Die Frauen vom Reichstag: Schritte in eine neue Welt - Micaela A. Gabriel - E-Book

Die Frauen vom Reichstag: Schritte in eine neue Welt E-Book

Micaela A. Gabriel

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Beschreibung

Der Abschluss der inspirierenden Saga um die ersten Parlamentarierinnen. New York, 1941: Als SPD-Abgeordnete wurde Paula Hagedorn nach der Ermordung ihres Mannes durch die Nationalsozialisten schon früh in die Emigration gezwungen. In Amerika gilt sie inzwischen als die gute Seele der politisch Verfolgten, besonders aufgrund ihres Engagements für Not leidende Kinder. Zu ihr flüchtet sich ihre Freundin Marlene von Runstedt, nachdem diese Deutschland über Frankreich, Spanien und Portugal verlassen musste. Marlene schützt nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das von Lena, der inzwischen erwachsenen Tochter von Sonja Grawitz und Justus von Ostwald. Paulas Arbeit und die unterschiedliche Behandlung der jüdischen und politischen Flüchtlinge in New York wecken Lenas Interesse. Sie unterstützt Paula bei der Gründung der Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus und beginnt, sich politisch zu engagieren. Dabei begegnet sie einem jungen Amerikaner, kurz bevor dieser als Bomberpilot in den Krieg nach Europa zieht. Erschütternd und bewegend!

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Micaela A. Gabriel

Die Frauen vom Reichstag: Schritte in eine neue Welt

Roman

 

 

 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Richard Jenkins

ISBN 978-3-644-01056-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Im Gedenken an:

 

Lore Agnes, Maria Ansorge, Marie Juchacz, Marie Kunert, Anna Nemitz, Toni Pfülf, Louise Schroeder, Clara Schuch, Berta Schulz, Margarethe Starrmann, Mathilde Wurm, Anna Zammert

 

Diese Frauen wurden am 5. März 1933 für die SPD in den Reichstag gewählt, sie gehörten der einzigen Fraktion des Parlaments an, die sich gegen Hitler stellte, und stimmten am 24. März 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz. Sie bezahlten für ihren Mut mit Haft, Misshandlung, Flucht oder gar Tod.

29. Mai 1941 – Auf See

Prolog

Marlene hatte Angst, über Bord zu gehen.

Nach der neunwöchigen Reise war das die uneleganteste Art, das Schiff zu verlassen, aber die Menschen an der Reling der Duc d’Aumale drängten, schubsten und schoben, als gäbe es dort tatsächlich irgendwo einen Ausgang.

Da Marlene wegen ihrer latenten Seekrankheit nicht hatte schlafen können, hatte sie noch in der Dunkelheit einen Platz an der frischen Luft gesucht. Nun stand sie vorne am Schanzkleid und wurde gegen die Brüstung gedrückt. Immer mehr Männer und Frauen, manche mit kleinen Kindern auf Armen oder Schultern, fluteten das Deck. Wie magisch angezogen starrten alle auf die Freiheitsstatue, die sich in einem Überraschungsmoment aus dem Ozean zu erheben schien, wie bei einer Fata Morgana, nur dass es keine Luftspiegelung war, sondern ein reales, noch dazu riesengroßes, mit grüner Patina überzogenes Monument. Die Fackel der Freiheit leuchtete golden im Morgenlicht, und ihr Anblick ließ auch Marlenes Herz höherschlagen und jegliche Übelkeit vergessen.

Auf der Meeresstraße herrschte so viel Betrieb wie zur Hauptverkehrszeit auf den Boulevards von Paris oder Berlin. Schlepper, Militärschiffe, zivile Frachter und Fähren beanspruchten einen Platz in der Fahrrinne oder an den Docks, Schiffshörner dröhnten wie an Land die Hupen der Automobile. Die Lotsen, die den französischen Dampfer an die Anlegestelle begleiteten, mussten wohl höllisch aufpassen, dass kein Unglück geschah. Früher, dachte Marlene, wäre sie bei einer solchen Hafeneinfahrt einfach nur fasziniert gewesen. Heute war sie gleichzeitig angespannt und erleichtert.

Die Emotionen, von denen sie glaubte, sie irgendwo auf ihrer Flucht verloren zu haben, tauchten anscheinend immer dann wieder auf, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Sie dachte an die fast vergessene jüngere Frau in sich, die sich einst zur Entspannung auf eine Kreuzfahrt gewünscht hatte. Stattdessen hatte sie eine Affäre mit dem damals besten Studenten und späteren Kanzleipartner ihres Vaters begonnen, und nach einigen Turbulenzen war sie seine Ehefrau geworden. Unwillkürlich lächelte sie in der Erinnerung an ihren Mann, doch auch die Sorge um ihn kämpfte sich wieder an die Oberfläche. Ach Max, wo bist du nur …

Sie verbat sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, und versuchte, sich mittels ihrer Ellenbogen ein wenig Freiraum zu verschaffen. Nicht alle Passagiere waren Flüchtlinge wie sie, etwa die Hälfte war als Tourist, zu Familienbesuchen oder auf der Heimreise von der Karibikinsel Martinique unterwegs. Das war nicht nur an den unterschiedlichen Unterbringungsmöglichkeiten erkennbar gewesen – die einen schliefen in Kabinen, die anderen im Frachtraum –, sondern auch ein Thema an Deck. Doch für jeden Reisenden, gleich welcher Klasse, mochte es nach langen, eintönigen Tagen auf See ein erhabener Moment sein, vorbei an der Statue ofLiberty in die Hafeneinfahrt zu gleiten.

Bis Marlene amerikanischen Boden betreten durfte, würde es noch eine Weile dauern. Ihre Ankunft war erst für den frühen Nachmittag vorgesehen, die Zeit hatte sie ihrer Freundin Paula Hagedorn vorab telegrafiert. Mit der Freiheit in Form einer riesigen Statue buchstäblich vor Augen fiel es Marlene besonders schwer, sich in Geduld zu üben. Doch die Stunden bis zu ihrem Landgang spielten vor dem Hintergrund der vergangenen acht Jahre eigentlich keine Rolle mehr.

Ende Januar 1933 – Berlin

1

Schlecht gelaunt legte Paula Hagedorn ihren Löffel auf den Rand des tiefen Tellers. Die Kartoffelsuppe in der Cafeteria des Reichstags hatte auch schon einmal besser geschmeckt! Lag es an der eine Weile zurückliegenden Auflösung des Parlaments, dass hier nicht mehr anständig gekocht wurde? Selbst in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Großen Krieg und während der Inflation war das Essen besser gewesen. Doch nun machten sich die Wunden der drei Jahre zurückliegenden und nach wie vor anhaltenden Weltwirtschaftskrise überall bemerkbar. Offenbar auch in der Kantine des Reichstags.

Ein bisschen erinnerte sie das Essen an die wässrige Brühe mit Sago, die es in ihrer Kindheit so oft gegeben hatte, weil das Geld im Kaiserreich für Arbeiter und Handwerker noch viel knapper gewesen war. Paula war als unterprivilegierte Tochter eines Tischlers aufgewachsen, die nur dank ihres scharfen Verstandes, ihrer Liebe zu den Büchern, die sie in der Bibliothek ausleihen durfte, und eines damals für Mädchen ungewöhnlichen Sinns für Mathematik weitergekommen war. Und – wie es leider so meist der Fall war – dank eines Mannes.

Als Mädchen hatte sie sich in einen der jüngeren Lehrer an der Volksschule in der Alsenstraße verliebt, der Visionen von einer gerechteren Welt vor seinen Schülerinnen ausbreitete. Erich Hagedorn war Marxist und ein glühender Verehrer von August Bebel. Wenn er über den Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sprach, hatte nicht nur die vierzehnjährige Paula an seinen Lippen gehangen. Als er sich um einen Sitz in der Bürgerschaft beworben hatte, war nicht nur sie auf ihr Fahrrad gesprungen und hatte Wahlwerbung mit seinem Namen verteilt. Doch im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen, deren Schwärmereien sich nach ihrem Abschluss verflüchtigten, vergaß Paula den jungen Lehrer auch während ihres anschließenden Dienstjahres auf einem Gutshof im Alten Land nicht. Hier machte sie sich, anders als geplant, im Büro des Verwalters besser als in der Küche, woraufhin sie eine Empfehlung für die Handelsschule erhielt. Nach ihrer Ausbildung und einer ersten Anstellung als Stenotypistin bei einem Kaffeehändler heiratete sie Erich Hagedorn. Kurz darauf trat sie, seiner Ermutigung folgend, in die SPD ein.

