Richtung.
Doch was war das?! Unweit von ihm, auf der gleichen Straßenseite, hinter einem Auto, stand ebenfalls ein Mann und beobachtete sie. Oder sah er einfach nur über die Straße, rüber zum Schlosspark?
Er beobachtete abwechselnd Marie und diesen Mann. Es war nicht ihr Ehemann, das war sicher, aber wer war er?
Marie bückte sie zu ihrer Hündin, und der andere Mannfolgte ihr mit dem Blick, ging etwas neben das Auto, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Was fiel dem blöden Typen ein, das war seine Marie!
Es machte ihn augenblicklich rasend, und so ging er die Stufen der Vereinten hinunter und mit zügigen Schritten auf den Kerl zu.
»Was bist du denn für ein Typ?! Beobachtest du etwa die Frau da drüben mit ihrem Hund?«, knurrte er leise und schubste den Fremden hart, ohne dass dieser darauf gefasst gewesen wäre und gegen das nächste Auto stolperte.
Erschrocken sah der Fremde ihn an, zeigte ihm seine offenen Hände, drehte sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung Hauptstraße.
Hoffentlich hatte sie nichts bemerkt, dachte er und sah sich nach ihr um.
Doch er konnte sie nicht entdecken, ging die paar Schritte zurück zur Vereinten und die Stufen wieder hinauf. Er hielt sich am Geländer fest, als er sich umdrehte und nach ihr Ausschau hielt. Nirgends war sie zu sehen, und er ging eilig die Stufen wieder hinunter, um die Straße zu überqueren. Er wollte den Grünstreifen der Mühlenhunte absuchen. Nur musste er erst mal können, denn es kamen zwei Autos vorbei, doch dann war er endlich da. Es war ihm nun auch ganz egal, ob er ihr zu nah kam, sogar ob sie ihn bemerkte. Ja, er wollte eh, dass sie ihn auch sah, aber eben dann, wenn er es wollte. Sie sollte wissen, dass er so schnell nicht aufgab, seine Liebe zu ihr nicht einfach einstellen konnte.
Doch auf dem Grünstreifen der Mühlenhunte war sie nicht mehr, auch nicht weiter bei der Kreuzung. Er schaute zur Kreuzung und sah auf der anderen Seite gerade noch die schwarze Strickmütze mit der roten Strähne und einen kleinen Hund an der Leine. Sie ging wieder zurück zum Damm. So ein Mist, wieso dreht sie denn nicht ihre Runde, so wie sonst? fragte er sich. Schnell lief er hinterher zur Kreuzung, überquerte die Straße und ging auch am Damm lang. Als er um die Ecke kam, konnte er gerade noch sehen, wie sie mit ihrem kleinen Hund wieder auf den Hinterhof lief. Er sah sich dort weiter um, aber von dem komischen Typen eben war nichts mehr zu sehen, auch der war verschwunden.
Er war verärgert, hatte sich das heute anders vorgestellt und wusste schon jetzt, dass er es heute noch mal versuchen würde. Wenn er sie schon nicht genügend sehen konnte, wollte er wenigstens ihre Stimme hören.
Enttäuscht zog er erst mal ab und ging zu seinem Auto, um zur Arbeit zu fahren.
Ich krieg dich schon noch, dachte er und startete seinen Wagen.
Marie Fuchs schaltete als Erstes die Heizung ihres kleinen Blumenladens am Rande des Stadtkerns von Oldenburg etwas höher, da die Temperaturen in der Nacht doch ganz schön runtergegangen waren.
Dieser Morgen in den letzten Märztagen war sehr kalt, es hatte draußen gefroren, doch die Blumen in ihrem Laden hatten genug Wärme.
Der Wetterbericht sagte heute Morgen, dass der Frost erst mal ein Ende hatte. Es sollte heute über Tag bis zu zehn Grad werden und in der Nacht nur noch auf fünf Grad runtergehen. Endlich schien der Frühling zu kommen, dachte Marie und freute sich schon sehr darauf.
Die junge Frau mit den roten Haaren hatte sich mit dem Laden einen Traum erfüllt, als sie ihn vor einigen Jahren von einem älteren Ehepaar übernommen hatte. Davor war sie drei Jahre bei ihnen als Floristin angestellt gewesen und hatte immer mehr ihrer Aufgaben übernommen, immer mehr Einblick in ihr Geschäft bekommen, da die beiden schon auf die siebzig zugingen. Bis der Tag kam, an dem sie Marie fragten, ob sie den Laden übernehmen möchte, da sie endlich in Rente gehen wollten.
Die mittelgroße Frau führte den Laden seitdem fast allein, nur an zwei Nachmittagen bekam sie Hilfe von Petra, einer jungen Floristin und Mutter, die nicht ganz aus ihrem Beruf kommen wollte.
Doch ganz allein war Marie nie, denn sie hatte ja ihre kleine Chihuahua Hündin Fibi immer dabei.
