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Die Frauen vom Reichstag ist ein fesselnder historischer Roman über mutige Frauen, die für ihre Rechte und ihre Liebe einstehen – hervorragend recherchiert und mitreißend erzählt von Bestsellerautorin Micaela A. Gabriel. Berlin, 1918: Mit dem hart erkämpften Frauenwahlrecht geht für die engagierte Juristin Marlene von Runstedt ein Lebenstraum in Erfüllung. Ermutigt von ihrem Vater, einem renommierten Rechtsprofessor, tritt sie der neu gegründeten liberalen DDP bei – ein mutiger Schritt für eine Frau in dieser Zeit. Doch mitten in die politische Aufbruchsstimmung platzt Justus von Ostwald, dem Marlene einst das Herz brach. Trotz seiner Beziehung zu Marlenes Jugendfreundin und nunmehr politischer Widersacherin, der Schauspielerin Sonja Grawitz, sind Marlene und Justus sich nach wie vor innig verbunden. Während der Wahlkampf der Frauen Fahrt aufnimmt und Marlene mit Leidenschaft für ihre Überzeugungen kämpft, vermischen sich ihre politischen Ambitionen immer mehr mit ihrer Zuneigung zu dem charismatischen Offizier. In einer Welt im Wandel muss Marlene nicht nur um ihr privates Glück, sondern auch um ihren Platz in der Politik ringen.
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Seitenzahl: 538
Veröffentlichungsjahr: 2022
Micaela A. Gabriel
Roman
Die Zeit der Frauen
Berlin, 1918: Mit dem Frauenwahlrecht erfüllt sich für die Juristin Marlene von Runstedt ein Lebenstraum. Endlich wird ihre Stimme gehört, endlich kann sie etwas bewegen! Ermutigt vom Vater, einem Rechtsprofessor, tritt sie der neu gegründeten liberalen DDP bei – ein großer Schritt für eine Frau. Mitten in die Aufbruchsstimmung platzt Justus von Ostwald, dem Marlene vor Jahren das Herz brach. Dennoch sind sie sich nach wie vor innig verbunden – auch Justus’ Beziehung zu der Schauspielerin Sonja Grawitz, Marlenes Jugendfreundin und nunmehr politische Widersacherin, ändert nichts daran. Marlenes Ambitionen vermischen sich immer mehr mit ihrer Zuneigung zu dem schnittigen Offizier. Und während der Wahlkampf der Frauen Fahrt aufnimmt, kämpft Marlene nicht nur politisch, sondern auch privat um ihr Glück …
Der Auftakt einer mitreißenden Saga-Reihe um die mutigen ersten Frauen im Reichstag.
MICAELA A. GABRIEL wurde in Hamburg geboren und wuchs in München und Lugano/Tessin auf, wo sie als Teenager ihre ersten Schreibversuche unternahm. Nach Sprachenstudium und Zeitungsvolontariat arbeitete sie als Redakteurin, bevor sie sich dem Romaneschreiben widmete. Unter ihrem Mädchennamen Micaela Jary gelangen der Autorin zahlreiche große Erfolge. Als Michelle Marly stand sie mit ihrem Roman «Mademoiselle Coco und der Duft der Liebe» fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Richard Jenkins
ISBN 978-3-644-01055-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Im Gedenken an
Lore Agnes, Marie Baum, Gertrud Bäumer, Margarete Behm, Anna Blos, Minna Bollmann, Elisabeth Brönner, Hedwig Dransfeld, Wilhelmine Eichler, Elise Ekke, Anna von Gierke, Frieda Hauke, Else Höfs, Anna Hübler, Marie Juchacz, Wilhelmine Kähler, Katharina Kloss, Gertrud Lodahl, Frida Lührs, Ernestine Lutze, Clara Mende, Agnes Neuhaus, Antonie Pfülf, Johanne Reitze, Elisabeth Röhl, Elfriede Ryneck, Minna Schilling, Käthe Schirmacher, Maria Schmitz, Louise Schroeder, Clara Schuch, Anna Simon, Johanna Tesch, Christine Teusch, Helene Weber, Marie Zettler, Luise Zietz.
Diese Frauen wurden 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt.
Es waren die ersten Parlamentarierinnen im Deutschen Reichstag.
Prolog
Gott sei Dank war sie eine Frau!
Marlene von Runstedt registrierte mit einer gewissen Erleichterung, dass sie in dem Getümmel unsichtbar zu sein schien.
Frauen standen nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, die Schaulustigen vor dem Bahnhof wollten prominente Politiker wie Matthias Erzberger sehen, Ulrich von Brockdorff-Rantzau oder Philipp Scheidemann. Selbst die zweite Garde unter den Männern sorgte für mehr Aufruhr als eine einzige Frau. Das war zwar erstaunlich, weil sich zum ersten Mal in der Geschichte der Republik auch Parlamentarierinnen auf den Weg zu einer Sitzung machten, aber Marlenes Geschlecht bot ihr in dem Gedränge vor dem Militärbahnhof tatsächlich einen gewissen Schutz. Volkes Zorn, Neugier oder Bewunderung – je nach politischer Couleur – galt den männlichen Vertretern der Demokratie, nicht der Gleichberechtigung. Seit Monaten herrschte ständig und überall Chaos in Berlin, als gäbe es nirgendwo ausreichend Platz, keine öffentliche Ordnung für die Anwohner, Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer und -versehrten, die in die riesigen Vorstädte und in die Hauptstadt strömten.
Automobile, Fahrräder und die vor die Fuhrwerke gespannten Pferde schlitterten in einer endlos wirkenden Prozession über die von frisch gefallenem Schnee bedeckte, schmierige Fahrbahn der Kolonnenstraße; Polizei und Freikorps gelang es nur mit Mühe, die Menge zurückzudrängen und ein Spalier für die Fahrgäste nach Weimar zu bilden. Der Sonderzug wurde aus Sicherheitsgründen nicht vom Anhalter Bahnhof, sondern an der Haltestelle in Schöneberg in Betrieb gesetzt. Gaffer und Protestierende fanden sich dennoch in unüberschaubar großen Gruppen ein, es gab Rangeleien, Hurra- und Buh-Rufe und die Reisenden kamen kaum unbehelligt zu ihrem Gleis. Jedenfalls die männlichen Abgeordneten. Auch die Politikerinnen sollten mit der zu diesem Anlass eigens in Betrieb genommenen Eisenbahn zur ersten Sitzung der Nationalversammlung von Berlin nach Weimar fahren. Doch sie waren meist nicht so bekannt und sicher nicht so selbstbewusst wie die altgedienten Vertreter ihrer Parteien und drängten sich weniger ins Rampenlicht.
Marlene stand etwas abseits der größeren Gruppen auf der anderen Straßenseite vor einem Schuhmachergeschäft, dessen Rollläden heruntergelassen waren, obwohl es ein Dienstag und Arbeitszeit war; der Schuster sorgte anscheinend gegen mögliche Plünderer vor. Dank ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße beobachtete Marlene das Geschehen über die Köpfe oder Schultern der Schaulustigen hinweg. Ihr Blick fiel auf ihre eigene Spiegelung in einer nahe gelegenen Fensterscheibe und sie nutzte die Gelegenheit, sich zum wohl dutzendsten Mal kritisch zu begutachten. Sie wirkte wie eine unbeteiligte Passantin, irgendeine Person aus dem Bürgertum, niemand von Bedeutung. Ihr schwarzer Wollmantel war zwar aus gutem Stoff, wie es sich für eine Dame der besseren Gesellschaft gehörte, aber so schlicht, dass er ebenso wenig als Extravaganz auffiel wie das dunkle Kostüm und die cremefarbene Seidenbluse darunter, die nun freilich durch einen Schal verdeckt wurde. Ihr aschblondes Haar steckte unter einem Glockenhut, dessen schmale Krempe ihrem fein geschnittenen und trotz ihres Alters von knapp achtunddreißig Jahren fast faltenfreien Gesicht einen ausreichenden Schutz gegen das Schneegestöber bot. Dennoch haftete eine Flocke an den Wimpern ihrer dunkelblauen Augen. Einigermaßen zufrieden mit sich, richtete sie den Blick nun wieder auf den Bahnhofseingang und hob gedankenverloren die Hand, um sich über ihre Lider zu streichen.
«Verzeihung!» Die weibliche Stimme neben Marlene klang viel zu energisch, um tatsächlich um Entschuldigung zu bitten. «Wissen Sie, ob es noch einen anderen Weg zur Eisenbahn gibt als durch diesen Menschenauflauf?»
«Nein, tut mir leid, ich kenne mich nicht aus», erwiderte sie, ohne sonderlich darüber nachzudenken. Erst als die Antwort schon über ihre Lippen war, betrachtete sie die anscheinend ortsunkundige Fragestellerin genauer: eine relativ große, hagere Frau um die vierzig, nicht schön, aber dank hoher Wangenknochen, kluger meerblauer Augen und eines großen, geschwungenen Munds interessant. Sie trug Hut und Mantel wie Marlene. Angesichts des Koffers, den sie im Matsch zu ihren Füßen abgestellt hatte, wurde Marlene nun doch neugierig und fragte: «Wollen Sie nach Weimar fahren?»
