Die Einsamkeit des Todes - Petra Johann - E-Book

Die Einsamkeit des Todes E-Book

Petra Johann

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Beschreibung

Alles, was du fürchtest, liegt tief vergraben im Schnee …

Ausgerechnet auf einer Hochzeit erfährt Max Leitner, dass seine Verlobte Sarah eine Affäre mit seinem Bruder hat. Max löst die Verlobung und wirft Sarah noch in der Nacht aus seiner Wohnung. Zwei Jahre später erhält Max anonyme Botschaften, in denen behauptet wird, er hätte Sarah in jener Nacht getötet. Er forscht selbst nach und stellt fest, dass seine Exverlobte tatsächlich seit der Hochzeit verschwunden scheint. Dann wird in einem Wald im Chiemgau der Koffer gefunden, den Sarah damals mitnahm. Und im selben Wald liegt eine Leiche …

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Buch

Für den Tierarzt Max Leitner läuft alles bestens: Er ist beruflich erfolgreich und hat sich gerade mit der schönen Sarah verlobt. Doch ausgerechnet auf der Hochzeit seines besten Freundes erwischt Max Sarah mit seinem jüngeren Bruder Tobias. Er löst die Verlobung und wirft Sarah noch in der Nacht aus seiner Wohnung. Anschließend bricht er den Kontakt zu beiden ab.

Zwei Jahre später: Max hat seinen Schwur wahrgemacht, er hat weder Sarah noch Tobias je wieder gesehen. Doch dann stirbt seine Mutter und hinterlässt ein Testament, das Max zwingt, wieder Kontakt zu seinem Bruder aufzunehmen. Zeitgleich erhält er anonyme Botschaften, in denen behauptet wird, er hätte Sarah in der Nacht der Hochzeit getötet. Max forscht nach und stellt fest, dass Sarah tatsächlich seitdem verschwunden ist. Und dann überschlagen sich die Ereignisse: In einem Wald in der Nähe seines Elternhauses wird ein Koffer mit Frauenkleidung gefunden, in dem sich auch Sarahs Personalausweis befindet. Und nicht weit davon entfernt liegt eine Leiche …

Autor

Petra Johann, Jahrgang 1971, ist Mathematikerin. Sie arbeitete lange Zeit in der Wissenschaft und in der Softwarebranche und schreibt seit mehreren Jahren. Sie wuchs im Ruhrgebiet auf, lebt jedoch mittlerweile in Bayern. Die Einsamkeit des Todes ist ihr zweiter Roman bei Blanvalet.

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Petra Johann

Die Einsamkeit des Todes

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Redaktion: René Stein Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: plainpicture/Millennium/Heike Bors LH ∙ Herstellung: sam Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-16053-1 V002
www.blanvalet.de

Prolog

Sie spürte längst nichts mehr, als die starken Arme sie auf dem Waldboden ablegten. Doch wenn sie etwas gespürt hätte – was wäre es gewesen?

Vielleicht die Kühle des Erdbodens, der unter ihrem zarten Gewicht kaum nachgab? Vielleicht die Weichheit des Laubes, in das ihr Kopf gebettet wurde und das sich trocken an ihre Wangen schmiegte? Oder doch nur die Schmerzen? Hätte sie das Rascheln der Blätter vernommen, die feuchte Erde und den Moder gerochen? Hätte sie wahrgenommen, wie die nächtliche Dunkelheit noch schwärzer wurde, als die Fichtenzweige auf sie geschichtet wurden? Hätte sie das Kratzen der Nadeln auf ihren bloßen Armen gespürt? Hätte sie die Zweige als schützende Decke empfunden? Oder als Grabplatte, die sie endgültig von dieser Welt trennte?

Und was hätte sie sonst noch empfunden? Immer noch Entsetzen, wozu Menschen fähig sind, die wir kennen? Immer noch Angst? Ein winziges bisschen Reue? Oder hätten sich all ihre Gefühle in Hass verwandelt?

Hass auf die Person, die ihr das angetan hatte.

Teil I

30. August 2014

1

Max Leitner lehnte an der Bar und sah den Freundinnen beim Tanzen zu. Die Party war in vollem Gange. Es war noch nicht Mitternacht, doch bereits jetzt war absehbar, dass die Feier das Etikett »Traumhochzeit« verpasst bekommen würde. Die Trauung war so romantisch gewesen, wie Laura es sich gewünscht hatte – blumengeschmückte Kutsche zur Kirche inklusive. Außerdem hatte sie reichlich Stoff für Anekdoten geboten – von dem Blumenmädchen, das sich vor lauter Aufregung über der Kirchenschwelle erbrach, bis zum Kutschpferd, das ausgerechnet der Bürgermeisterin auf die neuen Pumps äpfelte –, um der Gemeinde noch für lange Zeit in Erinnerung zu bleiben. Andy hatte eine grandiose Rede gehalten, die nicht nur seine frisch angetraute Braut zu Tränen gerührt hatte. Und auch Max hatte sich seiner Trauzeugenpflichten einigermaßen gewandt entledigt.

Mittlerweile war der offizielle Teil inklusive Festmenü vorbei. Die älteren Gäste hatten die Heimreise angetreten oder sich in ihre Hotelzimmer verzogen, und der DJ spielte nach den obligatorischen Walzern zu Beginn nun Hits der letzten drei Jahrzehnte. Laura rockte mit ihren drei besten Freundinnen auf der Tanzfläche ab, alle strahlend und rosig und überdreht, mittendrin Tobi, nach Max’ Einschätzung der einzige Mann im Raum, der mit den Mädels an Schwung und Anmut mithalten konnte. Max selbst hatte sich zwar von Sarah für einen langsamen Walzer auf die Tanzfläche ziehen lassen, doch damit hatte er sich seiner Ansicht nach zur Genüge blamiert.

Jetzt beobachtete er, wie Laura, Sarah, Miriam und Jessica zu Left Outside Alone eine übermütige Choreographie aufführten, die sie sich vor zehn Jahren zu Abiturzeiten ausgedacht hatten. Er griff zu seinem Mineralwasser, da legte sich ein mächtiger Arm im verschwitzten, weißen Hemd um seine Schultern.

Andys Bass übertönte mühelos die laute Musik. »Auf Laura und mich!« Er stieß seine Champagnerflöte gegen Max’ Glas, dass es bedenklich klirrte. »Aber eins muss ich dir sagen, Max: Ich werde dir nie verzeihen, dass du ausgerechnet auf meiner Hochzeit nüchtern bleibst. Wann hat man je davon gehört, dass der Trauzeuge mit Wasser anstößt? Hättest du nicht irgendwen bestechen können, deinen Notdienst zu übernehmen?« Andy setzte sein Glas an die Lippen und trank es in einem Zug halb leer.

Max machte dasselbe mit seinem Wasser. »Und wann hat man je davon gehört, dass der Bräutigam zu besoffen ist, um seinen ehelichen Pflichten in der Hochzeitsnacht nachzukommen?«

Andy grinste anzüglich. »Da besteht keine Gefahr, mein Junge! Oder hast du schon mal eine attraktivere Braut gesehen? Und nach allem, was ich mitbekommen habe, hat Laura nicht nur einen Riesenaufwand betrieben, das Kleid auszusuchen, sondern auch das Darunter.« Er machte ein schmatzendes Geräusch mit seinen fleischigen Lippen. »Außerdem ist das erst mein viertes oder fünftes.« Er trank einen weiteren großen Schluck und stellte das leere Glas dann auf dem Bartresen ab. »Nicht, dass ich überhaupt den Unterschied zu Aldi-Champagner herausschmecken würde. Ich hoffe, das Zeug ist den horrenden Preis wert, den sie dafür berechnen.«

»Warum hast du dann nicht irgendeinen billigen Fusel bestellt, wenn du den Unterschied ohnehin nicht bemerkst?«

»Weil …« Andy machte mit seinem freien Arm eine ausholende Geste, die den Bankettsaal voller Gäste umfasste und Lauras exzentrischem Patenonkel, der just in dem Augenblick an ihnen vorbeitaperte, fast das Toupet vom Kopf gefegt hätte. »Weil ihn vielleicht irgendeiner hier bemerken würde. Außerdem ist für Laura das Beste gerade gut genug.«

Er sah zufrieden in die Runde, was er Max’ Ansicht nach auch sein durfte. Sie feierten im Seehotel in Prien direkt am Chiemsee, und wesentlich besser konnte man es im Chiemgau tatsächlich nicht bekommen. Allerdings wusste Max, dass Laura auch mit einer Party in der Scheune ihres Vaters zufrieden gewesen wäre. Hauptsache, es feierten viele Leute mit. Andy war derjenige der beiden, der Eindruck schinden wollte.

»Wow, sind sie nicht einfach wunderschön?«

Andy schaute zur Tanzfläche, und Max folgte seinem verklärten Blick.

Laura und Sarah hatten sich von der Mitte der Tanzfläche etwas an den Rand bewegt, wo Sarah strahlend auf die Braut einredete, ohne dabei aus dem Rhythmus zu kommen. Plötzlich streckte Laura ihre Hand aus, strich über Sarahs Bauch und umarmte sie so heftig, dass sie die deutlich zierlichere Freundin fast erdrückt hätte. Max konnte sich denken, was Sarah Laura anvertraut hatte. In seinen Augen hatte sie einen seltsamen Zeitpunkt gewählt, aber er hatte noch nie von sich behauptet, Frauen zu verstehen.

Andy schien es ebenfalls bemerkt zu haben. »Frauen sind schon seltsam. Wir haben wirklich Glück mit unseren, was?«

»Du sagst es«, entgegnete Max inbrünstig.