Marie hatte sich gegen die Kälte mit einem dicken Pullover gewappnet. Fibi hatte neben der Heizung in der Ecke eine kleine Kuschelhöhle, worin die Hündin gleich verschwand und sich einrollte. Sie machte morgens immer noch ein Schläfchen. Frieren tat die Hündin nicht so leicht, denn sie war nicht so ein Mini-Chihuahua, Fibi wog dreieinhalb Kilogramm und hatte sehr dickes Fell. Außerdem hatte Marie der kleinen Hündin noch eine kleine Decke in ihre Höhle gelegt. Im Nu war sie darunter verschwunden und schlief nun.
Kaum war das Licht in dem Blumenladen eingeschaltet, kam der Holländer mit ihrer Lieferung Blumen für die nächsten Tage mit seinem Lkw angefahren.
Na das passt ja, dachte Marie Fuchs und stellte schon mal die Tür mit einem Keil fest.
Schnell wurde alles in den hinteren Raum gebracht und kontrolliert. Die Ware war wie immer einwandfrei, und Marie bedankte sich.
Kaum war der Laster weitergefahren, kam Peter von der Post.
Der wurde natürlich von der kleinen Hündin begrüßt, denn er hatte ja immer ein Leckerli dabei. Damit verschwand Fibi aber auch gleich wieder in ihrer Höhle und kam nicht wieder raus. Dafür war ein Knabbergeräusch zu hören. Marie musste lachen, ebenso wie der Postbote.
Neben den üblichen Werbungen hatte er heute einen sehrwichtig aussehenden amtlichen Brief für Marie dabei.
Sie erschrak etwas, als sie das Wort Notar las. Der Postbote verabschiedete sich nach ihrer Unterschrift für das Einschreiben wieder, und Marie wünschte ihm wie immer einen schönen Tag, während sie gedankenverloren auf den Brief starrte. Ob er etwas mit ihrer Anzeige zu tun hatte? War er am Ende gar von ihm? Oh sie wünschte so sehr, dass das endlich aufhören würde.
Sie wurde seit einigen Monaten von einem jungen Mann gestalkt, wie man heute sagte. Früher nannte man das einfach belästigen, obwohl einfach war so was ganz gewiss nicht, dachte sie, als sie das Kuvert anstarrte.
Doch der Brief musste erst mal warten, sie legte ihn in die Schublade ihres kleinen Schreibtischs in der Ecke. Heute Mittag habe ich Zeit für dich, dachte sie und machte sich schnell an den bestellten großen Blumenstrauß für einen Geburtstag. Der Kunde wollte ihn um acht Uhr abholen, und nun war gerade sieben Uhr vorbei.
Schnell suchte sie sich zusammen, was sie dafür brauchte, natürlich unter Berücksichtigung dessen, was der Kunde wollte, und band mit flinken Händen eine wahre Farbexplosion aus gelben und dunkelroten Blumen zusammen. Etwas Schleierkraut kam noch zu den gelben Gerbera und dunkelroten Rosen dazu sowie dunkelgrüne Zweige zur Einfassung. Nachdem sie die Stängel auf gleiche Länge geschnitten hatte, kam der Strauß in eine Vase, die auf einem kleinen Tisch im hinteren Arbeitsraum stand.
Dann machte Marie eine Bestandsprüfung ihrer Ware im Laden und musste leider einige Blumen entfernen, deren Zeit vorbei war, sie hätte sie nicht mehr verkaufen können.
Die Topfblumen waren noch alle in Ordnung, und so wechselte sie bei den Schnittblumen noch das Wasser, bevor sie die frischen bearbeitete und in neue, leere Behälter füllte. Das war eine Menge Arbeit, zwischendurchbediente sie noch die Kunden, und so kam sie erst gegen Mittag, nachdem sie den Laden für die Mittagspause geschlossen hatte, dazu, den Brief vom Notar zu öffnen.
Sie nahm ein kleines Messer und schnitt vorsichtig den Umschlag auf.
Eilig flogen ihre Augen über das Papier, lasen ihren Namen, Haupterbe sowie den Namen ihres Vaters … verstorben. Ihr wurde ganz schwindelig, sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl und atmete tief durch.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein, dachte sie.
Sie hatte ihm doch gesagt, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte, und nun hatte er sie als Erbin eingesetzt? Sie holte noch einmal tief Luft und las noch mal Zeile für Zeile.
Einige Sätze las sie zweimal, bis sie den Brief wieder zusammenpackte und in den Umschlag zurücksteckte, als könnte sie diese Nachricht dadurch rückgängig machen.
Doch das konnte sie nicht, und ob es ihr gefiel oder nicht, ihr Erzeuger, wie sie ihn selbst zu nennen pflegte, wenn sie ihn überhaupt erwähnte, hatte sie zur Haupterbin seines Vermögens eingesetzt. Nun, jeder andere würde sich wahrscheinlich darüber freuen, denn Vermögen hatte er, wie er ihr mal versicherte, als er versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch Marie interessierte sein Vermögen nicht, er hatte damals ihrer Mutter den seriösen Geschäftsmann vorgespielt, bis sie dahinterkam, womit er sein Geld verdiente.