Und wohin hatte sie das geführt?, fragte sich Paula. Zu einem Teller ungenießbarer Suppe. Man darf kein Essen stehen lassen, sagte sie sich sofort still und nahm ihren Löffel wieder auf. Die Suppe schmeckte natürlich nicht besser als zuvor, daran ließ sich nichts ändern, aber sie war heiß und deshalb eine Wohltat an diesem Wintertag. Außerdem brauchte sie etwas im Magen, weil in etwa zehn Minuten die Fraktionssitzung fortgesetzt werden sollte, die schon den ganzen Vormittag über stattgefunden hatte. Das Ende war nicht absehbar, und es stand zu befürchten, dass sie erst am späten Abend zurück in ihre kleine Wohnung in Köpenick kommen würde. Müde und durchgefroren und ganz sicher nicht bereit, sich an den Herd zu stellen. Das war noch nie ihr Ding gewesen.

Selbst als sie kurz nach ihrem Parteieintritt ungewollt schwanger geworden war und dann im Laufe der Jahre zwei Söhne und eine Tochter geboren hatte, war es die schlimmste Vorstellung für sie gewesen, nichts weiter als eine Hausfrau zu sein. Also engagierte sie sich für die Rechte von Frauen und für die Gewerkschaften und erreichte dank ihres Redetalents einiges. Über kurz oder lang entdeckte auch Erich ihre Begabung für Rhetorik: Anfangs bat er sie nur, die Reden, die er in der Bürgerschaft hielt, zu korrigieren, später ließ er sich seine Wahlkampfauftritte von ihr organisieren und schreiben.

Paula schauderte es jetzt noch bei dem Gedanken daran, ihre Fähigkeit so lange für jemand anderen aufgebraucht zu haben. Sie war keine Strippenzieherin im Hintergrund und hatte schon bald beschlossen, ihre Begabung für die eigene Karriere zu nutzen, dafür brauchte sie keinen Mann. Und als sie Reichstagsabgeordnete wurde, hatte sie sich von Erich getrennt. Ihre Kinder waren zu dem Zeitpunkt schon fast erwachsen und konnten auf eigenen Beinen stehen, blieben anfangs aber beim Vater. Manchmal, in ihren – wie sie es nannte – schwachen Momenten, fragte sich Paula, ob sie nicht ihnen zuliebe hätte bleiben sollen. Doch dann sagte sie sich, dass sie nun einmal nicht zur Mutter geschaffen war. Immerhin hatte sie von Berlin aus stets Kontakt zu Erich in Hamburg gehalten, selbst nachdem ihre Söhne und die Tochter eigene Wege gingen. Zwischen ihr und ihrem Ehemann hatte sich eine Freundschaft entwickelt, und weil es ohnehin fast zu spät war, an eine Scheidung zu denken, blieben sie verheiratet, obwohl Erich längst mit einer anderen Gefährtin zusammenlebte. Die vermutlich anständige Suppe kochen konnte …

«Verzeih meine Verspätung …»

Paula wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Ihr kam es vor, als wehte ein kalter Windzug über ihren Tisch. Sogar ein paar Schneeflocken hatte Marlene Emden mitgebracht, die noch an ihrem Mantel und ihrem Hut hafteten. Paula nickte und wollte ihre Genossin gerade darauf hinweisen, dass Otto Wels, der Fraktionsvorsitzende, der richtige Empfänger für eine Entschuldigung war, doch dafür musste sie erst einmal den letzten Schluck Brühe hinunterschlucken.

Ihre Freundin achtete nicht auf Paulas Unpässlichkeit und plapperte unverdrossen weiter: «Ich musste noch Akteneinsicht im Kriminalgericht nehmen. Das hat so lange gedauert.» Dabei zog Marlene ihren Mantel aus und warf ihn über die Lehne des freien Stuhls. «Ich vertrete diesen armen Jungen, der wegen Diebstahls angeklagt ist», fügte sie hinzu, während sie ihren Hut abnahm und sich setzte.

Paula schluckte. «Welchen? Gibt es nicht nur noch arme Jungen, die wegen irgendetwas angeklagt werden, damit die Rechten wieder einmal gegen die verrohten Jugendlichen schwadronieren können?»

«Der Sohn der erwerbslosen Arbeiterin, der ein Lebensmittelgeschäft überfallen und geplündert hat. Du erinnerst dich bestimmt, die Sache hat hohe Wellen geschlagen. Leider wurde er von dem Besitzer überrascht und hat ihn dann in einem Handgemenge verletzt. Aber mein Mandant hat eigentlich nur aus Hunger gehandelt, verstehst du?»

«Ich verstehe das», seufzte Paula. «Hoffentlich tut es das Kriminalgericht auch.»

«Ein junger Mensch wie er hat doch heutzutage keine Perspektive. Er ist Mitglied im Kommunistischen Jugendverband …»

«Ich wünschte, die Kommunisten würden sich ihre eigenen Anwälte nehmen. Du handelst dir noch einmal Ärger ein.» Sie hatte Marlene davor gewarnt, dass sie im Fokus der Rechten stand, solange sie sich so stark für Mandanten aus der kommunistischen Bewegung einsetzte. Doch Marlene hatte sich bereits ihr ganzes erwachsenes Leben lang für Frauenrechte und vor allem für Arbeiterinnen eingesetzt, die auch schon mal dem radikalen Bolschewismus zugetan waren. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie selbst eher liberal eingestellt war. Um die Welt ein bisschen besser zu machen, hatte sie Rechtswissenschaften studiert und war in die Deutsche Demokratische Partei eingetreten, als den weiblichen Bürgern des Deutschen Reiches gleich nach dem Großen Krieg das aktive und passive Wahlrecht zugebilligt worden war. Paula hatte sie als Abgeordnete der Nationalversammlung kennengelernt, ihrer beider politischer Aufstieg hatte damals begonnen, Marlenes in der DDP, Paulas in der SPD. Nach dem Rechtsruck der Liberalen vor drei Jahren war Marlene Sozialdemokratin geworden, was sie nach Paulas Meinung im Herzen schon immer gewesen war.

«Ich vertrete einen Jugendlichen, der aus Not gehandelt hat», verteidigte sich Marlene. «Das hat nichts mit seiner politischen Einstellung zu tun.»

«Würdest du das auch sagen, wenn er in der Hitlerjugend wäre?», wollte Paula prompt wissen.

«Wohl nicht. Nein.»

Die Kellnerin trat an den Tisch und erkundigte sich nach Marlenes Wünschen. Sie bestellte nur einen Tee.

Paula war erleichtert, weil sie der Freundin nicht von der Kartoffelsuppe abraten musste. «Ich frage mich allerdings», griff sie das Gespräch wieder auf, «ob wir uns nicht früher um genau diese Klientel hätten kümmern müssen. Wir hatten seit Jahren immer nur unsere Stammwähler vor Augen und haben in deren Interesse gehandelt. Sie danken es uns nun jedoch, indem sie zur KPD abwandern – oder Schlimmeres.»

«Sicher macht es keinen Sinn, am rechten Rand zu fischen. Immerhin hat die NSDAP bei der letzten Reichstagswahl im November Stimmenverluste erlitten. Deren Zenit ist überschritten, und unsere Politik wird bald wieder das Ansehen genießen, das sie verdient.»

«Dein Wort in Gottes Ohr. Ich bin mir noch nicht im Klaren, ob die abwartende Haltung unserer Genossen richtig ist. Das haben wir auch vorhin in der Fraktionssitzung diskutiert. Anscheinend gibt es bisher nur den Willen zu außerparlamentarischem Widerstand.» Aus den Augenwinkeln nahm Paula eine gewisse plötzliche Unruhe in der Cafeteria wahr. Der holzgetäfelte Saal mit der beeindruckenden Kassettendecke war nicht gut besucht, deshalb fiel das hektische Herumlaufen der Gäste stärker auf, das Getuschel unter den anderen Politikern wirkte lauter als bei einem vollen Haus. Offensichtlich kursierte gerade eine Neuigkeit. «Entschuldige mich kurz», bat sie und erhob sich von ihrem Stuhl.

Paula spürte Marlenes erstaunten Blick in ihrem Rücken, als sie zu einem Tisch ging, an dem zwei Sekretärinnen Platz genommen hatten, die gerade erst leise plaudernd hereingekommen waren. Eine der beiden jungen Frauen war zuvor zu den männlichen Abgeordneten getreten, und daraufhin war es zu einer verhaltenen, aber aufgebrachten Diskussion gekommen. Paula kannte sie, weil sie im Schreibbüro des Parlaments arbeitete. «Na, Fräulein Weber», hob sie ohne Umschweife an, «was gibt es Neues?»

Die Jüngere schnappte nach Luft. «Ach, Frau Hagedorn, was soll nur werden? Gerade wurde durchgegeben, dass Herr Generalleutnant Schleicher bei Reichspräsident Hindenburg um seinen Rücktritt ersucht hat. Dabei war er doch nur sechs Wochen im Amt.»

Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, fuhr es Paula durch den Kopf. Dass ein Vertrauter Hindenburgs, der es immerhin geschafft hatte, den bislang letzten SPD-Kanzler Müller zu stürzen, nun selbst ging, verhieß tatsächlich nichts Gutes. «Danke für die Auskunft», sagte sie. Brüsk wandte sie sich um. Gedankenverloren ging sie zu Marlene zurück, die inzwischen in ein Gespräch mit einem älteren Abgeordneten der rechtsliberalen DVP versunken war. Als er Paula sah, nickte er ihr freundlich zu, verabschiedete sich jedoch rasch von Marlene. Unwillkürlich fragte Paula: «Hast du Geheimnisse mit Herrn Falke ausgetauscht?»

Marlene schüttelte den Kopf. «Schleicher ist zurückgetreten, und angeblich soll Hindenburgs Liebling von Papen den Auftrag zur Bildung einer Regierung erhalten. Mich schaudert bei dem Gedanken, dass dieser Wendehals noch einmal Kanzler werden könnte.»

«Die Alternative ist keinesfalls besser», versetzte Paula lakonisch.

«Wir sollten in der Sitzung gleich die Frage aufbringen, ob sich die Fraktion weiterhin so ruhig zeigen will. Besonnenheit ist wichtig, aber Zurückhaltung wirkt ab einem bestimmten Punkt feige …»

«Mich brauchst du nicht zu überzeugen», wehrte Paula ab. «Ich glaube, dass du vor allem die Genossen überzeugen musst, die dem Parteivorstand nach dem Mund reden und Ruhe und Disziplin anmahnen. Du hast bis heute Abend ja noch reichlich Zeit», fügte sie mit einem ironischen Lächeln hinzu.

«O nein, die habe ich nicht. Ich muss heute auf den Presseball gehen – und in meinem Alter brauche ich vorher mehr Zeit, um mich für eine rauschende Ballnacht in Schale zu werfen, als in meiner Jugend.»

Bei anderer Gelegenheit wäre Paula über so viel Koketterie amüsiert gewesen, doch heute war sie nur noch genervt. «Was willst du auf dem Presseball?»

«Nachsehen, wer in der Kanzlerloge sitzt», antwortete Marlene wie aus der Pistole geschossen.

2

Aufgewachsen mit der praktischen Reformkleidung der Jahrhundertwende und abgelenkt durch den Großen Krieg, ihre Tätigkeit in der Rechtsberatung und als Abgeordnete in der Weimarer Nationalversammlung und dem Reichstag, hatte Marlene erst ziemlich spät ein gewisses Interesse für Mode entwickelt. Inzwischen über fünfzig, dachte sie heute – trotz der politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten – mehr über schicke Garderobe nach als in jenen Jahren, in denen sich ihre Mutter bemüht hatte, dem jungen Mädchen ein wenig Glanz und viel Stil beizubringen. Zweifellos wäre Josephine von Runstedt angetan von der eleganten Dame, die sich an diesem eiskalten Abend in einer nachtblauen Robe mit langen Ärmeln, modisch breiten Schultern und U-Boot-Ausschnitt auf den Weg zum Reichspresseball machte.

Ein roter Teppich führte in die Festsäle am Zoologischen Garten. Vor dem schwarzen Himmel wirkte die gelbe Beleuchtung der vorfahrenden Autos wie Glühwürmchen in einer südlichen Sommernacht, dagegen erschienen die Gebäude und Gäste anstrahlenden Kohlescheinwerfer wie mehrere Versionen eines Vollmonds. Echte wie falsche Diamanten funkelten, rot geschminkte, schön geschwungene Lippen leuchteten, Roben und Abendanzüge wurden ausgeführt, als gäbe es keine Not jenseits dieses aus annähernd fünftausend mehr oder weniger berühmten Ballbesuchern bestehenden Kosmos. Internationale Pressevertreter notierten die Namen der eintreffenden Stars, und Schaulustige, die sich im Dunkeln hinter der Polizeiabsperrung versammelt hatten, begrüßten die Prominenz mit Hochrufen. Der Presseball war wieder einmal das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis der Stadt.

Marlene fühlte sich sehr vornehm am Arm von Max, der im Frack so perfekt aussah wie eine Schaufensterpuppe aus dem Warenhaus seiner Familie. Als sie ihm ihren Pelzmantel überließ und sich an der Garderobe umdrehte, entdeckte sie im Gewühl prompt das Gesicht einer Bekannten: Die Modejournalistin Elsa Herzog, Kolumnistin des Berliner Lokal-Anzeigers, hielt mit ihren Zeichnerinnen im Gefolge auf Marlene und Max zu. Dabei drängte sie sich energisch durch die Reihen anderer Paare, die ihr anscheinend weniger wichtig – oder weniger attraktiv – erschienen.

«Die eleganteste Frau des Reichstags!», rief die Reporterin überschwänglich aus. Sie gab ihren Mitarbeiterinnen ein Zeichen, Bleistifte flogen über Skizzenblöcke. «Wo haben Sie nur dieses atemberaubend elegante Kleid gekauft, liebe Frau Doktor von Runstedt?»

«Jedenfalls nicht im Modehaus Emden», warf Max ein.

Marlene war sich nicht sicher, ob er einfach nur albern sein wollte oder irritiert war, weil sie von Elsa Herzog mit ihrem Mädchennamen angesprochen wurde. Von Runstedt war der Name, unter dem sie ihre Karriere als Juristin und später als Politikerin begonnen hatte, nach ihrer Heirat mit Max Emden vor fünf Jahren führte sie ihn häufig noch wie ein Pseudonym. Meist reagierte ihr Mann gelassen darauf. Deshalb nahm sie an, dass er einen Scherz gemacht hatte, und antwortete lächelnd: «Das Kleid stammt von Clara Schultz.»

«Was für eine gute Wahl! Eine Modeschöpferin mit viel Geschmack. Wussten Sie, dass Clara Schultz die Schauspielerin Lil Dagover anzieht?»

«Natürlich», erwiderte Marlene.

«Sehr schick, wirklich sehr schick», beteuerte die Journalistin, deren Augen längst wieder umherwanderten auf der Suche nach einer anderen Frau und einem anderen Kleid. «Wir sehen uns später», trällerte sie, bevor sie ihre Mitarbeiterinnen mit einer Handbewegung in Richtung der Ballsäle scheuchte.

Max neigte sich vor und hauchte Marlene einen Kuss auf den Hals. «Wenigstens kaufst du nicht wie Asta Nielsen bei Flatow und Schädler», raunte er in ihr Ohr. «Das sind größere Konkurrenten vom Modehaus Emden als der Salon von Clara Schultz.»

Sie boxte ihn spielerisch in die Seite. «Bist du eifersüchtig? Wenn du möchtest, dass ich meine Garderobe für offizielle Anlässe bei der Verwandtschaft bestelle, mache ich das. Bisher dachte ich, es wäre dir gleichgültig, wo ich mich einkleide.»

«Gleichgültig?», wiederholte er grinsend. «Niemals. Das ist das falsche Wort, wenn es um die Attraktivität meiner Gattin geht. Du siehst heute Abend wirklich umwerfend aus, Marlene.»

«Na, dann ist doch alles gut. Ich will niemandem gefallen außer dir.» Sie strahlte ihn an. «Wollen wir uns nicht endlich ins Getümmel stürzen?» Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie seinen Arm.

Neben dem großen, mehrstöckigen Marmorsaal boten die Nebenräume viele Annehmlichkeiten, die beliebtesten Bands luden hier zu Swing und dort zu Tango ein, an verschiedenen Bars wurden Bier und Schnaps, Wein oder Champagner ausgeschenkt, in einem Bistro gab es Austern und an einer urigen Theke Soleier. Eine besondere Attraktion waren die Hauptgewinne der Tombola, ein schickes Adler Trumpf Cabriolet und ein Kleinwagen der Marke DKW. Arbeitslosigkeit und Entbehrungen wurden ausgeblendet und durch einen Luxus ersetzt, der vielleicht nur Illusion war. Unter den riesigen Kristalllüstern des Hauptsaals drehten sich die Ehrengäste mit Vertretern der alten Hofgesellschaft und vielen Neureichen im Dreivierteltakt, hier spielte die Kapelle von Marek Weber beliebte Melodien. Wie einst Johann Strauss begleitete der Orchesterleiter die Walzer auf seiner Violine. Neben Filmstars, zahlreichen Theatergrößen und bekannten Männern der Musikbranche und Literaturszene waren hochrangige Vertreter aus Wirtschaft und Industrie anwesend, die Botschafter der wichtigsten europäischen Staaten sowie einige wenige Politiker.