»So viel Glück, so viel Glück.« Andy nickte vor sich hin, packte Max dann noch fester und drückte ihn an sich.

Max fühlte sich, als würde er von einem Bären geherzt. Er fragte sich, ob Andy tatsächlich nur fünf Gläser Champagner intus hatte. Normalerweise wurde sein ältester Freund erst nach der dritten Flasche Wein sentimental, aber vermutlich galten auf der eigenen Hochzeit andere Regeln. Max würde es bald selbst herausfinden.

Andy senkte die Stimme zu etwas, das er wohl für ein vertrauliches Flüstern hielt, sodass man ihn wegen der lauten Musik nur in einem Umkreis von fünf Metern hören konnte. »Weißt du, ich hatte ja meine Zweifel an dir und Sarah. Natürlich nicht an dir, aber an Sarah. Sie ist so flatterhaft. Als du vorgestern sagtest, ihr würdet heiraten, da schien mir das keine gute Idee. Ich meine, Schwangerschaft hin oder her …«

Max kniff die Augen zusammen. »Sarah ist nicht flatterhaft. Sie hatte bisher nur kein klares Ziel im Leben.«

Andy nickte heftig. »Genau das meine ich, genau das. Aber mit dem Baby wird sich das ändern. Sie ist die Richtige für dich. Sarah ist eine tolle Frau. Und Heiraten ist sowieso das Beste!«

»Das ist sie«, bestätigte Max.

Überraschenderweise kam noch eine Bestätigung von links. »Oh ja! Sarah ist eine tolle Frau! Und Laura ist eine tolle Frau! Und ihr beide seid die tollsten Kerle, weil ihr so tolle Frauen habt! Darauf trinke ich. Scheiße, mein Glas ist leer. Na, macht nichts. He, noch einen!«

Tobi knallte sein Glas auf die Theke, dass es fast einen Sprung bekommen hätte. Max hatte seinen jüngeren Bruder hinter Andys breitem Kreuz nicht kommen sehen.

»Hey, Tobi«, begrüßte Andy ihn. »Ich dachte, du wolltest die Ehre der gesamten Männerwelt auf der Tanzfläche verteidigen.«

»Das könnt ihr schön selbst tun! Ich habe es satt, immer nur der Vertreter zu sein.« Tobi fuhr sich mit seiner Hand durch die blonden Haare, die dadurch noch wuscheliger nach oben standen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte Max sich besorgt.

»Natürlich nicht. Mein Glas ist leer. He, noch einen Doppelten!« Tobi hämmerte mit dem Glas auf den Tresen.

Max legte ihm eine Hand auf den Arm. »Meinst du nicht, dass du schon genug getrunken hast?«

»Nein, meine ich nicht.« Tobi starrte erst Max, dann Andy böse an. »Und er hat doch wohl genug Kohle, dass wir alle bis zum Sonnenaufgang durchsaufen können. Ah, danke, schöne Frau!« Er griff bedächtig sein Glas, als sei es der Heilige Gral. Dann hob er es hoch und prostete Andy und Max zu. »Auf eure tollen Frauen! Und auf ihre tollen Männer! Und auf die armen Scheißkerle, die die Frauen nicht kriegen, die sie lieben!«

Er stürzte den Whiskey hinunter, schüttelte Max’ Hand ab und stapfte davon.

Max sah ihm erstaunt nach. »Was war das denn?«

Andy zuckte mit den Achseln. »Frag mich nicht! Er ist dein Bruder.«

»Es klang, als hätte er Liebeskummer.«

»Tobi? Witzig! Der kann das Wort nicht einmal buchstabieren.«

»Vielleicht sollte ich ihm nachgehen.«

»Daraus wird nichts. Wir werden auf der Tanzfläche verlangt.«

Tatsächlich hatte der DJ beschlossen, dass es Zeit für ein bisschen Romantik war, und nach Rhythm Is A Dancer irgendetwas von James Blunt aufgelegt. Bei den ersten Takten waren Laura und Sarah lachend losgesprintet – so schnell ihre hochhackigen Schuhe das erlaubten – und stürzten sich jetzt auf die Freunde. Laura gab Max einen raschen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich freu’ mich so für euch!« Dann ergriff sie die Hand ihres frisch gebackenen Ehemanns und zog ihn auf die Tanzfläche. Max folgte mit Sarah, und für die nächsten Minuten, während Sarah sich an ihn schmiegte und sie eng umschlungen von einem Fuß auf den anderen traten, vergaß Max seinen kleinen Bruder.

»Bist du glücklich?«, murmelte Sarah.

»Ja, sehr.« Er küsste sie aufs Haar.

Es war die Wahrheit. Als sie ihm vor zehn Tagen das Ergebnis des Schwangerschaftstests gezeigt hatte, hatte ihn Panik gepackt. Zu früh! Zu bald! So hatte er das nicht geplant! Doch dann hatte er sie beide überrascht, indem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie hatte gezögert. »Bist du sicher, dass du das wirklich willst?« »Ja«, hatte er behauptet. Da hatte sie ebenfalls »Ja« gesagt, und seitdem waren die Zweifel wie weggeblasen.

»Und dennoch bist du mit deinen Gedanken woanders. Was ist los?«

»Nichts.«

Sie beugte sich zurück und sah ihm in die Augen.

Max wurde klar, dass Sarah recht hatte. Sie konnte seine Stimmungen besser lesen als er selbst. »Ich mache mir Sorgen um Tobi.«

Sarah versteifte sich für einen kurzen Moment, dann schmiegte sie sich wieder an ihn. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«

Es war eine berechtigte Frage. Seit Tobi im zarten Alter von drei Jahren den Hühnerstall auf dem Bauernhof von Lauras Vater angezündet hatte, weil er Hunger auf ein gebratenes Hendl gehabt hatte, hatte er sich einen gewissen Ruf erarbeitet.

»Nichts, soweit ich weiß. Aber er ist ziemlich betrunken.«

»Tobi trinkt auf Partys immer gern.«

»Aber selten mehr, als er verträgt. Und normalerweise wird er nicht aggressiv. Ich glaube, er hat Liebeskummer.«

»Tobi?« Sie klang genauso ungläubig wie Andy. »Normalerweise hat er um jeden Finger eine andere gewickelt.«

»In letzter Zeit nicht mehr. Ich habe ihn seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr mit einer Frau gesehen. Weißt du nicht etwas?«

»Ich?«

»Ja. Ich dachte, Tobi weint sich manchmal bei euch aus.« Tobi war mit den vier Freundinnen Laura, Sarah, Miriam und Jessica zur Schule gegangen.

Sarah schüttelte den Kopf, dass ihre Haare Max am Kinn kitzelten. »Ich habe ihn ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht macht ihm die Bar Sorgen?«

Tobi hatte vor einem Jahr sein drittes Studium geschmissen und mit einem Freund eine Bar in München-Schwabing eröffnet. Max hatte seine Zweifel an dem Unternehmen, doch auf Nachfrage behauptete Tobi stets, alles laufe bestens.

»Ja, vielleicht.« Er war nicht überzeugt.

Sarah merkte es natürlich. »Lass uns einfach den Moment genießen! Du musst endlich aufhören, dich um Tobi zu sorgen. Mit neunundzwanzig sollte er langsam auf eigenen Füßen stehen.«

Max nickte, und für die nächsten Minuten konzentrierte er sich nur auf Sarah. Er fühlte ihren Herzschlag und spürte, wie ihr Körper ihn erregte. Am liebsten hätte er sie hochgehoben und in das Zimmer getragen, das sie für die Nacht reserviert hatten. Vielleicht konnten sie sich wenigstens eine halbe Stunde davonschleichen? Zumal gerade die letzte Ballade ausklang und von einem schnellen harten Beat verdrängt wurde. Doch in dem Moment spürte er, wie sein Handy in der Hosentasche vibrierte.

Sarah seufzte. »Ein Notfall?«

»Ich versuche, es so schnell wie möglich zu erledigen. Bis später.«

Zwanzig Minuten später hatte Max den Notfall erledigt. Zum Glück war nur sein Rat gefragt gewesen, nicht sein persönliches Erscheinen. Eine Pflegerin der Pferdeklinik hatte angerufen, weil eine Stute, die er am Vortag operiert hatte, eine unruhige Nacht verbrachte.

Jetzt öffnete Max die Türen zum Bankettsaal und sah sich nach Sarah um, konnte sie jedoch nicht entdecken. Auch Miriam, Jessica und Tobi fehlten, vermutlich steckten sie alle irgendwo zusammen. Max beschloss, sie zu suchen und mit Tobi zu reden.

Zwar hatte Sarah recht, dass sein jüngerer Bruder keinen Aufpasser mehr benötigen sollte, doch Max hatte das Gefühl, für Tobi verantwortlich zu sein, nie ganz ablegen können. Der Fluch des Erstgeborenen. Außerdem wollte er ihm von Sarahs Schwangerschaft und der geplanten Hochzeit erzählen, wozu er noch nicht gekommen war.

Max ging zwischen den weiß gedeckten runden Tischen hindurch zur Fensterfront, die auf die Terrasse führte. Die Hochzeitsparty zeigte genau wie einige Gäste erste Auflösungserscheinungen. Der DJ hatte die Musik leiser gedreht. Laura und Andy saßen mit einigen Freunden an ihrem Tisch, immer noch strahlend, aber sichtlich erschöpft. Ein Kollege aus Andys ehemaliger Anwaltskanzlei torkelte auf Max zu, fiel ihm um den Hals und nuschelte etwas Unverständliches. Max atmete auf, als er nach draußen ins Freie trat.

