Die Frau vom Strand - Petra Johann - E-Book
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Die Frau vom Strand E-Book

Petra Johann

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Beschreibung

Freundin oder Feindin?

Rebeccas Leben ist fast perfekt: Sie lebt mit ihrer Frau Lucy und ihrer kleinen Tochter in ihrem Traumhaus an der Ostsee. Nur wenn Lucy beruflich unterwegs ist, fühlt Rebecca sich einsam. Das ändert sich jedoch, als sie am Strand Julia kennenlernt. Die beiden Frauen freunden sich an und treffen sich täglich – bis Julia plötzlich spurlos verschwindet. Rebecca begibt sich auf die Suche nach ihr, stellt jedoch bald fest, dass sie ein Phantom jagt. Vieles, was Julia ihr erzählt hat, war gelogen, ihre angebliche Zufallsbegegnung sorgfältig inszeniert. Als Rebecca erkennt, weshalb Julia wirklich ihre Nähe gesucht hat, ist es zu spät. Sie muss eine Entscheidung treffen, um die zu schützen, die sie liebt ...

Ein Thriller wie ein Bad in der Brandung – er hinterlässt kalte Schauer.

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Seitenzahl: 526

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Über das Buch

Freundin oder Feindin?

Rebeccas Leben ist fast perfekt: Sie lebt mit ihrer Frau Lucy und ihrer kleinen Tochter in ihrem Traumhaus an der Ostsee. Nur wenn Lucy beruflich unterwegs ist, fühlt Rebecca sich einsam. Das ändert sich jedoch, als sie am Strand Julia kennenlernt. Die beiden Frauen freunden sich an und treffen sich täglich – bis Julia plötzlich spurlos verschwindet. Rebecca begibt sich auf die Suche nach ihr, stellt jedoch bald fest, dass sie ein Phantom jagt. Vieles, was Julia ihr erzählt hat, war gelogen, ihre angebliche Zufallsbegegnung sorgfältig inszeniert. Als Rebecca erkennt, weshalb Julia wirklich ihre Nähe gesucht hat, ist es zu spät. Sie muss eine Entscheidung treffen, um die zu schützen, die sie liebt.

Ein Thriller wie ein Bad in der Brandung – er hinterlässt kalte Schauer

Über Petra Johann

Petra Johann, Jahrgang 1971, ist promovierte Mathematikerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Forschung und in der Softwarebranche, bevor sie ihre wahre Berufung fand: Menschen umbringen – wenn auch nur auf dem Papier. Petra Johann ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, mittlerweile lebt sie in Bayern.

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Petra Johann

Die Frau vom Strand

Thriller

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil I – Rebecca

Teil II

Donnerstag

Freitag

Teil III

Freitagabend

Samstag

Sonntag

Teil IV – Rebecca

Teil V

Montag

Teil VI – Rebecca

Impressum

Prolog

Sie hörte, wie die Schritte über den Sand näher kamen, doch sie wusste, dass sie sie nicht rechtzeitig erreichen würden. Diese Schritte zusammen mit dem Rauschen der Wellen waren das Letzte, das sie jemals hören würde. Die Bäume auf dem Kliff über ihr, die sich schwarz und scharf vor dem Vollmond abzeichneten, waren das Letzte, das sie jemals sehen würde. Der Wind, der vom Meer her wehte und kalt ihr Gesicht berührte, war das Letzte, das sie jemals spüren würde.

Sie wusste all das, und es machte ihr nichts aus, denn mit der Klarheit, die nur die letzten Augenblicke vor dem Tod schenken, sah sie noch etwas anderes: Es war richtig so. Ein Leben für ein Leben.

Das Letzte, was sie empfand, war ein tiefer Frieden.

Teil I Rebecca

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal meine Geschichte erzählen würde. Ich hätte nie gedacht, dass sie jemanden interessieren könnte. Denn sehen Sie: Ich hatte bis vor Kurzem ein ganz normales Leben mit Job, Familie, Freunden. Ich hatte meinen Anteil am Glück und auch am Unglück – wobei letzterer gerne kleiner hätte ausfallen dürfen. Aber mir ist nichts passiert, das nicht Millionen anderer Frauen ebenfalls passiert ist. Und als ich Julia traf, dachte ich tatsächlich – nein, ich war sogar sicher –, ich hätte das Unglück überwunden. Ich wäre zumindest für die nächsten Jahre dagegen gefeit.

Im Nachhinein frage ich mich, warum eigentlich. Weil ich grenzenlos naiv war? Weil ich überzeugt war, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt? Weil ich zwar gelernt hatte, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht, ich aber dennoch eine Art Kinderglauben bewahrt hatte, dass nur böse Menschen Böses tun? Dass gute Menschen zwar nicht vor Schicksalsschlägen, aber irgendwie doch vor menschengemachten Grausamkeiten gefeit sind? Dass aus einer Entscheidung aus Liebe nur Gutes entstehen kann?

Ja, ich war wohl wirklich grenzenlos naiv.

Als ich Julia zum ersten Mal sah, war sie splitterfasernackt und rannte quer über den Strand auf mich zu. Ich machte mit Greta unseren Morgenspaziergang. Ich ging jeden Tag mindestens eine Stunde lang am Strand spazieren, manchmal oben durch den Küstenwald, manchmal unten am Wasser entlang. Mit dem Ritual hatte ich vor fünfzehn Monaten nach unserem Umzug nach Rerik begonnen. Damals war es oft die einzige Aktivität, zu der ich mich überhaupt aufraffen konnte. Hätte ich die Spaziergänge nicht gehabt, wäre ich vielleicht wirklich so verrückt geworden, wie meine Schwägerin es mir ohnehin zu sein vorwarf. Doch die Wellen, die in ihrem ewigen, jahrhundertealten Rhythmus an den Strand laufen, gaben mir das Gefühl, dass auch mein Leben weitergehen könnte – trotz allem, was geschehen war.

Wie gesagt, als ich Julia zum ersten Mal sah, lief sie nackt auf mich zu. Ich erschrak. Zwar war Nacktheit an diesem Strandabschnitt nichts Ungewöhnliches, denn hier war der FKK-Bereich, doch es war ein kalter, trüber Oktobertag. Graue Wolken ballten sich am Himmel, und es nieselte immer wieder. An einem solchen Tag gingen vielleicht einige hartgesottene Einheimische oder Nachsaison-Urlauber schwimmen, aber nur, um dann rasch wieder in ihre warmen Trainingsanzüge zu schlüpfen und sich einen Schluck heißen Tee oder Sanddornsaft aus einer Thermoskanne zu gönnen. Es war definitiv kein Tag, um ohne Kleidung am Strand herumzulaufen, und diese Frau sprintete auf Greta und mich zu wie eine hungrige Löwin, die unverhofft eine einsame Antilope entdeckt hat. Ich trat einen Schritt zurück und schlang meine Arme um meine fünf Monate alte Tochter, die im Tragetuch an meiner Brust döste. Vielleicht bemerkte die Frau die Geste und interpretierte sie richtig, denn zu meiner Erleichterung bremste sie ein paar Meter entfernt von mir ihren Lauf ab.

»Entschuldigen Sie bitte«, keuchte sie, leicht vornübergebeugt nach ihrem Sprint über Sand und Steine, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber Sie sind der einzige Mensch weit und breit, und ich brauche Hilfe. Ich war schwimmen, und irgendein Idiot hat mir währenddessen meine Klamotten und mein Handtuch geklaut. Nur meine Schuhe hat er gnädigerweise dagelassen. Vielleicht passt ihm neununddreißig nicht.«

Mit einem schiefen Lächeln streckte sie ein nacktes Bein vor, und ich sah, dass ihr Fuß in einem schmutzig-sandigen Joggingschuh steckte.

»Tja, ich würde Ihnen natürlich gerne helfen, allerdings …« Ich war nicht mehr erschrocken, dafür ratlos. Ich war schon immer schüchtern gegenüber Fremden und mag es gar nicht, wenn ich unverhofft mit Problemen überfallen werde. Lucy ist die Problemlöserin in unserer kleinen Familie.

»Sie tragen nicht zufällig ein Handtuch und ein paar Ersatzklamotten mit sich herum?«

»Wie bitte?« Einen Moment lang dachte ich, die Frau verdächtigte mich, ihre Sachen gestohlen zu haben, doch dann sah ich, dass ihr lächelnder Blick auf meiner Brust ruhte. Ich löste die Hände von Greta. »Nein, nur meine Tochter.«

»Das ist ärgerlich für mich.« Sie schwieg einen Moment, vielleicht um mir die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, doch mir fiel keine ein. »Tja, dann muss ich wohl nackt zu meiner Ferienwohnung zurückgehen. Ich hoffe, ich werde nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet.«

Sie sah fröstelnd an sich hinunter. Unwillkürlich tat ich dasselbe, obwohl ich es bisher vermieden hatte, auf ihren entblößten Körper zu starren. Salzwasserperlen glitzerten auf ihrer vom langen Sommer gebräunten Haut, und auf ihren Armen und Beinen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Der Anblick löste mich aus meiner Erstarrung.