Richard Löwenherz, wie er in seinen Kreisen genannt wurde, war Bar- und Casinobesitzer und vermietete die oberen Räumlichkeiten an einige leichte Mädchen, wenn auch zu einem lächerlich niedrigen Mietpreis.
Ein Zuhälter mit Herz also, und dann war sein Vorname auch noch Richard, nicht verwunderlich also, dass er Richard Löwenherz genannt wurde.
Maries Mutter brach sofort den Kontakt zu ihm ab, obwohlsie bemerkte, dass sie von ihm mit Marie schwanger war.
Ihre Mutter hatte immer hart gearbeitet, um sich und das kleine Mädchen durchzubringen, was nicht leicht war, aber sie hatte es geschafft. Die beiden hatten ein gutes Verhältnis gehabt bis zu ihrem Tode vor ein paar Jahren.
Fibi kratzte plötzlich an Maries Bein, sie spürte, dass etwas geschehen war. Marie Fuchs nahm ihre kleine Hündin auf den Schoß und streichelte sie mit einer Hand. In der anderen hielt sie immer noch diesen Brief. Marie dachte an den letzten Satz des Notars: Bitte, es ist der letzte Wunsch von Richard, dass sie und ihr Mann am 14. April zur Testamentseröffnung kommen!
Ihre Gedanken knabberten an den Zeilen, bis sich ihr leerer Magen etwas lauter meldete. »Oh Mann, ich muss was essen!«, entfuhr es ihr.
Schnell tat sie den Brief wieder in seinen Umschlag zurück und legte ihn zurück in die Schublade ihres kleinen Sekretärs. Sie hielt Fibi fest mit einem Arm und ging aus dem geschlossenen Laden. Draußen im Hof war eine kleine Rasenfläche mit Baum, wo sie Fibi absetzte, damit sie sich erleichtern konnte. Sie schnupperte kurz umher und hockte sich dann hin, um Pipi zu machen. Dann ging sie mit ihrem Frauchen wieder zur Tür, um mit ihr wenig später eine Etage höher in ihrer Wohnung zu verschwinden.
Es war schon echt praktisch, über dem Laden zu wohnen, dachte Marie und setzte den vorbereiteten Eintopf auf den Herd, um ihn bei niedriger Einstellung zu erwärmen.
Einige Zeit später, nach dem Essen, ging ihr der Brief immer noch nicht aus dem Kopf, es quälten sie einige Überlegungen.
Plötzlich klingelte das Telefon, und Marie schrak zusammen. »Hallo, Schatz«, hörte sie am anderen Ende, »wie geht esdir?«
Marie freute sich sehr, die Stimme von ihrem Lars zu hören.
»Stell dir vor, ich habe Post vom Notar bekommen«, erzählte sie ohne Umschweife. »Mein Erzeuger ist gestorben, und ich bin wohl Haupterbe, soll zur Testamentseröffnung am 14. April nach Hamburg kommen«, erzählte sie. »Aber das können die ja so was von vergessen.«
»Aber … nun lehn es doch nicht gleich ab, überleg es dir erst mal in Ruhe«, meinte ihr Mann.
»Lars!« sagte sie scharf. »Du weißt, wie ich dazu stehe, ich wollte und werde nie was von seinem Geld anrühren!«
»Marie, du solltest gut darüber nachdenken, als Tochter steht dir das mehr als zu«, meinte er noch mal eindringlicher.
»Lars! Da gibt es nichts nachzudenken. Mein Entschluss steht fest«, befand sie endgültig. »Ich werde heute Abend einen Brief aufsetzen und morgen früh unseren Postboten mitgeben.«
Stille war auf einmal zwischen den beiden, bis Lars sie brach. »Hat er sich noch mal gemeldet?«, fragte er plötzlich, um auch vom Thema abzulenken.
Marie wusste sofort, wen er meinte, und verkrampfte sich.
»Nein, zum Glück nicht«, antwortete sie, die froh war, ihn für einige Momente vergessen zu haben. Dieser Stalker nervte sie eh schon genug.
Dann sagte sich das Ehepaar Fuchs »Tschüss, bis heute Abend!« und legte auf. Ihr Mann hatte bedrückt geklungen, langsam machte er sich auch Sorgen um sie, dachte Marie.
Sonst rief er eigentlich mittags auch nicht an. Marie schaute auf die Uhr.
Kurz nach vierzehn Uhr, dann kommt Petra bald, dachte sie, als plötzlich das Telefon wieder klingelte.
Bestimmt hatte Lars was vergessen zu sagen, dachte sie undmeldete sich mit: »Na, was ist denn noch Schatz?«
Plötzlich hörte sie ein Stöhnen, und eine schwer atmende Stimme sagte: »Ah, Marie! Endlich nennst du mich Schatz!«
Marie fiel fast der Hörer aus der Hand, sie konnte ihn gerade noch ergreifen und schaltete das Telefon aus.