Als Marlene mit Max an den am besten platzierten Tischen vorbeiflanierte, hielt er plötzlich inne. «In die Kanzlerloge traut sich offenbar kein Mensch.»

Tatsächlich befand sich niemand in dem nach vorne offenen Separee, das mit schweren Teppichen wie von einem Theatervorhang teilweise verhängt war. Die üppigen Blumengestecke welkten unbeachtet vor sich hin, die Plätze, die den Häuptern des Landes und deren Gattinnen vorbehalten waren, schienen verwaist. Die Attraktion war zweifellos der Mangel an derselben.

«Ohne einen Kanzler keine Kanzlerloge», gab Marlene zurück. «Wir haben in der Fraktion darüber diskutiert, aber auch keine Lösung gefunden. Immerhin hat der Reichspräsident für übermorgen eine Sitzung im Plenum anberaumt.»

«Leider werde ich den Eindruck nicht los, dass wir nicht nur keine Regierung, sondern trotz deines neuen Termins kein Parlament mehr haben.»

Sie zuckte in vorgeschobener Gleichmütigkeit die Achseln. «Es scheint seit ein paar Monaten zu den Lieblingsbeschäftigungen des Reichspräsidenten zu gehören, das Parlament aufzulösen. Damit bestätigt er, was wir seit seinem Amtsantritt vor acht Jahren befürchteten: Hindenburg hat ein Problem mit der Demokratie. Er hat schon immer auf die absolute Mehrheit einer rechten, demokratiefeindlichen Regierung hingearbeitet, umgeht die Verfassung, wo er kann, und trifft eigenmächtig Entscheidungen, mal abgesehen von den Gerüchten um Korruption, die seine Familie umschwirren. Warten wir also ab, was übermorgen geschieht.»

«Ich vertraue darauf, dass du als Abgeordnete alles tun wirst, um das Schlimmste zu verhindern.» Max legte seinen Arm um ihre Taille. «Bevor du dir aber jetzt zu viele Gedanken machst, lass uns den Abend genießen. Komm, wir trinken uns durch die Angebote an allen Bartresen und tanzen anschließend auf dem Tisch.»

Seine gute Laune war ansteckend, auch wenn sie vermutlich nur vorgeschoben war. Max wusste ebenso gut wie sie, in welcher schwierigen Lage sich Regierung und Parlament befanden. Doch Marlene beschloss, darüber ebenso wenig zu lamentieren wie über ihr Einkaufsverhalten. Sie küsste ihn auf die Wange und sagte lächelnd: «Einen Foxtrott auf der Tanzfläche fände ich ausreichend.»

Inzwischen herrschte auf dem Parkett so viel Betrieb, dass an eine akkurate Schrittfolge nicht zu denken war. Marlene und Max tauchten in die Menge ein, sie standen jedoch mehr in Tanzhaltung da, als dass sie sich vorwärts, rückwärts oder seitwärts bewegten, und traten im Takt der Melodie von einem Bein auf das andere. Aber sie waren so aufeinander eingespielt, dass sie im Rhythmus der Musik trotzdem eins zu werden schienen. Sie tauchten in die Augen des anderen und schlossen für einen Moment alle Anwesenden aus – bis sie von einem temperamentvollen Paar angerempelt wurden.

Man nickte sich freundlich zu. Marlene erkannte in dem attraktiven Mann den populären Jagdflieger Ernst Udet und in seiner Begleiterin die bekannte Schauspielerin Ehmi Bessel. Bevor Max einander vorstellen konnte, hatten die beiden jedoch wieder abgedreht. Zwei Schritte weiter trafen Udet und Ehmi Bessel auf Freunde. Das Wiedersehen führte zu großem Hallo und einigem Aufsehen, handelte es sich doch um den Filmstar Heinz Rühmann und dessen Frau.

Max drehte Marlene auf der Stelle um die eigene Achse, und dadurch fielen ihr die beiden hochgewachsenen Herren auf, die sich am Rande des Parketts angeregt unterhielten, der größere trug eine Amtskette um den Hals, der andere brillierte durch den maßgeschneiderten Frack.

«Schau an», flüsterte sie Max ins Ohr. «Oberbürgermeister Sahm und der Kollege Gereke im Gespräch. Was hat der Herr Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung wohl mit seinem Weggefährten und Hindenburg-Freund zu besprechen?»

«Willst du Guten Abend sagen?»

«Nein. Eigentlich nicht, aber ich sollte …» Der Rest ihrer Antwort ging zunächst in einem Trompetensolo unter, sodass sie mit erhobener Stimme hinzufügte: «Natürlich sollte ich die Herren begrüßen, aber große Lust habe ich keine. Ich wette, sie besprechen, wer der neue Kanzler wird. Und ich weiß, dass diese Nachricht meine Laune unter Umständen trüben könnte.»

«Sind wir nicht hier, um den neuesten Klatsch zu erfahren? Abgesehen von dem guten Eindruck, den wir hinterlassen wollen.» Max grinste zuversichtlich.

«Du hast recht. Außerdem sollten wir uns zumindest mit dem Bürgermeister gut stellen. Also, auf in den Kampf!»

Mit dem Geschick eines Mannes von Welt gelang es Max, Marlene in Sichtweite der beiden Herren zu schieben, ohne die anderen Tanzenden anzurempeln. Während sie sich zu der Melodie des sentimentalen Schlagers «Irgendwo auf der Welt» wieder nur von einem Bein auf das andere bewegte, wartete Marlene ab, dass man sie erkannte. Tatsächlich dauerte es nicht lange, und Heinrich Sahm und Günther Gereke sahen zufällig in ihre Richtung. Beide nickten ihr freundlich zu. Mit einer weiteren nonchalanten Geste ließ Max seine Partnerin los, woraufhin sie nach zwei Schritten und mit gespitzten Ohren vor dem Stadtoberhaupt und dem höchsten Beamten in der Reichsregierung stand. Die beiden Herren unterbrachen sich, doch sie hatte trotz des hohen Geräuschpegels gerade noch die Namen von Papen, Ribbentrop und Hitler aufgeschnappt. Eine verheerende Kombination, wie sie fand, aber das sagte sie nicht. Stattdessen begann sie, über das eisige Wetter und die veröffentlichten Zahlen von Influenza-Fällen, die beängstigende Ausmaße annahmen, zu fabulieren. «Ich hörte, dass täglich an die sechshundert neue Grippepatienten gemeldet werden», sagte Marlene. Sie sah den Bürgermeister treuherzig an: «Stimmt das?» Natürlich war das nur eine rhetorische Frage.

Obwohl in dieser Runde zuvor offenbar nur hinter vorgehaltener Hand über die Ernennung des nächsten Kanzlers gesprochen wurde, war dies zu fortgeschrittener Stunde schließlich das Thema der Nacht. Feierstimmung, Alkohol und Musik konnten nicht verhindern, dass Gerüchte in die Gesellschaft sickerten wie Tropfen aus dem Hahn eines leeren Fasses. Immer mehr Ballgäste sprachen darüber, was wohl Heinrich Sahm und Günther Gereke zuvor gemunkelt hatten: In der Villa des Wein- und Spirituosenhändlers Joachim von Ribbentrop in Dahlem sei es am Abend zu einer folgenschweren Zusammenkunft zwischen dem vormaligen Reichskanzler und Zentrums-Abgeordneten Franz von Papen und dem NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler gekommen, die in der Abmachung mündete, dem Reichspräsidenten ein «Kabinett Hitler» vorzuschlagen – das zwangsläufig zur Ernennung des gebürtigen Österreichers zum deutschen Kanzler führen würde. An den verschiedenen Bars wurde über diese Möglichkeit ebenso gemutmaßt wie in den Logen, im Gedränge auf den Gängen zwischen den Ballsälen und in den Warteschlangen vor den Toiletten. Die meisten Besucher ließen sich zwar keine Sorgen anmerken, wahrscheinlich dämpfte auch der Alkohol gewisse Vorbehalte, aber Marlene bemerkte, wie sich die Stimmung langsam wandelte. Ihre Hoffnung, die Parteien der Mitte könnten sich auf ein Bündnis einigen und einen Reichskanzler Hitler verhindern, erstarb zwar noch nicht, aber trotz etlicher Gläser Champagner fühlte sie sich alarmiert.

«Ich brauche die erste Ausgabe der Sonntagszeitungen», verkündete sie mit plötzlich zurückgewonnener Nüchternheit. «Lass uns am Bahnhof Zoo schauen, ob es schon neue Exemplare gibt.»

Max nickte. «Gehen wir. Es ist schon so spät … oder früh …», ein schiefes Lächeln umspielte seinen Mund, «jedenfalls bin ich sicher, dass wir fündig werden.»