Die Terrasse wurde von Laternen und Lampions erhellt. Zahlreiche Gäste, die rauchen wollten oder denen es drinnen zu laut und stickig war, genossen hier die warme Augustnacht, doch Tobi war nicht dabei.

Vielleicht war er am Hafen? Terrasse und Chiemsee trennte eine akkurat gepflegte Rasenfläche, darauf standen Pavillons aus weißem Zeltstoff, in denen nachmittags der Empfang stattgefunden hatte. Zwischen ihnen war es dunkler als auf der Terrasse, und als Max um einen der unbeleuchteten Pavillons herumging, wurde er von einer großen, stämmigen Frau im Dirndl umgerannt, die aus den Schatten auf ihn zugestürmt kam. Der Aufprall war so heftig, dass beide fast zu Boden gegangen wären.

»Entschuldigen Sie bitte …«, begann Max.

»Du depperter Depp, kannst du nicht aufpassen?«

»Miriam?«

»Wer zum Donner …? Max? Was machst du hier im Dunkeln? Ich dachte, du wärst bei einem Notfall. Du hast mich erschreckt.«

Sie traten aus dem Zeltschatten heraus. Im schwachen Lichtschein der Terrassenbeleuchtung sah Max, dass Miriam weniger erschreckt als wütend wirkte.

»Ich konnte es am Handy klären. Alles okay bei dir?«

»Klar, alles super! Was soll sein?«

»Du wirkst aufgebracht.« Was ungewöhnlich war, denn üblicherweise war die robuste Miriam der Fels in der Brandung im turbulenten Leben ihrer drei Freundinnen.

Miriam schüttelte so heftig den Kopf, dass sich eine Haarsträhne aus ihrer Flechtfrisur löste. Laura zuliebe trugen alle ihre Freundinnen Dirndl und Miriam eine Frisur, die Max als »bayrische Haartracht« bezeichnen würde. Sie war die Einzige, der die Aufmachung nicht stand.

»Nein«, entgegnete sie in einem Tonfall, der vor Sarkasmus triefte. »Ich bin nicht aufgebracht. Warum sollte ich es auch sein? Vielleicht weil ich mir gerade anhören musste, dass ich meine Nase in Angelegenheiten stecke, die mich nichts angehen? Weil mein eigenes Leben angeblich so kläglich ist und keine Aufregung und schon gar keinen Sex zu bieten hat? Nein, so etwas höre ich doch gern um zwei Uhr nachts auf der Hochzeit meiner Lieblingscousine!«

Max war unsicher, wie er auf diesen ungewöhnlichen Ausbruch reagieren sollte. »Aber das stimmt doch gar nicht …«

»Nicht?«, fuhr Miriam dazwischen. »Und woher willst ausgerechnet du das wissen? Nein, spar dir die Antwort! Für heute Nacht habe ich genug von den smarten Leitners!« Sie ließ ihn stehen und rauschte davon.

Max sah ihr verwundert nach. Wenn es auf Hochzeitsfeiern üblich war, dass die Gäste nach Mitternacht ausfallend wurden, sollten Sarah und er vielleicht nur im kleinen Kreise auf dem Standesamt heiraten. Und wieso hatte Miriam gesagt, sie habe genug von den Leitners – also ihm und Tobi?

Max setzte seinen Weg fort. Am Yachthafen war es heller, Laternen beleuchteten die Stege, vor denen die Boote im Wasser schaukelten. Am äußeren Rand des Lichtscheins sah Max eine Bewegung, und als er näher trat, erkannte er ein wild knutschendes Liebespaar. Allerdings trugen beide Dirndl.

Max drehte diskret wieder um, um zur Party zurückzukehren, doch als er über den Rasen Richtung Hotel schlenderte, hörte er Stimmen vom Hotelparkplatz, der hinter Büschen verborgen lag. Von dort war Miriam gekommen, als sie ihn umgerannt hatte.

Neugierig ging Max in die Richtung. Jemand sagte etwas, doch so leise und unterdrückt, dass er weder die Worte verstehen noch das Geschlecht des Sprechers identifizieren konnte. Doch dann antwortete eine zweite Stimme, lauter als die erste. Es war unverkennbar Tobi.

»Aber du kannst ihn nicht heiraten! Das ist doch Wahnsinn! Du liebst ihn nicht einmal!«

Max blieb abrupt stehen. Die Antwort konnte er nicht verstehen, vielleicht ein kurzes: »Doch!«, denn Tobi entgegnete sofort:

»Nein, das tust du nicht! Uns verbindet viel mehr. Wir kennen uns viel länger.«

Max starrte verblüfft in die Büsche, aus denen wieder etwas Unverständliches kam, gefolgt von Tobis erneuter Antwort:

»Aber da war ich achtzehn, verdammt! Du kannst mir doch nicht etwas vorwerfen, das ich mit achtzehn gesagt habe! Ich habe mich geändert! Ich liebe dich!«

Er klang so panisch, dass Max den Impuls unterdrücken musste, um den Busch herumzugehen und seinen kleinen Bruder in den Arm zu nehmen. Er fragte sich, was er tun sollte. Weggehen statt Lauschen wäre vermutlich das moralische Gebot der späten Stunde. Doch das brachte er nicht fertig, dazu klang Tobi zu verzweifelt.

Max fragte sich, woher die Verzweiflung rührte. Das passte so gar nicht zu Tobi, noch dazu wegen einer Frau. Und wer konnte die Frau sein? Max versuchte, durch das Dickicht der Büsche etwas zu erkennen, doch auf der anderen Seite war es zu dunkel.

»Was soll das heißen, ich bilde mir das nur ein?« Tobi wurde immer lauter. »Ich bilde es mir nicht ein. Du bist diejenige, die sich etwas einbildet. Wenn du ihn so sehr liebst, warum schläfst du dann immer noch mit mir?«

»Ich schlafe nicht mehr mit dir!«

Zum ersten Mal konnte Max einen ganzen, wenn auch gezischten Satz der Frau verstehen. Die Stimme klang vertraut. Er wusste, dass er sie kannte, doch er konnte sie nicht zuordnen. Zumindest nicht auf sinnvolle Weise! Sein Gehirn schlug ihm zwar eine Zuordnung vor, doch die war völlig ausgeschlossen.

»Ach ja? Und was war vor sechs Wochen? Und vor sieben? Und nach eurem Streit vor zehn Wochen und … Wo willst du hin?«

Geräusche wie von einem Handgemenge. Max machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts, dann drang wieder die Stimme der Frau durch die Büsche, schrill jetzt.

»Tobi, lass mich los! Ich bin schwanger!«

Anschließend herrschte Stille, bis auf Max’ Herzschlag, der in seinen Ohren plötzlich so laut dröhnte, dass er dachte, man müsste ihn bis in den Bankettsaal hören.

Und dann passierte eine schier endlose Zeit lang nichts. Max stand zu kaltem Stein erstarrt auf der dunklen Wiese unter dem sternenklaren Himmel. Unfähig, sich zu bewegen. Unfähig, etwas zu sagen. Unfähig, irgendetwas zu tun, während der Schock in seine Knochen kroch. Auch die Welt um ihn herum schien vor Entsetzen den Atem anzuhalten – bis Tobi das Schweigen brach.

»Das glaube ich nicht! Du nimmst die Pille. Du kannst nicht schwanger sein!«

»Bitte, Tobi, du darfst es ihm nicht sagen!«

Sie sprach leise. Dennoch hörte Max den flehenden Ton, und er spürte, wie sich eisige Kälte in ihm ausbreitete.

»In welcher Woche bist du?«, fragte Tobi scharf.

»Tobi, lass mich los!«

»Nur wenn du mir sagst, in welcher Woche du bist. In der sechsten? In der siebten? Kann das Kind von mir sein, Sarah? Kann es von mir sein?«

»Das würde mich auch interessieren«, vernahm Max eine dritte Stimme. Es war seine eigene.

Tobi und Sarah fuhren herum. Sie hatten ihn nicht kommen hören. Wie auch? Max hatte ja nicht einmal selbst bemerkt, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte.

Er sah in ihre entsetzten, schuldbewussten Gesichter und wiederholte seine Worte. »Das würde mich auch interessieren.«

Aus der Chiemsee-Zeitung vom 2.9.2014:

67-Jähriger aus Prien vermisst

Die Polizei bittet um Mithilfe bei der Suche nach dem 67-jährigen Josef Greindl. Der Rentner verließ am Samstagabend sein Zuhause in Prien am Chiemsee und wurde seither nicht gesehen.

Josef Greindl ist 1,71 Meter groß und schlank, hat blaue Augen und schulterlange graue Haare. Vermutlich trägt er ein weinrotes Hemd, eine hellbraune Cordhose und braune Schuhe. Greindl leidet an Demenz und ist möglicherweise orientierungslos und verwirrt.

Die Polizei bittet die Bevölkerung um Unterstützung. Wer Josef Greindl gesehen hat oder antrifft, benachrichtige bitte die Polizei.

3. Oktober 2014

1

Nach Ansicht von Kriminalhauptkommissarin Jennifer Nowak hätte Josef Greindl sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um gefunden zu werden. Ein Tag später wäre ihr sein Auftauchen gelegen gekommen. Selbst einige Stunden später wäre es in ihren Augen annehmbar gewesen. Doch neun Uhr am Freitag, den dritten Oktober, war definitiv ein schlechter Zeitpunkt.