Die Fremde nickte. «Ja, ich will nach Weimar. Sie auch, nicht wahr? Oder tragen Sie Ihrem Mann die Aktentasche hinterher?»
Unwillkürlich lächelte Marlene. Offensichtlich handelte es sich bei der energischen Person um eine frisch gewählte Parlamentarierin wie sie.
Bevor sie etwas sagen konnte, streckte ihr die andere die Hand entgegen. «Ich bin Paula Hagedorn aus Hamburg. SPD.»
Marlene ergriff die Hand, die ebenso zupackend wirkte wie die gesamte resolute Erscheinung der Frau. «Marlene von Runstedt. Sehr erfreut.» Sie fühlte einen Ehering an Paula Hagedorns Finger.
«Für welche Partei treten Sie an? Für die Deutschnationalen?» Marlenes neue Bekannte stand zweifellos für die Abschaffung des Adels, ihr Ton war missbilligend und die Erwähnung der nationalkonservativen, kaisertreuen Volkspartei klang wie eine Anklage.
Unsere Demokratie sollte für die Meinungsfreiheit einstehen, fuhr es Marlene durch den Kopf, auch wenn mir oder anderen die ein oder andere Meinung nicht passt. Sie dachte an ein Voltaire zugeschriebenes Zitat, das eigentlich von einer britischen Schriftstellerin stammte, die seine Biografie geschrieben und Marlene zutiefst beeindruckt hatte: «Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.»
«Evelyn Beatrice Hall», erwiderte Paula Hagedorn prompt.
«Oh!» Marlene war nicht bewusst gewesen, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. Vor allem aber verwunderte sie die Bildung der Fremden.
«Sie publizierte unter dem Pseudonym S.G. Tallentyre, weil es einer Frau nicht zustand, über einen der berühmtesten Männer des achtzehnten Jahrhunderts zu schreiben. Oder überhaupt zu schreiben. Im Grunde durfte sie ja nicht einmal eine eigene Meinung haben, geschweige denn die große Persönlichkeit Voltaires in einem einzigen Satz zusammenfassen. Aber damit ist Miss Hall natürlich kein Einzelfall. Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade in die Nationalversammlung gewählt werden, Fräulein Runstedt?»
«Doktor von Runstedt. Ich bin Juristin. Und ich bin Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei.»
«Na, da habe ich ja die Richtige getroffen. Eine promovierte Liberale. Das ist zumindest beides sympathischer als Ihr Adelsprädikat …»
Marlene schnappte nach Luft, protestierte aber nicht. Sie war nicht mit dem Titel geboren worden, ihr Vater war wegen seiner Leistungen als Professor der Rechtswissenschaften an der Friedrich-Wilhelm-Universität vom Kaiser nobilitiert worden und durfte das «von» vor dem Nachnamen nicht nur selbst führen, sondern auch vererben. Da ihre Brüder im Krieg gefallen waren, würden Name und Briefadel irgendwann mit ihr aussterben. Aber das erklärte sie ihrer neuen Bekanntschaft nicht. Sie kam nicht einmal dazu, irgendetwas zu entgegnen, da Paula Hagedorn offenbar ohne Scheu von sich sprach.
«Wissen Sie, ich bin Autorin, und ich habe etliche Artikel für meinen Mann geschrieben, die natürlich unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Deshalb liegen mir die Frauen, die sich nicht verwirklichen dürfen, weil sie Frauen sind, persönlich am Herzen …»
«Ich koordiniere das Kartell der Auskunftsstellen für Frauenberufe in Berlin», warf Marlene rasch ein, als die andere kurz durchatmete. Es war lächerlich, mit ihren Funktionen brillieren zu wollen, aber diese kleine Eitelkeit gönnte sie sich: «Mit meiner Arbeit ist auch die Rechtsberatung für berufstätige Frauen verbunden.»
Tatsächlich schien Paula Hagedorn beeindruckt. Oder zumindest besänftigt. Als sie lächelte, verwandelte der große Mund ihr Gesicht – es erstrahlte zu unerwarteter Schönheit. «Dann haben wir ja ein gemeinsames Thema», meinte sie. Sie neigte den Kopf in Richtung der Menschenmassen auf der anderen Straßenseite. «Wollen wir uns in das Getümmel stürzen? Hoffentlich finden wir noch ein freies Abteil, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.»
Marlene zögerte. Sie hatte eigentlich lesen und die Fahrt nach Weimar nicht mit Geschwätz verbringen wollen. Doch eine Reisebegleiterin wie Paula Hagedorn war sicher unterhaltsamer als die Lektüre von Akten, außerdem konnte die Bekanntschaft mit der Abgeordneten einer anderen Partei, zumal einer Sozialdemokratin, ein guter Anfang für die sicher notwendige parlamentarische Zusammenarbeit sein. Einige der Frauen von den Wahllisten kannte Marlene bereits von ihrer Arbeit in den verschiedenen Frauenvereinen und man würde sich gewiss untereinander verständigen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit.
Ihr Blick wanderte unruhig umher, als könne sie irgendwo die Antwort auf ihr Dilemma finden. Die aus östlicher Richtung wehende Brise frischte auf und wirbelte Papierfetzen mit dem Schnee über die Straße. Die Schnipsel sanken schließlich auf den feuchten Asphalt, wo die Flocken schnell zerschmolzen, und wurden von Hufen und Stiefelsohlen zertrampelt. Anscheinend hatte irgendjemand ein Plakat von der Litfaßsäule an der Ecke abzureißen versucht. Auf dem Rest stand in Blocklettern:
GANZ BERLIN TANZT UND DREHT SICH AN JEDEM MITTWOCH, DONNERSTAG, SONNABEND, SONNTAG IN DEN …
Der Ort des Geschehens war nicht mehr lesbar. Kaum vorstellbar, dass sich ganz Berlin dem Vergnügen hingab. Die Menschen vor dem Militärbahnhof boten ein anderes Bild, fand Marlene. In der Vossischen Zeitung, die sich zusammengelegt in ihrer Tasche befand, hatte sie sogar von «neuen kommunistischen Putschplänen» gelesen. Aus Sorge vor Unruhen in der Hauptstadt waren die demokratisch gewählten Vertreter ja auch nach Weimar und nicht zum Reichstagsgebäude unterwegs …
«Falls Sie dabei sind festzufrieren, sollten wir uns schnellstmöglich zum Zug begeben.»
«Natürlich.» Marlene umfasste den Griff ihrer Tasche fester. «Lassen Sie uns zum Gleis gehen.»
Seite an Seite liefen die beiden Frauen über die Straße, nachdem sie zunächst einem Taxi die Gelegenheit gegeben hatten vorbeizufahren. Der Asphalt war glitschig und Marlene war dankbar für die ebenso dicken wie flachen Sohlen ihrer Stiefel, die zwar unvorteilhaft aussahen, aber das bessere Schuhwerk darstellten als hübsche Schnürstiefeletten mit hohem Absatz. Sie hatte sich für ihre erste Reise als Abgeordnete praktisch gekleidet, sie wollte niemandem gefallen. Zumindest optisch nicht. Die schlichte Garderobe ohne jeden Schick ließ für den Betrachter ihrer Person keinen Gedanken daran aufkommen, dass sich hinter der spröden Fassade eine attraktive Frau verbarg. Schon früh hatte sie lernen müssen, auf alles zu verzichten, was von ihrem geschliffenen Geist ablenkte.
In der Masse blieben sie weiterhin unsichtbar. Selbst die Schutzleute, die die wogende Menge zurückzudrängen versuchten, betrachteten Marlene und Paula wohl mehr als Vordrängler denn als den Politikern zugehörig. Damit beschäftigt, eine Kette zu bilden und sich gegen die Demonstranten zu stemmen, fragten die Wachmänner nicht nach ihrer Legitimation. Marlene hielt sich dicht an ihre neue Bekannte, die ihre Ellenbogen ruppiger einsetzte und sich nicht mit freundlichen Floskeln aufhielt, als sie ihnen beiden einen Weg durch die vielen Menschen bahnte. Die unterschiedlichsten Kommentare dröhnten in Marlenes Ohren, Hochrufe und Stammtischparolen, Ausdrücke der Missbilligung und der Sensationslust. Erst als ein spitzer Schrei und wüste Beschimpfungen Marlene erreichten, wurde ihr bewusst, dass sie doch aufgefallen war – allerdings nur, weil sie einer Weibsperson buchstäblich auf die Füße getreten war. Als sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln umwandte, griff Paula energisch nach ihrem Arm und zerrte sie weiter. Marlene folgte ihr widerstandslos. Für Höflichkeit war es tatsächlich wohl weder der rechte Zeitpunkt noch der richtige Ort.
«Halt!» Der Eingang unter dem linken Turm des imposanten Bahnhofsgebäudes wurde, wie die anderen Türen auch, von Soldaten gesichert. Die Prominenz strömte durch das Mitteltor zum Gleis und in den Salonwagen, deshalb war es hier etwas ruhiger. Umso mehr Aufmerksamkeit widmete die Wache den beiden Frauen. «Sie können hier nicht durch. Der Bahnhof ist für Zivilpersonen gesperrt.»
