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Aufbruch der Frauen: Der zweite Band der Reihe um die ersten Frauen im deutschen Reichstag. Berlin, 1927: Sophie Maytrott, Abgeordnete der Zentrumspartei, lebt gefangen in einer Ehe mit einem wolhabenden, aber ungeliebten Mann. Sowohl in ihrer Familie als auch im konservativen München fühlt sich Sophie eingeengt und verbringt immer mehr Zeit in Berlin, wo sie bei ihrer Freundin Marlene von Runstedt unterkommt. Hier, in der zügellosen Hauptstadt und im Reichstag, hat sie das Gefühl, mehr bewegen zu können als daheim als Ehefrau und Stiefmutter. Sie engagiert sich nicht nur in einem Kinderheim, sondern zunehmend auch im Prozess zur «Schüler-Tragödie von Charlottenburg», bei der zwei junge Männer zu Tode kamen. Unterstützt wird sie dabei von Leonard Harnack, einem katholischen Priester. Der gemeinsame Kampf für die Rechte der Schwächsten bringt die beiden einander näher. Doch damit gerät nicht nur Sophies Ehe in Gefahr. Inspirierend und mitreißend!
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2022
Micaela A. Gabriel
Roman
Berlin, 1927: Acht Jahre ist es her, seit zum ersten Mal Frauen als Parlamentarierinnen in den Reichstag gewählt wurden. Und ebenso lang ist es her, dass Marlene von Runstedt den Unfalltod ihres Geliebten Justus von Ostwald betrauern musste. Trost findet sie bei ihrer Freundin und Mitparlamentarierin Sophie Maytrott. Sie ist Abgeordnete der Zentrumspartei und lebt mit ihrem Mann, dem Juwelier Anton Maytrott, in München. Während Sophie sich politisch vor allem für die Kirchen und das Sozialwesen einsetzt, hat sie in ihrer Ehe einen ganz eigenen Kampf zu kämpfen. Anton sind die politischen Ambitionen seiner Frau ein Dorn im Auge, kann sie doch nicht gleichzeitig im Berliner Plenarsaal sitzen und ihm eine hingebungsvolle Gemahlin sein. Sophie fühlt sich zunehmend eingeengt, dabei immer mehr hingezogen zu ihrem Berliner Leben – und zu Pater Leonard Harnack, den sie bei einem Kongress in Rom kennengelernt hat und in der Hauptstadt wiedertrifft. Zusammen mit ihm setzt sie sich für einen jungen Mann ein, der nach der aufsehenerregenden «Schüler-Tragödie von Charlottenburg» vermeintlich unschuldig in Untersuchungshaft sitzt. Während Sophie zwischen zwei verschiedenen Lebensentwürfen schwankt, steht auch Marlene vor einer schweren Entscheidung: Max Emden, Partner in der Kanzlei ihres Vaters, drängt sie, sich der kleinen Tochter von Justus und ihrer Rivalin Sonja anzunehmen, die gegenwärtig im Kinderheim Finkenkrug nahe Berlin untergebracht ist. Kann Marlene ihren Schmerz überwinden und sich der kleinen Lena zuwenden?
MICAELA A. GABRIEL wurde in Hamburg geboren und wuchs in München und Lugano/Tessin auf, wo sie als Teenager ihre ersten Schreibversuche unternahm. Nach Sprachenstudium und Zeitungsvolontariat arbeitete sie als Redakteurin, bevor sie sich dem Romaneschreiben widmete. Unter ihrem Mädchennamen Micaela Jary gelangen der Autorin zahlreiche große Erfolge. Als Michelle Marly stand sie mit ihrem Roman «Mademoiselle Coco und der Duft der Liebe» fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Richard Jenkins
ISBN 978-3-644-01054-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Ich wollte etwas verändern, soziale Ungerechtigkeit beseitigen. Kurz, das Frauenbild verbessern.»
Elly Heuss-Knapp (1881–1952), liberale Politikerin, Autorin, Werbetexterin, Gründerin des Müttergenesungswerks, Ehefrau von Theodor Heuss (1884–1963), einem Abgeordneten des Reichstags und 1. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
Prolog
Wenn die Wege im Reichstag doch nur nicht so weit wären!
Mühsam schob sich Sophie Maytrott aus der Fraktionssitzung der Zentrumspartei an ihren weiter debattierenden Kolleginnen und Kollegen vorbei. Ohne auf die erregten Diskussionen der in Gruppen zusammenstehenden Abgeordneten zu achten, drängte sie sich dicht an der Wand entlang. Der größte Pulk strebte dem Erfrischungsraum entgegen, einige trieb es auch zu den Telefonkabinen, und manche folgten einem privaten Bedürfnis. Sophie zog es zu einem der Eingangsportale des Reichstagsgebäudes, sie brauchte vor der Abstimmung im Plenum dringend frische Luft. Der Konferenzraum, in dem die Beratungen stattgefunden hatten, war, wie die meisten anderen Sitzungssäle, viel zu klein für eine große Anzahl Parlamentarier, und der Qualm aus Zigaretten und Zigarren erschwerte das Atmen noch zusätzlich. Doch sie kam nicht so rasch vorwärts, wie sie es sich gewünscht hatte, was vor allem an ihrer Behinderung lag. Ihr gelähmtes Bein zwang sie zu einem langsamen Schritt.
Als sie sich vor zwei Jahren auf die Parteiliste für die vierte Reichstagswahl, an der Frauen aktiv und passiv teilnehmen durften, setzen ließ, hatte sie nicht mit der großen körperlichen Anstrengung gerechnet, die eine Nominierung bedeutete. Nicht nur die vielen Reden vor Frauenvereinen und in Betrieben vor den Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten, bei denen sie um ihre Stimme warb, kostete Kraft, die Arbeit im Plenum mit endlosen Sitzungen und Debatten forderte einen unerwarteten Tribut. Und dann waren da die langen Wege.
Seit sie zum ersten Mal das imposante, von Paul Wallot im Stil der Neorenaissance gehaltene Gebäude betreten hatte, bereiteten ihr die Flure und Treppen Probleme. Sicher, das Interieur war wunderschön anzusehen: der Plenarsaal, die Wandelhalle, die Bücherei mit dem Lesesaal und all die anderen Aufenthaltsräume. Aber da sich Sophie auch mit größter Fantasie nicht in die Rolle etwa einer Katharina von Medici einfühlen konnte, hätte sie eine größere Praktikabilität der grandiosen Optik vorgezogen. Ohne auf die erlesene Handwerksarbeit zu achten, humpelte sie an den Säulen mit den üppigen Stuckverzierungen vorbei, an Holzvertäfelungen mit geschnitzten Reliefs und hohen Doppeltüren entlang. Dabei dachte sie, dass die Innenarchitektur mehr dem einstigen Kaiser und weniger dem Volke gewidmet wirkte, wie es am Westportal des Gebäudes so vollmundig hieß. Alle Räume waren hochherrschaftlich, der Plenarsaal besaß darüber hinaus die Attitüde eines großen Opernhauses, und auch wenn die Versammlungen sie tatsächlich sehr oft an eine Theateraufführung erinnerten, war das schlossähnliche Ambiente wohl mehr geeignet für eine adelige Dame im Reifrock als für eine bürgerliche Politikerin von Mitte dreißig, die sich so schlicht wie ihre Kolleginnen kleidete und die Röcke ihres geschienten Beins wegen immer ein wenig länger trug als andere Frauen. Lediglich ihre ondulierten, halblangen Haare in einem schimmernden Mahagonibraun verwiesen auf einen gewissen modischen Schick.
Endlich stieß sie das schmale Tor an der Südseite des Gebäudes auf. Eine milde Brise wehte ihr entgegen, und erleichtert stellte sie fest, dass sich einige Sonnenstrahlen durch die Wolken am Himmel stahlen. Gestern hatte es geregnet, was angesichts der vielen Sitzungen eigentlich vollkommen gleichgültig war. Doch schmerzte ihre Muskulatur bei Feuchtigkeit, weshalb sie jede noch so kurze Zeit genoss, in der sie Wärme auf ihrem Körper spürte. Für einen Moment schloss sie die Augen, stand einfach nur da, atmete den Frühling ein – und vergaß das Misstrauensvotum gegen den amtierenden Reichskanzler Hans Luther, über das die im Reichstag vertretenen Fraktionen nach der Pause abstimmen sollten. Der milde Wind fing sich in ihren Haaren, weil sie keinen Hut trug. Schon in der Weimarer Nationalversammlung war über ein Verbot von Kopfbedeckungen für die Abgeordneten entschieden worden – Männern wie Frauen.
«Sophie!»
Ihre Lider hoben sich, ihr Blick folgte dem Klang der wohlbekannten Stimme. Marlene von Runstedt stand etwas abseits, rauchte und stieß mit ihrem Atem graue Wölkchen in die Luft. Die Freundin winkte ihr zu. Marlene war nicht nur Parlamentarierin wie Sophie, wenn auch in einer anderen Partei, sondern die Frau, mit der sie sich seit zwei Jahren eine Wohnung teilte, und auf gewisse Weise eine Seelenverwandte. Zu Beginn ihres Studiums der Rechtswissenschaften in München vor fünfzehn Jahren hatte Sophie bereits mit der damals promovierenden Marlene zusammengewohnt. Seit sie in den Reichstag gewählt worden war und ein Bett in Berlin brauchte, war Sophie in eines der vielen leer stehenden Zimmer in der großen Wohnung der Runstedts in Charlottenburg gezogen, als wäre die Tätigkeit im Parlament eine Fortsetzung ihrer Studienzeit.