Nicht weil Feiertag oder weil es ihr zu früh war. Auch wenn Jenny keinen Dienst hatte, stand sie normalerweise spätestens um acht auf, um sich für den Tag fit zu joggen. Sie machte im Jahr nur eine Ausnahme von der Regel, am Morgen nach dem traditionellen Oktoberfest-Besuch des K1. Dieser fand stets am Vorabend zum Tag der Deutschen Einheit statt und lief stets nach demselben Ritual ab: Erst trank Jenny zu viel – genau wie ihre männlichen Kollegen –, dann wehrte sie erfolgreich die Anmachversuche besagter Kollegen ab, nur um sich anschließend von einem süßen Fremden in Lederhose abschleppen zu lassen.

So war es auch am gestrigen Abend geschehen. Als an diesem Morgen das Telefon klingelte, riss es Jenny daher aus wirren, biergeschwängerten Träumen, und sie brauchte so lange, um ihr Handy zu finden, dass der Anrufer es noch einmal versuchen musste.

»Ja? … Oh! … Wo?« Das erste zweisilbige Wort, das sie herausbrachte, war: »Scheiße!« Der erste ganze Satz: »Ich komme.«

Sie drückte das Gespräch weg und betrachtete den Kerl in ihrem Bett – wenigstens war sie in ihrer eigenen Wohnung in Rosenheim, nicht irgendwo in München –, der sich gerade zwischen den Kissen emporarbeitete. Er sah sie verwirrt an, und Jenny fand ihn immer noch so süß, dass sie ihm unter anderen Umständen ein ausgiebiges Frühstück mit Nachtisch im Bett gegönnt hätte. Aber wie die Dinge nun einmal lagen …

»Okay, Sportsfreund«, nicht sehr originell, doch sie konnte sich gerade nicht an seinen Namen erinnern, »die Party ist vorbei! Du hast eine Viertelstunde bis zum Check-out.«

Dann ging sie ins Bad, um mit einer kalten Dusche einen fühlbaren Schlussstrich unter die Eskapaden der letzten Nacht zu ziehen.

»Also, wo ist er?«, brummte sie eine Dreiviertelstunde später, wobei sie gleichzeitig ein Gähnen unterdrückte und versuchte, ihre Kopfschmerzen zu ignorieren. Sie hatte einen Instantkaffee und zwei Aspirin gefrühstückt, doch bisher wirkte beides nicht. »Dort beim Mähdrescher?«

Ihre Frage war an Oberkommissar Vinzenz Helmer vom Kriminaldauerdienst gerichtet, der seine bullige Gestalt vor ihr auf dem Maisfeld aufgebaut hatte, als wollte er ihr den Zutritt verwehren. Das Feld war zum Teil abgeerntet. Ein gut zwanzig Meter breiter Streifen goldener Stoppeln zog sich parallel zu der Kreisstraße hin, die von Rosenheim zum Chiemsee führte. Der Bauer hatte bereits mit einer weiteren Bahn begonnen, dann jedoch seine Arbeit unterbrochen. Jetzt stand seine Maschine inmitten des Feldes, hinter ihr Erde und Stoppeln, davor das grün und golden und braun wogende Maismeer.

Es war ein grandioser Tag. Goldene Oktobersonne, blaue Alpenkette am Horizont: bayrische Idylle vom Feinsten.

Und bayrische Griesgrämigkeit vom Feinsten. »Das ist kein Mähdrescher, sondern ein Feldhäcksler«, blaffte Vinzenz. »Und natürlich ist Greindl dort, sonst hätte ich nicht gesagt, dass er beim Ernten gefunden wurde. Können wir?«, fragte er an Leo gewandt.

Erster Hauptkommissar Leopold Mayr war der Dritte im Bunde. Er hatte Jenny angerufen, jetzt saß er auf der Ladefläche seines Dienstkombis und tauschte seine Lederschuhe gegen Gummistiefel. Jenny hielt ihren Chef für übertrieben eitel und korrekt, mochte ihn ansonsten aber gern. Im Gegensatz zu Vinzenz. Letzterer war groß und übergewichtig und verkörperte jenen unangenehmen Menschenschlag, der unfähig ist, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Er war der Ansicht, dass jegliches intelligente und zivilisierte Leben an den bayrischen Grenzen endete. Er weigerte sich tatsächlich, Jenny für voll zu nehmen, weil sie die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens im Ruhrgebiet verbracht hatte. Die Tatsache, dass sie eine Frau war, verbesserte ihre Position keineswegs.

Leo nickte, und gemeinsam marschierten sie über das Feld. Der Feldhäcksler funkelte in der Oktobersonne, dass es Jenny in die müden Augen stach. Obwohl die Maschine ausgeschaltet war, schien sie von der Energie ihres mehrere Hundert PS starken Motors zu vibrieren – als wartete sie nur darauf, den vor ihr stehenden Mais zu fressen.

»Also, wo ist er?«, fragte Jenny erneut, als Vinzenz neben dem Feldhäcksler stehen blieb. Vor der Maschine lag ein Berg abgeschnittener Maispflanzen, und davor erstreckten sich die noch stehenden Pflanzen in sauberen Reihen. Mit den Augen suchte Jenny den Boden zwischen ihnen ab, konnte jedoch keine Leiche entdecken.

»Na wo wohl!« Vinzenz machte eine Handbewegung zum Erntevorsatz des Feldhäckslers.

Jenny betrachtete ihn genauer. Der Vorsatz war wesentlich breiter als das Fahrzeug und maß etwa sieben Meter. Soweit sie das unter den Maispflanzen, die ihn bedeckten, erkennen konnte, war es ein mit roten Eisenscheiben besetzter Balken. Die Eisenscheiben wiederum waren mit Messern bewehrt, die während der Fahrt vermutlich rotierten, die Maispflanzen schnitten und dann irgendwie ins Innere der Maschine beförderten, in dem die Pflanzen gehäckselt wurden.

Doch wo war die Leiche? So verkatert konnte sie doch nicht sein, dass sie einen ganzen menschlichen Körper übersah!

Jenny ließ ihren Blick über das braun-gelb-grüne Gewirr von Stängeln, Blättern und Kolben gleiten, und dann sah sie sie – oder zumindest einen Teil von ihr. Einen Knochen, der aus dem Mais herausragte und an dem noch Gewebereste und Haut hingen. Und ungefähr in der Mitte des Vorsatzes glitzerte etwas unter den Pflanzen, eine Armbanduhr mit einem großen silbernen Gehäuse, an dem der Rest eines zerschnittenen Lederarmbands hing.

»Scheiße!«, entfuhr es Jenny. »Er hat die Leiche kleingehäckselt. Ist das etwa alles, was übrig ist? Hat der Bauer die Leiche denn nicht gesehen? Wieso hat er nicht gebremst?«

»Gebremst?« Vinzenz machte ein für ihn typisches Geräusch, eine Mischung aus Schnauben und Grunzen, das Abwertung signalisierte. »Natürlich hat er nicht gebremst. Auf so einem Ding sieht man schließlich nicht, was vor einem auf dem Boden liegt, wenn man durch ein Feld rauscht. Du hast ja wirklich von nichts eine Ahnung.«

Jenny lächelte zuckersüß. »Von Landwirtschaft verstehe ich in der Tat nichts, aber wofür hat man seine Bauerntrampel?« Es war keine besonders originelle Replik, aber bei doofen Sprüchen lautete ihr Motto: erst zurückschlagen, dann nachdenken! Besonders, wenn ein Kater sie an Letzterem hinderte.

Vinzenz’ feistes Gesicht wurde rot, doch Leo verhinderte weitere verbale Übergriffe. »Jetzt erzähl erst mal, was passiert ist, Vinzenz. Wie hat der Fahrer entdeckt, dass etwas nicht stimmt? Ich nehme an, du hast mit ihm gesprochen?«

Vinzenz sah ihn an und nur ihn. »Schorsch Hinterhuber. Er ist mit seinem Sohn da drüben.« Er deutete auf einen Traktor mit Anhänger, der während der Ernte offensichtlich neben dem Feldhäcksler hergefahren war, um das Erntegut aufzunehmen. Jetzt stand er etwa fünfzehn Meter weiter. »Und was soll schon passiert sein? Der Metalldetektor in der Einzugswalze hat angeschlagen und einen Notstopp ausgelöst.«

»Wegen der Uhr?«

»Vermutlich.«

Jenny verstand kein Wort, doch bevor sie nachfragen musste, erklärte Leo es ihr. »Größere Eisenstücke können das Häckselaggregat zerstören, deshalb sind Feldhäcksler mit Metalldetektoren ausgerüstet, die den Einzugsbereich überwachen. Schlägt der Sensor an, bleibt der Feldhäcksler stehen, und das gesamte Maisgebiss – so nennt man den Vorsatz – wird sofort abgeschaltet, damit das Metall nicht weitertransportiert werden kann.«

Jenny betrachtete das Maisgebiss. »Aber die Uhr liegt nicht im Einzugsbereich, sondern davor.«

Leo nickte. »Wenn der Metalldetektor anschlägt, setzt der Fahrer üblicherweise den Feldhäcksler zurück und lässt die Einzugsschnecke rückwärts laufen, damit sie alles wieder ausspuckt, was noch nicht ins Häckselaggregat weitertransportiert wurde. Dann durchsucht er den Haufen nach dem Metall.« Er wandte sich wieder an Vinzenz. »Ich nehme an, Herr Hinterhuber hat das getan?«

»Natürlich. Und als er den Knochen und die Uhr entdeckt hat, hat er unters Maisgebiss geguckt und uns gerufen.«

»Unters Maisgebiss?«, fragte Jenny perplex.