Die Minuten, bis Max in der Schlange vor der Garderobe an die Reihe kam, um ihre Mäntel in Empfang zu nehmen, schienen ihr in einer endlosen Zeitlupe zu vergehen. Hastig glitt sie schließlich in ihren Pelz, aber sie nahm sich nicht die Zeit, ihn zuzuknöpfen. Sie achtete nicht einmal darauf, ob ihr Mann ihr folgte, als sie aus den Festsälen hinaus in die Kälte hetzte.

Die vorfahrenden Taxis beachtete sie nicht. Sie stürzte daran ebenso vorbei wie an den wartenden Limousinen und Chauffeuren der Ballbesucher, an schwankenden, alkoholseligen Nachtschwärmern vorbei und über die Budapester Straße den Zeitungsverkäufern entgegen, die sich in der frühen Morgenstunde mit den Andrucken vor dem Bahnhof versammelten. Die blinkenden Werbetafeln des Filmpalastes am Zoo warfen bunte Lichter auf den mit einer Frostschicht überzogenen Boden, vereinzelte Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Einmal drohte Marlene mit ihren hochhackigen Pumps auszurutschen, doch Max war neben ihr und nahm ihren Arm. Er hielt sie ein wenig fester, als sie an den Obdachlosen vorbeiliefen, die sich angesichts der Minustemperaturen um eine Feuertonne scharten. Irgendwo erklang eine Pfeife. Vielleicht von einem Schutzmann, der den Verkehr am Kurfürstendamm regelte, oder es war das Signal eines Schaffners auf dem Bahnsteig hinter den offenen Gleisen. Die Metropole, die eigentlich niemals wirklich schlief, schien langsam zu erwachen.

Marlene entdeckte einen Zeitungsjungen, der die Paketschnur von einem offenbar erst kürzlich gelieferten Stapel löste. Sie riss dem verdutzten Verkäufer ein Exemplar aus der Hand und gab Max ein Zeichen, die 15 Pfennige zu bezahlen, die die Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung kostete.

Im Licht des Bahnhofs und der Straßenlaternen stach ihr die Schlagzeile sofort ins Auge:

Verhandlungen mit HitlerDienstags-Sitzung des Reichstags fällt aus

3

«Natürlich nehme ich nachher an der Demonstration der Eisernen Front teil!», erklärte Marlene mit etwas brüchiger Stimme. Sie war noch nicht so munter, wie sie es für gewöhnlich am Morgen war, der Ballbesuch am vergangenen Abend und die bestürzenden Nachrichten hatten Spuren hinterlassen, aber sie war fest entschlossen, dem spontanen Aufruf zu folgen und für die Wahrung der Verfassung auf die Straße zu gehen.

Gedankenverloren bestrich Max eine Brötchenhälfte mit Butter. Nach einer Weile blickte er zu Marlene auf. «Heute ist Sonntag», erinnerte er sie. «Es ist der einzige Tag der Woche, an dem wir in Ruhe zusammen frühstücken können, und bei allem Respekt für deine politische Arbeit bitte ich als dein Ehemann um ein wenig Beachtung meiner Bedürfnisse.»

«Du hattest gestern Abend meine ungeteilte Aufmerksamkeit.»

«Ist es zu viel verlangt, dass ich wenigstens den Sonntag ungestört mit meiner Frau verbringen möchte?»

«Komm doch einfach mit!» Der Vorschlag war über ihre Lippen, bevor sie ihn überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Für gewöhnlich hielt sich Max aus ihrer politischen Karriere heraus, er unterstützte sie – ja, aber mehr als ein gelegentlicher Ratgeber mit gesundem Menschenverstand und einer gewissen Erfahrung war er in dieser Hinsicht nicht. Deshalb war sie über ihren Vorstoß selbst erstaunt – und erwartete noch im gleichen Moment seine Absage.

Er reichte ihr die gebutterte Schrippe. «Ja. Das werde ich tun. Und nicht nur, weil die Demokratie es mir wert sein sollte. Ich möchte bei dir sein!»

Was einerseits vernünftig und dann auch liebevoll klang, war wohl einzig der Wunsch, sie bei der Demonstration zu beschützen. Am vorigen Sonntag hatte die Sturmabteilung der NSDAP zu einer Kundgebung vor der Zentrale der KPD und der Redaktion der «Roten Fahne» aufgerufen. Rund sechzehntausend Sympathisanten der SA randalierten daraufhin vor dem Karl-Liebknecht-Haus – bis eine Polizeistaffel den Aufmarsch nahe dem Alexanderplatz sicherte und das Gebäude besetzte. Dabei war nicht ganz klar, auf welcher Seite die Ordnungshüter standen, die Schlägereien erschwerten die Übersicht, und die Verhaftungen fanden vor allem unter den Linken statt. Eine derartige Eskalation erwartete Marlene heute nicht, weshalb Max’ Sorge sicher umsonst war. Die sogenannte Eiserne Front war ein Zusammenschluss des liberalen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, der Gewerkschaften, des Angestelltenbundes, der Arbeiter-Turn- und Sportvereine sowie der SPD. Die Mitglieder traten für die Erhaltung und Erfüllung der Weimarer Verfassung und den Kampf gegen eine republikfeindliche Politik ein. Zwar waren das durchaus die entgegengesetzten Ziele der Nationalsozialisten, doch Marlene schloss Übergriffe wie vor einer Woche aus, obwohl Proteste der anderen Seite zu erwarten waren. Die Kommunisten radikalisierten sich jedoch auch immer stärker, was die Schupos letztlich an ihre Grenzen brachte. Marlene fühlte sich deshalb unangenehm an den Spartakusaufstand nach dem Großen Krieg erinnert. Damals hatte die Demokratie gesiegt. Das musste jetzt angesichts eines möglichen Kanzlers Hitler unbedingt wieder gelingen, auch wenn der Reichspräsident mittlerweile Paul von Hindenburg und nicht mehr Friedrich Ebert hieß.

Sie nickte Max zu. «Ich weiß deine Begleitung zu schätzen. Je mehr wir sind, desto besser.»

*

Die Charlottenburger Chaussee, die quer durch den Großen Tiergarten führte und die einstige Vorstadt mit dem Berliner Regierungsviertel verband, war schwarz vor Menschen. Es schien kein Durchkommen zu geben, selbst auf den verschneiten Wiesen und hinter Büschen und Bäumen der weitläufigen Parkanlage drängten sich gegen die Kälte dick eingemummte Demonstranten, viele Männer trugen Uniform. Marlenes Versuch, zwischen all den Fremden ein vertrautes Gesicht zu erspähen, scheiterte. Es war unmöglich, in dieser Masse auch nur einen einzigen Bekannten zu entdecken – es sei denn, die Person stände direkt vor ihr. Abertausende waren dem Aufruf der Eisernen Front gefolgt, um «gegen den faschistischen Generalangriff» und «gegen reaktionäre Staatsstreichpläne» zu protestieren. Der Zug sollte zum Brandenburger Tor, die Linden hinauf bis zu einer Kundgebung im Lustgarten gehen, aber das war wenig aussichtsreich, weil die Menschenansammlung die Straßen rasch verstopfte und kein Vorwärtskommen war. Es sprach sich rasch herum, dass sich wohl auch große Gruppen an den anderen zentralen Plätzen versammelten. Marlene musste achtgeben, nicht von Max getrennt zu werden, doch stellte sich bei ihr keine Furcht vor der unübersichtlichen Menge ein. Eingepfercht zwischen all den Fremden, jubelte sie über diese unglaubliche Demonstration für die Demokratie.

Die Plakate der Eisernen Front wurden in die Höhe gehalten: drei weiße Pfeile auf rotem Grund, darunter, in weißer Schrift:

HEIL’t HITLER

VOM GRÖSSENWAHN

Auf einem anderen Banner, das mehrere Männer trugen, stand in eindrucksvoll großen Lettern:

BERLIN BLEIBT ROT

Stolz wurden selbst gemalte Schilder, die die Demokratie beschworen, präsentiert. Andere handschriftliche Parolen verdammten den Nationalismus. Und dazwischen schien ein Meer aus schwarz-rot-goldenen Fahnen zu wehen. Unwillkürlich dachte Marlene an ihre Freundin Sophie Maytrott, die in ihrer aktiven politischen Zeit als Abgeordnete des Zentrums vehement für die demokratischen Farben und gegen die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs gekämpft hatte. Selbst mit ihrem gelähmten Bein hätte sich Sophie vor ein paar Jahren wahrscheinlich aufgerafft, um ebenfalls an dieser Kundgebung teilzunehmen. Doch sie hatte ihr Mandat niedergelegt, um sich intensiver dem Jugendschutz zu widmen. In der aktiven Fürsorge meinte sie, mehr verändern zu können, als in der Politik, wo sie zu oft an ihre Grenzen geraten war. Marlene erging es zwar nicht anders, aber sie war nun einmal von kämpferischer Natur.