«Abgeordnete und Journalisten haben Zugang», widersprach Paula mit fester Stimme. «Auf mich trifft beides zu und auf meine Kollegin nur eines von beiden, aber das genügt.»
«Ausweis!» Der Befehl klang wie ein Bellen.
Paula hielt die Dokumente, die sie zum Zutritt berechtigten, bereits in der Hand. Sie waren ein bisschen zerknittert, erfüllten ihren Zweck aber trotzdem. Marlene kramte ihren Passierschein umständlich aus der Tasche. Als Juristin war sie es gewohnt, sorgfältig mit Papieren umzugehen und sie so zu verwahren, dass sie stets wie neu aussahen. Eine prompte Reaktion wie die von Paula war ihr daher nicht möglich, auch wenn sie die andere zutiefst um ihre Fähigkeit zu Überraschungsangriffen beneidete.
Hinter ihnen sammelten sich ein paar Reisende, ein Pressevertreter rief lauthals den Namen seiner Zeitung und forderte sofortigen Zutritt. Marlene spürte die Schlange in ihrem Rücken, spürte die Ungeduld, ohne dass sie auch nur einem Menschen ins Gesicht sah. Mit einem Seufzer der Erleichterung folgte sie Paula, nachdem ihr der Soldat die Fahrerlaubnis nach Weimar zurückgegeben hatte und sie anschnauzte, sie solle endlich weitergehen.
Auf dem Bahnsteig herrschte ein ähnliches Gedränge wie auf der Straße, die Gesellschaft unterschied sich jedoch deutlich: Hier schoben Gepäckträger ihre Karren zwischen Wachleuten und Passagieren an dem bereitgestellten Zug entlang, die Reisenden waren überwiegend Herren mit Hut und Mantel, kaum Frauen; Reporter eilten mit und ohne Fotoausrüstung von Waggon zu Waggon, wohl auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Trotz der allgemeinen Hektik wirkte das Bild auf Marlene seltsam friedlich. Am liebsten wäre sie für einen Moment stehen geblieben und hätte diese Stimmung in sich aufgesogen. Es war ein anderer Trubel als der der revoltierenden Arbeiter und Soldaten bei Kriegsende und während des Spartakusaufstands, erinnerte auch nicht an die teils chaotische Heimkehr vieler Armeeangehöriger. Für einen Moment wirkte die Szenerie erstaunlich normal, als hätte es keinen Krieg, keine Niederlage, keine Entbehrungen, nicht einmal eine demokratische Wahl gegeben. Marlene erwartete insgeheim eine Militärmusikkapelle wie jene, die seinerzeit regelmäßig Unter den Linden marschierte und «Die Wacht am Rhein» spielte, als Wilhelm II. noch über das Schicksal des Reiches bestimmt hatte. In der jungen Demokratie ersetzten das Stimmengewirr am Gleis und das zischende Puffen aus dem Schornstein der Lok die inoffizielle Nationalhymne des Kaiserreichs. Dennoch war Marlene nicht weniger bewegt, als sie sich wieder einmal bewusst machte, dass sie nun zu den Entscheidungsträgern des Landes gehörte. War es wirklich nur wieder eine Schneeflocke, die sich da an ihre Wimpern heftete?
«Wo bleiben Sie denn?»
Marlene hatte nicht bemerkt, dass sie langsamer geworden und Paula bereits zum Zug gelaufen war. Ihre neue Bekannte winkte sie zu einer offenen Waggontür heran.
«Kommen Sie. Kommen Sie. Hier scheinen noch freie Plätze zu sein.» Paula stieg ein, ohne sich ein weiteres Mal nach Marlene umzusehen.
Es war noch Zeit bis zu der Abfahrt. Marlene hätte lieber dem Treiben auf dem Bahnsteig zugesehen, statt sich schon in das Abteil zu setzen, in dem sie die nächsten Stunden verbringen musste. Niemand wusste genau, wie lange die Fahrt nach Weimar dauerte. Es herrschte in dem Sonderzug zwar wohl nicht die Enge der ansonsten unregelmäßig fahrenden, viel zu selten eingesetzten und daher überfüllten Linien für den zivilen Personenverkehr, doch Kohleknappheit und andere technische Probleme bestanden trotzdem.
Leicht unwillig folgte Marlene ihrer neuen Bekannten. Die Hamburgerin schien praktischer veranlagt als sie, was ein ganz guter Ausgleich war. Und sie liest über Voltaire, dachte Marlene.
Beherzt schob Paula gleich die erste Tür zu einem Abteil auf und erkundigte sich in einem Ton, der mehr Feststellung als Frage war: «Sind hier noch zwei Plätze frei?»
Hinter ihrer Begleiterin machte Marlene fünf offenbar unbesetzte Sitze aus – und einen Wagenradhut mit Pfauenfedern. Die riesige Kopfbedeckung verdeckte das Gesicht der Dame im Pelzmantel, die einen Fensterplatz eingenommen hatte und auf etwas starrte, das sie in Händen hielt, das aber vom Gang aus nicht genau erkennbar war. Vielleicht war es ein Notizbuch, eine gebundene Kurzgeschichte oder auch eine Fotografie in einem Etui. Nur unwillig schien sie die Finger davon zu lösen, bevor sie mit der Hand in der Luft herumwedelte. «Bitte …», murmelte sie.
Irgendetwas an ihrer Haltung und der Stimme ließ Marlene zusammenzucken. Es war nur eine kleine Unsicherheit, eine vage Vermutung. Beides genügte, um ihr Herz in ihre Magengrube sinken zu lassen.
«Danke vielmals», zwitscherte Paula honigsüß, bevor sie sich anschickte, ihren Koffer in das Gepäcknetz über dem Wagenradhut zu heben. Ganz offensichtlich missbilligte sie die mondäne Aufmachung der anderen Reisenden ebenso wie Marlenes Adelsprädikat.
Zwangsläufig bewegte die Dame ihren Kopf. Sie sah auf – und Marlene direkt an.
Marlene war klar, dass sie sich über kurz oder lang begegnen mussten. Sie hatte jedoch gehofft, sich für ein Wiedersehen wappnen zu können. Oder zumindest nicht so unvorbereitet zu sein wie in diesem Moment. Unwillkürlich wünschte sie, sie hätte nicht ihrer resoluten neuen Bekannten die Wahl ihrer Plätze überlassen, sondern sich selbst darum gekümmert. Dann hätte sie diesen Augenblick hinauszögern können. Doch nun war er da.
«Guten Tag», sagte Marlene und hoffte, in ihre Stimme so viel Professionalität zu legen wie bei der Begrüßung einer der Frauen, die sie in Rechtsfragen beriet. Dabei war die Dame mit dem großen Hut mehr für sie gewesen als eine Mandantin. Beste Freundin, dann Rivalin …
«Ich bin Paula Hagedorn aus Hamburg. SPD.» Nach ihrer Vorstellung sank Paula auf den anderen noch freien Fensterplatz. «Und wer sind Sie?»
Die Angesprochene schwieg. Sie starrte Marlene aus weit aufgerissenen Augen an. Schock und womöglich auch Abneigung spiegelten sich in ihrem Blick.
Von draußen wehten Bahnhofsgeräusche herein, das Rufen eines Schaffners, Zischen, Poltern, unverständliches Stimmengewirr.
Paula sah von der Dame gegenüber zu Marlene, die noch immer in der offenen Abteiltür stand. «Kennen Sie sich?»
«Wir sind uns schon einmal begegnet», erwiderte Marlene rasch, bevor ihr die andere zuvorkommen konnte. Ihre Antwort war untertrieben, denn es gab wenige Menschen, die ihr jemals so nahegekommen waren.
Eine hektische Bewegung, die kleine, ledergebundene Kladde fiel auf den Boden. Wahrscheinlich war es weniger Höflichkeit als die automatische Reaktion einer tatkräftigen Frau – Paula bückte sich danach und hob das Fundstück auf. Als sie sich vorbeugte und es der Frau zurückreichte, erkannte Marlene die Fotografie.
«War das Ihr Mann?», erkundigte sich die Hamburgerin eher mitfühlend als neugierig. Sie gebrauchte die Vergangenheitsform, offenbar nahm sie an, dass der abgebildete Offizier im Krieg gefallen war.
Die schönen dunklen Augen unter der breiten Hutkrempe flogen kurz zu dem Bild, dann wieder zu Marlene. Diesmal war es ein fester, unnachgiebiger, triumphaler Blick. «Der Herr ist mein Bräutigam.»
Marlene biss sich auf die Zunge, um nicht zu widersprechen.
Das Foto zeigte jenen Mann in preußischer Uniform, der sie schon lange liebte. Sie alle beide.
Seit über zwanzig Jahren schienen sie und Sonja Grawitz einen Wettstreit um seine Gunst auszufechten. An diesen Zustand hatte sich Marlene im Laufe der Jahre fast gewöhnt. Neu war vielmehr, dass ihre Rivalin ebenfalls in die Politik gegangen war. Es schien wie ein Zwang für die ehemalige Freundin, alles mit Marlene teilen zu müssen. Nicht nur den Mann. Auch dieses Metier. Nun, Marlene war bereit, sich darauf einzulassen.