Vinzenz produzierte wieder sein Lieblingsgeräusch. »Klar, was dachtest du denn, wo Greindl ist? Davon rede ich doch schon die ganze Zeit.«

Jenny fand, dass man das durchaus anders sehen konnte, doch ausnahmsweise verkniff sie sich eine Antwort. Leo war bereits neben dem riesigen Traktorreifen in die Hocke gegangen, und sie tat es ihm gleich. Als sie in den Schatten unter dem Feldhäcksler spähte, wurde ihr klar, was passiert sein musste. Aus dieser Perspektive sah sie, dass zwischen den Messerscheiben des Maisgebisses und dem Erdboden ein deutlicher Abstand bestand. In dem Zwischenraum lag eine Leiche. Sie bot einen grausigen Anblick, denn die Verwesung war schon weit vorangeschritten. Nur noch wenig Haut und Gewebe hingen an den Knochen – und zwei schmutzige weiße Fetzen, vermutlich ein Unterhemd und eine Unterhose. Der Leichnam war nicht vollständig. Auf den ersten Blick erkannte Jenny, dass mindestens der linke Arm fehlte, und dort, wo der Kopf hätte sein müssen, direkt vor dem entfernteren Traktorreifen, lag ein Haufen Knochenstücke. Sie waren nicht sehr groß und augenscheinlich zerbrochen, doch an den schulterlangen grauen Haaren, die an einigen davon klebten, erkannte Jenny mühelos, dass die Knochen zusammengesetzt einen Schädel ergeben würden.

Mitgefühl und Traurigkeit durchbrachen ihre professionelle Distanz und schoben ihre alkoholbedingte Taubheit beiseite. Sie hatte die Suche nach Josef Greindl geleitet, und sie hatte nicht erwartet, den Mann lebend wiederzusehen. Doch sie hätte ihm einen würdigeren Abschied aus seinem Leben gewünscht als diesen. Der Anblick der Knochenfragmente weckte in ihr den dringenden Wunsch, dass der Verantwortliche für diesen sinnlosen Tod bestraft würde.

Zehn Minuten später blickte Jenny Vinzenz hinterher, der zu seinem Dienstwagen stapfte. Sie war immer froh, wenn die Beamten des KDD einen Tatort verließen, weil sie erst dann das Gefühl hatte, er gehöre ganz ihr – oder zumindest ihren Kollegen vom K1 und ihr. Und Vinzenz’ schönste Seite war natürlich ohnehin sein entschwindender Rücken.

Jenny ging wieder in die Hocke, um einen weiteren Blick auf die Schädelfragmente zu werfen. Sie fragte sich, was passiert sein mochte, dass der Schädel so zertrümmert war, nicht nur mit Rissen übersät, die zum Beispiel bei Schlägen auf den Kopf auftraten. Es sah aus, als wäre der Feldhäcksler darübergefahren, doch die Knochenstücke lagen vor dem Reifen.

Nicht weit davon entfernt lag noch etwas auf der dunklen Erde. Ein glänzender Gegenstand, ein Schlüsselbund mit einem Anhänger aus braunem Leder, das feuchte Flecken aufwies. Dennoch konnte Jenny die goldene Gravur darauf problemlos lesen: Josef Greindl. Der Schlüsselbund war der Grund, warum Vinzenz keinen Zweifel an der Identität der Leiche gehabt hatte.

»So, das hätten wir. Der Bestatter ist auf dem Weg hierher, außerdem zwei Jungs vom Erkennungsdienst. Alles in Ordnung mit dir?«

»Klar«, behauptete Jenny. Sie war beim Klang von Leos Stimme so abrupt wieder in die Vertikale gegangen, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Der Boden ist uneben«, fügte sie hinzu, obwohl das eine alberne Ausrede war. Ihr Kater beeinträchtigte nicht nur ihr klares Denken, sondern auch ihren Gleichgewichtssinn. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde immer noch Bier darin hin und her schwappen.

Leo musterte sie. »Du hast gestern ganz schön viel getrunken.«

»Wer nicht?«

»Ich.«

Das stimmte. Leo war ein strikter Ein-Maß-Mann und jedes Jahr der Einzige, der sich beim Oktoberfest-Besuch seines Teams nicht danebenbenahm. Jenny vermutete, dass er ohnehin nur mitkam, weil er es für seine Pflicht hielt. Leo war das personifizierte Pflichtbewusstsein. Sein Bestreben, stets das Richtige zu tun, nahm mitunter märtyrerhafte Züge an.

»Immer korrekt«, murmelte sie mit leichtem Spott. Sie konnte sich das erlauben, sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef. Doch der sagte:

»Vielleicht solltest du dir mal ein Beispiel an mir nehmen und auch etwas mehr Korrektheit an den Tag legen. Immerhin bist du seit dem Ersten meine Stellvertreterin.«

Jenny sah ihn fragend an.

»Es gehört sich nicht für eine stellvertretende Kommissariatsleiterin, sich zu betrinken und dann irgendeinen Kerl abzuschleppen.«

»Ist das ein Scherz?«, fragte Jenny verblüfft.

Leo schüttelte den Kopf. »Ich fand es nicht sehr lustig, dir gestern Abend zuzusehen.«

»Ach, und wie war’s, den Jungs zuzusehen?«

»Das ist etwas anderes. Keiner von ihnen ist mein Stellvertreter. Darf ich dich daran erinnern, dass ich dir gegenüber weisungsbefugt bin? Als meine Stellvertreterin wirst du bitte in Zukunft ein angemessenes Benehmen an den Tag legen.«

Er klang so pompös, dass Jenny gelacht hätte, wenn sie sich nicht so geärgert hätte. »Und darf ich dich daran erinnern, dass wir gestern privat auf dem Oktoberfest waren? Oder soll ich die Zeit als Überstunden geltend machen?«

Sie sah Leo herausfordernd an, obwohl in ihrem Hinterkopf eine warnende Sirene anschlug. Auch wenn sie sich formal im Recht befand, war es niemals klug, den eigenen Chef zu provozieren. Aber sie ärgerte sich über seine Anmaßung und mehr noch über seine Doppelmoral. Bis vor Kurzem hatte Leo einen männlichen Stellvertreter gehabt, und sie war sicher, dass er diesem niemals Benimmvorschriften erteilt hatte.

Eine Weile sahen sie einander an, keiner wollte nachgeben. Schließlich brach Leo das Schweigen.

»Bitte bedenke einfach, dass du die Polizei repräsentierst. Dein Verhalten hat Einfluss auf das Image der Kriminalpolizei. Einverstanden?« Sein milder Ton signalisierte, dass er Frieden schließen wollte.

»Im Dienst immer.« Und um die Diskussion zu beenden, fügte Jenny hinzu: »Apropos Dienst: Da wäre noch Josef Greindl.«

Leo griff das Stichwort auf. »Ja, der arme Kerl. Aber niemand hat erwartet, ihn lebend wiederzusehen. Ich schlage vor, dass du schon heute mit dem Sohn sprichst, auch wenn die Rechtsmediziner den Leichnam noch offiziell identifizieren müssen. Es gibt wohl keinen Zweifel, dass er es ist.«

»Aber möchtest du nicht mit ihm reden?« Normalerweise übernahm Leo die Gespräche mit Angehörigen von Verbrechensopfern.

»Ich muss zu der Konferenz nach Berlin, schon vergessen?« Er lächelte sie an. »Das hier ist deine Show, Jenny. Herzlichen Glückwunsch zu deinen ersten eigenen Todesermittlungen.«

»Aber gründen wir keine SOKO?«, fragte Jenny überrascht. »Was ist mit Sattler?« Normalerweise wurde für Mordermittlungen eine Sonderkommission unter Leitung von Kriminaloberrat Rupert Sattler, Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Rosenheim, eingerichtet. Sonstige Todesfälle wie Suizid, Totschlag oder auch versuchter Totschlag übernahm Leo.

»Was soll mit Sattler sein? Das hier ist doch wohl kaum etwas für ihn. Josef Greindl wird seit fünf Wochen vermisst. Er war alt und dement und hatte ein schwaches Herz. Vermutlich hat er sich verlaufen, einen Herzinfarkt erlitten und ist zusammengebrochen. Weil keine Hilfe in der Nähe war, starb er.«

»Herzinfarkt? Hast du dir den Schädel nicht angesehen?«

»Was soll damit sein?«

»Er ist völlig zerstört. Das war nie und nimmer ein natürlicher Todesfall. Er sieht aus, als sei ein Laster darübergefahren.«

»Kein Laster, der Feldhäcksler.« Leo musterte sie. »Du bist heute wirklich nicht in Form, was?«

Ärger flackerte erneut in Jenny auf. »Nur dass die Schädelknochen vor dem Reifen liegen.«

»Weil der Bauer den Feldhäcksler zurückgesetzt hat. Er ist also zweimal über den Schädel gefahren.«

Das hatte Jenny völlig vergessen. Peinlich! Sie schickte ein kurzes Dankgebet in den blauen Himmel, dass Vinzenz schon gefahren war. »Aber daraus können wir noch längst nicht schließen, dass es sich um einen natürlichen Todesfall handelt. Ich finde, es sieht nicht danach aus. Wieso hätte Josef Greindl ausgerechnet mitten in einem Maisfeld einen Herzinfarkt erleiden sollen? Und wir sind hier etliche Kilometer von seinem Zuhause entfernt, mitten in der Pampa. Wie kam er überhaupt hierher?«