»Aber nein, das müssen Sie natürlich nicht. Warten Sie!« Ich kramte in den Taschen meiner Softshelljacke und zog eins von Gretas Spucktüchern hervor. Ich trage immer mindestens eins mit mir herum, genauso wie eine Windel, Gretas Lammfellschuhe, manchmal Ersatzkleidung, einen Schnuller und alles mögliche Andere. Lucy spottete immer, ich sei ein wandelnder Laden für Babyausstattung. Seit ich Mutter geworden bin, ist das zweifellos richtig. Da ich meine Tochter am liebsten im Tragetuch bei mir habe und die Wickeltasche für Spaziergänge zu unpraktisch ist, sind alle meine Jackentaschen mittlerweile hoffnungslos ausgebeult.

»Hier, das ist noch ganz sauber, damit können Sie sich erst einmal abtrocknen.«

Dankbar nahm die Frau das Tuch. Während sie sich damit notdürftig abtrocknete, zog ich meine Jacke aus. Als ich sie ihr ebenfalls reichte, protestierte sie zunächst, aber ich bestand darauf. »Sonst holen Sie sich den Tod. Und jetzt lassen Sie mich mal überlegen. Am besten kommen Sie mit zu mir. Wir wohnen nicht weit von hier, gleich oben auf dem Steilufer. Dann gebe ich Ihnen eine Hose und fahre Sie nach Hause.«

Sie widersprach nicht mehr, sondern schlüpfte in meine Jacke, und kurz darauf stapften wir über Sand und Steine zum nächsten Aufgang im Kliff.

Waren Sie schon einmal in Rerik? Es ist wirklich wunderschön dort. Ein kleiner Ferienort etwa fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich von Wismar und fünfunddreißig Kilometer westlich von Rostock, der an zwei Seiten von Wasser begrenzt ist, im Nordwesten durch die Ostsee, im Südwesten durch das Salzhaff. Der Strand an der Ostsee ist kilometerlang. Wenn Sie möchten, können Sie stundenlang am Wasser entlang bis nach Kühlungsborn laufen. Der eigentliche Ort Rerik ist durch eine Steilküste vom Strand getrennt, die teilweise über fünfzehn Meter hoch ist. In Broschüren wird sie gern als wildromantisch beschrieben, und das ist sie auch. Oben auf der Steilküste verläuft ein Fernwanderweg durch den Küstenwald, direkt dahinter liegt unser Haus.

Die Fremde und ich stiegen die sogenannte Schustertreppe hoch, einen von mehreren Aufgängen. Niemand begegnete uns, während wir über den Pfad und über frisch gefallenes Laub durch den Küstenwald gingen, es wäre aber ohnehin kein Problem gewesen. Meine Softshelljacke reichte mir bis zum Oberschenkel und der Frau, die größer war als ich, immer noch über den Hintern. Während sie neben mir herlief, erzählte sie mir, dass sie in Hessen lebe, jedoch für drei Wochen ein Ferienapartment im Kurhaus gemietet habe. Ich musterte sie unauffällig von der Seite. Sie hatte schulterlange dunkle Haare, vom Salzwasser etwas zerzaust. Sie war schlank und durchtrainiert und machte einen sympathischen, selbstbewussten Eindruck. Mehr fiel mir zunächst nicht zu ihr ein, vermutlich weil sie keine eigene Kleidung trug. Es ist doch erstaunlich, wie viel von unserer Persönlichkeit wir durch unsere Kleidung zum Ausdruck bringen – selbst dann, wenn wir uns nicht sonderlich für Mode interessieren. Nacktheit verwischt die Unterschiede.

Als wir den Küstenwald verließen, standen wir auch schon direkt unter der Laterne gegenüber von unserem Haus. Lucy, Greta und ich wohnten in der Seestraße, die parallel zum Küstenwald verläuft. Die Kliffkante ist von dort weniger als fünfzig Meter entfernt. Man kann Tag und Nacht das Meer rauschen hören, außer es ist absolut windstill, was jedoch fast nie vorkommt.

Ich bat die Frau ins Haus, weil ich es unhöflich gefunden hätte, sie vor der Tür stehen zu lassen, doch dabei war ich nervös, wie immer, wenn ich neue Bekannte einlud. Ich habe nie ein Händchen fürs Einrichten gehabt, wie meine Mutter oft und gerne betont, und Lucy hat sich überhaupt nicht für Äußerlichkeiten interessiert. Als ich die Einrichtung für unser Haus aussuchte, kam sie nur mir zuliebe wochenlang jeden Samstag mit in irgendwelche Möbelhäuser. Sie hat einmal behauptet, solange ein Sofa bequem sei, seien ihr Farbe und Material egal. Nun, unser Sofa ist kirschrot und steht vor einer sonnengelben Wand. Ich liebe den Gute-Laune-Effekt, muss aber zugeben, dass ich beim Einrichten nicht immer das gewünschte Ergebnis erziele, weil ich meist solche Möbel kaufe, die mir im Möbelhaus gefallen, ohne mir vorstellen zu können, wie sie in unserem Haus wirken und wie sie zu unseren anderen Sachen passen. Das Ergebnis war ein ziemlich uneinheitlicher Stil.

Doch die Frau vom Strand war höflich. »Es ist schön bei Ihnen, behaglich. Es sieht so aus, als würden Sie sich hier sehr wohl fühlen. Wohnen Sie schon lange hier?«

»Fünfzehn Monate. Ursprünglich sollte das Haus uns als Ferienhaus dienen.« Lucy hatte es mir zur Hochzeit geschenkt, weil sie wusste, dass ich das Meer liebe, und weil ich ihr begeistert von kindlichen Erinnerungen an Sommerferien in Rerik erzählt hatte. »Wir haben vorher in Hamburg gelebt.«

»Das muss eine ziemliche Umstellung gewesen sein. Vermissen Sie die Stadt nicht manchmal?«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich liebe es hier. Wenn ich mal woanders übernachte und beim Aufwachen nicht das Meer höre, fehlt mir den ganzen Tag etwas.«

Die Frau nickte nachdenklich. »Es scheint ein guter Ort, an dem man abschalten kann. An dem man Trost finden kann.«

Ich musterte sie misstrauisch. Genau das war der Grund, warum wir ursprünglich hierhergezogen waren, doch das konnte sie nicht wissen. Aber ihre Worte schienen sich nicht auf mich zu beziehen, sie sah auf einmal traurig aus. Ich fragte mich, was sie hierher geführt haben mochte, wollte jedoch nicht nachbohren.

»Wenn Sie kurz warten, suche ich Ihnen rasch eine Hose heraus.«

Ich lief auf Socken die Wendeltreppe hinauf ins Schlafzimmer, wo ich in meinem nicht sehr ordentlichen Kleiderschrank kramte, bis ich eine Jogginghose fand. Als ich wieder hinunterkam, stand die Frau am Esstisch und betrachtete die Skizzen von Greta, die darauf lagen. Ich hatte sie nicht weggeräumt, weil ich keinen Besuch erwartet hatte. Mist!

»Nur ein Zeitvertreib.« Ich schob hastig die Skizzen zusammen und merkte, wie ich rot wurde.

Die Frau zog ihre Hand zurück. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht … Haben Sie die gezeichnet? Sie sind wunderschön.«

Natürlich errötete ich noch mehr. Die Wahrheit ist, dass ich meine Zeichnungen nie jemandem gezeigt habe außer Lucy, die sie für fantastisch hielt. Aber Lucy fand stets alles fantastisch, was ich tat. »Meinen Sie wirklich?«

»Absolut. Sie wirken so lebendig. Ist das Ihre Tochter? Sie sieht aus, als würde sie einem aus dem Bild entgegenrollen. Sie verstehen offensichtlich viel von Anatomie.«

»Ich bin Physiotherapeutin.«

»Das erklärt es. Und wer ist das?« Sie zog eine Zeichnung von Lucy unter den anderen Skizzen hervor.

»Meine Frau.« Meine Stimme rutschte wie immer ein wenig nach oben, als ich das sagte, und ich wartete auf die typische verwirrte Reaktion, die die meisten Menschen auch heute noch zeigen, weil die Ehe für alle für sie doch eher ein abstraktes Konzept ist.

Doch die Frau vom Strand sagte bloß: »Sie sieht aus, als könnte man sich zu hundert Prozent auf sie verlassen. Was macht sie beruflich?«

»Sie entwickelt Computerspiele.« Das war eine Untertreibung. Lucy hatte zusammen mit zwei Freunden ein sehr erfolgreiches Game-Design-Studio in Hamburg gegründet. Leider war sie deswegen unter der Woche meistens dort.

Die Frau legte die Zeichnung beiseite. »Ein tolles Bild. Sie sind alle wunderschön – und das sage ich nicht nur, weil Sie mich vor dem Kältetod gerettet haben. Sie sollten einige von ihnen aufhängen. Wie wäre es dort, neben dem Kamin? Und das große hinter dem Sessel?« Sie brach verlegen ab. »Entschuldigen Sie bitte, jetzt dringe ich bei Ihnen ein und mache Ihnen auch noch Einrichtungsvorschläge.«

»Schon okay. Ich freue mich, dass meine Zeichnungen Ihnen gefallen.« Ich meinte es so. Vermutlich hätte ich ihr Verhalten bei jemand anderem als übergriffig empfunden, aber die Frau wirkte ehrlich begeistert, und ich hatte mir tatsächlich schon überlegt, einige der besseren Skizzen aufzuhängen – genau an den von ihr vorgeschlagenen Wänden.

»Vielleicht wollen Sie jetzt die mal probieren?«

Ich reichte ihr die Jogginghose, und sie schlüpfte hinein. Sie war etwas zu kurz, so dass ihre nackten Knöchel hervorschauten.