Kreidebleich wurde sie, ging zwei Schritte und ließ sich aufs Sofa fallen.
Er hatte es wieder geschafft, durchfuhr es sie, er hat mich wieder so erschreckt.
Sie zitterte am ganzen Körper vor Aufregung.
Fibi sprang zu Marie aufs Sofa und legte sich ganz nah an das Frauchen. Marie streichelte sie dankbar, denn sie spürte so, dass sie nicht allein war.
Warum konnte dieser Kerl nicht damit aufhören? Immer wieder wurde sie von ihm beobachtet, er dachte wohl, sie würde ihn nicht bemerken, aber sie ließ sich nichts anmerken, solange er ihr nicht zu nahekam. Ansonsten hatte sie sich vorgenommen, ganz laut zu schreien und ihn mit dem Handy zu fotografieren.
Dann diese Anrufe, mal erzählte er genau, was sie getan hatte und wo, oder er wurde obszön. Ihr Herz raste, erst dieser Brief des Notars, dann der Anruf.
Marie versuchte sich zu beruhigen.
Als es plötzlich an der Haustür klingelte, schrak sie erneut zusammen und bekam Panik.
Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, und sie sah wie ein gehetztes Tier um sich. War dieser Stalker etwa unten vor der Haustür? Sie blickte zur Uhr, es war kurz vor halb drei. Oh nein, es war sicher Petra unten, dachte sie und betätigte die Freisprechanlage. Sie hatte recht, Petra antwortete. Erleichtert öffnete Marie die Tür und lief runter zum Laden, gefolgt von ihrer Hündin.
»Du meine Güte, Marie! Wie siehst du denn aus?« Petra blickte Marie besorgt an, die vor ihr mit nasser Stirn undkreidebleichem Gesicht stand. »Sag bloß, dieser Mann hat wieder angerufen?«, fragte sie, während sie sich zu Fibi bückte und diese zur Begrüßung streichelte.
Marie nickte nur, schloss den Laden auf und ging hinein.
»Petra, kannst du den Laden heute alleine machen? Ich muss hier dringend raus, ich habe auch noch Post bekommen heute, vom Notar. Ich muss unbedingt etwas Ruhe haben und mir über einiges klar werden«, sagte Marie.
»Natürlich, erklär mir, was anliegt, und dann ab«, meinte Petra.
Marie erzählte ihr kurz von der Ware, die gekommen war und die sie größtenteils schon verarbeitet oder weggeräumt hatte. Eine Bestellung musste noch erledigt werden, sie zeigte ihr den Bestellzettel, und das war es auch schon.
»Pass auf dich auf«, sagte Petra noch, Marie nickte und ging wieder in ihre Wohnung.
Eine Viertelstunde später saß Marie mit Fibi in ihrem kleinen Wagen und fuhr über die Cecilienbrücke, um bei der nächsten Kreuzung links abzubiegen.
Ständig schaute sie in den Rückspiegel, ob sie verfolgt wurde. Sie beobachtete die Wagen hinter sich genau, sie wollte auf keinen Fall, dass dieser Stalker an ihrem Lieblingsplatz auftauchte.
Sie hatte einen bestimmten Ort, wo sie entspannen und klare Gedanken fassen konnte. Zugegeben, sie musste etwas fahren, aber so oft gönnte sie sich das auch nicht.
Dieses Jahr war sie noch nicht dort gewesen, fiel Marie gerade ein, als sie die Straße zu ihrem Ziel lang fuhr.
Die Bahnschranken blieben zum Glück oben, als sie die Stedinger Straße stadtauswärts fuhr. Von der Holler Landstraße bog sie in die Hauptstraße und wenig später links nach Grummersort ab, wo sie den Wagen nach ein paar Straßen abstellte und mit ihrer Hündin ins Wittemoorlief.
Eine herrliche Stille und unglaublich gute Luft umgaben die zwei, als sie das Moor betraten.
Fast ein wenig bedrohlich, dachte sie einen Moment, als sie durch das strohgelbe Gras ging. Doch sie war sich sicher, dass ihr niemand gefolgt war.
Links vom Weg waren Wiesen, die von wenigen Bäumen umrahmt waren. Auf ihrer rechten Seite war es moorig, und einige dünne Birken standen dort, aber auch ein paar Erlen.
Zu dieser Jahreszeit waren noch kaum Insekten unterwegs, was auf jeden Fall etwas für sich hatte, dachte die junge Frau. Aber das würde sich sicher jetzt ändern, bei den vorausgesagten Plusgraden.
Auch kam bei diesem Wetter selten ein Mensch hierher, da es kalt und ungemütlich war. Fibi schnupperte interessiert hier und da herum, lief mal vor und mal hinter ihrem Frauchen. Sie genoss den kleinen Ausflug auch sichtlich, da der dicke Hundepulli sie auch prima vor der Kälte schützte.
Den hatte Marie ihrer Hündin lieber noch angezogen, da der Boden sehr kalt war, wenn auch das Thermometer tatsächlich auf fast zehn Grad gestiegen war. Zumindest in der Sonne.