»Er wird sich verlaufen haben.«

»Und wo ist seine Kleidung? Ich sehe nur Unterwäsche.«

»Ihr werdet sie bestimmt finden.« Leo warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss los. Wie gesagt, ich habe den Erkennungsdienst herbestellt. Die Jungs sollen sich umgucken, ein paar Fotos machen und dem Bestatter helfen, nach den Knochenstücken von Greindls Arm zu suchen. Ich vermute, es dürften kaum Teile in den Häcksler geraten sein, dennoch solltest du noch einmal mit Herrn Hinterhuber sprechen und das Häckselgut vorläufig beschlagnahmen. Wir können uns später überlegen, wie wir damit umgehen wollen. Was ist? Willst du Fliegen fangen?«

Jenny hatte mehrfach den Mund geöffnet, um Einspruch zu erheben. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst die Rechtsmediziner nicht hierherrufen? Was, wenn sich herausstellt, dass es kein natürlicher Tod war?«

»Warum sollte es? Oh nein, Jenny, du glaubst nicht immer noch daran, dass der Sohn den Vater getötet hat, oder? Vergiss das doch endlich! Er hat ein Alibi. Er war an dem Abend, als Greindl weglief, auf einer Hochzeit.«

»Aber wir wissen noch nicht, wann Greindl starb. Und der Sohn hatte ein Motiv. Es gab ständig Streit zwischen den beiden, und alle Nachbarn haben bestätigt, dass er es satthatte, für die Betreuung seines Vaters zu zahlen. Abgesehen davon können wir nicht davon ausgehen, dass das hier wirklich Greindl ist. Wir müssen den Rechtsmediziner herrufen. Und das ganze Spurenteam, nicht nur zwei.«

»Auf keinen Fall. Das würde zu viele Ressourcen verbrauchen.« Er hob die Hände, als sie protestieren wollte. »Jenny, selbst wenn das hier nicht Greindl ist und selbst wenn der jemand ermordet wurde – was ich nicht für eine Sekunde glaube –, dann würde uns der Rechtsmediziner hier nicht viel nutzen. Die Leiche ist fast verwest, Tiere waren schon dran, der Feldhäcksler hat sie bewegt. Es ist also nicht so, als könnten wir dem Rechtsmediziner irgendeinen Originaltatort zeigen. Untersuchen kann er die Überreste ohnehin erst in München.«

»Aber …«

»Kein Aber, Jenny. Ich will nicht, dass man uns nachsagt, dass wir unnötig Ressourcen verschwenden, okay?«

Jenny holte einmal tief Luft. »Wenn du meinst.«

»Ja, meine ich.« Er sah sie fest an.

Sie senkte den Blick.

»Na dann … Ich muss los, Koffer packen.« Er räusperte sich. »Also viel Erfolg! Und denk daran, halte die Ermittlungen so klein wie möglich.« Er nickte ihr noch einmal zu, bevor er über das Feld zu seinem Wagen ging.

Jenny schaute ihm hinterher. Erst als er in seinem Wagen davonbrauste, drehte sie sich um und betrachtete erneut das Feld, das grün und golden in der Oktobersonne glänzte. Auf einmal fühlte sie sich großartig. Kopfschmerzen und Kater waren wie weggeblasen. Selbst ihr Mitgefühl mit Josef Greindls Schicksal spielte momentan nur eine untergeordnete Rolle. Ihr Feld! Ihr erster eigener Tatort! Nun ja, zumindest ihr erster eigener Fundort.

Jenny zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Jeans hervor, scrollte durch die Liste mit den gespeicherten Telefonnummern und tippte schließlich auf die Nummer des Münchener Instituts für Rechtsmedizin. Ihre Ermittlungen! Sie würde den Teufel tun, sie klein zu halten. Sie würde ihrer ersten eigenen Ermittlung nicht gestatten, auf etwas so Banales wie einen Herzinfarkt hinauszulaufen!

Fünf Kilometer weiter fuhr Leo um eine Kurve, dachte an Jenny und fühlte sich dabei ausgesprochen unwohl. Nicht weil er ahnte, dass Jenny in diesem Augenblick seine Vorschriften missachtete, sondern weil er sich wie so oft in den letzten Wochen fragte, wie er sich in diese verdammte Lage gebracht hatte. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet er – Mister Korrekt, solide verheiratet mit seiner Jugendliebe plus Vater zweier Teenager – sich in seine aufsässigste Mitarbeiterin verliebt hatte?

Aus der Chiemsee-Zeitung vom 7.10.2014

Vermisster Rentner wurde Opfer eines Verkehrsunfalls

Überraschende Wende im Fall Josef Greindl: Der 67-jährige Rentner, der seit Wochen vermisst und dessen Leichnam am vergangenen Freitag in einem Maisfeld gefunden wurde, starb bei einem Verkehrsunfall. Wie ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern-Süd gestern mitteilte, deuten darauf die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung hin.

Zunächst war die Polizei von einer natürlichen Todesursache ausgegangen, doch bei der Obduktion wurden verschiedene Knochenfrakturen entdeckt. Vermutlich war Josef Greindl zu Fuß auf der Kreisstraße RO 30 zwischen Rosenheim und Prien unterwegs, als er von einem PKW erfasst wurde. Die bei dem Zusammenstoß erlittenen Verletzungen waren so schwerwiegend, dass er innerhalb kurzer Zeit verstorben sein muss. Sein Leichnam wurde zwanzig Meter von der Straße entfernt in einem Maisfeld gefunden, weshalb die Polizei davon ausgeht, dass jemand die Leiche absichtlich dort versteckt hat.

Bei der Kriminalpolizei Rosenheim wurde eine Ermittlungsgruppe unter Leitung von Kriminalhauptkommissarin Jennifer Nowak zur Ermittlung des Tathergangs eingerichtet. Nach bisherigen Erkenntnissen trug sich der Unfall in der Nacht vom dreißigsten auf den einunddreißigsten August zu. Die Polizei geht davon aus, dass das unfallverursachende Fahrzeug im Frontbereich Beschädigungen aufweist, und bittet die Bevölkerung um Mithilfe.

Wem ist im besagten Zeitraum ein unfallbeschädigter PKW aufgefallen? Kann jemand etwas zum Unfallgeschehen sagen? Ferner sucht die Polizei nach Josef Greindls Brieftasche, die er zum Zeitpunkt seines Verschwindens mit sich führte.

Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.

Teil II

Zwei Jahre später

4. November 2016

1

Die Kurznachrichten schienen Begleiter des Todes zu sein.

Die erste kam an einem Donnerstag Ende Oktober, nachdem Max das geliebte Pony einer Familie hatte einschläfern müssen, deren verzweifelte Schluchzer er noch im Ohr hatte, als er in seinem Büro den Papierkram erledigte. Max las die SMS und löschte sie aus einem Reflex heraus sofort. Vermutlich sprach der Reflex auf das Datum an: 31.8.2014 – der eine Tag in seinem Leben, den Max vergessen wollte.

Auch die zweite SMS wurde ihm nach einem Todesfall geschickt, doch waren die Umstände diesmal andere …

»Was ist hier passiert?«, fragte Max scharf.

Er wusste, dass sein Ton zu hart und zu laut war für die beiden Mädchen mit den tränenglänzenden Augen und für die Stute, die wie paralysiert auf drei Beinen in der Reithalle stand, doch es fiel ihm schwer, sich zu mäßigen. Er war jetzt seit acht Jahren Tierarzt und seit drei Jahren Assistent an der Pferdeklinik, und in dieser Zeit hatte er einen gewissen Blick ausgebildet. Einen Blick, der sehr schnell unterscheiden konnte zwischen Dingen, die geschehen durften, und Dingen, die nicht geschehen durften. Beim Betreten der Reithalle hatte die Alarmglocke in seinem Kopf sofort geläutet. Später dachte er, die Peitsche habe sie losschrillen lassen.

»Was ist hier passiert?«, wiederholte er. Milder diesmal, dennoch begannen die Mädchen zu zittern.

Max fragte sich, wie alt die beiden sein mochten. Dreizehn? Vierzehn? Sie trugen schmutzige Reithosen und waren nicht geschminkt. Eine hatte einen blonden Pferdeschwanz, die andere einen braunen. Er war sicher, die Brünette schon einmal auf der Reitanlage gesehen zu haben, erinnerte sich jedoch nicht an ihren Namen. Sie hielt den Zügel der Stute in der Hand – beziehungsweise das, was davon übrig war, denn er war durchgeschnitten worden. Die Blonde stand neben dem Hals des Pferdes und strich unablässig mit der Handfläche darüber. Doch ob sie sich selbst beruhigen wollte oder das Tier, wusste Max nicht.

Die Stute war eine Schönheit – eigentlich. Fuchsfarben mit einem weißen Stern auf der Stirn. Noch jung, vielleicht sechs oder sieben, doch Max ahnte, dass sie nicht älter werden würde. Sie bot einen erbarmungswürdigen Anblick mit ihren weit aufgerissenen Augen und den geblähten Nüstern, zitternd und heftig pumpend, das Fell verschwitzt und vom feinen Sand der Halle bedeckt. Sie hatte ihren Hals und den Kopf in Max’ Richtung gedreht, als wollte sie sich abwenden von dem schrecklichen Ding, das ihr linkes Vorderbein gewesen war. Blut lief daran hinab, Knochenspitzen ragten heraus.