»Vielen Dank, das passt wunderbar. Ich muss mich wirklich noch einmal bei Ihnen bedanken. Und jetzt lasse ich Sie endlich wieder in Ruhe.«

»Ich kann Sie gerne zum Kurhaus fahren.«

»Es sind ja nur ein paar hundert Meter. Und ich glaube, Sie werden jetzt von jemand anderem beansprucht.«

Tatsächlich war Greta im Tragetuch aufgewacht und gab die für sie typischen kleinen Maunzlaute von sich, ihre ersten dezenten Hinweise, dass sie Hunger bekam, die schnell zu gebrüllten Befehlen wurden, wenn ich ihnen nicht nachkam.

»Also, noch einmal vielen Dank.« Die Frau streckte mir die Hand entgegen. »Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen die Hose und die Jacke heute Nachmittag zurückbringe?«

»Natürlich.« Und dann überraschte ich mich selbst. »Warum kommen Sie nicht so gegen drei, wenn Sie nichts anderes vorhaben? Wir könnten einen Kaffee zusammen trinken.«

»Gern. Ich heiße übrigens Julia.«

Am Nachmittag kam Julia um Punkt drei mit einem kleinen Blumenstrauß, worüber ich mich sehr freute. Vor allem über die Pünktlichkeit, denn Pünktlichkeit ist eine Manie bei mir. Vielleicht wegen meiner Arbeit als Physiotherapeutin. Termine in Physiotherapiepraxen sind üblicherweise eng getaktet, da gibt es keine Puffer. In meiner letzten Stelle in Hamburg war etwa alle zwanzig Minuten ein anderer Patient eingeplant. Kam einer unpünktlich, musste ich entweder seine Therapiezeit verkürzen, was den Patienten in der Regel verärgerte, auch wenn er selbst die Schuld daran trug, oder alle späteren Termine nach hinten verschieben. Mich haben immer beide Varianten gestresst, deswegen schätze ich es, wenn Menschen auf die Minute zur rechten Zeit kommen – auch im Privatleben und bei Terminen, bei denen es im Grunde gleichgültig ist.

Aber nicht nur die Blumen und die Pünktlichkeit nahmen mich für Julia ein. Wir tranken gemeinsam Kaffee und aßen die Reste vom Apfelkuchen, den ich am Wochenende gebacken hatte. Am Anfang war unser Gespräch noch etwas stockend, doch überraschend schnell unterhielten wir uns wie alte Bekannte. Julia erzählte, dass sie zum ersten Mal an diesem Abschnitt der Ostseeküste war und viel wandern und nachdenken wollte. Mit langen Spaziergängen in unserer Gegend kenne ich mich aus, daher konnte ich ihr viele Tipps geben, die sie so interessiert aufnahm, dass ich mich bald wie eine gefragte Expertin fühlte. Es war ziemlich schmeichelhaft, und vielleicht hätte ich damals schon merken müssen, dass etwas faul war. Im Nachhinein ist es vermutlich ziemlich offensichtlich, dass Julia versuchte, mir zu gefallen, um näher an mich und Lucy heranzukommen. Aber im Nachhinein ist man ja immer klüger.

An diesem Tag jedoch ahnte ich nichts davon, ich war einfach froh, eine so angenehme Gesprächspartnerin zu haben. Zunächst redeten wir über Allerweltsthemen, dabei erfuhr ich auch einiges über Julia selbst. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und damit ein Jahr jünger als ich, sie lebte in Frankfurt, war pharmazeutisch-technische Assistentin und arbeitete in einer Apotheke. Und sie hatte gerade eine Trennung hinter sich, wie sie mir erzählte, als ich fragte, wie sie denn auf Rerik als Urlaubsort gekommen sei.

»Mein Exmann hat es vorgeschlagen. Ein Kollege hatte ihm vorgeschwärmt, wie schön es hier sei, und wir dachten, es wäre eine gute Idee, zur Abwechslung mal Deutschland besser kennenzulernen, statt in den Süden zu fliegen. Flugscham und so.«

»Du machst immer noch Urlaub mit deinem Ex?«, fragte ich überrascht. Wir hatten schon beim ersten Stück Kuchen beschlossen, uns zu duzen.

Julia lächelte schief. »Als ich die Ferienwohnung buchte, war er noch nicht mein Ex. Genau genommen sind wir auch noch verheiratet, aber ich habe die Scheidung eingereicht.«

Es war das Persönlichste, was sie bis dahin gesagt hatte, und ich war unsicher, ob es eine Einladung war nachzufragen. »Möchtest du erzählen, was passiert ist?«

Sie schien einen Moment mit sich zu ringen. »Warum nicht?«, sagte sie dann. »Es ist allerdings keine besonders erbauliche Geschichte. Ich hatte eine Fehlgeburt.«

»Oh, wie schrecklich!« Ich streckte unwillkürlich eine Hand aus und drückte ihre.

»Ja, das war’s.« Sie wurde rot. »Genau genommen war es nicht nur eine, es waren drei. Danach riet meine Ärztin mir, es für eine Weile nicht mehr zu versuchen.« Sie machte eine Pause.

»Und dein Mann wollte das nicht akzeptieren?«, fragte ich, als sie lange nicht weitersprach.

»Doch, das schon, obwohl er sich sehnlichst Kinder wünscht. Er ist zehn Jahre älter als ich. Aber er wollte oder konnte wohl nicht akzeptieren, dass ich trauere. Nicht so lange jedenfalls. Er warf mir ständig vor, dass man mit mir keinen Spaß mehr haben könne. Na ja, kurzum: Er fing an, sich seinen Spaß woanders zu suchen. Vor einem Monat erwischte ich ihn mit einer anderen.«

»Und deshalb hast du Schluss gemacht?«

Sie sah mich überrascht an. »Wärst du etwa geblieben?«

Ich musste nicht überlegen. Ich schüttelte den Kopf. Treue ist für mich die Grundlage einer Beziehung, und ich wusste, dass Lucy das genauso sah.

Julia seufzte. »Weißt du, ich hätte es ihm vielleicht sogar verzeihen können. Wenn es eine einmalige Sache oder wenn es nicht ausgerechnet in dieser Situation gewesen wäre. Aber was soll ich mit einem Mann, der mich nur liebt, wenn ich gut drauf bin?«

Von da an trafen Julia und ich uns jeden Tag. Am nächsten Nachmittag, einem Mittwoch, kam sie wieder zum Kaffeetrinken, anschließend machten wir zusammen einen langen Strandspaziergang. Am Donnerstag wollte sie eine längere Wanderung in Angriff nehmen und an der Küste entlang von Rerik nach Kühlungsborn laufen. Da mir die Strecke mit Greta zu weit war, fuhr ich mit dem Wagen nach Kühlungsborn und traf mich mit Julia in einem Café an der Strandpromenade. Anschließend nahm ich sie mit zurück nach Rerik.

Ich glaube, spätestens ab dem Moment, als ich Julia vor dem Kurhaus absetzte, erschien es mir völlig normal, mich für den nächsten Tag wieder mit ihr zu verabreden, und ihr schien es ähnlich zu gehen. Ich genoss es wirklich sehr, endlich eine Freundin in Rerik zu haben. Dabei war mir vorher gar nicht bewusst gewesen, dass ich eine vermisst hatte. In der ersten Zeit nach unserem Umzug hatte ich mich in Rerik zwar oft einsam gefühlt, wenn Lucy unter der Woche in Hamburg war, andererseits hatte ich die Einsamkeit ja gerade gesucht. In den zwei Monaten vor Gretas Geburt wäre es dann natürlich schwierig gewesen, Kontakte zu knüpfen. Nach Gretas Ankunft wiederum hätte ich mich einer Gruppe junger Mütter anschließen können, aber zum einen gab es kaum welche in Rerik, und zum anderen genoss ich die Zeit mit Greta viel zu sehr, als dass ich sie mit jemandem hätte teilen wollen. Erst als ich Julia traf, wurde mir klar, wie gut mir eine Freundin zum Reden tat. Zwar telefonierte ich jeden Abend mit Lucy, aber eine Gesprächspartnerin, die mir gegenübersaß und mit der ich all die Frauenthemen bequatschen konnte, die Lucy nicht interessierten, war wundervoll.

Und mit Julia konnte ich wirklich hervorragend reden. Über Klamotten, Klatsch und Krimis, für die wir beide eine Leidenschaft hatten, über mein Leben in Rerik, über ihr Leben in Frankfurt – und natürlich über das Thema Nummer eins: über andere Menschen und unsere Beziehungen zu ihnen. Sie erzählte mir noch mehr von ihrem Exmann, ich erzählte ihr von meiner Familie, von den Problemen mit meiner Mutter, ja sogar von Paul und dem Streit mit meiner Schwägerin. Und natürlich erzählte ich ihr einiges von Lucy, zum Beispiel wie Lucy und ich uns kennengelernt hatten.

»Sie war meine Patientin. Sie hatte nach einer Ellbogenverletzung Probleme mit der Beweglichkeit ihres Arms. Der Arm war gebrochen worden, als sie in Moskau an einer Demo für Schwulen- und Lesbenrechte teilnahm.« Es war Freitag, wir saßen in einem Café am Salzhaff, aßen Waffeln und tranken heißen Sanddornsaft.