Marie ging langsam den Weg entlang, der mal nach rechts und mal nach links abbog, vorbei an dem Aussichtsturm, und wenig später bog sie in einen kleinen, kaum erkennbaren Trampelpfad ein. Der Weg war von der Sonne aufgetaut, und auch das gelbe Gras war so feucht, dass Marie fast lautlos den Pfad gehen konnte.
Die Gagelsträucher an und um den kleinen See sahen gespenstisch aus. Genau wie die Birken und Blaubeerbüsche überall im Moor. Bizarre kahle, dunkle Gestalten in einer strohgelben Landschaft mit schwarzen Moortümpeln.
Man konnte aber bei genauem Hinsehen die dicken Knospen entdecken, die nur darauf warteten, dass es wärmer wurde, damit sie aufplatzen und ihr Grün verbreiten konnten.
Marie hatte sich sehr warm angezogen, sie wollte zu ihrer Stelle an dem Moorsee, wo sie sich auf einen umgestürzten Baum setzte und tief einatmete. Für den feuchten Stamm hatte sie sich eine wasserdichte Sitzunterlage mitgenommen. Die hatte sie immer in ihrem Auto bereitliegen.
Da saß sie nun, nahm alles in sich auf, die Ruhe, den Geruch, die Natur um sich herum. Marie ließ noch mal den Tag Revue passieren. Sie starrte auf das Wasser und verlor sich in ihren Gedanken.
Ihr Erzeuger ist gestorben, ihre Mutter sprach damals nur von ihm, wenn Marie nach ihrem Vater fragte und selbst dann nur zögerlich. Die Mutter warf ihm nichts vor, sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie auf den galanten, charmanten Mann reingefallen war, der aus dem zwielichtigen Milieu kam. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter in diesem Umfeld aufwuchs, deshalb lehnte sie jede Hilfe und jeglichen Kontakt mit ihm ab.
Marie hatte es so übernommen, selbst nach dem Tod ihrer Mutter wollte sie nichts von ihm wissen. Überhaupt, ein Mensch der von der Spielsucht anderer Leute und der Ausbeutung junger Frauen lebte. Was konnte man von so einem Menschen schon halten?! Marie fiel wieder die Frau ein, die einmal bei ihr gewesen war. Da hatte sie schon den Blumenladen und der Frau einen Strauß nach ihren Wünschen gebunden. Sie hatte sich als eine der Frauen zu erkennen gegeben, die über dem Casino ihres Vaters ein Zimmer hatte. Er wäre so ein feiner Mann und hätte ihre Abweisung nicht verdient, sein Wohnzimmer wäre voll von ihren Fotos aus jeder Altersstufe, hatte sie gesagt. Außerdem wäre es sein größter Wunsch, wenn sie sich zu ihm bekennen würde und sie sich öfter sähen. Woher er die Bilder hätte, hatte Marie die Frau gefragt, doch die zuckte mit den Schultern und sah zur Seite weg. Marie hatte den Strauß schnell fertig gebunden, der Dame gegeben und ihr gesagt, dass ihr Erzeuger nicht wieder eine seiner Damen zu schicken brauche, sie bleibe bei ihrer Meinung. Als die Frau den Strauß bezahlen wollte, hatte Marie abgewunken und gebeten, sie in Zukunft in Frieden zu lassen. Die Dame hatte den Strauß genommen, ihr kurz zugenickt und war mit den Worten »Du hast nicht nur seine gütigen Augen« aus dem Laden gegangen.
Draußen hatte sie den Kopf geschüttelt und dabei rüber auf die andere Straßenseite gesehen, danach war sie die Straße entlanggegangen.
Marie hatte erst noch nachschauen wollen, wohin sie geblickt hatte, hatte es dann aber gelassen und ihre Arbeit weitergemacht.
Vielleicht hätte sie damals doch mal nachsehen sollen? War er es gewesen? Hatte er auf der anderen Straßenseite gestanden und gewartet? Und wieso hatte er so viele Fotos von ihr? Das hätte ihr die Frau sagen sollen, aber eigentlich war es ja jetzt auch egal.
Nun, sie wollte auch nicht wissen, wie er aussah, dachte Marie und schüttelte den Kopf. All die Jahre war sie ohne ihn ausgekommen, und nun brauchte sie ihn auch nicht. Sie wollte weder was über ihn wissen noch etwas von ihm erben.
Dieser Brief vom Notar hatte sie heute wirklich durcheinandergebracht, dachte sie und beobachtete die Wasseroberfläche, die vom Wind leicht gekräuselt wurde.
Ja, so geht es mir auch heute, durchfuhr es sie bei dem Anblick, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Dann fiel ihr der Anruf von diesem widerlichen Kerl ein, der sie seit Wochen belästigte. Sie wollte damit nicht schon wieder zur Polizei, es war ihr einfach zu peinlich. Allerdings, wenn es nicht aufhörte, dann musste sie dorthin.