Schließlich sagte die Brünette: »Sternchen ist am Oxer gestürzt.«

Das hatte Max schon vermutet. Jemand hatte an der Längsseite der Halle eine doppelte Kombination aufgebaut. Das erste Hindernis, ein Steilsprung, stand noch. Die Stangen des zweiten, eines Oxers, lagen im Sand wie ein Haufen Mikadostäbe, eine war zerbrochen. Daneben schlängelte sich eine schwarze Longierpeitsche wie eine giftige Schlange.

»Welche von euch ist geritten? Wem gehört das Pferd?«

Jetzt erwachten sie aus ihrer Erstarrung, rissen ihre Augen womöglich noch weiter auf als die Stute. »Nein, wir haben nur zugeschaut«, begann die Blonde.

»Es war Peter, Peter Singer«, ergänzte die Brünette. »Sternchen gehört ihm. Er hat sie noch nicht lange. Er wollte für das Turnier üben. Nächstes Wochenende hier, auf der Reitanlage, und …«

Die Blonde übernahm wieder. »Aber Sternchen wollte nicht über den Oxer. Die Vorbesitzerin hat gesagt, sie ist mal bei einer Zweifachen gestürzt und hat deswegen Angst. Sie ist jedes Mal vor dem Oxer ausgebrochen. Deswegen hat Peter …« Ein Schluchzen zerriss ihr dünnes Stimmchen. Sie zitterte noch stärker. Tränen strömten über ihre Wangen, und ihre kleine schmutzige Hand krallte sich in die Mähne des Pferdes.

»Peter hat zu Boris gesagt, er solle die Peitsche nehmen und …« Jetzt brach auch die Brünette ab.

Max hatte genug gehört. Er unterdrückte einen Fluch.

Er kannte Peter Singer, den zweiundzwanzigjährigen Sohn des Reitstallbesitzers. Er wusste um dessen übertriebenen Ehrgeiz und an Brutalität grenzende Gefühllosigkeit gegenüber Pferden, und er konnte sich denken, was passiert war: Peter Singer hatte mit dem Pferd über die doppelte Kombination springen wollen – um jeden Preis. Die Stute war auch jedes Mal brav über das erste Hindernis gesprungen, vor dem zweiten jedoch nach rechts ausgewichen, da ihr links der Weg durch die Hallenwand versperrt war. Deswegen hatte Peter Singer diesen Boris – ein Pferdepfleger oder Hilfsarbeiter? Sie wechselten hier alle drei Monate, die meisten kamen aus dem Osten und arbeiteten schwarz – angewiesen, die rechte Seite zu blockieren. Als Sternchen wieder dorthin ausbrechen wollte, hatte Boris ihr mit der Peitsche eins übergezogen. Daraufhin war die Stute erschreckt nach links ausgewichen, hatte versucht, über den Oxer zu kommen, es aus dieser Position jedoch nicht geschafft und war mitten hineingekracht. So oder so ähnlich musste es sich abgespielt haben, da war Max sicher.

Wut kochte in ihm hoch, doch er beherrschte sich. »Wo ist Peter Singer jetzt?«

Sie schüttelten verzagt die Köpfe.

»Hat er sich verletzt?«

Erneutes Kopfschütteln.

Typisch, dachte Max. Nur Peter Singer brachte es fertig, ein Pferd zuschanden zu reiten, unverletzt aufzustehen und es dann zwei Mädchen zu überlassen.

»Okay, ihr beide habt das bisher toll gemacht. Könnt ihr mir noch weiterhelfen? Ich muss mein Röntgengerät aus dem Wagen holen. Könnt ihr so lange bei Sternchen bleiben? Und anschließend wäre es toll, wenn eine von euch für mich Peter Singer oder seinen Vater sucht.«

Sie nickten, und er wandte sich ab. Doch als er über den sandigen Hallenboden ging, hörte er ein zaghaftes »Dr. Leitner?«

Er drehte sich um.

Die Blonde nagte auf ihrer Unterlippe und nuschelte: »Können Sie ihr helfen?«

Max lächelte beruhigend. »Wir röntgen sie erst einmal, okay?« Er bemühte sich, Zuversicht in seine Stimme zu legen, auch wenn er bezweifelte, dass sie sich täuschen ließ. In ihren Augen schimmerte dieselbe Angst wie in denen der Stute.

Sie alle wussten, dass das Pferd keine Chance hatte.

Drei Stunden später saß Max in seinem Büro in der Pferdeklinik und versuchte, mit einem Kaffee den Geschmack des Todes aus seinem Mund zu spülen. Eine Zigarette wäre ihm lieber gewesen, doch er bemühte sich, seinen Nikotinkonsum einzuschränken. Nachdem er Sternchen eingeschläfert hatte, war er noch länger auf dem Hof geblieben. Erst hatte er die völlig aufgelösten Mädchen getröstet, dann hatte er Peter Singer die Meinung sagen wollen. Doch der hatte den Hof verlassen, nachdem er die Einwilligung zur Einschläferung gegeben und den Abdecker gerufen hatte.

Der Frust war Max auf den Magen geschlagen, daher griff er jetzt zu seinen Magentabletten. Im selben Moment wurde die Bürotür geöffnet, und Dr. Xaver Wiedmann kam herein. Xaver war Max’ Chef, Gründer und Leiter der Pferdeklinik, auch wenn er nicht mehr operierte. Er näherte sich mittlerweile der achtzig, und Arthrose hatte seine Gelenke fest im Griff. Doch seine Augen und sein Verstand waren so gut wie eh und je, sodass er immer noch die genauesten Diagnosen stellte.

»Ich habe gerade nach Johnny Walker geschaut«, meinte er und setzte sich vorsichtig. »Das sieht hervorragend aus. Er könnte es tatsächlich schaffen. Das war ein fantastisches Stück Arbeit.«

»Danke. Es war vor allem ein verdammt schwieriges Stück Arbeit.«

Max versuchte, seine Tabletten unauffällig in eine Schublade verschwinden zu lassen, aber Xaver hatte sie natürlich bemerkt.

»Ärger?«, diagnostizierte er prompt.

»Ein bisschen.« Doch Max wusste, dass es ihm nicht bekäme, seinen Groll hinunterzuschlucken, deshalb erzählte er von Peter Singer und dessen Stute. »Er war noch nicht einmal bereit, bei der Einschläferung dabeizubleiben«, ereiferte er sich. »Weißt du, was er gesagt hat? ›Der Scheißgaul hat mich schon genug Nerven gekostet.‹ Dieser Boris musste mir helfen.« Er rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Er war müde. In letzter Zeit schlief er schlecht. »Am liebsten würde ich die beiden wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz anzeigen.«

»Das würde nichts bringen.«

Das wusste Max selbst. Eine solche Anzeige versprach nur Erfolg, wenn die Mädchen aussagen würden, und das konnte er ihnen nicht zumuten. Er wechselte das Thema. »Wolltest du eigentlich etwas Bestimmtes? Oder bist du nur wegen Johnny Walker gekommen?«

»Nein.« Xaver hüstelte. »Ich habe gehört, dass es Monika schlechter geht.«

Max wunderte sich nicht, dass sein Chef es wusste. Xaver besaß ein gut informiertes Netzwerk und einen riesigen Bekanntenkreis, zu dem auch Max’ Eltern gehörten. Sein Vater, der ebenfalls Tierarzt gewesen und schon vor sechzehn Jahren verstorben war, und seine Mutter Monika.

»Das stimmt.«

»Wie schlimm ist es?«, fragte Xaver leise.

Max wich seinem Blick aus. »Sie wird bald sterben«, sagte er mit belegter Stimme. »In den nächsten Tagen, vielleicht nächste Woche.«

»Es tut mir sehr leid.«

»Es war abzusehen«, murmelte Max. Vor über einem Jahr war bei seiner Mutter Blasenkrebs diagnostiziert worden, inoperabel, seit drei Monaten wurde sie in einem Hospiz betreut.

»Macht es das leichter?«

Max schüttelte den Kopf, und eine Weile herrschte Schweigen.

»Wenn ich irgendetwas tun kann …«, sagte Xaver schließlich. »Willst du ein paar Tage freinehmen?«

Max wusste das Angebot zu schätzen. Sie waren notorisch unterbesetzt, weil Xaver bei Einstellungen ausgesprochen wählerisch war. »Vielen Dank. Ich fahre sie jeden Abend besuchen. Ich wollte auch jetzt gleich …«

Xaver verstand den Wink. »Selbstverständlich. Aber wenn du doch etwas brauchst, lass es mich wissen.« Er ging und schloss die Bürotür hinter sich.

Max stand ebenfalls auf und räumte mit wenigen Handgriffen seinen Schreibtisch auf. Als er seine Kaffeetasse in die Küche tragen wollte, kündigte sein Handy mit einem Summen eine SMS an.

Max tippte sie an, und im nächsten Moment war der Groll auf Peter Singer vergessen. Auch der Schmerz um seine Mutter trat schlagartig in den Hintergrund.

Ich weiß, was du am 31.8.2014 getan hast!

Max ließ sich wieder auf seinen Drehstuhl fallen. Was zum Teufel sollte das? Er hielt sein Handy immer noch in der Linken, die Tasse in der Rechten. Er stellte sie weg und las die SMS noch einmal. Und mit wachsender Irritation ein drittes Mal.

Ich weiß, was du am 31.8.2014 getan hast!

Klar, das wusste er verdammt noch mal auch selbst. Am dreißigsten August hatten Andy und Laura geheiratet, und in den frühen Morgenstunden des einunddreißigsten hatte Max Sarah mit Tobi in den Büschen erwischt. Der einunddreißigste war der Tag, an dem seine bis dahin friedliche Welt aus den Fugen geraten war. Wenn er an den Tag dachte, konnte eine ganze Packung Tabletten seine Magenschmerzen nicht beruhigen.