Sophie ging der Freundin ein paar Schritte entgegen. Spielerisch tadelte sie: «Du verpestest die gute Luft.»
«Ach, das tun schon die ganzen Automobile», wehrte Marlene ab, während sie mit der Hand vage in Richtung Simsonstraße und Brandenburger Tor wedelte. Die hochgewachsene, überaus attraktive Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei lächelte schelmisch, was sie deutlich jünger als Mitte vierzig aussehen ließ, ihre blauen Augen glänzten. «Natürlich hast du recht», fügte sie hinzu. «Nikotin ist ebenso ungesund wie der Verkehr. Aber beides gehört irgendwie zum Leben dazu. Daran lässt sich nichts ändern.»
«Sind wir nicht angetreten, um Veränderungen zu erreichen?»
Marlene ging nicht darauf ein, warf die nur halb gerauchte Zigarette in den Rinnstein. «Wie wird das Zentrum entscheiden?», fragte sie unvermittelt.
«Konservativ», erwiderte Sophie. Sie selbst teilte zwar die Meinung ihrer Partei in der heute alles entscheidenden Flaggenfrage nicht, die dem Reichskanzler zum Verhängnis geworden war. Er hatte es allen Parteien und dem Reichs-präsidenten recht machen wollen und war daran gescheitert. Ungeachtet dessen war ihr jedoch bewusst, dass sie sich dem Fraktionszwang unterordnen musste. «Die politischen Kräfte, die an den kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot festhalten, konnten sich durchsetzen. Die Mehrheit hat sich deshalb für den Kompromiss entschieden, dass die alte Fahne und die demokratische schwarz-rot-goldene nebeneinander bei den Auslandsvertretungen gehisst werden dürfen.»
Marlene seufzte, offensichtlich anderer Meinung. «Ich weiß schon: Politische Entscheidungen sind nichts anderes als eine Abfolge von Kompromissen. Ich war noch nie gut darin, aber spätestens seit der Abstimmung für die Annahme dieses unsäglichen Vertrags von Versailles muss ich damit leben.»
«Hast du das nicht als Juristin schon viel früher gelernt?»
«Meiner Ansicht nach ist ein juristischer Vergleich meistens einem Gericht geschuldet, das sich wenig Arbeit machen will. Und einem faulen Rechtsanwalt.»
Sophie schmunzelte. «Lass das nicht den Kanzleipartner deines Vaters hören.»
«Max Emden würde ich niemals als faul bezeichnen.» Marlene erwiderte kurz Sophies Lächeln, die Belustigung erlosch jedoch rasch, und sie fügte hinzu: «Im Grunde geht es heute doch nicht darum, zwischen den verschiedenen Meinungen von kaisertreuen Nationalisten, Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten zu schlichten. Auf der Tagesordnung steht vielmehr, wie wankelmütig sich der Kanzler in der Flaggenfrage verhalten hat. Erst votiert er für die Einführung beider Fahnen auf allen amtlichen Gebäuden des Deutschen Reiches im Ausland, nebst der alten Flagge der Handelsmarine – und dann macht er einen Rückzieher?»
«Mich brauchst du nicht von dem Misstrauensantrag deiner Partei zu überzeugen», wehrte Sophie ab. «Natürlich hat der Kanzler unglücklich agiert. Die meisten meiner Kollegen sehen in dem Streit jedoch kein Problem des Regierungschefs, sondern eine Frage der Identität unseres Staates. Mit allen Farben sollen sich eben auch alle Bürger angesprochen fühlen.»
«Wie soll eine nationale Einheit in der Demokratie entstehen, wenn an der Fahne eines autoritären Staates festgehalten wird? Weißt du übrigens, wie die Kaisertreuen die Farben Schwarz-Rot-Gold nennen? Schwarz-Rot-Mostrich!»
«Und die Verbannung von Schwarz-Weiß-Rot bezeichnen viele von ihnen als Angriff auf die nationale Würde.» Sophie seufzte. «Wenn ich es recht bedenke, wird ein Volk mit verlorener Würde und ohne ein Symbol des Neuanfangs aber keinen Frieden finden. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Deshalb bin ich Politikerin geworden.»
«Ich dachte, du seist Abgeordnete, um dich für die katholische Kirche einzusetzen.»
«Natürlich. Auch. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie fassungslos ich war, als es bei der internationalen Frauenkonferenz in Rom neben allen anderen Flaggen keine deutsche gab, egal in welchen Farben.»
«O ja, daran erinnere ich mich auch», stimmte Marlene zu, klang jedoch, als habe sie das Interesse an dem Gespräch inzwischen verloren. Sie schien sich mit ihren Gedanken nicht in der Vergangenheit aufzuhalten, sondern die Gegenwart in sich aufzunehmen. Ihr Blick wanderte über das Reichstagsgebäude, folgte wohl den verschiedenen Menschengruppen, die dem Südportal zustrebten. Parlamentarier befanden sich ebenso darunter wie Männer, die anhand ihrer lässigeren Garderobe der Presse zuzuordnen waren. Schließlich hakte sie sich bei Sophie unter. «Komm, wir sollten in den Plenarsaal gehen, bevor wir das Wichtigste verpassen.»
Obwohl sie der Freundin widerspruchslos in den Reichstag folgte, stahlen sich Sophies Gedanken drei Jahre zurück, zu dem internationalen Kongress der Frauenliga für Frieden und Freiheit in Rom, der so viel für sie verändert hatte. Nicht nur ihre politischen Ambitionen. Denn zumindest die Gefühle für ihren Ehemann waren seitdem nicht mehr dieselben.
«Hoffentlich hast du das Mückenpulver eingesteckt?», meinte Anton Maytrott und fügte, ohne Sophies Antwort abzuwarten, hinzu: «Die Tiere sollen im Süden recht aggressiv sein. Damit darfst gerade du nicht spaßen!»
Stumm legte Sophie eine Bluse zusammen und deponierte sie mit ihren anderen Sachen in dem Koffer, der aufgeschlagen auf ihrem Bett lag. Das Gepäckstück war neu, weil sie so selten verreiste: ein schöner Koffer für eine Person, mit heller Leinenbespannung, die Kanten, Schlaufen und Gurte waren aus braunem Leder; groß genug, um ausreichend Garderobe zum Wechseln für ihren achttägigen Aufenthalt in Rom mitzunehmen: einen Stapel weißer Blusen, einen dunkel-blauen und einen grauen Rock, zwei Jacken, eine aus Tuch, die andere aus schwerer Wolle, dazu ein vor vielen Jahren selbst genähter Stoffbeutel, in dem sich Strümpfe und Unterwäsche befanden. Im Grunde sehen meine Kleidungsstücke alle gleich aus, bemerkte Sophie bei ihrer stillen Betrachtung.
Unter den halb gesenkten Lidern wagte sie einen Blick zu ihrem Mann. Er war überraschend früh nach Hause gekommen und stand nun mitten in ihrem Schlafzimmer, offensichtlich unschlüssig, ob er ihr beim Packen zuschauen und Ratschläge erteilen sollte oder fehl am Platze war. Anton Maytrott war mittelgroß und trotz der mageren Kriegs- und Nachkriegszeit stets recht schwergewichtig geblieben. Er besaß ein freundliches, bärtiges Gesicht mit braunen Augen und einer hohen Stirn, in die seine grau melierten Locken fielen, wenn er sie nicht mit Pomade zurückkämmte. Abgesehen von dem runden Bauch, über den sich die Weste spannte, hatten die Jahre seinem Körper wenig anhaben können. Nur die Furchen und Falten an Mund und Wangen verrieten ihren Altersunterschied – er war zwanzig Jahre älter als Sophie.
«Hast du an warme Garderobe gedacht?», fuhr Anton fort. Es war wohl wieder keine Frage, sondern mehr eine Aufforderung. Und er fügte hinzu: «Um diese Zeit können die Nächte im Süden frisch sein. Außerdem ist es in den Kirchen, die du besichtigen wirst, stets sehr kalt.»
Seine Fürsorglichkeit war gewiss gut gemeint, doch raubte er Sophie damit die Luft zum Atmen. Sie fühlte sich in ihrem hübschen Zimmer mit der rosenbedruckten Tapete und den grau lackierten Möbeln plötzlich wie eingesperrt. Einzig der Koffer und die damit verbundene Verheißung von acht Tagen allein ließen sie Ruhe bewahren. Auch wenn ihr Gatte alles, was sie einpackte, genau beäugte und kommentierte, als wollte er sie bis in die italienische Hauptstadt hinein kontrollieren.
Dabei war sie bis zu ihrer Heirat vor zwei Jahren eine selbstständige junge Frau gewesen. Auch wenn sie für ihr Studium der Rechtswissenschaften an der Universität in München auf das Wohlwollen ihres Vaters angewiesen gewesen war – ohne seine Unterstützung wäre eine Einschreibung nicht möglich gewesen. Bankier Larisch und seine Frau hatten aber nur zu gern versucht, alle ihre Wünsche zu erfüllen, schon aus Dankbarkeit, weil ihre einzige Tochter die Kinderlähmung in ihrem Backfischalter überlebt hatte. Auch hatten Sophies Eltern nichts dagegen, als sie sich mitten im Krieg um eine Ausnahmegenehmigung bewarb, die es ihr ermöglichte, den juristischen Vorbereitungsdienst in der Verwaltung anzutreten. Zwar war es Frauen eigentlich nicht möglich, die für Juristen vorgesehene Referendarzeit zu absolvieren, da eine Zulassung zum zweiten Staatsexamen nur für männliche Studenten galt, aber der Krieg schuf Lücken, die nicht nur in den Fabriken und in der Landwirtschaft von weiblichen Arbeitskräften geschlossen werden mussten.