Ein Schwarm Krähen flog plötzlich krächzend über sie weg und riss sie aus ihren Gedanken. Marie sah nach Fibi, die abseits im Gras am Schnüffeln war, und zog den dicken Kragen von ihrem Wollpullover bis über die Ohren.
Auf einmal fand sie es unheimlich da allein im Moor und sah sich um. Doch außer ihr war niemand dort, abgesehen von den Krähen und diversen anderen Tieren, die nicht im Süden überwinterten.
Jetzt wirst du albern, Marie Fuchs, dachte sie und lächelte.
Die Wolkendecke brach auf und ließ die Sonne rausschauen, es wurde gleich etwas wärmer, sodass sie sich ihr entgegenstreckte. Marie schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Einfach herrlich, diese Stille, dachte sie.
Doch schon musste sie wieder an den Brief denken und stellte sich vor, wie sie vor dem Notar saß und er ihr sagte, was sie geerbt hatte. Und das auch noch in dem Hause ihres Erzeugers.
Ich werde dem Notar schreiben, dass ich das Erbe nicht antreten werde, gleich heute Abend, wie ich es schon Lars gesagt habe. Auf keinen Fall wollte sie das Haus dieses Mannes zur Testamentseröffnung betreten. Lars hatte ja vor einem Jahr das Haus seiner Eltern geerbt, im Dobbenviertel von Oldenburg, eine gute Gegend. Es war vermietet, und er hatte gute Mieteinnahmen davon, wie er sagte.
Marie hatte auf einmal wieder das Gefühl, nicht allein zu sein, aber das stimmte ja auch. Die kleine Fibi wuselte hierin ihrer Nähe umher, alles andere sind wieder deine dummen Hirngespinste, sagte sich die junge Floristin und genoss weiter die Sonne, während sie ihren Gedanken nachhing.
Plötzlich hörte sie etwas hinter sich. Sie öffnete die Augen und wollte sich umdrehen, doch ein Arm legte sich um ihren Hals, drückte ihre Kehle augenblicklich zu.
Marie bekam keine Luft mehr, wollte schreien, doch nur seltsame, leise Geräusche kamen aus ihrem Hals. Ihre Hände griffen nach dem Arm, wollten ihn lockern, doch es gelang ihr nicht, ihn zu fassen. Sie saß wie in einem Schraubstock fest, gnadenlos und ohne Aussicht auf Lockerung. Panik kam in ihr auf. Wer um Himmelswillen war das? Was sollte das? Sie würde ersticken! Abermals schlug sie um sich, nur kurz, dann fielen ihre Arme schlaff herunter.
»Du lässt mir keine andere Wahl«, flüsterte ihr jemand ins Ohr, doch Marie hörte nichts mehr. Jegliche Spannung wich aus ihrem Körper, wie auch das Leben.
Nun war nur noch der Atem des Mörders zu hören und der Wind, der mit den fast kahlen Gagelsträuchern und der Wasseroberfläche zu spielen schien.
Kommissar Peter Grahne hatte sich mittlerweile etwas eingelebt, und auch die Scherze zu Hauptkommissarin Heide Rose hatte er fast alle gehört. Ihre Größe von 1,59 m und die Tatsache, dass sie eine gute Kampfsportlerin war, waren wohl maßgeblich dafür verantwortlich.
Er war schon einige Wochen in der Polizeidirektion und hatte so ziemlich alle Kollegen kennengelernt. Er teilte sich ein Büro mit Heide Rose, die die letzte Woche endlich mal ein paar ihrer Überstunden abfeiern konnte. Zum Glück war es sehr ruhig, nur ein Mordfall war passiert, bei dem Grahne vom Schreibtisch aus, die ermittelnden Kollegen unterstützt hatte. Es nervte ihn schon, dass er die ganze Zeit im Büro war und nicht draußen bei den Ermittlungen und erinnerte den promovierten Psychiater daran, was er nicht wollte.
Nämlich die ganze Zeit von einem Raum aus, seine Arbeit machen.
Doch nun war der erste April da, und die Kommissarin war endlich wieder zurück. Grahne freute sich, denn er arbeitete lieber mit ihr zusammen.
Einiges an Papierkram war in dieser Woche zu erledigen, sie gingen gerade einen alten, ungelösten Fall durch.
Plötzlich kam Kollege Müller aufgebracht ins Büro der beiden gestürmt.
»Rose!«, schrie er. »Rose, dir ist ein Flüchtiger gerade ins Auto gerast, die ganze Fahrerseite ist kaputt!« Er machte mit der Hand eine Bewegung, als erwartete er, dass sie aufspringen und ihm folgen würde. Doch Heide Rose bliebgelassen sitzen und arbeitete weiter.
»Hörst du nicht, dein RAV ist hinüber«, rief Müller noch mal und mit Nachdruck.
Grahne beobachtete das Ganze von seinem Schreibtisch aus, überlegte aufzustehen, aber sein Gegenüber blieb gelassen sitzen. Peter Grahne wollte sie gerade ansprechen, da sah Rose endlich auf und stellte nur kurz fest: »Wenn mir da einer reingefahren wäre, hätte ich schon längst einen Anruf von unserem Pförtner mit der Angabe, wer es war«, und machte mit den Unterlagen zu dem alten Fall einfach weiter.