»Wow, das klingt, als sei deine Lucy ziemlich mutig.«

»Das ist sie.« Es war einer der Gründe, warum ich mich in Lucy verliebt hatte, ihr Mut und ihre Stärke. Eigentlich war Lucy ein sehr sanfter Mensch, aber wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit witterte, ging sie sofort auf die Barrikaden. Ich hatte in den sechs Jahren, die wir uns kannten, nur einmal erlebt, dass Lucy fast der Mut verlassen hätte – als sie mir erzählte, was sie für mich empfand.

»Und war es Liebe auf den ersten Blick?«

»Für Lucy ja, das behauptet sie zumindest, aber für mich nicht. Ich hielt mich damals noch für hetero.«

»Und Lucy hat dich bekehrt? Wie hat sie das geschafft?«

Ich erzählte Julia die Geschichte nur zu gerne, nicht nur weil es eine meiner liebsten Erinnerungen ist, sondern weil ich damals, als es passierte, keine so verständnisvolle Zuhörerin wie Julia hatte. Als ich meiner Familie und meinen Freundinnen erzählte, dass ich mich in eine Frau verliebt hatte, schwankten die Reaktionen durchweg zwischen Ungläubigkeit, dass ich zum anderen Ufer wechseln wollte, und Zuversicht beziehungsweise Hoffnung, dass ich bald meinen Weg zurück finden würde.

»Lucys Ellbogenverletzung war eigentlich keine große Sache, deswegen hatte ihr Arzt ihr nur sechs Termine aufgeschrieben. Danach wollte sie mich unbedingt wiedersehen, traute sich aber nicht, nach einem Date zu fragen, weil sie wusste, dass ich bis dahin nur mit Männern zusammen gewesen war. Deshalb engagierte sie mich als Personal Trainerin. Wir trafen uns zwei Monate jeden Mittwoch und Samstag zum Trainieren.«

»Und du hattest keinen Verdacht?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte tatsächlich nicht geahnt, dass Lucy in mich verknallt war, obwohl ich mich gewundert hatte, dass sie plötzlich zur Sportskanone wurde, obwohl sie vorher höchstens sporadisch trainiert hatte. Ich kapierte es erst, als Lucy es mir nach zwei Monaten gestand. Ich war verblüfft, aber nicht so sehr, wie ich es einige Wochen zuvor gewesen wäre, denn ich hatte längst selbst begonnen, den Treffen mit ihr entgegenzufiebern.

»Und ab da wart ihr ein Paar?«, fragte Julia.

»Es hat noch ein bisschen gedauert.« Obwohl ich mich bei Lucy so geborgen fühlte wie nie zuvor, hatte ich eine Weile gebraucht, mich wirklich auf eine Beziehung zu einer Frau einzulassen. Im Gegensatz zu einer Behauptung meiner Mutter hatte ich mich nicht Hals über Kopf in diese unselige Affäre gestürzt, bloß weil Lesbischsein auf einmal schick war und ich sie vor den Kopf stoßen wollte. Obwohl Letzteres tatsächlich ein verlockender Grund gewesen wäre.

Julia seufzte, wie sich das für eine Frau als Reaktion auf eine Liebesgeschichte gehört. »Das klingt romantisch.«

»Das war’s.«

»Und du klingst glücklich, wenn du von ihr erzählst.«

»Weil sie mich glücklich macht. Sie würde alles für mich tun.«

»Auch einen Mord begehen?«

Die Frage überraschte mich nicht. Auf dem Tisch zwischen uns lag ein Krimi, den ich Julia zum Lesen mitgebracht hatte. Sie war genauso verrückt nach fiktivem Mord und Totschlag wie ich. Es war eines ihrer Lieblingsthemen.

»Klar.«

»Ehrlich? Einfach so?« Julia wirkte etwas perplex angesichts meiner prompten Antwort.

»Natürlich nicht einfach so«, wiegelte ich ab. »Lucy ist überzeugte Pazifistin.«

»Aber generell traust du es ihr zu, dass sie einen Menschen tötet? Zum Beispiel, wenn du in Gefahr wärst? Oder Greta? Dann würde sie für euch töten?«

Julia musterte mich bei der Frage, als sei die Antwort ihr wichtig. Ihr Gesicht hatte einen intensiven Ausdruck angenommen. Es sah ein bisschen beunruhigend aus, aber vermutlich lag das einfach daran, dass sie zwei verschiedenfarbige Augen besaß. Das linke war grün, das rechte braun.

»Na ja, um uns zu retten, würde Lucy natürlich schon alles tun, aber sonst …« Ich hob ein wenig hilflos die Schultern. Ich fühlte mich auf einmal unwohl und wollte das Thema abschließen. »Auf jeden Fall würde Lucy nie verurteilt werden«, scherzte ich daher, »genauso wenig wie ich, egal, welches Verbrechen wir begehen würden. Hast du schon mal von Torge Berger gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Oh, da wäre er enttäuscht. Er ist nämlich der Meinung, dass man seinen Namen kennen sollte. Er ist ein Jugendfreund von mir, Rechtsanwalt in einer ziemlich angesagten Kanzlei in Hamburg. Er hält sich für ein Genie, und auch wenn er generell ziemlich eingebildet ist, stimmt das wohl zumindest ein bisschen. Er ist ein brillanter Strafverteidiger, er würde Lucy und mich aus jeder Situation herausboxen.«

Es funktionierte, Julias angespannte Miene glättete sich. »Jugendfreund? Von dem hast du mir noch gar nicht erzählt. Jemand aus deiner Hetero-Vergangenheit?«

Tatsächlich war Torge mein erster und einziger Freund gewesen. Doch bevor ich von ihm erzählen konnte, musste ich dringend auf die Toilette. Ich warf einen Blick auf Greta, die friedlich in ihrem Maxi-Cosi schlief, und bat Julia, kurz auf sie zu achten, während ich verschwand. Es war das erste Mal, dass ich das tat, und es fiel mir nicht leicht, denn ich ließ Greta nur ungern mit anderen Menschen als Lucy allein. Für mich war es ein riesiger Vertrauensbeweis. Ich konnte ja nicht ahnen, wie wenig Julia dieses Vertrauen verdiente.

Meine erste Begegnung mit Julia fand an einem Dienstagvormittag statt. Danach trafen wir uns noch viermal, bis zum nächsten Freitag. Fünf Treffen können viel oder wenig sein. Nach fünf Terminen hatte Lucy sich unsterblich in mich verliebt, während ich zu dem Zeitpunkt in meinen kühnsten Träumen nicht darauf gekommen wäre, dass ich einmal eine Frau heiraten würde. Doch nach den fünf Treffen mit Julia war ich überzeugt, eine echte Freundin gefunden zu haben und dass diese Freundschaft auch Julias Rückreise nach Frankfurt überstehen würde.

Sie überstand noch nicht einmal den nächsten Tag, denn am nächsten Tag verschwand Julia. Es war ein Samstag, den ich natürlich mit Lucy verbringen wollte. Doch ich lud Julia zum Abendessen ein. Ich wollte, dass Lucy sie kennenlernte, außerdem verfolgte ich mit der Einladung noch einen anderen Zweck. Wir hatten für Samstagabend Finn und Priska eingeladen, und bei Treffen mit Priska brauche ich jede moralische Unterstützung, die ich kriegen kann.

Finn und Priska waren Lucys Geschäftspartner bei FinGames und seit fünf Jahren miteinander verheiratet. Mit Finn verband Lucy eine dreißig Jahre lange Freundschaft, die in einem Hamburger Kindergarten damit begonnen hatte, dass Lucy Marmelade in die Schuhe einer Erzieherin füllte, die Finn für irgendeine Nichtigkeit übertrieben heruntergeputzt hatte. Von da an waren die beiden unzertrennlich. Sie gingen gemeinsam zur Grundschule und aufs Gymnasium, rauchten gemeinsam die erste heimliche Zigarette, wobei sie den Papierspender auf dem Schulklo abfackelten, hackten gemeinsam den Schulcomputer, um an die Abiaufgaben in Geschichte zu kommen, gründeten anschließend eine WG und studierten zusammen Informatik, während sie in jeder freien Minute an der Entwicklung ihres ersten Computerspiels bastelten, mit dem sie den Spielemarkt revolutionieren und reich werden wollten. Das mit dem Reichwerden klappte in bescheidenem Umfang tatsächlich, allerdings erst als Priska zu ihnen stieß, die einen Master in Wirtschaftswissenschaften und mehr Geschäftssinn als König Krösus besitzt.

Finn war derjenige, der Priska zuerst kennenlernte. Er traf sie auf irgendeiner Studentenfete, verknallte sich Hals über Kopf in ihre blonden Locken, ihre langen Beine und ihre Jennifer-Lawrence-Lässigkeit und schaffte es tatsächlich, die Beziehung zu ihr zwei Monate lang vor Lucy geheim zu halten. Ich habe ihn einmal gefragt, warum er das getan hat, und die Antwort lautete: Er hatte Angst, dass es zu einer Art Urknall kommen würde, wenn zwei so starke Frauen aufeinanderträfen. Tatsächlich gab es dann wohl die eine oder andere Explosion, als Lucy und Priska sich kennenlernten, hauptsächlich weil Priska eifersüchtig auf Lucy war und versuchte, sie aus Finns Leben zu drängen. Doch damit traf sie bei Lucy und Finn auf erbitterten Widerstand. Als Priska schließlich einsah, dass Finn sich in diesem Punkt ausnahmsweise nicht von ihr unterbuttern lassen würde, bot sie Lucy einen Waffenstillstand an, aus dem überraschend eine Freundschaft entstand, als die beiden herausfanden, dass sie aneinander einiges schätzten.