Sophie erinnerte sich noch gut an das Triumphgefühlt, als sie promoviert wurde, während die Nationalversammlung in Weimar tagte. Danach war sie für den bayerischen Landesverband des Katholischen Frauenbundes tätig geworden und hatte anschließend für die Frauenrechtlerinnen Therese Schmitt und Ellen Ammann gearbeitet, beide Mitglieder in der Bayerischen Volkspartei und zwei der ersten weiblichen Abgeordneten im Bayerischen Landtag.
Ihre Eltern hatten den Wunsch, die Tochter gut verheiraten zu wollen, schon früh aufgegeben und förderten daher ihre beruflichen Ambitionen. Auch Sophie selbst glaubte nicht mehr an eine Hochzeit – so viele Männer ihrer Generation waren gefallen, und die Überlebenden wollten gewiss keine Braut mit einem gelähmten Bein, die niemals Kinder gebären könnte. Stattdessen gewann sie Gefallen an der Politik und trat in die gemäßigtere Schwesterpartei der BVP ein, das Zentrum. Es gab so vieles, das sie bewirken wollte und in der Demokratie auch zu verändern können glaubte, vor allem wollte sie in einem protestantisch geprägten Deutschen Reich für einen gewissen Stellenwert des Katholizismus sorgen und für Nächstenliebe und ein gottesfürchtiges Leben ohne Not. Umso überraschender erfolgte die Brautwerbung eines Bekannten ihres Vaters, des Witwers Anton Maytrott.
Sophie nahm seinen Heiratsantrag an, weil sie sich überzeugen ließ, dass gerade eine kränkliche Person wie sie in den schwierigen Zeiten, die herrschten, einen Beschützer brauchen könnte. Allerdings verlangte sie von Anton, dass er ihren wohltätigen Ambitionen nicht im Wege stand. Außerdem waren da zwei Kinder, die eine neue Frau in ihrem Umfeld brauchten. Und gebraucht zu werden, war für Sophie ein sehr hohes Gut. Dafür gab sie ihre Arbeit im Maximilianeum auf, jedoch nicht die für den Frauenbund und auch nicht ihre Hoffnung auf eine bessere Welt. Beides ermöglichte ihr nun die Reise zu dem internationalen Kongress in Rom.
«Achte immer auch auf deinen Koffer und sorge dafür, dass sich der Zollbeamte, der dein Gepäck kontrolliert, anständig benimmt. Man hört ja so vieles über die Italianos. Seit Südtirol nicht mehr deutsch ist, kann man sich dort nicht mehr auf die Staatsdiener verlassen.»
«Ja, Anton», sagte sie angesichts seiner aufdringlichen Bevormundung so geduldig wie möglich. Sie war schließlich eine erwachsene Frau!
Er zog aus der Westentasche ein dickes Bündel aus grauen und rosafarbenen Geldscheinen. «Das sind italienische Lire. Ich habe die Währung bei der Bank für dich gewechselt. Pass gut darauf auf! Am besten, du verwahrst das Geld in deiner Unterwäsche direkt an deinem Körper. Dass die Italianos Taschendiebe sind, ist schließlich bekannt. Die machen vor niemandem halt!»
Nicht einmal vor einer Frau mit einem gelähmten Bein, vollendete Sophie seinen Gedankengang bitter.
«Auf deinen Pass solltest du auch gut aufpassen. Halte ihn immer griffbereit!» Antons Sätze klangen in ihrer raschen Abfolge wie Pistolenschüsse. «Vielleicht hätte ich doch mitkommen sollen. Eine zartbesaitete Person wie du ganz allein in einem fremden Land … Die Adresse der deutschen Botschaft hast du auswendig gelernt, hoffe ich. Damit du weißt, wohin du dich wenden musst, wenn deine Papiere gestohlen werden. Und die Anschrift der bayerischen Gesandtschaft im Vatikan …» Er redete und redete und hörte einfach nicht auf, ihr die Reise nach Rom madig machen zu wollen.
Schließlich unterbrach sie seinen Wortschwall mit dem Versuch einer Beschwichtigung: «Lieber, ich werde in Rom nicht alleine sein. Zu dem internationalen Kongress reisen viele Frauen aus aller Herren Länder an. Sie alle sind ohne männliche Begleitung unterwegs. Ich werde gewiss alte Freundinnen wieder treffen und rasch neue Bekanntschaften schließen.» Kaum geendet, fragte sie sich, warum sie ihm etwas zu erklären versuchte, das er doch längst wusste.
Jedoch interessierte ihn ihr Einwand wohl nicht. Er lamentierte weiter: «Es macht mich sehr froh, dass ich es mir leisten konnte, dir eine Fahrkarte für die erste Klasse zu kaufen. So bist du wenigstens in der Eisenbahn gut aufgehoben. Und es war auch ein großes Glück, dass ich daran gedacht habe, diesen Reiseführer zu besorgen. Sonst hätte ich nicht gewusst, dass man in Rom zwischen Fremdenhotels und den Gasthöfen für die Einheimischen unterscheidet. Es nimmt mir eine Sorge von den Schultern, zu wissen, dass ich dir ein Zimmer in einem anständigen Hotel mit überwiegend deutschen Gästen gebucht habe, auch wenn sich die Preise in Italien seit Kriegsende verfünffacht haben. Aber Wirtschaftlichkeit erwartet man von diesem Land natürlich nicht. Allerdings fragt man sich schon, ob dein kleines Engagement das wirklich wert ist. Zu deinem Glück sind wir gut situiert.»
«Ja, Anton, du bist sehr großzügig.» Dabei dachte sie, wie ungerecht er doch war. Finanziell stand Italien deutlich besser da als das Deutsche Reich. Die Reparationsforderungen der siegreichen Entente waren wie eine Schlinge, die sich immer fester um die deutsche Nation schlang und das Land mitsamt seinen Menschen zu erwürgen drohte. Anscheinend unaufhaltsam stiegen die Preise täglich in schwindelnde Höhen. Die Staatsschulden wuchsen, die Notenpresse rotierte, und die Lebenshaltungskosten explodierten. Obwohl sie ihren Haushalt sparsam zu führen versuchte, waren die Kosten inzwischen immens. So musste sie für ein Ei etwa achthundert Mark ausgeben und ein Kilogramm Kartoffeln waren nicht unter viertausend Mark zu bekommen – dafür brauchte sie nicht einmal zum Dallmayr gehen, das waren die Preise eines einfachen Lebensmittelhändlers. Als ehemaliger königlicher Hofjuwelier hatte Anton jedoch seine eigenen kleinen Währungen im Safe – einen gewissen Vorrat an Gold, Edelsteinen und Perlen, der ihn und seine Familie über die Zeit rettete. Dank kluger Investitionen war die Inflation bislang ein unerfreulicher Umstand, der manche ihrer einst wohlhabenden Nachbarn und Freunde, die meisten Arbeiter und vor allem Beamte, etwas anging, aber die Familie Maytrott nicht allzu schwer belastete. Dennoch versuchte Sophie, auf die ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu achten.
Doch bevor Sophie ihren Einwand in Worte fassen konnte, war Anton schon bei der nächsten Maßregelung, Sophies Tagesprogramm betreffend: «Halte dich nicht zu lange mit diesen Frauen und ihren Debatten auf. Vor allem nicht mit den Ausländerinnen! Verbringe deine Zeit lieber mit einer sinnvollen Beschäftigung. Du kannst nicht aus der Ewigen Stadt abreisen, ohne die wichtigsten Sehenswürdigkeiten besucht zu haben …»
«Ich bin ja noch nicht einmal angekommen», warf sie ein.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wanderte er vor dem Bett auf und ab. In dem nicht sehr großen Schlafzimmer war seine Schrittfolge kurz und brachte Unruhe in den Raum. «Hast du den Reiseführer eingepackt, den ich dir gekauft habe? Ich habe die Kirchen und Museen angekreuzt, die du besichtigen musst, und dabei eine Abstufung vorgenommen. Zwei Kreuze bedeuten, dass du dort unbedingt hingehen musst, eines bezieht sich auf eine gute Gelegenheit, wenn du noch ein wenig Zeit hast.»
Sophie hatte genug von seinen Instruktionen. Sie klappte den Kofferdeckel zu, obwohl noch nicht alles eingepackt war. «Apropos Zeit», flötete sie mit erzwungener Liebenswürdigkeit, «wir sollten uns zum Abendbrot setzen. Rufst du bitte die Kinder?» Diesmal führte sie das Wort – und Anton fügte sich.
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, versteckte sie das italienische Geld rasch in der Nachttischschublade unter ihrer Bibel. Dann machte auch sie sich auf den Weg in den Speiseraum. Das Gehen fiel ihr heute schwer, obwohl sich das Wetter gebessert hatte und es nicht mehr nasskalt, sondern frühlingshaft warm war. Wahrscheinlich hatte sie sich übernommen, um sich auf die erste Auslandsreise ihres Lebens vorzubereiten, der sie gelassener entgegensah als Anton. Schließlich waren die Italiener ein christliches Volk, ebenso katholisch wie sie selbst. Von diesen Menschen hatte sie gewiss nichts zu befürchten, und in der Münchner Zeitung hatte sie gelesen, dass der neue Regierungschef Benito Mussolini mit harter Hand für Ordnung sorgte, sodass das Land nach jahrelangen kommunistischen Unruhen als befriedet und sicher galt. Natürlich war sie aufgeregt, aber auf eine ganz andere Weise als ihr Ehemann, der allem Fremdländischen skeptisch gegenüberstand.