Es war stockdunkel, die Straßenbeleuchtung funktionierte nicht und eine Wolke verdeckte den Mond. Das eine lag an einer offenbar abgestellten Gasleitung, das andere an dem sich verschlechternden Wetter. Die Bäume des Tiergartens verschmolzen mit dem Himmel, die schnurgerade Charlottenburger Chaussee wurde unter dem Nieselregen zu einem schimmernden Band. Niemand schien um diese späte Uhrzeit unterwegs zu sein. Und doch, dachte Marlene, konnte hinter jedem Strauch, hinter jeder aus schweren Pflastersteinen erbauten Barrikade ein Mann lauern, der es – verroht von einem fürchterlichen Krieg oder aus dem Zuchthaus befreit – auf ihren guten Mantel, ihre Handtasche, ihre Tugend oder gar ihr Leben abgesehen hatte. Vielleicht würde ein potenzieller Dieb auch ihr Fahrrad stehlen wollen, das einzige funktionierende Verkehrsmittel in einer großen Stadt, in der keine Straßenbahnen, Busse und auch keine Metro mehr fuhren. Für manche Menschen mochte es sich dafür zu töten lohnen.
Um nicht aufzufallen, hatte sie das Licht ausgeschaltet. Das barg zwar ein Risiko, aber die Finsternis verlieh ihr ein Gefühl von Unsichtbarkeit und gewährte ihr einen gewissen Schutz. Immer geradeaus, beschwor sie sich, während sie in die Pedale trat. Nicht nach rechts oder links gucken, nur geradeaus, das reicht. Sie horchte auf jedes Geräusch, zuckte beim Knacken eines Astes zusammen und geriet durch das Keckern eines Fuchses ins Schlingern. Doch sie kämpfte erfolgreich gegen ihre Furcht an. Inmitten der weitläufigen Parkanlage zwischen Berlin und Charlottenburg konnte sie ohnehin nicht stehen bleiben, sie musste so schnell wie möglich sicher nach Hause kommen, nachdem sie sich bei ihrem Treffen verplaudert hatte. Aber es gab auch so viel zu besprechen …
Das Geräusch eines Dieselmotors dröhnte heran. Jeden Moment konnten Scheinwerfer die Finsternis durchbrechen und sie ins Visier nehmen. Ohne darüber nachzudenken, riss sie den Lenker herum. Das Vorderrad blockierte, während das Hinterrad ausbrach. Marlene klammerte sich an die Griffe und wurde aus dem Sattel gehoben. Sie fiel mitsamt ihrem Gefährt neben die Straße in einen Haufen alter Blätter. Ihr stieg der Geruch von Moder in die Nase. Doch sie rührte sich nicht, blieb liegen und hoffte, nicht von den gelben Scheinwerfern erfasst zu werden, die dem Fahrer den Weg wiesen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den vorbeifahrenden Pritschenwagen, die Männer darauf wirkten wie eine bleierne, unförmige, uniformierte Masse. Sie bildete sich ein, das Aufglimmen einer Zigarette wahrzunehmen, aber vielleicht war das auch nur eine Illusion, weil Soldaten immer zu rauchen schienen, als bräuchten sie den Tabak zur Betäubung ihrer Sinne. Die Umrisse einer Fahne war erkennbar, die über den Köpfen der Männer wehte. Marlene konnte die Farben nicht genau erkennen, aber die Reichsflagge war es definitiv nicht, der breite weiße Mittelbalken würde in der Dunkelheit leuchten.
Als könne sie jeder Lufthauch verraten, hielt sie den Atem an. Seit Beginn des Aufstands der Matrosen- und Soldatenräte vor ein paar Tagen fürchtete sie sich vor der Unberechenbarkeit der einst glamourösen Truppen des Kaisers. Inzwischen hatte Wilhelm II. zwar abgedankt, im Berliner Regierungsviertel herrschten dennoch Anarchie und Revolution, überall wurde geschossen, und die Scharmützel erreichten sogar, wenn auch nur vereinzelt, das beschaulichere Charlottenburg. Es wurde protestiert und geplündert, für die Rechte der Arbeiter gestreikt und gleichzeitig rechte Freikorps gegen die Streiks gebildet; alten Offizieren wurden brutal die Kokarden von den Waffenröcken gerissen, und junge Soldaten schlangen sich rote Binden um die Arme. Die Gefängnistore öffneten nicht nur für politische Gefangene und aus den Villen in Zehlendorf wurde das Tafelsilber gestohlen. Wichtige Kreuzungen, Regierungsgebäude und seit gestern auch Zeitungsredaktionen in der Mitte der Hauptstadt waren von linken Truppen besetzt worden. Wer sich in das Regierungsviertel wagte, begab sich in Gefahr; tätliche Angriffe auf Zivilisten geschahen zwar nur selten, aber sicher konnte sich niemand fühlen. Schon gar keine Frau alleine am späten Abend, unterwegs auf der Verbindungsstraße zwischen dem Brandenburger Tor und dem Knie in der Vorstadt Charlottenburg.
Der Fahrer des Lastwagens beschleunigte, und der Truppentransporter raste davon.
Einen oder zwei Atemzüge lang blieb Marlene liegen. Vor Erleichterung holte sie tief Luft – und der Friedhofsgeruch des Blätterhaufens drehte ihr den Magen um. Unwillkürlich versuchte sie sich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz an ihrem Ellenbogen und in der Schulter warf sie fast wieder um. Langsam kam sie auf die Füße. Dabei stieß sie ihr Fahrrad zur Seite. Leise ertönte die Klingel. In der nun wieder eingekehrten Stille kam es Marlene so laut vor wie das Glockenläuten des Doms.
Sie rieb sich über ihren Arm, suchte mit den Fingern nach einem Riss im Stoff ihres Mantels. Doch der schien ebenso unversehrt wie der Rest ihrer Kleidung. Ihr Hut war heruntergefallen und sie bückte sich danach, tastete angewidert durch das feuchte Laub. Endlich fand sie ihre Kopfbedeckung, die nass und zerdrückt war, und schob sie nachlässig an Ort und Stelle. Dann hob sie ihr Fahrrad auf.
Glücklicherweise war der Rahmen intakt. Sie raffte ihren Rock und stieg in den Sattel. Ihre Knie revoltierten dagegen, doch Marlene trat kräftig in die Pedale. Bring mich nach Hause, flehte sie ihr Fahrrad stumm an, bring mich bloß schnell nach Hause.
Tatsächlich erreichte sie zehn Minuten später weitgehend unversehrt das herrschaftliche Gebäude am Steinplatz, in dem ihre Familie wohnte, seit sie denken konnte. Im Hochparterre befand sich die Kanzlei ihres Vaters, des Rechtsprofessors Hugo von Runstedt, im ersten Stock lebten er und Marlene in einer durch mehrere Schicksalsschläge stark verkleinerten Gemeinschaft. Als sie an der Fassade hinaufblickte, schien hinter den Fenstern nächtliche Ruhe zu herrschen.
Sie schloss die Haustür auf und schob ihr Fahrrad in den Flur, wo sie es in einer Nische abstellte. Eine Funzel wies ihr den Weg durch das stille Treppenhaus. Während sie die Stufen erklomm, meldeten sich wieder der Ellenbogen und die Schulter. Außerdem fiel ihr erst jetzt auf, dass sie vollkommen durchnässt war. Sie biss die Zähne zusammen und ging weiter zu ihrer Wohnung. Ihre Hand zitterte, der Schlüssel schlug gegen die Metallverkleidung des Schlosses.
Die Tür wurde von innen aufgerissen.
«Bist du von allen guten Geistern verlassen, erst jetzt nach Hause zu kommen?», stieß ihr Vater hervor. «Wo bist du gewesen?»
Professor Doktor jur. Hugo von Runstedt stand im Lichtkreis einer an sich mehrflammigen Deckenlampe, die aus Gründen der Stromersparnis jedoch nur mit einer einzigen Glühbirne bestückt war. Er trug seinen Hausmantel aus dunkelrotem Samt und ein auf den blauen Schalkragen abgestimmtes Einstecktuch in der Fronttasche, er hatte weder seinen Hemdkragen noch das passende Plastron abgelegt. Sein grau meliertes Haar war ordentlich gekämmt, was ebenfalls darauf schließen ließ, dass er noch nicht geschlafen und auf Marlenes Heimkehr gewartet hatte. Er starrte sie aus seinen von schweren Lidern bedeckten, wässrig blauen Augen wütend an.
«Es tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast», murmelte sie.
«Du siehst unmöglich aus!»
Langsam zog sie den nassen Hut von ihrem Kopf und überlegte, ob sie ihrem Vater von ihrem kleinen Sturz berichten sollte. Doch bevor sie sich dafür oder dagegen entscheiden konnte, kam er ihr mit einer weiteren Bemerkung zuvor: «Wo hast du dich herumgetrieben? Dein Gesicht ist schmutzig!»
Wenigstens gab er ihr durch sein unablässiges Gepolter die Möglichkeit, ihren schnellen Atem und ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Wüsste sie nicht, dass er nur ihr Wohl im Auge hatte, wäre sie versucht zu protestieren. Stattdessen rieb sie sich mit der freien Hand über das Gesicht. Sie lächelte kurz in sich hinein, als sie ein Herbstblatt von ihrer Wange zog.