Die meisten Frauen und Männer in dem Zug, der sich nun doch im Schritttempo gen Brandenburger Tor bewegte, verhielten sich ruhig. Es gab kein Geschrei, und es wurden auch keine reißerischen Parolen skandiert, manchmal erklang ein Ruf, der einen Spruch auf den Fahnen aufgriff, aber die Worte schwollen nicht zu einem Lauffeuer an. Diese Zurückhaltung entsprach der Haltung der SPD-Führung, die seit Tagen zum Abwarten mahnte, während die kommunistische Partei sich bereits zum Kampf rüstete. Heute war zum demokratischen Protest aufgerufen worden, nicht zum Bürgerkrieg.

«Wofür stehen die drei Pfeile auf den Plakaten der Eisernen Front?», fragte Max neben Marlene.

Er war so klug – und wusste doch so wenig. Er hatte ihre gesamte Karriere begleitet – und sich so selten in die Politik eingemischt. Im Gegensatz zu seinem verstorbenen Mentor – ihrem Vater – nutzte er keine Kontakte in die höchsten Kreise, sondern brillierte mit seiner Diskretion. Letztlich liebte sie aber auch das an ihm. «Die drei Pfeile stehen für die Feinde der Republik», erklärte sie geduldig. «Für die Monarchisten, die Nationalsozialisten und die Kommunisten.»

Wie auf ein Stichwort wehten Wortfetzen zu ihr hinüber.

Irgendjemand schrie: «Heuchler!»

Und dann: «Verräter!»

Marlene blickte in die Richtung der Pöbler, erwartete, Braunhemden zu sehen, und unwillkürlich spürte sie nun doch Furcht aufsteigen. Sie hasste die Gewalt, die überall im Deutschen Reich zu eskalieren drohte. Aber was konnten ein paar SA- und SS-Schergen heute schon gegen diese übermächtige Zahl an Demokraten ausrichten? Sie sollte sich nicht fürchten …

Zu ihrem Entsetzen erblickte sie jedoch Männer in schlichter Arbeiterkleidung. Über den Köpfen der Gruppe hing an einem langen Stab eine dunkelrote Fahne mit rotem Stern und goldenem Hammer und Sichel in der Ecke: das Symbol der Sowjetunion. Offensichtlich schmähten die Verehrer der Politik Stalins den Aufmarsch für die Republik. Es war wie eine Bestätigung dessen, was sie Max eben erklärt hatte.

Ihre Furcht vor den gewalttätigen Bolschewisten war seit der Revolution und dem Spartakusaufstand groß. Damals im Januar nach dem Großen Krieg war sie sogar mitten in ein Feuer geraten. Doch nicht alle Kommunisten waren gewaltbereit. Später hatte sie in der Nationalversammlung Clara Zetkin kennengelernt, eine ausnehmend kluge Frau, zunächst linke Sozialdemokratin, später Abgeordnete der KPD, die als Alterspräsidentin des Reichstags so viel Würde und Besonnenheit ausstrahlte, dass Marlene tief beeindruckt war. Sie wünschte, dass davon etwas auf die handelnden Männer abfärbte, etwa den Parteivorsitzenden Ernst Thälmann und dessen Berliner Genossen Walter Ulbricht. Beide sahen in den Sozialdemokraten den größten Feind der Kommunisten, eine Partei, die zerschlagen werden musste – und dafür machte Ulbricht auch mal mit der NSDAP-Führung gemeinsame Sache. Es war zu erwarten, dass beide sich gegen eine Zusammenarbeit von SPD und KPD im Parlament aussprachen, auch wenn nicht nur Marlene davon überzeugt war, dass dies die einzige Möglichkeit war, den rechten Parteien die Stirn zu bieten. Clara Zetkin sah es ebenso, obwohl sie von einem «Sowjet-Deutschland» träumte. Doch nun flankierten die Anhänger der radikalen Politik zornig den Protest der Demokratiebewegung.

«Helfershelfer der Reaktion!», kreischte eine Frauenstimme vom Wegesrand.

Kopfschüttelnd suchte Marlene in den bleichen Gesichtern nach der Person, die die Parole der Kommunistischen Internationale wiederholte und wahrscheinlich nicht die Bildung besaß, überhaupt zu verstehen, was sie da herausschrie. Schließlich machte sie eine junge Frau aus, die ihr bekannt vorkam.

«Marie Becker …?!», entfuhr es Marlene.

Ihr schien es, als verblassten die Menschen in der Gruppe um die Frau, die wiederum an Schärfe gewann, wie bei der Linseneinstellung eines Fotoapparats. Marlenes Bekanntschaft mit Marie Becker hatte bei Kriegsende in der Kanzlei von Runstedt & Partner mit einer Kranzgeldforderung begonnen und setzte sich fort, als die damals junge Frau vor den Angriffen auf Helfershelfer der Spartakisten fliehen musste. Dank Marlenes Empfehlung fand Marie auf dem Gut derer von Ostwald im Havelland nicht nur einen Unterschlupf, sondern auch eine Anstellung. Was war passiert, dass die Gärtnerin in ihr altes ideologisches Muster zurückfiel? Fast acht Millionen Arbeitslose sind passiert, fuhr es Marlene spontan durch den Kopf, annähernd vierzig Prozent der Bevölkerung waren ohne Beschäftigung. Hatte der alte Junker Marie nach langjähriger guter Arbeit etwa entlassen müssen? Marlene fiel ein, dass sie sich schon viel zu lange nicht mehr auf dem Gut hatte sehen lassen, was ihr aus vielerlei Gründen das Gewissen erschwerte.

Marie wirkte kleiner und schmaler als früher, die Wangen schimmerten zwar noch rosig, aber ihr bleiches Gesicht war wettergegerbt und eingefallen, die blauen Augen nicht mehr strahlend, sondern trüb. Ihr Mantel machte einen ordentlichen Eindruck, der lange Wollschal, den sie sich mehrfach um den Hals bis zum Kinn hoch geschlungen hatte, war anscheinend handgestrickt. Sie sah nicht gerade ärmlich aus, aber definitiv wie eine Frau, die ihre besten Jahre lange hinter sich hatte, dabei war sie jünger als Marlene, wohl erst Anfang dreißig, wenn sie sich richtig erinnerte.

Unwillkürlich trat Marlene aus dem Demonstrationszug auf ihre ehemalige Mandantin zu. «Fräulein Becker …?!», fragte sie zögerlich. Ihr fiel ein, dass sie nicht einmal wusste, ob Marie inzwischen geheiratet hatte.

Anscheinend war das nicht der Fall, denn die andere reagierte sofort: «Ich hätte mir denken können, dass Sie bei den Sozialfaschisten mitlaufen!»

Marlene verzichtete darauf, ihre geänderte Parteimitgliedschaft zu erklären. Stattdessen fragte sie: «Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»

«Wohl kaum», schnaubte Marie. «Das Deutsche Reich braucht mehr als Ihre Hilfe. Wir brauchen einen Ausweg aus Not und Elend!» Auch das klang wie eine auswendig gelernte Parole.

Marlene ignorierte die Propaganda. «Haben Sie Ihre Anstellung bei Herrn von Ostwald verloren?», fragte sie.

«Die feinen Herrschaften haben ihre Ersparnisse verloren und setzen unsereins auf die Straße, als könnten wir etwas für ihre dummen Börsengeschäfte und was es da noch so alles gibt. Da haben Sie den Beweis, Fräulein Doktor: Die Rittergüter gehören in die Hand der Gemeinschaft …»

«Das Gut wird seit Jahrhunderten in der Familie vererbt», erwiderte Marlene und hörte selbst, wie schwach ihr Protest war.

«Natürlich sehen Sie das anders. Sie wären heute die Frau Baronin, wenn …» Offenbar in einem unerwarteten Anflug von Empathie biss sich Marie auf die Lippen und senkte kurz die Lider. Doch einen Atemzug später schaute sie trotzig wieder auf. Mit erhobener Stimme erklärte sie: «Nieder mit den Junkern! Nur der Kommunismus kann uns noch retten!»

Schon seit einer Weile spürte Marlene die vertraute Hand auf ihrem Arm. Nun zerrte Max etwas drängender an ihr. «Wir sollten weitergehen.»

«Ja, gleich. Ich …» Niedergeschlagen unterbrach sie sich. Was wollte sie tun? Marie Becker eines Besseren belehren? Inmitten Tausender Demonstranten der einen wie der anderen Seite erschien ihr eine vernünftige Diskussion unmöglich. Längst war sie in einem Alter, in dem sie den Wert der Besonnenheit kannte. Dabei gab es viel, das sie Marie Becker noch sagen wollte. Sie hätte sogar versuchen können, der Gärtnerin eine neue Anstellung zu vermitteln. Aber die konzentrierte sich bereits wieder auf die Sprüche ihrer Partei und schimpfte lieber auf die Anhänger der SPD.