Antons Haltung wurde auch bei dem gemeinsamen Abendessen mit seinen Kindern deutlich. Er saß eingerahmt zwischen dem vierzehnjährigen Matthias und der zwei Jahre jüngeren Henriette am Tisch. Der Bub war ein jüngeres Ebenbild des Vaters, das Mädchen ebenfalls etwas drall, aber das würde sich noch verlieren, dachte Sophie. Eigentlich war Netti sogar ganz hübsch mit ihren kastanienbraunen Locken und den großen Augen, die stets ein wenig verwundert dreinschauten. Sie war schüchtern und daher meist sehr still; Matthias hingegen hielt nur die strenge Erziehung für gewöhnlich davon ab, ungefragt das Wort zu ergreifen.
Nach dem Tischgebet aßen sie zunächst die von dem Dienstmädchen zubereitete Leberknödelsuppe, ein für einen Samstagabend angemessen einfaches bayerisches Mahl. Auf den Sonntagsbraten würde Sophie morgen verzichten müssen, aber das machte nichts, sie würde sich belegte Brote mit in den Zug nehmen. Den Speisewagen wollte sie nicht aufsuchen, das war ein Luxus, den sie übertrieben fand. Sie sinnierte gerade über die Frage, wie sie ihren Proviant verstauen sollte, als Anton anhob: «Übrigens, es tut mir sehr leid, Sophie, aber ich werde dich morgen nicht zum Bahnhof bringen können.»
«Das macht nichts», antwortete sie gedankenverloren, «ich nehme die Tram.»
«Mit dem Koffer kommt das gar nicht infrage», entgegnete ihr Mann beinahe entrüstet ob dieser Vorstellung. «Du fährst mit der Droschke.»
Sophie schüttelte den Kopf. «Eine Droschke ist viel zu teuer. Die Fahrkarte für die Tram kostet schon an die sechshundert Mark.»
«Das ist mir deine Sicherheit wert, meine Liebe», beteuerte Anton leutselig.
Erneut wollte Sophie widersprechen, doch Matthias fiel ihr ins Wort.
«Fahren wir auch mit einem Wagen zum Königsplatz?», brach es aus ihm heraus. Seine Wangen hatten sich gerötet.
«Nein», versetzte sein Vater bestimmt. «Selbstverständlich nehmen wir Männer die Trambahn.»
«Was wollt ihr denn am Sonntagvormittag am Königsplatz?», wunderte sich Sophie. Der auf dem alten Fürstenweg zwischen Nymphenburger Schloss und Residenz liegende Platz mit seinen nach Darstellungen der Akropolis errichteten Gebäuden bot außer der Antikensammlung nur wenig für einen Sonntagsausflug, und sie bezweifelte, dass Matthias Maytrott von einem bevorstehenden Besuch der Glyptothek derart angetan wäre. Außerdem lag der Königsplatz praktisch auf dem Weg von ihrem Heim am Englischen Garten zum Bahnhof. Sie hätten einen kleinen Umweg in Kauf nehmen und zusammen aufbrechen können.
«Da ist die Totenfeier für den erschossenen Märtyrer!», rief Matthias aus.
Unwillkürlich runzelte Sophie die Stirn.
Anton warf seinem Sohn einen strafenden Blick zu, bevor er sich an sie wandte: «Auf dem Königsplatz findet morgen um zehn Uhr eine große öffentliche Huldigung für Leo Schlageter statt. Er wurde vorige Woche von den Franzosen in Düsseldorf hingerichtet, und die bayerischen Freikorpsverbände haben eine Gedenkveranstaltung für ihren Kameraden organisiert. Es ist unsere Pflicht als gute Deutsche, daran teilzunehmen und uns nicht nur vor einem Helden zu verbeugen, sondern auch ein Zeichen gegen die unrechtmäßige Besetzung des Rheinlands durch Franzosen und Belgier zu setzen.»
«General Ludendorff wird auch anwesend sein», jubelte Matthias.
Diese Erklärung schockierte Sophie. Sie war heilfroh, dass das Schießen auf der Straße endlich ein Ende gefunden hatte. In München hatte unter der Räterepublik praktisch ein Bürgerkrieg geherrscht, und selbst der harmloseste Einwohner konnte nicht sicher sein, dass er lebend zurückkehrte, wenn er das Haus verließ. Vielleicht waren die Erfahrungen aus dieser Zeit einer der Gründe, warum sie die Sicherheit genoss, die Anton ihr anbot – meistens jedenfalls. Ganz zur Ruhe gekommen war die Stadt schließlich noch immer nicht, politische Morde gehörten trotz der Ausrufung einer Ordnungszeile an der Isar zur Tagesordnung, die demokratischen Verhältnisse waren fragil. Gerade deshalb waren ihr martialische Veranstaltungen wie die Gedenkfeier für einen von den Feinden hingerichteten Soldaten zuwider. So würde kein Frieden einkehren.
Doch all das sagte sie nicht. «Ich werde für euch beten», kommentierte sie die Pläne ihres Gatten und Stiefsohns stattdessen.
«Uns wird nichts geschehen», erwiderte Anton zuversichtlich. «Gott soll seine schützende Hand vielmehr über dich halten, meine Liebe. Wenn ich es schon nicht tun kann, solange du fort bist.»
Stumm nickte sie, wobei sie zufällig Matthias’ Blick auffing. Warum nur leuchtete bei der Erwähnung ihres Abschieds ein Triumph in den Augen des Jungen auf? Sophie wusste, dass Antons Kinder nicht glücklich über die Wiederverheiratung des Vaters waren. Sie gab ihr Möglichstes, um den beiden die Mutter zu ersetzen, die im Winter nach Kriegsende an der Spanischen Grippe verstorben war. Gelingen würde ihr das sicher nie, das wusste sie, aber sie hoffte zumindest, dass Matthias und Netti nicht so weit gingen, zu wünschen, dass sie nicht von ihrer Reise zurückkehrte. Was für ein Abschied, dachte sie bekümmert. Doch dann überwog ihre Vorfreude auf Rom die trüben Gedanken. Sie würde sich ihren Aufenthalt von niemandem verderben lassen.
Die Innenstadt war ungewöhnlich voll für einen Sonntagvormittag, die Menschenmassen strebten in Richtung Königsplatz wie sonst nur bei Eröffnung des Oktoberfestes zur Theresienwiese. Anscheinend zog die Gedenkfeier für den hingerichteten Freikorps-Soldaten Hunderte Menschen an. Es herrschte eine seltsam aufgeladene und dennoch festliche Stimmung, und auch der Kutscher, der sie durch den Verkehr zum Bahnhof brachte, schien davon berührt. «Es wird erst besser, wenn der Jud für vogelfrei erklärt wird», behauptete er. «Des ganze Schlamassel haben wir schließlich nur dem Jud zu verdanken.»
Volkes Stimme, dachte Sophie und biss beklommen die Zähne zusammen. Viele Münchner dachten wie der Droschkenlenker, und nicht nur die ungebildeten. Wie immer versuchte sie, die Anwürfe zu ignorieren.
Erleichtert registrierte sie das Auftauchen des Centralbahnhofs mit seinen beiden Flügelbahnhöfen. Die Fassade war aus gelbem Sandstein und rotem Backstein im Stil der italienischen Renaissance errichtet und besaß eine große Ähnlichkeit mit den Villen des Architekten Andrea Palladio in Oberitalien, die Sophie freilich nur von Fotografien und Gemälden kannte. Der südländische Baustil steigerte ihre Vorfreude. Egal, was Anton sagte, sie ließ sich nicht Bange machen.
Sophie bezahlte den Kutscher mit den Geldscheinen, die ihr Anton vorhin genau für die Fahrt abgezählt zugesteckt hatte. In ihrer Handtasche, zusammen mit den italienischen Lire in einem Seitenfach versteckt, befand sich noch eine größere Summe in bar. Ein wenig Kleingeld für den Träger, der sofort neben ihrer Droschke aufgetaucht war, hatte sie griffbereit deponiert. «Zum Zug nach Verona», wies sie den Mann an, als er ihren Koffer auf seine Karre hob. «Aber bitte warten Sie an der Absperrung auf mich, ich muss noch etwas erledigen.»
Überraschenderweise war es auch in der Schalterhalle recht voll, viele Reisende brachen wohl – ungeachtet der großen Gedenkfeier am Königsplatz – in die Pfingstferien auf. Die meisten Leute strebten den Flügelbahnhöfen zu, von denen die Regionalzüge abfuhren, aber auch im Hauptgebäude herrschte unübersichtliches Gedränge, in dem die Bettler fast nicht auffielen, meist Kriegsversehrte, die, auf Krücken gestützt oder auf dem Boden kauernd, um Almosen baten. Sophie hatte immer etwas Geld in der Jackentasche, die sie den Notleidenden zusteckte; allerdings wusste sie, dass die paar Münzen heutzutage nicht einmal mehr für das Nötigste ausreichten.