«Ich bin vom Rad und in einen Laubhaufen gefallen», gestand sie schließlich. «Aber es geht mir gut, Vater, es ist nichts weiter passiert. Und ich bringe interessante Neuigkeiten», fügte sie mit erhobenem Ton hinzu, um die Wichtigkeit ihrer Nachricht deutlich zu machen.
«Hm», schnaubte er. «Hat deine Mitteilung Zeit, bis du dir den Mantel ausgezogen und dich gewaschen hast?»
Gehorsam knöpfte sie ihren Mantel auf, den Rest ignorierte sie. «Theodor Wolff möchte eine liberale Partei gründen», brach es aus ihr heraus. «Er ist der Chefredakteur des Berliner Tageblatts und …»
«Ich weiß, wer Theodor Wolff ist», knurrte ihr Vater.
«Ja. Natürlich. Ja», beeilte sie sich zuzustimmen. Im nächsten Moment gewann die Begeisterung für das Vorhaben wieder die Oberhand und sie fügte hinzu: «Die Partei will sich als liberale, fortschrittliche, demokratische, soziale und freiheitliche Kraft positionieren. Für diese Werte muss man einstehen, nicht wahr?» Marlene hörte selbst, dass sich ihre Stimme vor Aufregung beinahe überschlug.
Eine ihrer Getreuen im Bund Deutscher Frauen hatte zu einem Treffen in ihre Wohnung im Tiergarten-Viertel eingeladen. Glücklicherweise funktionierten die Telefone, der Weg mit der Rohrpost war derzeit unterbrochen. Für Marlene war die Teilnahme daher vor allem dem Wunsch geschuldet, nicht den Kontakt zu den anderen Frauen zu verlieren. Tagelang hatte sie sich in der Geborgenheit ihres väterlichen Umfelds wie ein- und ausgesperrt zugleich gefühlt: Ihr Büro im Kriegsamt war geschlossen, das Kartell der Auskunftsstellen für Frauenberufe verwaist. Es gab so wenig, das sie tun konnte, während sich Soldaten- und Arbeiterräte eine neue Stellung in der Gesellschaft wütend erkämpften. Die Neuigkeit, dass eine Partei gegründet werden sollte, die all die Werte vertrat, für die Marlene und andere Frauen des gehobenen Bürgertums schon im Kaiserreich gestritten hatten, war eine überraschende Perspektive in einer ansonsten perspektivlosen Zeit. Marlene spürte eine Hoffnung in sich aufsteigen, die sie seit der Proklamation des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen und der Abdankung des Kaisers zwei Tage später schon verloren geglaubt hatte. Vor allem, da die Initiatoren der Frauenbewegung nahestanden und den weiblichen Mitgliedern die Möglichkeit boten, Einfluss zu nehmen.
«Überall wollen sich Mitstreiterinnen in die Deutsche Demokratische Partei einbringen», fuhr Marlene fort. «Marie-Elisabeth Lüders, Alice Salomon, Gertrud Bäumer, Marianne Weber … Für alle kommt nur diese eine Partei infrage – und für mich natürlich auch.»
«Weißt du wirklich schon jetzt, wo deine politische Heimat ist?», zweifelte Hugo von Runstedt. Er schüttelte den Kopf. «Häng deinen Mantel auf und lass uns in meinem Zimmer sprechen. Der Flur ist kein Ort für eine derartige Unterhaltung.»
Marlene klappte ihren Mund auf und zu wie ein Fisch. Sie hatte ihrem Vater spontan widersprechen wollen, doch ein gewisser Respekt hielt sie davon ab. Dabei war sie überzeugt davon, in einer, wie es hieß, «liberalen, fortschrittlichen, demokratischen, sozialen und freiheitlichen» Organisation die Verwirklichung ihrer Ideen zu finden. Am liebsten hätte sie schon jetzt Eingaben zur Planung eines Parteiprogramms entworfen. Wie konnte ihr Vater annehmen, sie sei sich ihrer Meinung nicht sicher?
Entnervt verschwand sie in dem kleinen Vestibül neben der Eingangstür, in dem sich hinter einer Samtportiere die Garderobe befand. Nachdem sie ihren Mantel nachlässig über einen Haken geworfen hatte, marschierte sie entschlossen in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie würde wiederholen, dass die DDP die einzige infrage kommende Partei für eine Frau ihres Standes und ihrer Bildung war, dass sie die Möglichkeit wahrnehmen wollte, ein neues gesellschaftliches und politisches Gefüge mitzugestalten, dass ihre Stunde endlich gekommen war. Ihr Vater hatte ihre Ambitionen stets unterstützt, darüber hinaus war er wohl seit bald fünfzig Jahren ein Befürworter der Frauenbewegung. Seine Gattin, Marlenes verstorbene Mutter Josephine, hatte ihn darin bestärkt. Dennoch hatte es immer wieder Momente gegeben, in denen er Marlenes Karriere gezügelt hatte. Damit zwang er sie, eigene Wege zu gehen und sich nicht auf ihre Herkunft zu verlassen. Trotzdem war sie häufig wie sein Anhängsel behandelt worden. Aber ihre politische Zukunft wollte sie ganz gewiss nicht als sein Protegé beginnen. Sie war sich mit den Frauen einig geworden, die sie getroffen hatte. Ohne das Wissen Professor von Runstedts.
Im Lichtkreis einer runden Tischlampe wartete Hugo hinter seinem Sekretär. Als sich Marlene in den Besucherstuhl sinken ließ, verfolgte er mit den Augen jede ihrer Bewegungen. Schließlich erklärte er ohne Umschweife: «Die Absichten Theodor Wolffs und Alfred Webers haben nicht nur deine Freundinnen erreicht, sondern auch mich.» Eine gewisse Süffisanz war dabei nicht zu überhören.
«Das hätte ich mir denken können», entfuhr es Marlene. Sie war enttäuscht, weil er ihrer Überschwänglichkeit einen Dämpfer nach dem anderen versetzte.
Aber natürlich war ihr Vater über alles informiert, was hinter den Kulissen geschah. Er verfügte über hervorragende Verbindungen nicht nur in die einst höchsten Kreise bei Hofe und dem Militär, sondern offenbar auch zu einem einflussreichen Publizisten und dem berühmten Nationalökonomen Weber. Professor von Runstedt war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, dessen Rat von Bedeutung war, zumal er zu den Mitautoren des Bürgerlichen Gesetzbuches gehörte, das zur Jahrhundertwende eingeführt worden war und das Preußische Landrecht ablöste. Es ärgerte Marlene allerdings, dass er seine Informationen nicht mit ihr geteilt hatte. Ihr Vater war stets ihr wichtigster Ratgeber gewesen, aber er hatte in der Vergangenheit auch oft auf ihr Urteil vertraut, was sie mit Stolz erfüllte.
«Herr Wolff sucht meinen …»Hugo legte eine Kunstpause ein, der er schließlich hinzufügte: «Theodor Wolff sucht meinen juristischen Beistand. Ja, so möchte ich es nennen.» Zufrieden mit seiner Formulierung, lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück.
Marlene indes richtete sich auf. «Du hättest mir davon erzählen sollen …»
«Es ergab sich noch keine Gelegenheit. Du warst nicht da. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Buschtrommeln so rasch zum Kaffeeklatsch der Frauenvereine rufen.»
«Ach, Vater, bitte …!» Marlene stöhnte gequält auf. «Ich verstehe deine despektierliche Wortwahl nicht. Warum stellst du dich gegen meine Interessen? Mutter hätte …», sie biss sich rasch auf die Unterlippe, um die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, herunterzuschlucken.
«Deine Mutter hätte die Angelegenheit in Ruhe erwogen und das informelle Gespräch mit Theodor Wolff abgewartet, das für morgen geplant ist. Du bist eine kluge, besonnene Juristin, aber zuweilen triffst du vorschnelle Entscheidungen.»
Als ob sie das nicht wüsste …
«Ich habe mich noch nicht endgültig festgelegt», behauptete sie, um einen sachlichen Ton bemüht. «Aber ich denke, dass den bürgerlichen Frauen hier eine unglaubliche Chance geboten wird. Die müssen wir …», sie schluckte und setzte nachdrücklich hinzu: «… die muss ich ergreifen, um die Verhältnisse aller Frauen zu verbessern, und damit letztendlich auch ihrer Männer, Brüder und Söhne. Wir können nicht darauf warten, dass sich die beiden Flügel der Sozialdemokraten auf eine Regierung einigen. Oder dass wir von den Kommunisten überrollt werden.»
Hugo von Runstedt griff nach dem Hörer des Tischtelefons auf seinem Sekretär. «Ich sollte Herrn Emden zu dem Gespräch mit Theodor Wolff dazubitten …»
«Vater, bitte! Du kannst Max doch nicht zu so später Stunde anrufen, nur um ihn über einen Besprechungstermin zu informieren …»
«Warum nicht? Ich habe ihn zu meinem Partner gemacht. Da kann ich ihn …»
«… respektvoll wie einen Partner behandeln und nicht wie deinen Adlatus.»