Als das Telefon klingelte, erstarrte sie einen Moment, nahm dann zügig den Hörer ab und meldete sich.
»Kommissarin Heide Rose …« Sie wurde unterbrochen. »Ah, ja … alles klar, wir kommen gleich«, sagte sie und legte auf.
Grahne blickte sie nun erschrocken an, doch auch der Kollege sah irgendwie irritiert aus.
»Wir sollen zu Schießübungen rüberkommen«, sagte sie zu Grahne, speicherte alles auf ihrem PC und schaltete ihn aus.
»Ja, wie jetzt, Rose!?« Kollege Müller gab nicht auf. »Und dein Auto?«
»Ach, Müller, du alte Nase, seit Jahren versucht ihr mich in den April zu schicken. Tut mir ja leid, aber ich bin da echt durch meine Familie schon total abgehärtet. Gebt es endlich auf«, sagte sie bloß und sah zur Tür.
Schon schoben einige Kollegen den Kopf durch die Tür und lachten.
»Müller, ich habe es dir gleich gesagt, du schuldest mir einen Zwanni«, meinte einer und lachte laut. Kollege Müller maulte laut rum und griff zu seinem Portemonnaie in der Gesäßtasche. Ein Zwanziger wechselte den Besitzer. Rose schüttelte den Kopf, nahm ihre Jacke und verließ das Büro.
Grahne tat es ihr gleich, und wenig später saßen beide in ihrem unbeschädigten RAV und fuhren los. Rose grinste vorsich hin. Grahne musste auf dem Beifahrersitz lachen, Rose bemerkte es und fragte ihn, wieso er lachte.
»Ach, der Kollege hat sich so ins Zeug gelegt, um Sie in den April zu schicken, aber Sie sind ganz ruhig geblieben. Woher wussten Sie, dass es nicht stimmte?« fragte er sie.
»Also echt, jedes Jahr versuchen die es, sie sind zwar sehr kreativ, was die Einfälle angeht, aber ich kenne es schon von früher. Meine Familie und Freunde hatten es auch des Öfteren versucht. Irgendwann steht man morgens auf und denkt: ›Ah, heute ist der 1. April, mal sehen, wer sich was einfallen lassen hat‹, und geht in den Tag mit dem Bewusstsein, dass es eine Schreckensnachricht gibt«, lachte sie, und Grahne verstand. »Kennen Sie das nicht?«, fragte Rose ihren Kollegen auf dem Beifahrersitz verwundert.
»Nein, eigentlich nicht, jedenfalls nicht so schlimm. In der Schule haben das mal ein paar Mitschüler versucht, aber in meiner Familie wurde keiner in den April geschickt«, meinte er lachend.
Sie mussten etwas nach außerhalb fahren, doch sie kamen gut durch, die Straßen waren relativ frei an diesem Freitagmorgen. Das würde sich gegen Mittag sicher ändern, wenn alle ins Wochenende wollten, dachte Rose.
Wenig später kamen sie bei dem Schießstand an, wo die alljährliche Schießprüfung stattfand. Rose war gespannt, wie Grahne sich wohl anstellte, denn sie hatte ihn noch nie schießen sehen.
Ihr Auftauchen in den Räumlichkeiten sorgte für einige Belustigungen. Die Kommissarin ging mit ihren 1.59 m zielstrebig vor, gefolgt von ihrem Kollegen Grahne, der sie mit seinen 1.95 m weit überragte.
Das Grinsen ihrer Kollegen sah Heide schon lange nicht mehr, die meisten Kommentare überhörte sie, doch bei einigen besonders bissigen gab sie ihren Senf dazu.
Rose wollte Grahne den Vortritt lassen, doch er bestand auf Ladys First, und so ging sie in den Schießstand, nahm ihre Waffe und schoss blitzschnell auf die entfernte Zielscheibe, nachdem der Prüfer ihr ein Freizeichen gegeben hatte. Das ganze Magazin feuerte sie ab und lud die Waffe sofort nach.
Währenddessen war ein Schießplatz frei geworden, und Grahne kam rein, um seinen Test zu absolvieren.
Rose sah auf den Bildschirm und war mit ihrem Ergebnis zufrieden. Sie schaute sich dann nach Grahne um, den sie einige Reihen weiter fand. Sie blickte auf den Monitor, der seine Treffer anzeigte.
»Nicht schlecht«, dachte sie, seine Schüsse gingen alle auf die Scheibe, die meisten um die Mitte.
»Bin heute nicht so gut in Form«, meinte jedoch Grahne und zuckte mit den Schultern.
»Ach was«, entgegnete Rose und zog eine Augenbraue hoch. Sollte sie das jetzt glauben, überlegte sie und kam zu dem Schluss, dass es nur von Vorteil sein konnte, wenn der Kollege so gut mit der Waffe war.