Als ich Priska kennenlernte, bemühte ich mich natürlich ebenfalls, an ihr schätzenswerte Eigenschaften zu entdecken, und ich bin sicher, sie tat umgekehrt dasselbe. Dennoch sind wir nie wirklich miteinander warm geworden. Die Wahrheit ist, dass ich Priska gegenüber einen Minderwertigkeitskomplex habe. Sie ist einfach zu schön, zu schlau, zu selbstbewusst – und zu nett zu mir. Ich habe immer das Gefühl, dass sie meine Unsicherheit spürt und sich bemüht, mir meine Befangenheit zu nehmen – mit dem Ergebnis, dass ich noch unsicherer werde und mir vorkomme wie ein Wohltätigkeitsprojekt.

An jenem Samstagabend kochte ich vegetarisch, weil Priska seit ihrem zwölften Lebensjahr Vegetarierin war. Lucy half mir, während Greta fröhlich glucksend in ihrer Wippe lag und es ausnahmsweise klaglos akzeptierte, dass ich ihr nicht hundert Prozent meiner Aufmerksamkeit schenkte. Um sieben Uhr gab ich ihr dann ihr Fläschchen und brachte sie anschließend nach oben. Als ich wieder herunterkam, standen schon Priska und Finn im Wohnzimmer. Finn nahm mich in die Arme und drückte mir einen kalten Kuss auf die Wange.

»Becca, du siehst fantastisch aus. Und du riechst köstlich. Hast du stundenlang für uns in der Küche geschuftet?«

»Lucy hat geholfen.«

Finn machte ein ungläubiges Gesicht. »Das kann nicht sein, sie hat ja noch alle zehn Finger, und euer Haus steht noch. Und wie geht’s meiner Prinzessin?«

»Greta schläft.«

»Oh.« Er wirkte enttäuscht. »Kann ich kurz raufgehen? Ich habe sie ewig nicht gesehen.« Er sah mich mit seinem charmantesten Bitte-Bitte-Gesicht an, das Lucy immer als die Geheimwaffe von FinGames bezeichnete. Mit diesem Gesicht brachte Finn Bewerberinnen dazu, alle Angebote der Konkurrenz auszuschlagen, und Bankdirektoren dazu, die Kreditzinsen, die Priska ohnehin schon clever verhandelt hatte, noch weiter zu senken.

Dennoch zögerte ich, denn Finns Bitte behagte mir nicht. Ich war immer froh, wenn Greta endlich eingeschlafen war, weil das bei ihr eine Weile ein richtiges Drama gewesen war, und ich wollte nicht riskieren, dass Finn sie weckte. Andererseits fand ich sein Interesse an unserer Tochter irgendwie süß. Ich hatte mich schon einige Male gefragt, ob er vielleicht selbst ein Kind wollte. Allerdings würde er mit diesem Wunsch bei Priska auf Granit beißen. Sie kann mit Kindern nichts anfangen, wie sie mir einmal freimütig erzählt hat. Auch jetzt runzelte sie sofort die Stirn.

»Du weckst die Kleine bloß auf, Finn, und dann hat sie den Rest der Nacht Albträume von finsteren Männern, die sich über ihre Wiege beugen. Hi, Rebecca, schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus. Erholt.« Sie umarmte mich nicht, sondern überreichte mir stattdessen zwei Weinflaschen und sah sich im Wohnzimmer um. »Und du hast irgendetwas hier verändert. Die Bilder sind neu, oder? Hast du die gemacht? Sie sind toll.«

Sie machte mir erst das Kompliment, dann trat sie näher an eine Zeichnung heran, um sie zu studieren. Sie tat es mit einer solchen für sie allerdings typischen Intensität, dass ich mich unbehaglich fühlte. Für einen Moment bereute ich, dass ich Julias Idee, meine Skizzen aufzuhängen, in die Tat umgesetzt hatte.

Lucy sah mir wie immer meine Gefühle an und rettete mich. »Was haltet ihr davon, wenn ich diesen Wein aufmache? Wenn Priska ihn ausgesucht hat, muss er hervorragend sein. Und nach der Sklavenarbeit in der Küche lechze ich nach einem Schluck.«

»Und ich erst«, sagte Finn. »Priska hat mich heute gefühlt zweiundvierzig Kilometer durch die Baselitz-Ausstellung in den Deichtorhallen geschleppt. Küchenarbeit ist nichts dagegen.« Er trat an den Esstisch. »Hey, es ist ja für fünf gedeckt.«

»Ich habe eine Freundin eingeladen.« Ich sah auf meine Uhr. Zehn nach acht. Ich hoffte, Julia käme bald.

Julia kam nicht bald, sie kam überhaupt nicht, obwohl wir eine ganze Weile mit dem Essen auf sie warteten. Um halb neun servierte ich schließlich die Suppe, anschließend ging ich in die Küche, um den Salat zu mischen, den ich für den Hauptgang vorbereitet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Julia noch erscheinen würde, doch nachdem wir die Kürbistarte gegessen und die zweite Flasche Wein fast geleert hatten, verflog die Hoffnung und verwandelte sich zunehmend in Ärger. Natürlich vermutete ich, dass Julia etwas Unerwartetes und Dringendes dazwischengekommen war, doch wieso hatte sie nicht angerufen, um abzusagen? Zwar hatten wir nie Handynummern ausgetauscht, aber Lucys und meine Festnetznummer stand im Telefonbuch. Julia hätte sie leicht googeln können.

Ich begann, mich in meinen Ärger hineinzusteigern, obwohl mir gleichzeitig klar war, wie kontraproduktiv das war. Doch das ist eine schlechte Angewohnheit von mir, die ich bisher vergeblich zu bekämpfen versucht habe. Ich neige dazu, Dinge persönlich zu nehmen. Zwar sagte ich mir wiederholt, dass Julia bestimmt einen guten Grund hatte, nicht zu kommen und sich nicht zu melden, dennoch war ich gekränkt. Außerdem fühlte ich mich vor Priska und Finn bloßgestellt.

Die beiden – oder zumindest Priska – bemerkten natürlich, dass die Enttäuschung an mir nagte, sahen jedoch taktvoll darüber hinweg. Vor der Suppe hatte Priska noch nach Julia gefragt, woher ich sie kannte und so weiter, und nachdem ich es erzählt hatte, hatte sie gescherzt, dass womöglich wieder jemand Julias Klamotten geklaut habe und sie sich deswegen verspäte. Doch seit dem Hauptgang vermied sie jede Bemerkung über sie und startete schließlich eine Diskussion über irgendeinen Aspekt des neuen Computerspiels, das sie bei FinGames entwickelten. Ich war dafür dankbar, denn so konnte ich meinen Gedanken nachhängen, während die drei sich die Köpfe heiß redeten.

Doch als ich in die Küche ging, um den Nachtisch zu holen, folgte Lucy mir.

»Alles okay?«, fragte sie leise, denn unser Küchenbereich ist vom Ess- und Wohnzimmer nur durch einen Tresen getrennt.

»Eigentlich nicht«, gab ich ebenso leise zurück. »Ich verstehe einfach nicht, warum sie nicht angerufen hat. Das ist respektlos.«

Lucy nahm mich in den Arm. »Es gibt bestimmt eine gute Erklärung. So, wie du mir diese Julia bisher geschildert hast, will sie dich bestimmt nicht vor den Kopf stoßen. Und sie hätte bestimmt nicht freiwillig auf dein Essen verzichtet. Es war klasse.«

Lucy lächelte mich an, und ich lächelte dankbar zurück. Doch ich war nicht in der Lage, das Thema einfach loszulassen. Wie ein Hund mit einem Knochen – meine Eltern haben das schon oft über mich gesagt, mein Vater stolz, meine Mutter entnervt. Aber durch Lucys Trost entspannte ich mich so weit, dass neben dem Ärger Platz für einen anderen Gedanken war. »Nicht, dass ihr etwas zugestoßen ist.«

»Was soll ihr denn zugestoßen sein? Ein Unfall auf dem Weg vom Kurhaus hierher? Das glaubst du doch selbst nicht.«

Das tat ich in der Tat nicht. Rerik ist außerhalb der Saison ein verschlafenes kleines Nest, in dem nie etwas Aufregenderes passiert, als dass ein Möwenschiss auf der Mütze eines Fischers landet.

»Ich bin sicher, ihr geht’s gut«, bekräftigte Lucy. »Vermutlich ist ihr Handyakku einfach leer. Lass uns den Nachtisch probieren, okay?«

Sie nahm die Schüssel mit der Mousse au Chocolat und trug sie zum Tisch, ich folgte mit den Dessertschalen, konnte das Thema Julia aber immer noch nicht abschütteln. Finn sah es mir wohl an, denn er fragte: »Warum rufst du deine Freundin nicht einfach an und fragst, was los ist?«

»Weil sie ihre Nummer nicht hat«, sagte Lucy schnell, um das Thema abzuschließen.

Sie meinte es natürlich gut, aber ich ärgerte mich trotzdem, dass sie für mich sprach. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, bemerkte Priska: »Du triffst dich mit jemandem, dessen Handynummer du nicht kennst?« Sie klang so ungläubig, als hätte Lucy ihr eröffnet, ich bringe nachts am Strand nur mit einem Muschelröckchen bekleidet Fischopfer dar, um Neptun gnädig zu stimmen.