«Papperlapapp! Herr Emden kam als Student in die Kanzlei, er war mein Referendar, ich kenne und schätze ihn seit zwanzig Jahren. Deshalb werde ich mir von dir nicht sagen lassen, wie ich mich ihm gegenüber zu benehmen habe.» Er zögerte dennoch, wog den Telefonhörer in seiner Hand. «Wie kommt es eigentlich, dass du dich um seine Nachtruhe scherst?»
Marlene lächelte in sich hinein. «Ich kenne Max ebenso lange wie du. Er ist ein guter Freund.»
«Als wenn es eine Freundschaft zwischen Mann und Frau geben könnte …»
Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen, dachte Marlene. Diese unbefriedigende Überlegung begleitete ihre Beziehung zu Max Emden seit gut zwanzig Jahren. «Ich brauche keinen Ehemann», erklärte sie ausweichend, als wüsste ihr Vater das nicht längst.
«Natürlich nicht», stimmte er prompt zu. «Wer sollte mir den Haushalt führen, wenn du verheiratet wärst? Aber nur ein Freund kann dir Herr Emden trotzdem nicht sein, Marlene, so viel steht fest.» Er legte den Hörer unverrichteter Dinge auf die Gabel zurück, bevor er fortfuhr: «Wie auch immer. Nicht nur der Kollege Emden, sondern auch du solltest dem Termin mit Herrn Wolff beiwohnen. Er wird wohl nichts dagegen haben.»
Sein Vorschlag überraschte sie. Es war natürlich ein Friedensangebot, aber andererseits schien ihr Vater tatsächlich weiterführende Pläne mit ihr zu haben. Diese Erkenntnis erfüllte sie so sehr mit Freude, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre und ihn umarmt hätte. Doch weil sie nicht wollte, dass er ihr wieder einen zu großen Hang zur Impulsivität vorwarf, blieb sie ruhig sitzen. Sie zappelte nur ein wenig mit den Beinen, was unter ihrem knöchellangen Rock nicht auffiel. «Ich bin sehr neugierig auf Theodor Wolffs Vorhaben», erwiderte sie. «Wir werden sehen, was sich daraus entwickelt. Gibt es sonst noch Neuigkeiten aus dem Zeitungsviertel?»
«Die Besetzung der Berliner Volkszeitung durch die Spartakisten ist unrechtmäßig. Herr Wolff hat bei Philipp Scheidemann vom Rat der Volksbeauftragten um Soldaten zum Schutz der Druckerei ersucht, doch sein Anliegen wurde abgelehnt. Wer sich für eine freie Presse einsetzt, hat es momentan nicht leicht.»
«Umso wichtiger, dass schnell eine Demokratie eingeführt wird. Auch durch die Gründung einer Partei, deren Programm möglichst viele Bürger anspricht.» Sie legte die Hände auf die Sessellehnen und versuchte sich hochzustemmen. Durch ihren rechten Ellenbogen und die Schulter schoss wieder ein starker Schmerz. Um Atem ringend sank sie zurück auf ihren Platz.
«Geht es dir nicht gut?», erkundigte sich Hugo. «War dein Sturz in … wohin bist du noch mal gefallen?»
«Einen Laubhaufen. Aber es geht mir wirklich gut. Ich bin nur müde.» Sie sprang, ohne sich abzustützen, auf die Füße. «Ich sollte jetzt schlafen gehen.» Ihre Stimme nahm einen sanften, liebevollen Ton an: «Danke, Papa, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast.»
«Vermutlich hättest du ohnehin über kurz oder lang erfahren, dass wir einen neuen Mandanten vertreten.» Hugo griff wieder nach dem Telefonhörer. «Mal sehen, ob die Buschtrommeln auch schon Herrn Emden vorgewarnt haben. Gute Nacht, Marlene.»
Es war aussichtslos, ihren Vater von etwas abbringen zu wollen, und sei es nur, das Privatleben seines Büropartners zu stören. «Gute Nacht», wünschte sie ebenfalls.
Erst als sie hinausgegangen war, fiel ihr ein, dass sie ihren Vater um einen der in Leder gebundenen und mit Goldschnitt versehenen Bände über die Antike hätte bitten sollen, die in seinem Büro standen. Alles, was sie über Demokratie wusste, basierte auf Geschichtsbüchern und sie hätte ihr Wissen vor dem Schlafengehen gerne ein wenig aufgefrischt. Trotz eines Jurastudiums in Paris fehlte ihr die praktische Erfahrung. Marlenes politische Orientierung beruhte deshalb vor allem auf einem vagen Gefühl für das, was sie als richtig annahm. Egal, dachte sie, es ist an der Zeit, die Theorie hinter sich zu lassen und Träume zu verwirklichen!
Erwartungsgemäß fand Marlene in dieser Nacht keinen Schlaf. Seit den letzten Kriegstagen hatte sich ihre Furcht vor kommunistischen Unruhen gesteigert. Die sich rasch verbreitenden Gerüchte über Aufstand und Umsturz und schließlich die Abdankung des Kaisers hatten dieses unselige Gefühl verstärkt. Ganz gewiss stand ein gutbürgerlicher Jurist wie Hugo von Runstedt im Fadenkreuz der Bolschewisten, sie selbst als Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung und vormalige Mitarbeiterin des kaiserlichen Kriegsamtes möglicherweise ebenso. Der nächtliche Geschützlärm, den der Wind aus dem Berliner Regierungsviertel wie Silvesterböller über den Tiergarten trug, hatte sie daran erinnert, in welcher Gefahr sie beide schwebten. Inzwischen hatte der Kanonendonner seine Bedrohlichkeit verloren. Das lag zum Teil an ihrem mutigen Ausflug in das Tiergartenviertel heute Nachmittag. Wie einfach es doch war, Angst mit Aufregung und der konzentrierten Planung neuer Ziele zu vertreiben.
Sicher, sie brauchte nicht darauf zu warten, von Theodor Wolff und dessen Mitstreitern eingeladen zu werden. In vielen der bereits bestehenden Parteien wurden Frauen aufgenommen, seit vor etwa zehn Jahren das preußische Vereinsgesetz zu ihren Gunsten geändert worden war. Im Grunde profitierten von den neuen Regeln allerdings nur die Frauenvereine; ein aktives oder passives Frauenwahlrecht hatte sich daraus bisher nicht ableiten lassen. Marlene selbst hatte unzählige Petitionen verfasst, unterschrieben und im Reichstag abgegeben. Nicht zuletzt dieses Engagement war der Grund dafür, dass sie noch immer unverheiratet war.
Mit der Selbstverständlichkeit einer höheren Tochter, die es sich in vielerlei Hinsicht leisten konnte, die eigenen Ambitionen zu verfolgen, wollte sie jedoch studieren. Während sich ihre Freundinnen verlobten, schrieb sie Klausuren in Jura, Geschichte und Philosophie. Während die ersten von ihnen Kinder bekamen, legte Marlene die Prüfungen ab. Als sie schließlich promovierte, bemerkte sie, dass das Leben und vor allem die Liebe an ihr vorbeigezogen waren. Sie hatte lange keine Zeit für eine romantische Beziehung, Verlobung und Heirat gehabt, es gab für sie wichtigere Dinge als ihr persönliches Liebesglück. Erst als ihre Mutter nach einem Unglück starb, wurde ihr klar, dass das Schicksal manchmal kurzen Prozess machte und keine Rücksicht auf ihre Pläne nahm. Doch da war es wohl schon zu spät, um nachzuholen, worauf sie in jüngeren Jahren verzichtet hatte.
War nun die Zeit gekommen, da sich der Verzicht auszahlte und sie ihre beruflichen Ambitionen verwirklichen könnte? Ihr höchstes Ziel war immer die Zulassung als Rechtsanwältin gewesen. Musste sie daher nicht in der gesetzgebenden Versammlung mitarbeiten, um die Gleichstellung von Juristinnen zu erreichen? Wäre die Mitgliedschaft in einer modernen, liberalen Partei nicht die Chance ihres Lebens, die eigenen Werte über ihre bisherigen Möglichkeiten hinaus zu vertreten?
Marlene wälzte sich in ihrem Bett herum – bis ihr alle Knochen wehtaten und ihre Augen brannten. Lange vor Morgengrauen stand sie auf. Sie erledigte eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser im Badezimmer, steckte ihr Haar zu einem losen Knoten hoch. Da sie annahm, dass sie sich bis zu dem wichtigen Termin heute Vormittag nicht würde umziehen können, wählte sie ihre Garderobe mit Bedacht. Ein grauer Rock, die cremefarbene Bluse mit der Kamee ihrer Mutter am Kragen und die farblich passende lange Jacke mit den Samtaufschlägen, die sie mit einem breiten Gürtel schloss, vermittelten den Eindruck einer respektablen Persönlichkeit.