Dennoch wollte sie helfen. Deshalb stellte sie sich in die Schlange vor der Verkaufsstelle der Reichsbahn. Glücklicherweise hatte sie noch reichlich Zeit bis zu der Abfahrt ihres Zuges. «Ich habe hier eine Fahrkarte nach Rom erster Klasse», erklärte sie dem Schaffner, als sie an der Reihe war. «Kann ich die in ein Billett der zweiten oder dritten Klasse tauschen?»
«Sie müssen’s scho’ selbst wissen, wie S’ reisen wollen. Bis Verona können S’ die dritte Klasse nehmen, da fährt die Reichsbahn. Aber nach dem Umsteigen würd’ ich Ihnen des net empfehlen. Wenn S’ einen treni diretti erwischen wollen, is’ der Platz in Italien scho’ arg teuer in der Dritten. Sie brauchen zur Benutzung mehrere Fahrausweise, da können S’ gleich mit der Fahrkarte der Zweiten fahren, san kommod unterwegs und sicher, dass Sie auch ankommen und net auf der Strecke bleiben oder umsteigen müssen.»
Sophie öffnete ihre Handtasche, fischte nach ihren Reiseunterlagen und schob sie dem Mann über den Tresen. Sie holte tief Luft und entschied: «Dann möchte ich meine Erste-Klasse-Karte in eine der zweiten Klasse tauschen. Hin und zurück, bitte.»
Der Schaffner sah auf den Fahrschein, runzelte die Stirn und blickte wieder zu ihr hoch. «San S’ sicher, dass Sie tauschen wollen? I mein’, die Karten haben S’ scho’ vor a Weile gekauft, und das Geld wird täglich weniger, da kriegen S’ net viel raus.»
«Jede Mark hilft», erwiderte sie ruhig.
Trotz seiner Warnung beharrte sie auf ihrem Entschluss und stopfte schließlich ein beachtliches Bündel Scheine in ihre Tasche. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr verriet ihr, dass sie noch immer ausreichend Zeit bis zur Abfahrt hatte, obwohl über einem der Gleise bereits die Schilder für die Haltestellen des nächsten Schnellzugs angebracht worden waren: «Rosenheim – Innsbruck – Bozen – Trient – Verona.»
Sie winkte dem Dienstmann zu, der mit ihrem Koffer an der Schranke wartete, und lief, so schnell es ihr mit ihrem gelähmten Bein möglich war, in einen etwas entfernt liegenden Flur, in dem, wie sie wusste, die von Ellen Ammann vor Jahrzehnten gegründete und zunächst nur für bedürftige Frauen ausgewiesene katholische Bahnhofsmission lag.
Sie hatte ihre Arbeitgeberin auf vielen Besuchen hierher begleitet, sich zuweilen auch zu einem freiwilligen Dienst in der Suppenküche gemeldet. Heute würde ihr Aufenthalt nicht lange dauern. Sie wollte nur die Spende abgeben, die ihr der Umtausch ihrer Fahrkarte ermöglichte. Bei dem Gedanken, was Anton zu ihrer Initiative sagen würde, konnte sich Sophie ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Ihre Reise nach Rom begann schon jetzt besser, als sie angenommen hatte.
Als Sophie zwanzig Stunden nach ihrer Abfahrt in München am Bahnhof Roma Termini ankam, war ihre anfängliche Euphorie jedoch verschwunden, und sie fühlte sich einigermaßen elend. Sie hatte nicht damit gerechnet, wie stark ihr die lange Fahrt zusetzen würde. Da war nicht nur der bekannte Schmerz, mit dem sie schon so lange lebte, dass sie ihn meistens vergaß. Sie fühlte sich wie zerschlagen und vollkommen kraftlos. Schlimmer noch, sie war einsam in einer fremden Umgebung. Fast zu spät zum Zug geeilt, hatte sie sich auf dem Bahnsteig nicht nach einem bekannten Gesicht umsehen können, und auch in der Eisenbahn war ihr keine ihrer Mitstreiterinnen aufgefallen. Wahrscheinlich reisten die meisten Frauen in der dritten Klasse zu der Konferenz, weswegen sie auch keine von ihnen bei der Zollabfertigung am Brenner getroffen hatte. Oder sie war die einzige Teilnehmerin auf dieser Verbindung. Anton hatte an alles gedacht, aber nicht daran, dass sie sich mit einer Bekannten verabredete. Und sie selbst war auch nicht darauf gekommen, zu sehr daran gewöhnt, sich um sich selbst zu kümmern. Nun gab es niemanden, den sie um Hilfe mit ihrem Gepäck bitten konnte. Sie wünschte, sie hätte sich mit ihrer Freundin Marlene von Runstedt verabredet, die Reise gemeinsam anzutreten.
Obwohl ihre Freundin im Frühling vor Kriegsbeginn promoviert worden war und München verlassen hatte, um nach Berlin zurückzukehren, war Sophie über die Jahre stets mit ihr in Kontakt geblieben. Während Sophie Klausuren und Prüfungen schrieb und Marlene die Arbeit in der Frauenberatung, dann im Kartell der Auskunftsstellen für Frauenberufe und schließlich im Kriegsamt aufnahm, schrieben sich die beiden ehemaligen Mitbewohnerinnen lange Briefe, durch die jede von ihnen am Leben der anderen Anteil nahm. Sophie fand es bemerkenswert, dass diese Brieffreundschaft nunmehr über neun Jahre währte. Ungebrochen war die Nähe, die sie verband und die nicht nur auf den gemeinsamen beruflichen Interessen begründet war. Deshalb freute sie sich ganz besonders auf das Wiedersehen mit Marlene. Die war bereits im Januar 1919 in die Nationalversammlung gewählt worden und agierte seitdem als Parlamentarierin der Deutschen Demokratischen Partei im Reichstag. Diese Position hatte ihr die Einladung zu dem internationalen Frauenkongress verschafft, die Sophie etwas mühevoller über den katholischen Frauenbund ergattert hatte.
Marlene stammte aus wohlhabenden Verhältnissen, aber auch ihr fehlten in diesen Zeiten die Mittel für gewisse Ausgaben, wie sie Sophie in ihrem letzten Brief mitteilte. Sie war zwar nicht auf die großzügige Unterstützung der amerikanischen League of Women Voters angewiesen, die für die meisten anderen Teilnehmerinnen der deutschen Delegation die Kosten übernahm, aber auch Marlene zog eine private und daher günstigere Unterkunft den noblen Hotels und Pensionen vor. Bei der Lektüre des Briefes war Sophie sofort klar gewesen, dass sie das Hotelzimmer, das Anton für sie reserviert hatte, nicht nutzen und sich Marlene anschließen würde. Bescheidenheit und das Bedürfnis, nicht aus der Gruppe der deutschen Frauen hervorzustechen, spielten bei Sophies Entscheidung eine Rolle, aber auch der Wunsch, Zeit mit der alten Freundin zu verbringen. Also bat sie Marlene um eine gemeinsame Bleibe, woraufhin sie begeisterte Zustimmung aus Berlin erhielt. Der Versuch, Anton in ihre Pläne einzuweihen, scheiterte. Er hörte ihr ja doch nicht zu. Danach beließ sie ihn in dem Glauben, im vornehmen Hotel Hassler an der Spanischen Treppe abzusteigen, obwohl sie bereits – in seinem Namen – eine telegrafische Stornierung übersendet hatte. Sicher gab es auch in Italien große Not und die Möglichkeit, mit dem gesparten Reisegeld Gutes zu tun.
Nun jedoch bereute Sophie ihre Entscheidung. Ihr gesundes Bein fühlte sich an wie Pudding, die Hüften taten weh vom langen Sitzen. Sie wartete, bis die meisten anderen Passagiere ausgestiegen waren, und dachte dabei, wie praktisch doch die altmodischen Eisenbahnen im Regionalverkehr ihrer Kindheit gewesen waren, in denen jedes Abteil seine eigene Tür besaß. Als sie sicher sein konnte, im Gedränge nicht geschubst zu werden und womöglich zu fallen, stand sie auf, nahm ihre Handtasche und wünschte im selben Moment, sie hätte einen Stock mitgenommen, auf den sie sich hätte stützen können. Die Zähne zusammenbeißend, hangelte sie sich durch den Gang von Türgriff zu Türgriff zum Ausgang.
Ihre Ankunft schien unter einem schlechten Stern zu stehen. Statt ihr zur Hand zu gehen, plauderte der Schaffner auf dem Bahnsteig gerade mit einem Dienstmann. Er achtete nicht auf die Dame, die mühsam die Treppe hinunterzuklettern und gleichzeitig ihre Tasche festzuhalten versuchte. Sophie spürte, wie die Kraft in ihren Armen nachließ. Die Fahrgäste aus den anderen Waggons und Klassen strebten vorüber, alleine oder in Gruppen, niemand beachtete sie. Die Menge verschwamm vor ihren Augen zu einer Masse.
Sophie verlor ihr Gleichgewicht. In ihrem Kopf hämmerte der Gedanke, bloß nicht zu fallen. Nicht auf den Bahnsteig, schon gar nicht in das Gleisbett. Irgendwie musste sie es schaffen, auf den Beinen zu bleiben. Doch die trugen sie nicht länger. Ihr wurde schwindelig. Sie besaß keine Kontrolle mehr über ihren Körper …
«Hoppla!»
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie nicht auf dem harten Beton aufgeschlagen war, sondern in den Armen eines Mannes lag. Wie peinlich! Sofort wollte sie Tritt fassen, sackte jedoch nur noch mehr in sich zusammen.
«Permesso?!» rief der Fremde auf Italienisch und umfasste sie fester. «Sie sind ganz schön schwer», murmelte er auf Deutsch.