Die Ergebnisse wurden eingetragen, und sie gingen auch schon wieder.
Zurück im Büro, wartete noch eine Menge Schreibtischarbeit auf die beiden. Doch schon wenige Stunden später war Feierabend, schöner noch, denn es war Wochenende.
Er stand vor der Tür des kleinen Blumenladens.
Wegen Krankheit geschlossen stand da, und das schon seit zwei Tagen.
Schnell wandte er sich wieder ab, bevor ihn noch jemand sah.
Der Typ fiel ihm wieder ein, der ihn vor ein paar Tagen plötzlich herumgerissen und geschlagen hatte. Dabei wollte er sie sich nur mal ansehen, aber dieser Typ, er schien sie zu beobachten. Ein Detektiv vielleicht, dachte er, dochirgendwie passte das nicht. Wo war sie bloß und wieso krank? Was sie wohl hatte? Nun, er würde einfach mal die nächsten Tage noch mal vorbeischauen. Irgendwann müsste sie ja wieder gesund sein, überlegte er und verschwand in Richtung Innenstadt.
Schon früh an diesem Sonntagmorgen war Günther Budde mit dem Fahrrad unterwegs. Wie jedes Jahr machte er an einem Sonntag Anfang April eine Führung anlässlich der Gagelblüte und war deshalb auf dem Weg zum Wittemoor, wo man sich um zehn Uhr traf. Seit zwei Wochen etwa war der Huder Gästeführer alle paar Tage ins Moor gefahren, um zu sehen, wann die Blüten des Gagelstrauches sich öffneten. Denn je nach Witterung kann es da Abweichungen geben, und er wollte sicher sein, dass bei seiner Führung durch das Moor, die Interessierten auch auf ihre Kosten kamen.
Er hatte gerade das Huder Ortsschild passiert und fuhr gemütlich auf dem Radweg der Linteler Straße am Reiherholz, einem Wald, entlang. Er genoss die Ruhe, bevorer sich all den Fragen der Wissensdurstigen stellte. Schaute, wie um ihn herum der Frühling langsam erwachte. Zu dieser Stunde bedeckte noch Tau das Gras am Straßenrand und auch die Wiesen auf der anderen Seite des Radweges.
Am Rande des Reiherholzes entdeckte er einen Sperber auf dem kräftigen Ast einer Buche. Auf der Wiese zu seiner Rechten sah er ein paar Rehe grasen.
Als er etwas später am Weg zum Wittemoor ankam, hatte er den Treffpunkt für die Führung erreicht. Er stellte sein Fahrrad an einem Baum am Wegesrand ab und schloss es ab. Da kamen auch schon die ersten Teilnehmer seiner Führung.
»Moin«, begrüßte man sich freundlich und die Teilnahmegebühr wurde von Herrn Budde dankbar entgegengenommen.
Auch dieses Mal herrschte großes Interesse an der Führung durch das Wittemoor. Es gab neben der Gagelblüte auch einiges anderes zu sehen sowie Interessantes von Herrn Budde zu berichten. Denn auch ein vorchristlicher Bohlenweg lag auf der Besichtigungstour und erhielt immer besondere Aufmerksamkeit.
Der Bohlenweg war Zeuge längst vergangener Zeit, er konnte auf das Jahr 135 v. Chr. datiert werden. Er überbrückte das Wittemoor und schuf eine Verbindung zwischen der Geest, einem Gebiet bei Hude, und der Hunte, einem Fluss. Der südliche Ausgangspunkt des Bohlenweges war eine eisenzeitliche Siedlung, unweit einer Quelle im Waldstück »Schnitthilgenloh« bei Lintel. Ein Teilstück des Bohlenweges wurde rekonstruiert und war jedes Jahr Teil der Führung durchs Wittemoor.
Mit dem Wetter hatte man heute wohl Glück, es waren zwar ein paar Wolken zu sehen, aber es sollte an diesem Sonntag trocken bleiben, versprachen jedenfalls die Wetterfrösche.
Der eine oder andere Teilnehmer verließ sich darauf nicht und war mit einem Regenschirm oder einer Regenjacke ausgestattet. Alle hatten aber an festes Schuhwerk gedacht, was auch besser war, denn der Weg durchs Moor war doch teilweise ganz schön uneben.
Langsam, aber sicher wurde die Gruppe vollständig, und es entstanden einige Gespräche, denn Herr Budde wurde schon einiges zur Führung gefragt. Gerade als die Gruppe starten wollte, gesellte sich noch ein Hobby-Naturfotograf dazu. Wie er nach den staunenden Blicken der Leute auf seine Kamera mit riesengroßem Objektiv und Stativ in der Hand erklärte.
Nun wurden alle von Herrn Budde offiziell begrüßt, und es gab die ersten Informationen zur Führung.
Dann bewegte sich die Gruppe, angeführt von Herrn Budde, in Richtung Wittemoor. Der Weg führte zwischen Wiesen hindurch, die mit Stacheldraht eingezäunt waren, vorbei an einigen Birken am linken Wegesrand.