«Nieder mit den Sozialfaschisten!»

4

Als die Zeitungen am Montag schrieben, ein Kabinett «Hitler-Papen-Hugenberg» sei von Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannt worden, und der Rundfunk am Mittag meldete, Adolf Hitler sei als Reichskanzler bestätigt, waren diese Nachrichten keine Überraschungen mehr für Marlene. Fast die halbe Nacht hatte sie mit Kollegen und Kolleginnen der SPD-Fraktion zusammengesessen und über die Ereignisse diskutiert, die Paula Hagedorn als «beispielhaft für Korruption, Hintertreppenpolitik und Vertuschung» bezeichnete. Viele Parteifreunde glaubten an eine vorübergehende Erscheinung, andere warnten davor, dass ein Sturz Hitlers oder von Papens auch den Präsidenten zu Fall brächte, was die Entourage um den sechsundachtzigjährigen Volkshelden niemals zulassen würde. Die dritte Seite rief zum Kampf gegen die Rechten auf, doch überwogen die Stimmen, die zu einer vorläufigen Ruhe mahnten. Marlene schloss sich keiner dieser Gruppen an. Trotz ihrer sonst so großen Spontanität bevorzugte sie – ganz Juristin – zunächst die genaue Analyse, bevor sie eine Entscheidung traf. Sie hielt es für sinnvoll, die Entwicklung in den nächsten Tagen abzuwarten. Allerdings erschwerte ein aufsteigendes Unwohlsein ihr Denken.

Obwohl sie von Kopfschmerzen geplagt wurde, stimmte sie zu, Max am Abend zu einem Diner mit einem befreundeten Mandanten zu begleiten. Sie mochte Albert Goldmann, den Erben eines im Kaiserreich bekannten Finanzmaklers und späteren Privatbankiers, der einst Kommilitone von Max und damit auch ein Student ihres Vaters gewesen war. Außerdem freute sie sich auf die zu erwartende exklusive Ruhe im Hotel Adlon. Vor ihrem Haus am Steinplatz fanden seit Stunden ebenso lautstarke wie bedrohliche Diskussionen zwischen Studenten der gegenüberliegenden Musik- und Kunsthochschule über den neuen Kanzler statt. Diesem Lärm wollte Marlene nach den hitzigen Gesprächen der vergangenen Nacht gerne für ein paar unterhaltsame Momente entfliehen.

Die Fahrt nach Unter den Linden erwies sich in dieser Hinsicht jedoch als wenig erfolgreich. Gleich beim Einsteigen erklärte der Taxichauffeur seinen Fahrgästen: «Die Charlottenburger Chaussee is’ jesperrt, da komm ick nich durch. Ick muss den Tierjarten umfahren und dann können wa nur hoffen, dass die Fackelträger nich das Rejierungsviertel belajern.» Er ließ seinen Wagen in Richtung Bahnhof Zoo rollen. «Dit is’ wie Karneval.»

Durch das Seitenfenster beobachtete Marlene unzählige Männer und Frauen auf der von Gaslaternen erleuchteten Straße, die wie von einem reißenden Strom mitgerissen wirkten, der an ein dunkles Ufer zu schwappen schien. «So viele Menschen …!», murmelte sie, Es mussten Hunderte sein. Nein, Tausende.

Max ergriff Marlenes Hand. «Du hast es doch gehört: Das ist wie Karneval. Nur eine vorübergehende Attraktion.»

Das mulmige Gefühl in ihrem Magen ließ nicht nach. Seine beruhigenden Worte verfehlten ihre Wirkung. Die Massen, die nach Mitte strömten, machten ihr Angst.

Je näher sie dem Hotel Adlon und damit auch dem Regierungsviertel kamen, desto größer wurde der Andrang, ein Durcheinander an Uniformierten und Zivilisten, die sich auf den Straßen rund um das Brandenburger Tor drängten, viele hielten Fackeln in den Händen und über die Köpfe der Passanten – eine in der abendlichen Dunkelheit schwarze Masse mit gelben Punkten dazwischen. Obwohl sie von hinten an das Hotel heranfuhren, schien es Marlene, als spielte die wohl zu dem Aufmarsch gehörende Militärkapelle ihre Märsche direkt neben ihr. In dem Lärm aus Trommelwirbel, Gegröle und immer wieder Beifall erkannte sie das Lied aus dem Großen Krieg: «Siegreich wollen wir Frankreich schlagen». Du lieber Himmel, was für ein Affront, fuhr es ihr durch den Kopf. Und das auf dem Pariser Platz, direkt vor der Französischen Botschaft. Marlene konnte nicht verhindern, dass ein eisiger Schauer über ihren Rücken zog.

Der Hoteleingang wurde von Polizisten versperrt. Angesichts der Dame in Pelz und Abendkleid neben dem Herrn im Smoking unter dem offenen Mantel gaben die Schupos den Zutritt unverzüglich frei. Doch trotz der Einlasskontrolle glich das Foyer einem Bienenschwarm. Die eleganten Gäste drängten sich zu den Räumen, deren Fenster einen freien Blick auf das Brandenburger Tor ermöglichten. Selbst honorige Herrschaften benutzten ihre Ellenbogen für eine bessere Sicht auf das Spektakel zur Feier des neuen Reichskanzlers. Die Exklusivität des Hotels schien sich nur noch in der Garderobe der Klientel auszudrücken. Deren Begeisterung entsprach der des Volkes auf der Straße.

Albert Goldmann war ein mittelgroßer Mann mit einem gewaltigen, früh ergrauten Haarschopf unter einer Haut, die stets wie sonnengebräunt wirkte. Er erwartete Max und Marlene in dem kleinen Saal gleich neben der Hallenbar. In diesem holzgetäfelten Raum mit den in weißem Leinen eingedeckten runden Vierertischen war es ruhiger und intimer als im eigentlichen Restaurant und dem Wintergarten, es gab keine musikalischen Einlagen, und die Gespräche wurden leiser geführt. Die Aussicht ging auf den Innenhof hinaus, was den Aufenthalt in diesem Teil des Adlons für die meisten Besucher heute Abend wohl weniger interessant machte, deshalb war es hier zwar gut besucht, aber nicht überfüllt.

Mit einem Seufzen ließ sie sich auf dem Stuhl nieder, den der Kellner für sie zurückgeschoben hatte. «Es tut mir leid, dass wir zu spät sind. Auf den Straßen ist die Hölle los.»

Max warf einen raschen Blick auf den Bediensteten. Während er Platz nahm, sagte er lächelnd: «Es ist eben wie Karneval.»

«Und im Adlon scheint der größte Faschingsball gefeiert zu werden», stimmte Goldmann zu. «Wie gut, dass wir nicht mehr in dem Alter sind, dass uns solche Frivolitäten von den Stühlen reißen.» Die Zweideutigkeit seiner Bemerkung verstand Marlene sofort.

Die Kellner brachten die Menükarten und Champagner, während die kleine Gesellschaft sich über das Wetter unterhielt: «So eine Kälte! Im Havelland wurden minus zwanzig Grad gemeldet.» Dann wechselte man zur Grippewelle. «Täglich werden in Berlin bis zu sechshundert Neuinfektionen gemeldet. Ist das nicht schrecklich?» Die rasch steigenden Zahlen weckten Erinnerungen an die Spanische Grippe, die gegen Ende des Großen Krieges zu viele Menschenleben gefordert hatte. Goldmann kam auf das Wetter zurück: «Damals waren die Temperaturen nicht so niedrig. Es war viel wärmer.» Dann hob er sein Glas, und die vier stießen miteinander an.

Marlene hustete, bevor sie an ihrem Glas nippte. Die Kohlensäurebläschen brannten zwar in ihrem Hals, aber das kühle Getränk tat ihr gut, und sie nahm beherzt einen weiteren Schluck.

Von dem Personal endlich alleine gelassen, kam Albert Goldmann ohne weitere Umschweife auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: «Ich habe Sie beide hierhergebeten, weil ich meine finanziellen Angelegenheiten neu regeln möchte.» Er sah Marlene direkt an: «Sie haben Kontakte nach Frankreich, soviel ich weiß, und ich möchte einen Teil meiner Mittel dorthin verlagern.»