»Wir hatten bisher keinen Grund, sie auszutauschen.« Natürlich schoss mir bei der Antwort die Röte ins Gesicht. Ich kam mir blöd vor.

»Dann google sie doch einfach. Was macht deine Freundin denn beruflich? Und wie heißt sie mit vollem Namen?« Priska zückte bereits ihr Handy.

Ich erreichte langsam das Tomatenstadium. »Ich kenne ihren Nachnamen nicht.«

Priska musterte mich verblüfft. »Du weißt nicht einmal, wie sie heißt? Und da lädst du sie zum Essen ein?«

Ich weiß im Nachhinein nicht, ob Priska das wirklich so abfällig meinte, wie es in meinen Ohren klang, aber für mich war ihre Bemerkung der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Ich vergaß, dass ich die Gastgeberin war.

»Ja, Priska«, sagte ich schnippisch, »das habe ich tatsächlich getan, weil ich nämlich nicht wusste, dass man erst eine SCHUFA-Auskunft einholen muss, bevor man jemanden einlädt. Ich dachte, es reicht, dass ich weiß, dass sie Julia heißt, hier Urlaub macht, ein Apartment im Kurhaus gemietet hat, dass sie Schuhgröße neununddreißig und ein grünes und ein braunes Auge hat. Außerdem ist sie meine Freundin, und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was es dich angeht, dass …«

In dem Moment wurde ich zum Glück durch ein Klirren abgelenkt. Finn hatte nach der Wasserflasche gegriffen und es dabei irgendwie geschafft, sein volles Weinglas umzustoßen.

»Oh, verdammt, Entschuldigung, so ein Mist.« Sein hübsches Gesicht war knallrot geworden.

Lucy, in deren Richtung sich der Wein ergossen hatte, sprang auf. »Schon okay.« Sie lief in die Küche und holte eine Rolle Küchenpapier. »Hier, lass mich mal.« Sie verteilte mehrere Lagen Küchenpapier auf dem Tisch, um den Wein aufzusaugen. Dabei zitterten ihre Hände. Verwundert sah ich von ihr zu Finn, dann holte ich einen nassen Lappen und wischte den Tisch ab.

Als wir schließlich bis auf die Weinflecken auf Lucys Jeans alle Spuren des Malheurs beseitigt hatten, herrschte für einen Augenblick eine angespannte Stille, die erst beendet wurde, als Greta sich über das Babyphone bemerkbar machte. Als Mutter hasse ich es, wenn mein Kind weint, doch ich muss gestehen, dass ich in dem Moment erleichtert war, mich aus dem Wohnzimmer verziehen zu können. Aber zu meiner Überraschung stand Lucy schon auf der untersten Stufe der Wendeltreppe. »Ich mach das schon. Finn, wolltest du nicht Greta ein Schlaflied vorsingen? Jetzt ist die Gelegenheit.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, waren beide schon nach oben verschwunden. Ich blieb mit Priska zurück, die genauso perplex wirkte, wie ich mich fühlte.

An den Rest des Abends erinnere ich mich nicht mehr sehr gut. Lucy und Finn blieben eine gefühlte Ewigkeit oben bei Greta, während Priska und ich uns unten mit verlegenem Small Talk abplagten. Ich war froh, als die beiden sich endlich verabschiedeten.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, weil Greta weinte. Ich ging mit ihr ins Kinderzimmer, wickelte sie und gab ihr im Stehen ihr Fläschchen, während ich aus dem Fenster auf die Straße sah. Die gelbe Laterne gegenüber von unserem Haus beleuchtete die welkenden Blätter einer Kastanie, die im Wind zitterten. Hätte ich das Fenster geöffnet, hätte ich das Meer rauschen hören können. Wenn es in einer Stunde hell wurde, würde ich es zwischen den kahler werdenden Ästen des Küstenwaldes hindurch auch sehen.

Als Greta satt war, ging ich mit ihr auf dem Arm ins Schlafzimmer zurück. Lucy wälzte sich unruhig im Bett hin und her, ihre Gesichtszüge waren verzerrt, und sie murmelte etwas im Schlaf. Schnell ging ich zu ihr, rüttelte ihre Schulter und rief ihren Namen. Keuchend fuhr sie hoch und griff nach meiner Hand. Ich hätte Lucy gerne in den Arm genommen oder zumindest ihr schweißnasses Gesicht gestreichelt, doch mit Greta in meinem rechten Arm und mit Lucys Hand, die meine linke umklammerte, war das nicht möglich. So saßen wir einfach da, bis Lucys Atem sich beruhigt hatte.

»Ich habe wieder geträumt, nicht wahr?«, sagte sie schließlich.

Ich nickte.

»Habe ich etwas gesagt?«

»Nichts Verständliches.«

Sie seufzte leise. Dann sah sie mich an. »Es tut mir leid, du hast schon genug Sorgen, Julia und all das.«

»Du bist wichtiger als alle Julias dieser Welt.« Ich beugte mich vor und küsste sie auf den Mund. Dann kuschelte ich mich mit Greta an sie.

Ich weiß nicht mehr genau, wann das mit Lucys Albträumen angefangen hatte, irgendwann nach Gretas Ankunft, aber ob direkt danach oder erst später, kann ich nicht mehr sagen. Mir fiel es zum ersten Mal auf, als Greta vier Wochen alt war. Lucy behauptete damals, vorher hätte sie nie Albträume gehabt, aber vielleicht sagte sie das nur, um mich nicht zu beunruhigen. Denn ich muss ehrlich gestehen, dass ich es in dem ersten überwältigenden Monat mit Greta vermutlich nicht einmal bemerkt hätte, wenn Lucy nachts im Bett Sirtaki getanzt hätte.

Doch als Greta etwa vier Wochen alt war, erwachte ich eines Nachts, weil ich ein Wimmern hörte. Schlaftrunken schaltete ich meine Nachttischlampe ein, kroch aus dem Bett und trat an Gretas Wiege, wo ich allerdings feststellte, dass sie friedlich schlief. Erst da bemerkte ich, dass das Wimmern von Lucy kam, die nun auch noch begann, mit den Armen zu rudern. Ich setzte mich zu ihr und berührte sie an der Schulter, doch sie wachte nicht auf, sondern murmelte etwas. Es klang wie: »Nicht, bitte nicht. Ich kann nicht. O bitte nicht.«

»Lucy.« Ich rüttelte fester, und schließlich schlug sie die Augen auf. »Alles okay?«

Doch das war es offensichtlich nicht. Lucy wirkte völlig verstört. Als ich sie in die Arme nahm, merkte ich, dass sie zitterte und klatschnass geschwitzt war. Es dauerte eine geraume Zeit, bis das Zittern nachließ.

»Alles okay«, murmelte sie schließlich. »Danke, dass du mich geweckt hast. Ich hatte wohl einen Albtraum.«

»Worüber?«

Sie überlegte. »Ich weiß es nicht.«

»Du hast etwas gesagt wie: ›O bitte nicht, ich kann nicht.‹«

»Ich habe im Schlaf geredet?« Die Vorstellung schien sie zu erschrecken. Sie küsste mich und sagte: »Ich gehe mal duschen.« Dann verschwand sie im Bad.

Das war das erste Mal, dass ich einen von Lucys Albträumen mitbekam, doch leider nicht das letzte. In der nächsten Nacht plagte sie wieder einer und ebenso am nächsten Wochenende. Ob Lucy auch unter der Woche welche hatte, weiß ich nicht, denn sie übernachtete zu der Zeit immer öfter in Hamburg. Ich sprach sie noch einige Male auf die Träume und ihren möglichen Ursprung an, doch sie behauptete stets, sie habe keine Ahnung, was sie träume oder wieso. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr genau, ob ich ihr das damals glaubte. Zwar vertraute ich Lucy blind und war sicher, dass sie mich unter normalen Umständen nie belügen würde, doch sie besaß ein ausgeprägtes Beschützergen. Sie meinte immer, mich schonen und Sorgen von mir fernhalten zu müssen. Okay, zugegeben, eine Zeit lang war das ja auch tatsächlich notwendig gewesen, aber Lucy hatte es sich nie wieder richtig abgewöhnt.

Wie gesagt, all das war drei, vier Monate her. Nach einigen Wochen hatten sich Lucys Albträume verflüchtigt, und soweit ich wusste, hatten sie sie nicht mehr heimgesucht – bis zu der Nacht nach dem verpatzten Abendessen. Dass der Albtraum nun zurück war, beunruhigte mich, doch als ich sie darauf ansprach, behauptete Lucy, es sei bestimmt nur eine einmalige Sache gewesen, alles sei okay, es gehe ihr blendend. Ich war mir zwar nicht sicher, ob das die Wahrheit war, hakte jedoch nicht nach, da Gretas Laune alles andere als blendend war. Sie war an dem Sonntagmorgen ungewöhnlich quengelig. Normalerweise legte ich sie vormittags für eine Weile auf ihre Krabbeldecke unter ihren Spielbogen, wo sie sich damit vergnügte, beide Beinchen in die Luft zu recken und gegen die Figuren und Glöckchen zu treten, die vom Spielbogen herunterhingen. Diese Fähigkeit hatte sie erst kürzlich entdeckt. Lucy hatte sie noch gar nicht gesehen, doch an dem Tag war Greta offensichtlich nicht gewillt, sie vorzuführen. Sobald ich sie hinlegte, begann sie zu brüllen.