«Entschuldigen Sie, bitte!», haspelte sie. Ihre Bemühungen, sich aus der Umarmung zu befreien, scheiterten. Schließlich sah sie verstört zu dem Mann auf, dem sie ungewollt so nahe gekommen war, dass sie ein feines Zitrus-Aroma wahrnahm, das von ihm ausging. Aufmerksame blaugraue Augen, die an schmelzendes Eis erinnerten und doch voller Wärme waren, schauten sie an. Der Fremde besaß ein schmales, glatt rasiertes Gesicht und war wohl in ihrem Alter, obwohl sich an seinem aschblonden Haaransatz bereits die sogenannten Geheimratsecken bildeten. Er war auf eine bescheidene Art attraktiv, wirkte klug, freundlich – und keinesfalls anzüglich. Deshalb fasste sie Vertrauen und schlug vor: «Wenn ich mich kurz auf Ihren Arm stützen dürfte, könnte ich mich fangen.»
«Selbstverständlich. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.»
In ihrem Versuch, sich aufzurichten, war Sophie so auf sich konzentriert, dass sie den Fremden erst von Kopf bis Fuß ansah, nachdem sie wieder fest auf ihren Beinen stand. Nun fiel ihr der abgetragene dunkle Anzug auf, das weiße Hemd mit den abgestoßenen Kanten am Kragen. Das war die Garderobe eines Mannes, der nur über wenig Geld verfügte. Obwohl seine Kleidung womöglich aus zweiter Hand war, schien sie blitzsauber und passte zu dem dezenten, aber angenehmen Zitronenduft. Dagegen fühlte sich Sophie in ihrem schlichten, qualitativ hochwertigen und recht neuen Kostüm schmutzig und zerknittert. Ob der Herr schon ebenso lange unterwegs war wie sie, wusste sie natürlich nicht, aber ihm schien die Zugfahrt weit weniger ausgemacht zu haben.
Sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, und senkte rasch die Lider.
«Es ist mir noch nie passiert, dass mir eine Dame regelrecht in die Arme geflogen ist», meinte er gut gelaunt. «Haben Sie Gepäck? Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gerne behilflich sein.»
War der Mann aufdringlich? Oder wollte er einfach nur höflich sein?
Sophie kam es vor, als sei sie noch wie im Halbschlaf gewesen und wache erst jetzt richtig auf. Das Dröhnen und Schnaufen der Lokomotiven, die auf den anderen Gleisen in den Bahnhof einfuhren, drangen zu ihr durch, das fremdländische Kauderwelsch, lautstarke Rufe, Betriebsamkeit. Sie sah Koffer, die aus dem Gepäckwagen gehoben wurden und auf den Karren von Trägern in einfacher Arbeitskleidung landeten. Eine Gruppe junger Männer in Reithosen, hohen Stiefeln und schwarzen Hemden stolzierte durch die Menge wie durch ein Spalier, ein weißhaariger Priester in schwarzer Soutane trat vor ihnen zurück. Durch die riesige Kuppel, eine Konstruktion aus Stahl und Glas, leuchteten Sonnenstrahlen und tauchten den rußigen Perron in helles Licht. Am Jackenrevers ihres Retters blitzte etwas auf. Es war nicht die Anstecknadel eines im Krieg ausgezeichneten Veteranen, wie sie auf den ersten Blick vermutete, sondern ein kleines silbernes Kreuz.
Angesichts des christlichen Symbols wurde Sophie ruhiger. Ganz gewiss hatte dieser Mann es nicht auf sie abgesehen. Deshalb sagte sie: «Sie sind sehr freundlich, Pater.»
Der Geistliche verneigte sich leicht. «Leonard Harnack», stellte er sich vor.
«Sehr erfreut.» Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. «Ich bin Sophie Maytrott.»
«Angenehm», erwiderte Leonard Harnack und schüttelte ihre Rechte.
Sophie spürte eine angenehme Wärme, die von seinen Fingern ausging. Sein Händedruck war kräftig, männlich, aber nicht zu fest. Er wirkte zupackend, obwohl sein Blick weich war und sein Äußeres insgesamt mehr auf einen Intellektuellen schließen ließ. Sie mochte diesen Griff – und ließ ihn erst mit einiger Verzögerung los. Ohne seinen Halt fühlte sie sich seltsam schutzlos.
«Sie haben doch bestimmt einen Koffer …», erinnerte er sie.
«Ja. Natürlich.» Sie sah sich um. «Wo ist denn das ganze Gepäck hin, das eben noch hier stand?» Der Bahnsteig hatte sich geleert, und mit den Reisenden waren auch deren Habseligkeiten verschwunden, ebenso die Träger mit ihren Karren. Sophie machte einen Schritt auf den Gepäckwagen zu, als müsse sie sich erst aus der Nähe vergewissern, dass von ihrem Koffer nichts zu sehen war. Im selben Moment stiegen Ratlosigkeit und ein wenig Verzweiflung in ihr hoch. Sie wandte sich zu Leonard Harnack. «Es ist … nicht mehr da», erklärte sie stockend.
«Ach herrje! Sie sollten den Schaffner fragen. Sprechen Sie Italienisch, Frau Maytrott?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Machen Sie sich keine Sorgen. Ich rede mit dem Schaffner, und dann sehen wir weiter. Es findet sich bestimmt alles wieder an. Bitte rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich komme gleich wieder.» Damit stürzte er davon.
Sie sah ihm nach und wünschte, sich ebenso flink bewegen und ihm folgen zu können. Sicher konnte ein der Landessprache mächtiger Geistlicher jedoch mehr ausrichten als sie. Was für ein Glück seine Bekanntschaft war! Doch neben dem Gefühl, bei Leonard Harnack den richtigen Mann zur rechten Zeit getroffen zu haben, stellte sich ein schlechtes Gewissen ein. Sie hätte Antons Mahnung, ihr Eigentum stets im Auge zu behalten, nicht als übervorsichtigen Unsinn abtun sollen. Wahrscheinlich hatte ihr Gatte auch mit allen anderen Warnungen recht. Unwillkürlich fasste sie den Griff ihrer Handtasche fester und fragte sich, ob Anton Bedenken gegen einen katholischen Priester haben würde, wenn er wüsste, dass dieser Jesuit war.
Der Koffer war verschwunden. Entweder hatte ihn jemand gestohlen, oder ein zerstreuter Passagier hatte das Gepäckstück verwechselt und an sich genommen. Sophie war nach Diskussionen mit dem Schaffner, den Leonard Harnack aufgetrieben hatte, und dem von ihrem Retter übersetzten Gespräch in der zuständigen Dienststelle inzwischen zu mürbe, um an ein Missverständnis zu glauben. Dennoch hielt sie eine Anzeige bei der Polizei für verfrüht. «Ich will niemandem etwas Böses unterstellen und möchte noch abwarten. Am besten, ich fahre erst einmal zur deutschen Botschaft», beschloss sie nach Verlassen des Fundbüros, wo sie zuletzt vorstellig geworden waren. Zerknirscht sah sie zu Leonard auf. «Dabei weiß ich nicht einmal mehr, wo die sich befindet. Ich habe mir die Adresse einzuprägen versucht, aber mein Kopf ist vollkommen leer.»
«Wahrscheinlich ist es die Aufregung. Wenn Sie erlauben, bringe ich Sie zur Villa Wolkonsky, wo sich die Vertretung des Deutschen Reichs befindet.»
«Ich möchte Sie keinesfalls aufhalten …»
«Das tun Sie nicht.»
Sie lächelte ihn dankbar an. «Es ist sehr freundlich von Ihnen, Pater.»
Er erwiderte ihr Lächeln, und Sophie fühlte sich sofort wohler. «Ich bin zu einer Konferenz angereist, und die Akkreditierungsunterlagen befinden sich in meinem Koffer», sprudelte es aus ihr heraus. «In der Botschaft kann man mir sicher eine Zweitschrift ausstellen. Oder mir eine Adresse nennen, wo ich die Veranstalterinnen finde, und mir auch sonst weiterhelfen.»
«Ich begleite Sie gerne. Die Villa Wolkonsky ist nicht weit von hier und liegt auf meinem Weg. Mit der Tram sind wir in einer Viertelstunde da.»
«Wie gut Sie sich auskennen, Pater! Ich war noch nie in Rom.»
«Mein Studium führt mich regelmäßig her», erwiderte er schlicht, bevor er hinzufügte: «Bitte, nennen Sie mich nicht Pater. Ich habe meine Priesterweihe noch nicht erhalten, deshalb …»
«Oh, Verzeihung, … Frater», warf Sophie rasch ein. Dem Alter nach hatte er sein Noviziat, die Grundausbildung eines Ordensmitglieds, sicher schon hinter sich, überlegte sie. Ein Bruder war er gewiss nicht mehr.
Er schenkte ihr sein warmes, freundliches Lächeln. «Sie kennen sich gut aus.»
«Ich habe lange bei den Englischen Fräulein gelebt, die …» Sie unterbrach sich, weil Frater Leonard Harnack natürlich wusste, was sie anderen über ihren Klosteraufenthalt während ihrer Kindheit stets erklären musste: Der Frauenorden verstand sich als weibliche Gemeinschaft der Jesuiten. Diese Verbindung wurde allerdings von der Generalkongregation der Societas Jesu nicht anerkannt, was das Wissen um die jeweiligen Regeln nicht verhinderte.