Sie wollte protestieren, dass sich ihre Kontakte auf die Kommunikation mit den französischen Frauenverbänden beschränkten und sie von dem dortigen Bankwesen keine Ahnung besaß. Seit ihrem Jurastudium in Paris waren fast dreißig Jahre vergangen, sie hatte damals kaum Freundschaften zu anderen Studierenden gepflegt, und die wenigen waren später eingeschlafen oder durch den Großen Krieg zerstört worden. Doch sie schwieg – auch weil Max stumm nickte. Dabei war er kein Fachmann in Wirtschaftsrecht. Seit seiner Verteidigung im Fall der sogenannten Schüler-Tragödie von Charlottenburg war aus dem ursprünglich angesehenen Rechtsanwalt für Erbangelegenheiten ein erfolgreicher Strafrechtler geworden. Ihr Mann stellte sicher auch heute noch eine gute Wahl für die Regelung eines Nachlasses dar, nicht aber für den Transfer größerer Summen ins Ausland.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, fügte Goldmann hinzu: «In erster Linie brauche ich für mein Vorhaben Menschen, denen ich bedingungslos vertrauen kann. Alles Weitere wird sich finden.» Er blickte auf die aufgeschlagene Karte vor sich, sah wieder zu Marlene auf und lächelte sie an: «Aber jetzt sollten wir erst einmal bestellen. Sonst bekommen die Kellner noch große Ohren, weil sie sich wundern, was wir ausgerechnet heute so lange zu besprechen haben, während alle Welt den neuen Reichskanzler zu feiern scheint.»

«Diskretion ist unser höchstes Gebot», versicherte Max mit gesenkter Stimme. Dann lächelnd und lauter: «Genuss ist eine Disziplin, die wir gerne pflegen. Ich denke auch, dass wir bestellen sollten. Marlene, was hältst du von dem Steinbutt? Davor nehmen wir auf jeden Fall eine Suppe, nicht wahr? Rinderbouillon vielleicht …?» Er plauderte über das Essen, als wäre es das wichtigste Thema des Abends.

Marlene verspürte keinen Hunger und hatte auch keine Lust, sich mit der Speisenfolge auseinanderzusetzen. Sie dachte vielmehr darüber nach, was einen hoch angesehenen Mann wie den Bankier bewegen mochte, einen scheinbar illegalen Weg zu wählen. Seit der Weltwirtschaftskrise herrschte im Deutschen Reich Devisenbewirtschaftung, Geld und Edelmetalle konnten nur mit Genehmigung der Reichsbank ausgeführt werden, bei einer Zuwiderhandlung drohten hohe Gefängnisstrafen. Es war eine dieser Notverordnungen gewesen, die am Parlament vorbei durchgedrückt worden waren, um den Geldtransfer ins Ausland einzuschränken. Die von Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette hatten in den vergangenen fünf Jahren mehr Gesetze ohne die Zustimmung des Plenums beschlossen als mit. Marlenes liberalem Denken widersprach jeder Zwang, als SPD-Abgeordnete hatte sie damals jedoch die Handhabe von Reichskanzler Brüning vom Zentrum hinsichtlich des Geldtransfers toleriert, um eine Auflösung des Reichstags zu verhindern. Außerdem schien auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise eine ausländische Kapitalflucht fatal und die Hoffnung auf eine notwendige Aussetzung der Reparationsforderungen der Alliierten groß. Im Mai vorigen Jahres hatte Heinrich Brüning dann aber nach vielen Fehlentscheidungen gehen müssen, wirtschaftliche Not und scharfe Regulierung des internationalen Zahlungsverkehrs waren geblieben.

«Kunstwerke», sagte Max nach der Bestellung plötzlich unvermittelt. «Die Kunst ist eine vortreffliche Währung.»

«Der Zoll geht seiner Tätigkeit sehr beflissen nach», meinte Goldmann trocken. «Gegen das deutsche Beamtentum lässt sich wirklich nichts sagen.»

«Leihgaben für eine Ausstellung werden toleriert», warf Marlene ein. «Wenn etwa eine Galerie in Paris Gemälde aus Deutschland anfordert, sollten diese offiziell ausgeführt werden dürfen.»

Max blinzelte ihr anerkennend zu. «Ich rate allerdings von einer Kooperation mit einem großen Museum ab, eher eine Nummer kleiner. Das mindert das Aufsehen.»

Die Unterhaltung wurde von dem Getränkekellner unterbrochen, der den zuvor bestellten Riesling servierte. Nachdem der Gastgeber probiert hatte und wohlwollend nickte, wurde der Wein in die Gläser von Max und Marlene gefüllt. Mit ernster Miene stieß Marlene mit den beiden Männern an. Ihr war klar, dass ihr allein wegen ihrer Sprachkenntnisse eine zentrale Rolle in dem Handel zukam. Und plötzlich erinnerte sie sich an eine Kunsthandlung in Paris, die sie als Studentin nur deshalb besucht hatte, weil das Geschäft von einer Frau geführt worden war. Das war lange her, aber sie war sich sicher, dass die Galerie von Berthe Weill noch existierte. Die Frage war viel eher, wo Max auf die Schnelle passende Bilder der modernen Kunst auftreiben wollte, die für eine Transaktion an der Devisenregelung vorbei taugten. Albert Goldmann musste ja erst einmal auf Einkaufstour gehen, ohne den Behörden aufzufallen, um die Exponate anschließend ins Ausland zu schaffen und dort wieder zu Geld zu machen. Wie er den fehlenden Rücktransport später erklärte, würde sich finden. Sie würde erst einmal in Erfahrung bringen müssen, was auf dem ausländischen Markt gerade gefragt war und mit welchen Künstlern eine Ausstellung kurzfristig zu organisieren war – wenn diese auch möglicherweise nur auf dem Papier stattfand.

«Ich habe eine Idee», erklärte sie, als sie ihr Glas absetzte. «Es gibt in Paris eine Frau, mit der ich mich in Verbindung setzen könnte.»

«Beantragen Sie doch morgen gleich ein Visum», schlug Goldmann vor. «Dann können Sie nach Paris fahren und die Angelegenheit vor Ort persönlich klären. Außerdem schätze ich es sehr zu wissen, dass ich gegebenenfalls von meiner Anwältin auf einer anstehenden Reise begleitet werden könnte. Ich habe mein Französisch leider so vernachlässigt, dass ich Ihrer Übersetzungskünste bedarf.»

Marlene tauschte einen raschen Blick mit Max. Dann nickte sie. Es war lange her, dass sie Paris besucht hatte. Ihre Hochzeitsreise hatte sie nach Venedig geführt, denn Paris gehörte zu ihrer Erinnerung an Justus von Ostwald, nicht zu ihrer Ehe mit Max. Ein paar Tage an der Seine zu verbringen, um einem jüdischen Bankier einen Transfer erheblicher Mittel nach Frankreich zu ermöglichen, war jedoch etwas anderes. Die Vorbereitungen würden einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die schnelle Beschaffung der notwendigen Dokumente konnte gewiss nicht schaden. Unwillkürlich ergriff Sehnsucht nach der französischen Hauptstadt ihr Herz. Wie sehr hatte sie Paris geliebt! Und Justus …

Von der Bar schallte Beifall herüber und unterbrach Marlenes emotionalen Ausflug in die Vergangenheit. Dann dröhnte eine Männerstimme: «Portier! Wir wollen ein Telegramm aufgeben und Reichstagspräsident Hermann Göring zum Sieg gratulieren …!»

Ungeachtet ihrer Kopfschmerzen, griff Marlene nach ihrem Weinglas und stürzte den Inhalt mit einem einzigen Schluck ihre Kehle hinunter.

27./28. Februar 1933 – Berlin

5

Mit jedem Tag ging es Marlene schlechter. Zu den Kopf- und Halsschmerzen kamen Fieber und Husten. Sie fühlte sich schlapp wie nie zuvor und konnte schließlich nicht mehr arbeiten – die Akten, die Max ihr widerwillig ins Schlafzimmer brachte, glitten ihr aus den Händen. «Es ist nur eine Erkältung», behauptete Marlene. «Die habe ich mir bestimmt nach dem Presseball geholt, als ich mit offenem Mantel durch die Kälte gelaufen bin. Mach dir keine Sorgen!»

Doch Max hörte nicht auf sie und rief den Hausarzt. Der diagnostizierte eine Grippeinfektion. Kein Wunder, die Influenza grassierte derzeit. Bettruhe, die Einnahme von Aspirin und regelmäßiges Inhalieren sollten die Symptome lindern. Marlene wollte zwar dagegen aufbegehren, fühlte sich aber zu schwach und gab kläglich nach.

Ende Februar ging es ihr nicht wesentlich besser. Das sei normal, beruhigte der Arzt, die Erkrankung verlaufe moderat. Für Marlene, die stets gesund und tatkräftig gewesen war, stellte die Bettruhe eine Geduldsprobe dar, der sie sich nur unterzog, weil sie körperlich nicht anders konnte. Heißer Tee, ein Schal und eine Wärmflasche halfen ihr neben Medikamenten und Gesichtsdampfbädern, die Tage zu überstehen und die Nächte nach einer Weile sogar wieder durchzuschlafen.