Obwohl es erst sechs Uhr morgens war, verließ Marlene die Wohnung, um in die darunter gelegene Kanzlei zu gehen. Normalerweise liebte sie die stillen Stunden in der Dämmerung, um den liegen gebliebenen Schriftkram zu erledigen. Häufig hatte sie weder an ihrem ehemaligen Schreibtisch im Kriegsamt noch im Kartell der Auskunftsstellen für Frauenberufe im Hansaviertel die Ruhe dafür gefunden, denn dort ging es für gewöhnlich zu wie in einem Taubenschlag. Im Büro ihres Vaters, als dessen Assistentin sie offiziell firmierte, wurde sie dagegen meist in Frieden gelassen. Doch setzte sie sich nicht gleich an die Arbeit. Sie bereitete sich in der Küche eine Lorke aus Zichorienkaffee zu und naschte von den Haferkeksen, die sie in einer Dose im Buffetschrank fand. Beides schmeckte nicht sonderlich gut, ersetzte aber ihr Frühstück und war im Grunde auch nicht schlechter als die Schwarzbrotscheibe, die dünn mit Margarine bestrichen in den letzten Kriegsjahren regelmäßig auf ihrem Teller lag.
Kauend und die Tasse mit dem heißen Getränk in der Hand, wanderte sie durch die Kanzlei, den langen Flur entlang, am noch verwaisten Sekretariat vorbei, dem herrschaftlichen Zimmer ihres Vaters, dem daneben liegenden Büro von Max Emden, dem Besprechungszimmer sowie zwei weiteren kleinen Räumen für Referendare und junge Assessoren, die aber seit Kriegsbeginn meist unbesetzt blieben. Schließlich erreichte sie das Archiv, wo die Altakten aufbewahrt wurden. Dort roch es ein wenig modrig, nach Papier, Druckerschwärze, Staub und Tinte. Sie atmete tief ein, weil sie diesen Geruch liebte. Er erinnerte sie an Beständigkeit und Sicherheit, genauso wie die alten Bücher im Arbeitszimmer ihres Vaters. Ich hätte Bibliothekarin werden sollen, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch das war ebenso wenig ein Frauenberuf wie die Juristerei. Seufzend ging sie zurück.
Entsprechend der Hierarchie der Kanzlei von Runstedt & Partner besaß sie das kleinste Büro nach hinten hinaus. Es war ihr egal, weil sie nur selten Besucher empfing, nur gelegentlich eine Hilfe suchende Frau, die aus einer anderen Gesellschaftsschicht als die üblichen Mandanten stammte und schon durch den Anblick des palastartigen Gebäudes zwischen der Carmer- und der Goethestraße genug eingeschüchtert war. Auf Marlenes Schreibtisch und auf dem Boden stapelten sich Papierberge, Akten und Bücher. An der einzigen Wand, die nicht von vollgestopften Regalen besetzt war, hingen in schönen Rahmen die Urkunden ihrer Examina von den Hochschulen in Paris und München sowie ihre Promotionsurkunde und eine ältere, etwas steif wirkende Fotografie, die sie mit ihrem Vater zeigte. Sie fühlte sich wohl in diesem Raum, der wie ein Sinnbild ihres Charakters war: ein wenig chaotisch, voller Pläne, Ehrgeiz und Arbeitswut.
Marlene stellte die Kaffeetasse auf die alte Zeitung, die auf ihrem Sekretär lag. Es war die Morgen-Ausgabe des Berliner Tageblatts von vorgestern und über der Schlagzeile «Ebert übernimmt das Reichskanzleramt» breitete sich sofort ein brauner Rand aus. Sie achtete kaum darauf, weil sie den Bericht bereits gelesen hatte, und wandte sich dem Schreiben eines Hausmädchens zu. Es wirkte wie ein Echo auf die Nachrichten aus der Politik.
Die offenbar junge Frau stellte gleich im ersten Satz klar, dass sie keine Arbeit suchte und auch keine eigentliche Rechtsfrage stellen wollte. Sie wende sich an Fräulein Dr. von Runstedt, weil sie niemanden sonst wisse, der ihr helfen könnte; die Behörden befänden sich in Auflösung und im Kriegsministerium gebe es keinen Mann, der sie auch nur anhören wollte. Sie mache sich große Sorgen um ihre Schwester. Diese habe sich gleich zu Beginn des Krieges als Etappenhelferin gemeldet und sei zuletzt als Köchin in der sogenannten Bug-Etappe in Südrussland eingesetzt worden. Seit Monaten fehle jedes Lebenszeichen von ihr, und die Briefautorin mache sich Sorgen, zumal sich die Armee in Auflösung befand und man von chaotischen Zuständen an den ehemaligen Frontlinien hörte. Wie sollte die Schwester nach Hause zu ihrer Familie zurückkommen? Mitten aus dem Kriegsgebiet und durch ein nun feindliches Land wie Polen? Gab es überhaupt einen Weg zurück?
Es war eine traurige Frage, die Marlene nicht beantworten konnte. Tausende Frauen hatten sich – meist wegen der anfangs guten Bezahlung, häufig aus Überzeugung oder aus Flucht vor einer tristen Realität – den Truppen angeschlossen. Ihr Einsatz wurde zunächst vom Bund Deutscher Frauenvereine koordiniert; im Generalkommando gab es bis vor zwei Jahren niemanden, der sich für die dringend benötigten Etappenhelferinnen einsetzte. Erst sehr spät hatte man Positionen im Kriegsamt geschaffen, die mit weiblichen Verwaltungsangestellten besetzt wurden. Es ist, als würde man mit dem Kopf gegen eine Wand rennen, sinnierte Marlene. Kein Mensch kümmert sich ausreichend um die Frauen, obwohl sie ebenso schwere Arbeit verrichten wie die Männer. Ihre Entschlossenheit wuchs, als aktives Mitglied einer Partei für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Sie griff nach einem Bleistift und notierte am Rand des Briefes, dass die Sekretärin der Frau antworten und versprechen sollte, Marlene werde sich erkundigen. Sie wusste gerade nicht einmal genau, wo – auch an der Heimatfront herrschte Chaos –, aber sie wollte zumindest Hoffnung vermitteln. An die Offiziere brauchte sie sich nicht zu wenden, die hatten ihre Arbeit von Anfang an boykottiert, obwohl die Armee auf die Etappenhelferinnen ebenso angewiesen war wie die Fabriken auf weibliche Arbeitskräfte, die die Männer im Feld ersetzten. Im besten Falle hatten sie die Mitarbeiterinnen im Kriegsamt noch für höhere Töchter auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung gehalten. Nie würde Marlene die Nachricht an ihren Vater vergessen: «Wie sollen wir mit Ihrem Fräulein Tochter verkehren? Wie möchte die Dame behandelt werden?» Er hatte ihr den Wisch gezeigt und sie war zornig in das Ministerium in der Leipziger Straße gefahren. Mit ihrem impulsiven Wutausbruch hätte sie beinahe ihre Reputation riskiert, eine angenehme Zusammenarbeit hatte sie daraufhin ganz abschreiben können. Das würde ihr nicht wieder passieren.
Das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels schreckte sie auf. Marlene hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie schon gedankenverloren auf die Post starrte. Als sie aufsah, bemerkte sie vor ihrem Fenster die grauen Streifen des angebrochenen Morgens. Es war sicher bald acht Uhr. Der offizielle Arbeitstag brach an.
Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, sodass Marlene die vertraute Stimme des Bürovorstehers wahrnahm, als dieser durch das Eingangsportal in den Flur trat und klagte: «In meinem Bezirk wurde die ganze Nacht hindurch geschossen. Zustände sind das, Herr Rechtsanwalt, Zustände!»
«Ich bin sicher, die Lage beruhigt sich, sobald wieder eine gut organisierte Schutzmacht eingesetzt wird», erwiderte die Stimme von Max Emden. Er klang besonnen wie immer, als könne ihm die Situation nur wenig anhaben. «Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Lohmann.»
Die Dielen knarrten unter den Füßen der Männer, während der eine in Richtung des Sekretariats, der andere zu seinem Arbeitszimmer schritt. Doch offenbar trieb die Lage auf den Straßen Heinrich Lohmann, den langjährigen administrativen Kanzleichef, erheblich um. Er blieb im Flur stehen und sagte: «Es heißt, dass sich die Jugendwehr noch immer in den Häusern verschanzt und sich ziemlich viel bewaffnetes Gesindel herumtreibt.»
«Das wird sich bessern», versicherte Max Emden noch einmal. «Viel bedrohlicher finde ich, dass die Spartakisten so ruhig bleiben. Die lauern auf einen Putsch. Aber den will außer ein paar Hitzköpfen niemand – und deshalb wird sich letzten Endes auch diese Gefahr auflösen.»
Max hatte für Marlene etwas von einem Prediger, der an das Gute glaubte und damit eine Sicherheit vermittelte, die wie ein Schutzschild wirkte. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, strich in einer fahrigen Bewegung ihren Rock glatt und stellte sich in ihre Zimmertür.
Der Bürovorsteher und der Kanzleipartner standen im Flur und schienen nicht daran zu denken, dass außer ihnen noch jemand anderes zur Arbeit gekommen sein könnte. Auch als sich Max höflich nach dem Verbleib von Lohmanns Sohn an der Westfront erkundigte, bemerkte sie noch keiner der Männer, sodass ihr die Zeit blieb, ihren alten Freund still zu betrachten.