Leonard Harnacks Lächeln wurde breiter. «Dann wollen Sie hier in Rom sicher auf den Spuren unserer Ordensgründer Ignatius von Loyola und Maria Ward wandeln.»
«Das würde ich gerne, und ich hoffe auch, die Zeit dafür zu haben. Der Grund meiner Reise ist aber, wie gesagt, kein touristischer, sondern die Teilnahme an einer internationalen Konferenz. Deshalb ist es mir so wichtig, als Erstes zur deutschen Botschaft zu fahren.»
Er nickte. «Dann kommen Sie, bitte.»
Schweigend folgte sie ihm unter Gewölben hindurch und an Marmorsäulen entlang aus dem Bahnhof Termini. Trotz der vielen Menschen war es in dem Gebäude recht kühl gewesen, sodass Sophie dankbar für den Rat in ihrem nunmehr unauffindbaren Reiseführer war, im Frühling mit warmer Unterwäsche nach Rom zu reisen. Als sie jedoch neben dem Geistlichen auf den riesigen Vorplatz trat, wurde sie geblendet von gleißendem Sonnenlicht, und die vorherrschende Hitze erschlug sie förmlich. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass sich das Buch in ihrem Koffer befand und sie sich eigene Eindrücke verschaffen musste – und eine neue, leichtere Garderobe. Danach würde sie zu einer Besichtigungstour aufbrechen. Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf Leonard Harnacks Profil und dachte, dass ein angehender, ortskundiger Priester wohl der beste Stadtführer war, den sie sich wünschen konnte. Aber sie wagte nicht, ihn darum zu bitten.
Rom nahm Sophie vom ersten Augenblick an gefangen. Die Lautstärke der in der melodischen Landessprache geführten Unterhaltungen dröhnte zwar in ihren Ohren, aber das Temperament der Italiener schien freundlich und leidenschaftlich. Das gefiel ihr ebenso wie die im klassizistischen Stil aus Sandstein errichteten Gebäude jenseits des Bahnhofs, in denen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Straßenzügen ihrer Heimatstadt zu erkennen glaubte. Trotz der eifrig geführten Gespräche um sie herum konnte ihr Leonard Harnack erklären, dass sich hier einmal eine antike Bäderanlage befunden hatte, deren Ausgrabungen sie wohl bald bestaunen dürfe.
«Wir Deutschen leben ja immer noch mit dem Bild, das Johann Wolfgang von Goethe von Rom zeichnete – und tatsächlich hat sich daran bis heute wohl erstaunlich wenig geändert», bemerkte der Geistliche schmunzelnd. «Und tatsächlich liegt diese so lange schon bestehende Begeisterung für diese Stadt wohl in der Kontinuität der Geistesgeschichte.»
Zwischen schönen Hausansichten, Mauern, Aquädukten und Toren streckten sich Zypressen und Pinien in den kobaltblauen Himmel, und die Schienen wurden von Platanen beschattet. Dazwischen ragten die Kreuze auf den Dächern und Kuppeln der Kirchen hinauf zu Gott, und Sophie machte unter den Passanten auf den Bürgersteigen mehr vorbeihastende Priester aus als an jedem anderen Ort, den sie bislang besucht hatte, eingeschlossen die bayerischen Klöster.
Es war diese Mischung aus weltlicher und religiöser Ordnung, Altem und Neuem, die Sophie gefiel. Dazu sprach sie dieses gewisse Lebensgefühl an: Während sie in der Tram an den Fassaden vorbeiratterten, bemerkte sie Gruppen von Männern, die vor einer Bar mit weit geöffneten Fenstern rauchten und aus winzigen Tassen tranken; die Menschen wirkten einander zugewandt. An einer Straßenecke fiel ihr ein Blumenstand auf, unter dessen grün-weiß gestreifter Markise eine unglaubliche Menge frischer, üppiger Sträuße angeboten wurde – die Farbenpracht war ein Fest für ihre Augen. Weniger prächtig, aber fast ebenso bunt wirkten der Kiosk daneben, der unter den vielen Zeitungen zusammenzubrechen schien, und der weiß lackierte Handkarren eines Eisverkäufers, dessen Angebot Sophie das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Nach keiner halben Stunde war sie verliebt in die Stadt und ihre Menschen.
Die Villa Wolkonsky, der Sitz des deutschen Botschafters Konstantin von Neurath, befand sich in einem weitläufigen, hügeligen Park, der von italienischen Polizisten in schmucken dunkelblauen Uniformen mit dekorativen Tressen und roten Seitenstreifen an den Hosen bewacht wurde. Auf einer Plakette in der Mauer am Tor waren die Öffnungszeigen des Konsulats und der Passstelle angegeben. Erleichtert stellte Sophie fest, dass die Büros gerade in Betrieb waren. Der mediterrane Baumbestand wirkte einladend, der Weg über die breite Auffahrt versprach zumindest teilweise Schatten. Nach dem kurzen Fußweg von der Haltestelle fühlte sich Sophie in ihren warmen Sachen bereits durchnässt.
«Hier verabschiede ich mich von Ihnen», sagte Leonard Harnack. «Ich hoffe, Sie erhalten alle Informationen, die Sie für einen angenehmen Aufenthalt in Rom benötigen.»
«Ganz sicher.» Sie lächelte ihn an, und wieder überkam sie das Gefühl, seine Hand nicht loslassen zu wollen.
«Ich wünsche Ihnen Gottes Segen für Ihre Konferenz.»
«Den können meine Mitstreiterinnen und ich gewiss gebrauchen.»
«Leben Sie wohl, Frau Maytrott.»
«Gott schütze Sie, Frater.»
Er ließ sie los – und sie blickte etwas irritiert auf ihre freigegebene Hand.
Sie fühlte sich durcheinander und verlassen. Doch dann riss sie sich zusammen. Leonard Harnack war ihr in der Not ein willkommener Retter gewesen, aber sie sollte ihn nicht zu einem Kavalier verklären, der er nicht war. Sie schenkte dem Geistlichen ein letztes dankbares Lächeln. Dann wandte sie sich ab. Ihre Bewegung war fast brüsk.
Sophie traf in der Botschaft auf einen netten Konsul, einen beflissenen Mann ihres Alters. Er konnte ihr nicht nur alle notwendigen Informationen über die Konferenz geben, sondern wusste auch, welche Wohnung die Reichstagsabgeordnete von Runstedt für sich und ihre Freundin gemietet hatte, da sie Marlene durch die Gesandtschaft vermittelt worden war. «Normalerweise teilen sich zwei Diplomaten das Appartement, aber die Herren sind auf Dienstreisen und überlassen es gerne zwei Damen», fügte er diensteifrig hinzu. «Sie müssen sich nach Ihrem Einzug allerdings unbedingt um eine Aufenthaltsbewilligung kümmern, Frau Doktor Maytrott …»
«Nur Maytrott», murmelte sie automatisch. Seit ihrer Heirat benutzte sie den Titel meist nicht mehr. Anton, der Herr Hofjuwelier, fühlte sich an der Seite einer Frau Doktor wohl unterlegen. Das Königreich Bayern hatte aufgehört zu existieren, bevor ihn der Prinzregent oder dessen Nachfolger in den Adelsstand hätte erheben können, worauf ihr Gatte zweifellos lange gehofft hatte. Mangels eines eigenen Titels gestand Anton daher auch seiner Frau keinen zu.
«Die Aufenthaltsbewilligung geben Sie bei der Ausreise wieder ab, sonst dürfen Sie dieses schöne Land nicht verlassen», fuhr der Konsul ungeachtet ihres Einwands fort. «Für die Anmeldung ist das persönliche Erscheinen auf dem Polizeipräsidium – der Questura – nötig, am besten gleich morgen.» Er schrieb noch eine Adresse zu den beiden anderen auf ein Notizblatt, zögerte kurz, notierte noch etwas und schob ihr dann das Papier über seinen Schreibtisch hin. «Falls Sie einen Reiseführer oder eine andere Lektüre in unserer Sprache benötigen, empfehle ich Ihnen die deutsche Buchhandlung Spithöver, Frau Doktor Maytrott.» Offenbar galten für den Mitarbeiter des deutschen Auswärtigen Amts nur die Formalien in ihrem Pass.
Sophie überlegte, ob sie ihn nach einer Einkaufsmöglichkeit für Damenbekleidung fragen sollte. Auch wenn dies ungeplante Kosten verursachte, brauchte sie unbedingt eine frische Bluse. Da Marlene erst übermorgen anreiste, konnte sie sich bis dahin nichts von der Freundin leihen. Nach kurzem Zögern entschied sich Sophie jedoch dagegen, weil sie ihre Garderobe als ein zu persönliches Thema empfand, um darüber mit dem Beamten zu sprechen. Die Buchhandlung aber war eine gute Empfehlung, die konnte sie als Ausgangspunkt für einen Einkaufsbummel nutzen. Sie betrachtete die Adressen ihrer Wohnung und des Ladens: «Ist es von der Piazza del Popolo weit zu der Piazza di Spagna?»
«Nur ein kurzer Fußweg, ein paar Hundert Meter», erklärte der Konsul, sein Blick blieb an ihrem Bein hängen. «Sie sollten vielleicht lieber die Straßenbahn oder den Kraftomnibus nehmen.»
«Und wie komme ich von hier dorthin?», erkundigte sie sich, während sie sich mit gespielter Mühelosigkeit aus dem Besucherstuhl stemmte.
«Das ist recht weit. Zu Fuß geht das keinesfalls … für Sie …» Verlegen sah er auf seine Hände.