An solchen Tagen half nur eins, um ihre prinzessliche Hoheit zu beruhigen: rein ins Tragetuch und raus an die frische Luft. Also gingen Lucy und ich mit ihr nach dem Frühstück zum Strand hinunter.

Das Wetter war grandios. Es war ein strahlend sonniger Herbsttag, die Temperaturen waren ungewöhnlich mild, der Wind mit vier bis fünf Beaufort für uns Einheimische quasi nicht vorhanden. Wegen des tollen Wetters und weil es Sonntag war, war für die Jahreszeit ungewöhnlich viel los. Touristen stapften über den cremefarbenen Sand, Paare hielten Händchen, Familien ließen bunte Drachen steigen.

Irgendwann schlief Greta an meiner Brust ein, Lucy und ich zogen unsere Schuhe aus und schlenderten Hand in Hand am Wasser entlang, Lucy mit den Füßen in den Wellen, die sanft auf den Strand liefen, ich auf dem nassen Sand. Normalerweise hätte ich diese Zeit mit Lucy sehr genossen, doch nachdem Greta sich endlich beruhigt hatte, wanderten meine Gedanken ziemlich bald zu Julia. Sie hatte immer noch nicht angerufen, und ich machte mir allmählich große Sorgen um sie. Ich hielt am Strand nach ihr Ausschau, weil sie mir erzählt hatte, dass sie jeden Morgen schwimmen ging, konnte sie jedoch nicht entdecken.

»Und? Siehst du diese Julia irgendwo?« Lucy war nicht entgangen, was ich tat.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie wird sich schon melden.«

»Meinst du nicht, das hätte sie längst getan?« Ich schwieg einen Moment, während ich vorsichtig um ein Herz herumlief, das jemand mit einem Stock in den nassen Sand gezeichnet hatte. Es würde der nächsten stärkeren Welle zum Opfer fallen, doch ich wollte es nicht zerstören. »Ich frage mich, ob wir nicht zur Polizei gehen sollten.«

Lucy blieb im Wasser neben einem großen Stein stehen. »Becca, du kannst nicht die Polizei rufen, weil eine erwachsene Frau eine Einladung sausen lässt.«

»Aber ich bin sicher, dass etwas Ungewöhnliches passiert ist. Sie hätte sich sonst gemeldet. Sie hätte mich nicht einfach im Stich gelassen, so ist sie nicht.«

Lucy musterte mich eine Weile, bevor sie vorsichtig sagte: »Bist du sicher, dass du sie so gut kennst? Ich weiß, ihr habt euch in der letzten Woche jeden Tag getroffen und gut unterhalten, aber so viel weißt du doch eigentlich gar nicht über sie, oder?«

»Ich mache mir nun mal Sorgen.«

»Das verstehe ich, aber du kannst nichts tun, außer abzuwarten.«

»Und wenn sie einen Unfall hatte? Sie wollte gestern zum Leuchtturm nach Bastorf wandern, vielleicht hat irgendein rasender Idiot sie angefahren.« Es war das einzige plausible Szenario, das mir eingefallen war.

»Selbst wenn, dann liegt sie jetzt in einem Krankenhaus und wird von Ärzten versorgt. Du kannst ihr nicht helfen.«

»Ich könnte sie besuchen.«

»Hm.« Lucy setzte sich wieder in Bewegung.

Eine Weile wanderten wir schweigend weiter. Doch als wir die Seebrücke erreichten und Lucy umkehren wollte, sagte ich: »Hast du etwas dagegen, wenn wir heute durch den Ort zurückgehen?«

Ich bemühte mich, es beiläufig zu sagen, doch Lucy durchschaute mich. »Du möchtest am Kurhaus vorbeigehen, nicht wahr? Aber du kennst doch die Nummer von Julias Ferienwohnung gar nicht. Sollen wir vielleicht an alle Türen klopfen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht treffen wir Julia zufällig.«

Leider trafen wir Julia nicht zufällig, obwohl ich Lucy überredete, einen Cappuccino in dem Café zu trinken, das direkt neben dem Kurhaus liegt und durch dessen Fenster man den Haupteingang zu den Ferienwohnungen beobachten kann. In der Zeit, in der wir dort saßen, gingen mehrere Gäste ein und aus, zu dieser Jahreszeit hauptsächlich Paare über fünfundvierzig und gelegentlich eine Familie mit Kindern im Kindergartenalter. Auch zwei Frauen ohne Anhang waren dabei, beide allerdings deutlich älter als Julia.

»Wie kommt es überhaupt, dass Julia um diese Jahreszeit hier Urlaub macht?«, fragte Lucy unvermittelt, nachdem wir ein älteres Heteropaar beobachtet hatten, das in identischer Sportkleidung und mit Walkingstöcken bewaffnet im Stechschritt das Kurhaus verließ, als wollte es für einen Gewaltmarsch bei der Bundeswehr trainieren. »Ich kann sie mir hier gar nicht vorstellen.«

»Du kennst sie doch gar nicht.«

»Sie ist Ende zwanzig und Single.«

Ich erklärte, was Julia hierher verschlagen hatte, doch Lucy blieb skeptisch.

»Ehrlich gesagt, kann ich mir auch ein Paar Ende zwanzig nur schwer in Rerik vorstellen. Wenn sie unbedingt die Küste hier kennenlernen wollten, warum haben sie dann keine Ferienwohnung in Warnemünde genommen? Da ist wenigstens auch abends etwas los.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Warnemünde ist teurer. Julia ist PTA, ich glaube nicht, dass man da so viel verdient.«

»Aber wenn sie und ihr Ex normalerweise in den Süden geflogen sind … Ich finde das seltsam.«

Ich musterte Lucy erstaunt. Ihre bedingungslose Toleranz war eine der Eigenschaften, die ich an ihr am meisten bewunderte. Sie war sehr kritisch, wenn es um Ungerechtigkeiten ging oder um die Qualität irgendwelcher Softwareprogramme, aber selten gegenüber anderen Menschen. Im Allgemeinen nahm sie sie so, wie sie waren, und erwartete nie, dass sie sich stattdessen so verhielten, wie es von der Gesellschaft als normal erwartet wurde.

»Was soll daran seltsam sein? Wir sind kaum älter und wohnen sogar hier.«

»Aber das hat andere Gründe – und eigentlich sollte es keine Dauerlösung sein.« Das Letzte sagte Lucy in leicht gereiztem Tonfall, und ich befürchtete schon, sie würde wieder das leidige Thema »Umzug zurück nach Hamburg« auf den Tisch bringen. Stattdessen kam sie auf Julia zurück. »Kann es sein, dass diese Julia gar nicht zum Urlaubmachen hier ist, sondern aus einem anderen Grund? Ich weiß, sie hat dir das so erzählt, aber vielleicht stimmt das ja gar nicht?«

»Warum hätte sie mich anlügen sollen?«, fragte ich überrascht.

Lucy trank den Rest ihres Cappuccinos. »Ich weiß es nicht, aber ihr Verhalten ist doch wirklich sonderbar.«

Ich schüttelte den Kopf, die Idee erschien mir ziemlich absurd, und das Einzige, das ich sonderbar fand, war Lucys plötzliches Misstrauen Julia gegenüber. Am nächsten Tag dachte ich jedoch anders darüber.

Am Montagmorgen brach Lucy schon um halb sieben auf, um pünktlich um neun das Wochen-Kick-off, wie sie das nannten, bei FinGames zu leiten. Normalerweise hasste ich diese Abschiede am Montagmorgen. Die Aussicht auf drei Tage und zwei Nächte ohne Lucy – mittwochs kam sie immer für eine Nacht nach Hause – löste bei mir stets eine Beklemmung aus, als sollte ich drei Tage mit nur halbem Atemvolumen auskommen. Außerdem waren sie stets eine deutliche Mahnung, dass unsere derzeitige Wohnsituation nicht von Dauer sein konnte.

Wir waren fünfzehn Monate zuvor nach Rerik gezogen, weil ich nach Pauls Tod die Leere in unserer Hamburger Wohnung irgendwann nicht mehr ertragen hatte. Lucy hatte es vorgeschlagen in der Hoffnung, dass das Leben an der See eine heilsame Wirkung auf mich haben würde, und wir hatten so lange bleiben wollen, bis ich mich erholt hatte und wieder arbeiten konnte. Aber dann war unverhofft Greta gekommen, und alles hatte sich geändert. Wir entschieden, dass wir zunächst bis zur Geburt hierbleiben würden, dann noch einen Monat länger, dann noch einen. Doch seit einigen Wochen drängte Lucy immer häufiger darauf, zurück nach Hamburg zu ziehen, weil sie die Pendelei satthatte.

Natürlich konnte ich ihren Wunsch gut verstehen. Die Fahrt von Rerik nach Hamburg dauert selbst unter optimalen Bedingungen zwei Stunden, und oft genug brauchte Lucy für die Strecke länger. Seit sie an den meisten Abenden unter der Woche in Hamburg übernachtete, musste sie zwar nicht mehr vier Stunden täglich Auto fahren, doch die Trennung machte uns beide unglücklich. Insofern war Lucys Vorschlag, dass auch ich zurück nach Hamburg ziehen und wir nur noch an den Wochenenden nach Rerik kommen sollten, durchaus vernünftig. Dennoch konnte ich mich nicht dazu durchringen. Lucy hatte einmal ganz zu Beginn unserer Beziehung zu mir gesagt, bei mir habe sie zum ersten Mal das Gefühl verspürt, wirklich zu Hause zu sein. Mir ging es umgekehrt mit ihr genauso. Lucy war der Mensch, bei dem ich mich angekommen fühlte. Dasselbe traf allerdings auf Rerik zu. Es war der einzige Ort der Welt, der sich für mich nach Heimat anfühlte, und ich war momentan nicht bereit, das aufzugeben.