Max schob seinen Daumen über das Handydisplay zu den Optionen und auf Löschen. Doch dann zögerte er. Sein Instinkt sagte ihm, dass er solchen Dreck am besten gar nicht beachtete. Deswegen hatte er die erste SMS gelöscht. Aber vielleicht sollte er vorher herausfinden, wer für den Dreck verantwortlich war?

Sein Blick fiel auf die Telefonnummer des Absenders. Sie sagte ihm nichts, doch wer merkte sich schon Handynummern? Er wusste lediglich, dass sie keinem seiner Freunde und Bekannten gehörten, die in seinem Telefonbuch gespeichert waren, denn deren Nummern wurden automatisch in Namen umgewandelt. Wer war also der Absender?

Die einfachste Methode, das herauszufinden, war natürlich, die Nummer anzurufen. Doch Max zögerte. Vielleicht beabsichtigte der Absender genau das? Vielleicht spielte er irgendein idiotisches Spiel mit ihm? Falls ja, wollte Max nicht darauf eingehen. Andererseits … Wenn er nicht anrief, würde er dennoch ständig darüber nachdenken!

Bevor er es sich anders überlegen konnte, wählte Max die Nummer. Nervosität kroch in ihm hoch, während die Verbindung hergestellt wurde. Dann ertönte die Frauenstimme einer automatischen Ansage. »Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht erreichbar.« Der SMS-Schreiber hatte sein Handy ausgeschaltet.

Max beendete die Verbindung. Und jetzt? Sollte er die SMS jetzt löschen? Nein! Er wollte wissen, wer ihm so etwas schrieb und warum. Und was meinte der Schreiber überhaupt? Er, Max, hatte an dem Tag schließlich gar nichts getan. Ihm war etwas angetan worden!

Ich weiß, was du am 31.8.2014 getan hast!

Warum schickte ihm jemand so etwas? Wollte dieser Jemand etwas von ihm? Wollte er ihn quälen? Oder sollte es ein schlechter Scherz sein? Doch er kannte niemanden, der so etwas lustig fände oder einen Grund hatte, ihn zu quälen. Im Allgemeinen kam er gut mit anderen aus, außer natürlich mit den Peter Singers dieser Welt.

Für einen Moment spielte Max mit dem Gedanken, Peter Singer hätte die SMS geschickt oder ein anderer Reiter, mit dem er aus ähnlichen Gründen aneinandergeraten war. Doch woher hätte derjenige wissen sollen, dass dieses Datum für Max eine spezielle Bedeutung besaß?

Ich weiß, was du am 31.8.2014 getan hast!

Die Formulierung erinnerte Max an einen Film, den er als Jugendlicher mit Tobi gesehen hatte. Tobi! Max’ Magen verkrampfte sich noch mehr. Hatte sein Bruder die SMS geschickt?

Max versuchte, sich an Tobis Handynummer zu erinnern, doch vergeblich. Er konnte sie auch nicht nachsehen, da er Tobis Kontaktdaten aus seinem Handy gelöscht hatte. Genau wie Sarahs! Und genauso wie er die Daten aus seinem Handy gelöscht hatte, hatte er versucht, die Erinnerungen an die zugehörigen Personen zu tilgen. Doch natürlich war ihm das nicht gelungen. Er musste immer noch zu oft an Sarah denken. Tobi hatte er in den letzten Jahren sogar einige Male gesehen, zwei- oder dreimal im Haus ihrer Mutter, die bis zu ihrer Erkrankung versucht hatte, sie miteinander zu versöhnen. Und zwei- oder dreimal an ihrem Krankenbett. Doch das war der einzige Kontakt zwischen ihnen gewesen, und jedes Mal hatte Max sich geweigert, auch nur ein Wort an seinen Bruder zu richten.

Max las die SMS ein letztes Mal. Zur Hölle damit! Er hatte jetzt keine Zeit für so einen Scheiß. Er musste ins Hospiz.

Er löschte die Nachricht, stand auf und verließ sein Büro. Doch die SMS verfolgte ihn auf dem Weg zu seinem Wagen, und als er sich gerade hinter das Steuer klemmte und dabei sein Handy klingelte, war er so überzeugt, dass es der SMS-Absender war, dass er hineinblaffte: »Was soll der Scheiß?«

Für einige Sekunden drang nichts als Stille aus dem Handy. Max nahm es vom Ohr, um auf das Display zu sehen. Es zeigte nicht die unbekannte Nummer, sondern einen Namen: Wolfgang Leitner.

Verdammt!

»Entschuldige bitte, Onkel Wolf …«, begann Max, wurde jedoch unterbrochen.

Die Stimme seines Onkels klang barsch wie immer. »Monika ist gerade gestorben.«

11. November 2016

1

Der Junge wusste, dass sein Gegner ihn noch verfolgte, obwohl er ihn nicht mehr hören konnte, denn er pflegte niemals aufzugeben. Es gab kein Versteck, das vor ihm sicher war, man konnte nur laufen und laufen. Man musste in Bewegung bleiben, blieb man stehen, fand er einen.

Zum Glück war der kleine Junge schneller als sein Gegner. Er rannte durch den Regen über den Waldweg, sprang durch Pfützen, dass es spritzte, und lief dann in einen schmalen Pfad hinein, der entlang einer Böschung verlief. Der Pfad war eher eine Rinne, überwuchert und uneben, doch die kurzen Beine des Jungen passten sich mühelos an den Untergrund an. Dennoch gefiel ihm sein Fluchtweg nicht. Auch wenn er selten benutzt wurde, war der Pfad doch eine deutlich sichtbare Spur, die zu ihm führte, deshalb kroch der Junge schließlich durch das Unterholz und keuchte die mit glitschigen Blättern bedeckte Böschung hinauf. Ohne eine Pause einzulegen, stolperte er auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Erst als er vom Pfad aus nicht mehr zu sehen war, blieb er stehen und drückte seine rechte Hand gegen das Seitenstechen in seiner Taille.

Als sich sein klopfendes Herz etwas beruhigt hatte, sah er sich um. Er stand auf halber Höhe einer Senke in einem Meer aus verfärbtem Laub, ringsum Büsche und Bäume, von denen der Regen tropfte. Er war noch nie hier gewesen, dennoch gab ihm der Ort ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Sicherheit. Eingehüllt in einen Nebel aus feinen Regentropfen wirkte die Senke so abgeschieden, als läge sie in einer anderen Welt. Und vielleicht tat sie das ja? Vielleicht war sie ein magischer Ort, zu dem nur er Zutritt hatte? Der alte Beppo behauptete schließlich auch, dass es im Wald magische Wesen gab. Freche Waldkobolde, die Wanderern Streiche spielten, und verzauberte Feen, die nackig im Mondschein tanzten. Zwar war der alte Beppo meistens betrunken, aber dennoch der klügste Mann, den der Junge kannte. Und er hatte ihm geholfen, Herrn Kaninchen zu begraben. Denn nur wer begraben wurde, konnte in den Himmel kommen, hatte der alte Beppo gesagt. Und er musste es wissen, denn er arbeitete auf dem Friedhof. Er wusste alles über Tote und dass man vor ihnen keine Angst haben musste. Die Lebenden, nicht die Toten waren zum Fürchten.

Die Lebenden, oh ja! Der kleine Junge blickte zum Rand der Senke hoch, doch sein Verfolger war weder zu sehen noch zu hören, deshalb begann er, den Ort zu erkunden. Mit festen Schritten zog er eine Bahn um die Senke, wobei er mit seinen schmutzigen Schuhen raschelnd eine Schneise durch das Laub zog. Äste und Blätter rieselten den Hang hinab, und ein modriger Geruch stieg auf.

Als der Junge die Senke halb umrundet hatte, versperrte eine vor langer Zeit umgestürzte Buche seinen Weg. Mühelos kletterte der Junge auf den nassen Stamm und balancierte zwischen den toten Ästen, doch als er wieder abspringen wollte, rutschte er aus und stürzte.

Das weiche Laub fing ihn auf, er tat sich nicht weh, dennoch blieb er einen Moment verdutzt auf dem Bauch liegen. Dann stützte er die Ellbogen auf. Vor ihm, aus dem Gewirr von Zweigen, ragte ein Griff aus schwarzem Kunststoff. Und bevor der Junge daran dachte, sich zu fragen, was ein Griff an einer toten Buche zu suchen hatte und ob dieser nicht vielleicht das Tor zu einer weiteren mystischen Welt markierte, zog er bereits mit aller Kraft daran.

Monika Leitner wurde in Breitbrunn beerdigt, einer 1500-Seelen-Gemeinde am Nordwestufer des Chiemsees, in der sie über dreißig Jahre lang gelebt hatte und in der Max und Tobias aufgewachsen waren. Die Leitners waren hierhergezogen, als Monika mit Tobi schwanger und Max zwei Jahre alt war. Normalerweise integrierten sich Zugereiste damals nur schwer in diesem konservativen Winkel Bayerns, doch Thomas Leitner war Tierarzt und Monika fing als Arzthelferin bei einem der zwei praktischen Ärzte der Gemeinde an. Schnell hatten sie sich innerhalb der Gemeinde und auf den umliegenden Bauernhöfen einen großen Kreis an Bekannten aufgebaut, von denen viele zu guten Freunden geworden waren. Entsprechend voll war es vor der Gemeindekirche, als Max ankam.