Schade, dachte sie, anfangs hatte ich ihn sympathisch gefunden.
«Wir werden sehen.» Tatsächlich überlegte sie, ob sie sich nicht ein Fahrzeug gönnen sollte. Vor dem Bahnhof hatte sie sowohl Pferdewagen als auch Kraftdroschken entdeckt, sie würde wohl auch in der Nähe der Villa Wolkonsky eine bequeme Mitfahrgelegenheit finden. Das war zwar eine unnötige Ausgabe, aber die Vorstellung, alleine und ohne Sprachkenntnisse und Stadtplan durch die Stadt zu humpeln, bereitete ihr dann doch Unbehagen. Fast wünschte sie sich Leonard Harnack als Begleiter zurück. Dass sie ihre ersten Schritte in Rom unter dem Schutz eines Geistlichen unternommen hatte, war wie eine göttliche Fügung gewesen. Was hätte sonst alles passieren können?! Anton hatte recht, fuhr es ihr durch den Kopf, in der Fremde auf sich gestellt war sie ziemlich hilflos. Vielleicht sollte sie immerhin jetzt auf seinen Rat hören, nachdem sie seine Warnung bezüglich ihres Koffers schon nicht ernst genug genommen hatte.
Als bestünde zwischen ihrem Mann und dem Beamten eine unsichtbare Verbindung, sagte ihr Gegenüber prompt: «Leider kann ich Ihnen wenig Hoffnung machen, dass Sie Ihren Koffer wiederbekommen, Frau Doktor Maytrott, es passieren hier leider immer wieder Diebstähle, die nicht aufgeklärt werden.»
«Wir werden sehen», wiederholte Sophie tapfer.
Der Zauber, den sie während ihrer Straßenbahnfahrt an der Seite von Leonard Harnack empfunden hatte, stellte sich erst wieder ein, als Sophie im Fond eines Automobils saß und die Nase an die Fensterscheibe presste. Die Kraftdroschke hatte zufällig vor der Villa Wolkonsky gehalten, um einen Besucher vorbeizubringen, und Sophie war – ohne noch einmal über die Kosten nachzudenken – zugestiegen. Nun brauste der Chauffeur durch die Straßen, wich rasant Fuhrwerken, Fußgängern und anderen Automobilisten aus und ignorierte dabei die Trillerpfeife eines den Verkehr regelnden Polizisten. Nach anfänglichen Bedenken störte sich Sophie bald nicht mehr an dem Fahrstil, er passte ihrer Ansicht nach zu der überschäumenden Mentalität der Italiener.
«Facciamo un giro turistico!», verkündete ihr Fahrer und Sophie nickte mit derselben Begeisterung, auch wenn sie lediglich verstand, dass er sie auf eine touristische Attraktion hinwies. Ihre Hoffnung, die italienischen Wörter mit ihren Lateinkenntnissen übersetzen zu können, zerstreute sich zunehmend.
Was er genau meinte, wurde ihr jedoch bewusst, als nach Straßenzügen mit schönen Sandsteingebäuden, deren Stil sie bereits kannte, ein riesiges Amphitheater in ihrem Blickfeld auftauchte. Das Kolosseum. Sie hatte Fotografien gesehen, auf denen das Bauwerk dunkel und viel kleiner wirkte als in der Realität. Es war mächtig, fast übermächtig. Ein eisiger Schauer rann über Sophies Rücken, als sie sich vorzustellen versuchte, wie hinter diesen Säulen und Arkaden die ersten Christen unter der Belustigung der römischen Elite zu Tode gekommen waren.
«Il Colosseo», rief der Chauffeur über die Schulter, während er mit seinem Automobil eine Kurve nahm, die Sophie zur Seite schleuderte.
Den Weg an den neoklassizistischen Häusern des vergangenen Jahrhunderts vorbei empfand Sophie als entspannter als die Betrachtung des jahrtausendealten Rundbaus mit der grausigen Geschichte. Als der Mann am Steuer sie auf einen imposanten Palast mit Säulen, reichlich Stuck und einer Skulptur über dem Portikus aufmerksam machte, traute sie ihren Augen nicht vor so viel Zuckerbäckerpracht: «Il Palazzo delle Esposizioni», erklärte er, bremste ab und ließ das Lenkrad los, um mit beiden Händen zu gestikulieren.
«Oh! Wirklich?», murmelte Sophie.
Hier würde die Tagung des Weltbundes für Frauenstimmrecht und staatsbürgerliche Frauenarbeit stattfinden. An den Säulen des Portikus waren bereits die Flaggen der teilnehmenden Delegationen aufgehängt worden. Die Brise war zu schwach, um die Fahnen hin und her schwingen zu lassen, dennoch erkannte Sophie auch so die vielen Landesfarben. Das schwarz-rot-goldene Symbol des demokratischen Deutschen Reichs befand sich nicht darunter. Ihr Herz zog sich zusammen.
Die deutsche Delegation sollte anlässlich der Konferenz in den Kreis der teilnehmenden Länder aufgenommen werden, zum ersten Mal galten die Vertreterinnen des als kriegsschuldig angesehenen Reiches wieder etwas. Zwar handelte es sich nicht um den Völkerbund, sondern lediglich um einen Frauenverein, aber es war ein Anfang, eine Gelegenheit, internationale Beziehungen zu knüpfen. Unvorstellbar, dass die Gäste aus Deutschland nicht durch das Hissen ihrer Flagge begrüßt werden sollten.
Gewiss habe ich die Flagge übersehen, dachte sie. Oder vielleicht waren die dekorativen Arbeiten auch noch nicht beendet.
Während sie noch grübelte, hatte das Automobil wieder Fahrt aufgenommen. Sie glitten an etwas vorbei, das einem riesigen Steinbruch glich. Über den Geröllhalden erhoben sich majestätisch Ruinen aus marmornen Säulen und Architraven Sinnbilder einer untergegangenen Epoche. Sophie hatte nicht die geringste Ahnung, an welcher Ausgrabungsstätte sie gerade vorbeifuhren, aber aus den vielen Büchern, die sie über das Römische Reich gelesen hatte, wusste sie um die Bedeutung dieser Stätten. Der Anblick von fast dreitausend Jahren Geschichte raubte ihr fast den Atem.
«Il Foro Romano», erklärte der Taxifahrer.
Diesmal verstand Sophie jedes Wort. Sie schaute auf das Forum Romanum, den Marktplatz des alten Rom, das als Trümmerfeld Bestand hatte. Einerlei welche Unannehmlichkeiten mit ihrer Reise verbunden waren, allein für diese Sehenswürdigkeit lohnte es sich, hier sein zu dürfen.
Die Wohnung, die Marlene gemietet hatte und die eine wohlbeleibte, freundlich radebrechende Hausmeisterin für Sophie aufsperrte, erwies sich als Glücksfall. Die Piazza del Popolo darüber hinaus als eine architektonische Meisterleistung aus gewaltigen, aneinandergeschmiegten Renaissance- und Barockgebäuden, Kirchen, Toren, Treppen und einem Obelisken in der Mitte. Als Sophie die geschlossenen Läden an den beiden schmalen, hohen Fenstern ihres Zimmers aufstieß, schimmerten vor ihren Augen im Sonnenlicht die Kuppeln einer Doppelkirche, die gegenüber ihrem Wohnhaus lag. Unwillkürlich bekreuzigte sie sich.
Dann sandte sie ein Dankgebet zu Gott, der sie mit einem Fahrstuhl in die oberste Etage dieses überaus gepflegten, sauberen, opulent ausgestatteten Zuhauses von zwei unbekannten Herren gebracht hatte.
Sie setzte sich auf das breite Himmelbett, um ihr Bein zu entlasten. Dankbar sank sie – fast vollständig angezogen – in die Kissen. Nur einen Moment ausruhen, dachte sie und schloss ihre Augen. Keinesfalls wollte sie ihren ersten Nachmittag und Abend in Rom verschlafen. Es gab ja auch noch so viel zu erledigen, ihr Einkauf und die Anmeldung, dabei wusste sie weder, wie lange die Geschäfte geöffnet waren, noch, ob Publikumsverkehr im Polizeipräsidium erlaubt war. Außerdem verspürte sie einen leichten Hunger. Sie würde gleich wieder aufstehen und sich um alles kümmern. Nur fünf Minuten …
So fiel sie in einen ohnmachtsgleichen Schlaf.
Ein Surren drang unangenehm monoton an ihr Ohr.
Plötzlich hellwach, schreckte sie hoch, schlug wild um sich. Die Umrisse des fremden Zimmers und seines Mobiliars lagen in blassem Dämmerlicht. Hinter dem weit aufstehenden Fenster entdeckte Sophie gelbgoldene Schlieren, die sich durch das Bleigrau des Himmels zogen. Zuerst hielt sie es für den Sonnenuntergang, doch ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es schon der Sonnenaufgang war. Sie hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen – und natürlich weder an die Fensterläden noch an das um die Bettpfosten geschlungene Moskitonetz gedacht. Das Mückenpulver befand sich in ihrem verschwundenen Koffer. Auch der war für eine herrliche Weile vergessen gewesen. Ihre nunmehr zerdrückte, durchgeschwitzte Garderobe erinnerte sie jedoch unangenehm deutlich an die Aufregungen des vergangenen Tages. Wenigstens war sie so dick angezogen, dass die Insekten nur einen schmalen Hautstreifen an ihrem Handrücken gefunden hatten. Die Stiche juckten furchtbar.