Wie gesagt, all das führte normalerweise dazu, dass ich mich bei unseren Abschieden schlecht fühlte. Doch an diesem Morgen war ich vergleichsweise entspannt, denn als Lucy und ich uns zum Abschied küssten, war ich in Gedanken schon bei dem Vorhaben, das ich für den späteren Vormittag plante.

Zunächst musste ich mich allerdings um Greta kümmern. Nachdem ich sie gewickelt und gefüttert hatte, schmuste ich eine Weile mit ihr und legte sie dann auf ihre Krabbeldecke unter ihren Spielbogen. Im Gegensatz zum Vortag hatte sie blendende Laune, strampelte vergnügt mit ihren Beinen, kickte gegen die herabhängenden Plüschfiguren und krähte vor Vergnügen. Eine Weile saß ich neben ihr, dann holte ich mein Tablet und stellte es so auf, das es Greta filmte, während ich bügelte und ein paar andere Sachen erledigte, die im Haushalt liegen geblieben waren. So konnte Lucy sich das Video abends in Hamburg ansehen.

Um Viertel nach neun band ich mir das Tragetuch um, setzte Greta hinein und ging mit ihr zum Strand. Der Grund, warum ich gerade diese Zeit wählte: Ich hatte Julia sechs Tage zuvor gegen halb zehn Uhr kennengelernt, und ich hoffte, sie würde heute vielleicht wieder zur selben Zeit schwimmen gehen wie am vergangenen Dienstag. Doch obwohl ich zweimal am Strand auf und ab ging, traf ich Julia nicht. Es war – für diese Jahreszeit nicht überraschend – überhaupt nur ein Schwimmer im Wasser, Manfred Funke. Er wohnte in dem Haus neben unserem. Bis zu seiner Verrentung war er Hausmeister an der Reriker Grundschule gewesen, ihm verdankte ich mein Wissen über die besten Wanderwege der Umgebung. Ich winkte ihm zu, als er das Wasser verließ, blieb jedoch nicht zu einem Gespräch stehen. Gespräche mit ihm waren zwar meistens kurzweilig, aber selten kurz, und da ich Julia am Strand nicht getroffen hatte, wollte ich möglichst schnell Teil zwei meines Plans umsetzen.

Teil zwei meines Plans führte mich wieder zum Kurhaus. Allerdings hatte ich nicht vor, vor dem Eingang oder im Café Olé herumzulungern und auf ein Zufallstreffen mit Julia zu warten, heute wollte ich gezielter vorgehen.

Vielleicht sollte ich zuvor einige Worte zum Kurhaus sagen. Der Name ist etwas irreführend, denn dort werden keine Kuren oder Ähnliches angeboten. Das Kurhaus ist eine Anlage mit Ferienapartments in der Nähe der Reriker Kirche, die nach der Wende an der Stelle des alten Kurhauses gebaut wurde. Die Touristeninformation, die sich hier in Rerik Kurverwaltung nennt, hat ebenfalls ihren Sitz in dem Gebäude. Sie ist unter anderem auch für die Vermietung der Ferienwohnungen zuständig, und deshalb war sie an diesem Montagmorgen mein Ziel.

Am Sonntag war die Kurverwaltung geschlossen gewesen, doch heute hatte sie um neun geöffnet. Als ich dort ankam, waren beide Mitarbeiterinnen beschäftigt. Eine zeigte gerade einer Touristin in Wanderkluft eine Auswahl der Karten der Umgebung, die andere telefonierte. Dabei lächelte sie die ganze Zeit freundlich, obwohl der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sich über irgendetwas zu beschweren schien. Es war diese Frau, deretwegen ich hergekommen war. Ihr Name war Elke, sie war Mitte fünfzig und besaß einen kleinen, plumpen Körper, in dem jedoch geballte Energie steckte, wie ich wusste, weil Elke regelmäßig in den Pilateskurs kam, den ich seit Anfang des Schuljahres mittwochs im Physiotherapiezentrum gab. Als ich die Kurverwaltung betrat, winkte sie mir zu. Kurz darauf beendete sie das Telefonat und stellte sich mit einem breiten Lächeln zu mir an die Theke.

»Becca, so eine Überraschung. Was führt dich denn hierher? Willst du überprüfen, ob ich auch bei der Arbeit mein Powerhouse aktiviere, oder willst du endlich dein Versprechen wahrmachen, mir deine Tochter vorzustellen?«

»Das Zweite natürlich.« Ich lächelte zurück. Elke ist einer dieser Menschen, die bei anderen stets gute Laune hervorrufen. Sie ist die ideale Besetzung für jeden Job mit Publikumsverkehr. »Greta, das ist Elke. Elke, das ist Greta.« Ich zog sachte Gretas Mützchen von ihrem kleinen Kopf, um sie nicht zu wecken. Zum Vorschein kamen ihr dunkler, dichter Haarschopf und ein Stückchen von ihrem Profil.

Elke lachte. »Du meinst, das ist Gretas Hinterkopf und ihr linkes Ohr. Nun, beide sind wirklich wunderschön. Und du bist nur gekommen, um sie mir zu präsentieren?«

Ich gab zu, dass ich noch ein anderes Anliegen hatte. »Ich suche eine Bekannte, die eine eurer Ferienwohnungen gemietet hat. Es ist eine Frau, die ich vor einer Woche am Strand kennengelernt habe. Ich hatte sie für Samstagabend zu uns eingeladen, aber sie ist nicht gekommen und hat auch nicht abgesagt. Ich mache mir Sorgen, deswegen wollte ich sie besuchen, aber ich kenne leider ihre Apartmentnummer nicht.«

»Und du möchtest, dass ich dir die Nummer verrate? Kein Problem, wie heißt die Frau denn?«

»Ich weiß leider nur den Vornamen: Julia. Sie hat mir ihren Nachnamen zwar genannt, aber den habe ich wieder vergessen«, fügte ich hinzu, weil ich Priskas Ungläubigkeit noch im Ohr hatte, wie ich jemanden hatte einladen können, ohne vorher gründlich seinen Lebenslauf zu studieren.

Elke sah das entspannter. »Vergesslich? In deinem Alter? Aber kein Problem, das kriegen wir hin.« Sie setzte sich an einen Computer und tippte drauflos, und ich merkte, wie ich mich bei der Aussicht entspannte, Julia bald persönlich fragen zu können, ob alles in Ordnung sei. Erst dadurch wurde mir bewusst, wie nervös ich gewesen war. Ein bisschen, wie wenn plötzlich die Sonne zwischen den Wolken hervorlugt, und man merkt erst dann, dass man vorher gefroren hat.

Die Entspannung dauerte jedoch nicht lange, denn nachdem Elke einige Minuten die Computermaus durch die Gegend geschoben hatte, sagte sie: »Wir haben zurzeit keine Mieterin hier, die Julia heißt.«

Es fühlte sich an, als hätte jemand die Sonne wieder ausgeknipst. »Nicht?«

»Nein, tut mir leid.«

Ich war total perplex. »Bist du sicher? Darf ich mal selbst sehen?«

Ich machte Anstalten, um den Tresen herumzugehen, doch Elke schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, die Daten sind vertraulich. Aber ich bin mir sicher, Becca. Wir sind schließlich nicht das Kempinski mit vierhundert Suiten, und um diese Jahreszeit sind wir auch nicht ausgebucht. Ich habe diese Julia bestimmt nicht übersehen.«

»Aber sie muss da sein. Gibt es vielleicht jemanden, der so ähnlich heißt? Juliane oder Juliana oder so?«

»Nein, hier ist überhaupt keine Frau, die mit J anfängt. Allerdings …« Elke überlegte einen Moment, während ihre Finger einen flotten Marsch auf die Tischplatte trommelten. »Wer hat die Wohnung denn gebucht? Deine Bekannte selbst? Oder ist sie vielleicht bei jemand anderem zu Gast? Dann haben wir sie möglicherweise nicht in unserem System.«

Ich überlegte. »Sie wollte ursprünglich mit ihrem Mann kommen, einem Mark. Vielleicht hat der die Wohnung gemietet? Allerdings ist er nicht mitgekommen. Hättet ihr Julia die Wohnung dennoch gegeben?«

»Das hängt von den Umständen ab. Aber wenn diese Julia allein eingecheckt hätte, hätten wir spätestens dann ihre Daten aufgenommen.«

»Könntest du dennoch mal gucken, ob ihr einen Mark im System habt?«, bat ich.

Elke überflog erneut die Einträge. »Nein, tut mir leid. Hier ist ein Markus, aber der ist mit seiner Frau da. Gertrud. Und beide sind schon über siebzig. Wie alt ist denn deine Bekannte?«

»Neunundzwanzig. Sie kommt aus Frankfurt und ist heute vor neun Tagen angereist. Am Samstag. Habt ihr denn irgendwen, auf den das passen könnte? Ich meine, vielleicht ist Julia ja nur ihr zweiter Vorname.«