Sie sah Max Emden gerne an. Das war schon immer so gewesen, seit sie ihm zum ersten Mal im Juni vor zwanzig Jahren begegnet war. Heute war er dreiundvierzig und fiel nach wie vor durch seine Persönlichkeit ebenso auf wie durch sein attraktives Äußeres. Er war schon immer ein Mädchenschwarm gewesen – Marlene erinnerte sich noch gut an seine vielen Verehrerinnen in jüngeren Jahren; sie selbst war gegen seinen Charme nicht immun, seine Freundschaft war ihr jedoch stets wichtiger gewesen als eine flüchtige Liebelei. Max war so mager wie jeder, der die Not der letzten Kriegsjahre durchlitten hatte, doch die Falten an seinen Mundwinkeln standen ihm erstaunlich gut. Seine blauen Augen besaßen einen sanften Glanz und bildeten einen Kontrast zu seinem strengen Schnauzbart und dem penibel gescheitelten, dunkelbraunen Haar. Stets war er so formvollendet gekleidet, als liefe er Werbung für das Konfektionshaus seiner Familie, selbst in der Zeit des Mangels wirkte der schwarze Mantel, den er noch nicht abgelegt hatte, wie frisch von der Kleiderstange.
«Die Nachrichten von der Westfront sind verwirrend», erklärte Heinrich Lohmann bedrückt. «Von meinem Sohn haben wir schon lange keinen Brief mehr bekommen, meine Frau ist deshalb ganz außer sich. Wir müssen uns auf Hörensagen verlassen. Manche Leute sehen die Situation sehr pessimistisch und behaupten, die Demobilisierung vollziehe sich in höchster Unordnung. Aber General von Hindenburg wird unsere Soldaten wohlbehalten nach Hause bringen, nicht wahr?»
Bevor Max zu einer Antwort ansetzen konnte, die nur beschwichtigen und keine Wunden heilen würde, trat Marlene vor und wünschte freundlich: «Guten Morgen, Herr Lohmann.»
«Guten Morgen, Fräulein Doktor.»
Sie lächelte den Partner ihres Vaters an: «Max, kann ich dich kurz sprechen, bitte?»
«Selbstverständlich … Ihrem Sohn alles Gute, Herr Lohmann.» Mit einer weit ausholenden Geste lud Max Marlene in sein Zimmer ein. «Komm bitte herein.» Dann ließ er ihr den Vortritt und fügte, als er die Tür schloss, hinzu: «Ich nehme an, es geht um den Anruf deines Herrn Vaters letzte Nacht.»
Marlene wartete, bis er sich seines Mantels entledigt und ihn in den Spind gehängt hatte, der sich in einem Teil der langen Schrankwand aus Mahagoni befand, die sich über die Seite an der Tür erstreckte. Der Rest des Raumes war mit einem Holz in ähnlicher rotbrauner Farbe vertäfelt, vor dem Fenster stand der Schreibtisch, ein altes englisches Modell, das Max, ebenso wie die Chesterfield-Sessel, nicht einmal im Krieg gegen Eiche und Gobelin ausgetauscht hatte. Endlich fragte sie: «Was hältst du von der neuen Partei?»
«Bitte …» Er schob ihr die für Besucher bestimmte Sitzgelegenheit zurecht. Während sie Platz nahm und er sich auf der Schreibtischkante neben sie hockte, sagte er: «Dein Vater setzt in diesem Zusammenhang große Hoffnungen in dich.»
«Tatsächlich?» Marlene war ehrlich überrascht. Das hatte in der vergangenen Nacht ganz anders geklungen.
«Er hat es mir gesagt.»
«Ich wünschte, er hätte es mir gesagt.» Sie seufzte.
«Ach, Marlene, du weißt doch, wie er ist. Er vermeidet jedes Risiko und will sichergehen, dass du tust, was du wirklich willst. Nur deine eigene Initiative spornt dich an. Oder ziehst du eine Rolle in der Politik etwa nicht in Betracht?»
Unwillkürlich lächelte sie. «Kennst du mich wirklich so gut?»
«Du hast mir gegenüber einmal erwähnt, dass du die Mitgliedschaft in einer Partei für die einzige Möglichkeit hältst, Dinge zu verändern. Das ist lange her, anscheinend hast du niemals die richtige Partei für deine Ambitionen gefunden. Jetzt aber scheint deine Stunde gekommen …», er unterbrach sich, beugte sich vor und sah ihr direkt in die Augen. Es war ein eindringlicher, beunruhigend tiefer Blick. «Und meine auch.»
«Willst du dich auch aktiv in die Partei einbringen?»
«Vielleicht.» Er zögerte kurz, einen Atemzug später fuhr er mit fester Stimme fort: «Eigentlich meinte ich, dass für mich nun der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich nicht mehr auf dich warten möchte.»
Es dauerte, bis Marlene begriff, dass sie sich nicht verhört hatte. Zu ihrem Unmut schnappte sie wie ein Backfisch nach Luft, ihr wurde plötzlich heiß und sie spürte, wie ihre Wangen erröteten. Es war allerdings keine Freude über die Annäherung, sondern Empörung. Max versetzte sie mit seiner überraschenden Offenheit, überdies zu einem völlig falschen Zeitpunkt, in eine unmögliche Situation. Nie zuvor war er so persönlich geworden. Wozu auch? Sie waren als Freunde eng verbunden, nicht als Liebespaar.
«Das ist nicht witzig», stieß sie hervor.
Seufzend richtete er sich auf, als wolle er wieder mehr Abstand zwischen sich und Marlene bringen. «Die neuen Zeiten erfordern neue Maßnahmen. Warum nicht auch auf privater Ebene?»
Sie konnte nicht glauben, was sie hörte.
«Max, was ist los mit dir? Bist du betrunken?»
«Nein.» Er schüttelte den Kopf, mit einem Mal wirkte er traurig. «Nein. Nichts läge mir ferner. Es war nur ein Versuch … Entschuldige. Es war wohl der misslungene Versuch, Humor zu beweisen. Die Aussicht auf eine liberale, soziale und freiheitliche Republik macht mich übermütig. Vergiss bitte, was ich gesagt habe.» Er erhob sich und trat vor das Fenster, hinter dem durch die kahlen Äste der Straßenbäume die Fassade der Hotel-Pension am Steinplatz zu sehen war.
Marlene betrachtete Max’ Rücken, seine gerade Haltung und wünschte, sein Übermut hätte sich auf die schlechten politischen Witze beschränkt, die zurzeit die Runde machten. Zum ersten Mal stellte sie sich die schockierende Frage, ob er im Laufe der Jahre tiefere Gefühle für sie entwickelt haben könnte. Wenn dem so war – wie kam er dazu, sich nach der langen Zeit zu offenbaren? Seine deutliche Verehrung kam zu spät und wirkte daher nur peinlich – vor allem in der aktuellen Situation. Für eine erfolgreiche Politikerin war ein Gatte, wenn wohl nicht verboten, so doch vor allem Ballast. Aber vielleicht hatte er wirklich nur einen schlechten Scherz machen wollen. Um auf eine sachliche Ebene zurückzufinden, hob Marlene an: «Mich interessiert deine unvoreingenommene Meinung zu dem Vorhaben von Herrn Wolff.»
«Überstürze nichts», murmelte Max und es war nicht ganz klar, was er meinte, bevor er nach einer Pause und ohne sich umzudrehen hinzufügte: «Willst du Herrn Wolff nicht erst einmal reden lassen, anstatt – wie immer – alle Antworten vorzuformulieren?»
«Ich bin eine Frau, ich kann es mir nicht erlauben, auf die Erklärungen eines Mannes zu warten. Ich muss vorbereitet sein. Wenn ich nicht so schnell denken könnte und alle Eventualitäten im Blick behielte, wäre ich nicht so weit gekommen.»
Endlich drehte er sich zu ihr um. Da er im Gegenlicht stand, lag sein Gesicht im Schatten und sie konnte nicht in seinen Zügen lesen, als er erwiderte: «Manchmal scheine ich zu vergessen, dass du in deinem Herzen ausschließlich Juristin bist. Und eine Kämpferin. Da gibt es keinen Platz für anderes, nicht wahr?»
«Sei nicht albern …»
«Also», unterbrach er sie steif, «sag mir, wie stehst du zu der Parteigründung?»
«Es ist eine gute Taktik von dir, eine Frage erst einmal mit einer Gegenfrage zu beantworten.»
«Auf diese Weise muss man sich nicht festlegen.» In seiner Stimme schwang Belustigung. «Du bist wirklich gut, Marlene. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich dich nicht bewundere. Ich meine deine Fähigkeiten, Fräulein Doktor, nichts sonst.»
«Danke.» Spontan stand sie auf, umrundete den Schreibtisch und trat neben ihn. «Dein Kompliment ehrt mich.»
Bevor er etwas antworten konnte, klopfte jemand an.
Auf Max’ «Ja, bitte» erschien Heinrich Lohmann im Türspalt. «Für Fräulein Doktor von Runstedt ist ein Herr da. Aber ich weiß nicht, ob es gerade gelegen …»
Der Bürovorsteher wurde von einer selbstbewussten Männerstimme unterbrochen: «Ich bin sicher, Fräulein Doktor von Runstedt hat Zeit für mich.» Im nächsten Moment schwang die Tür ganz auf. Der Besucher drängte sich an Lohmann vorbei und stand nach zwei Schritten mitten im Zimmer.
«Verzeihung …», murmelte Lohmann indigniert.
Marlene starrte den Eindringling fassungslos an. «Justus?!» Es war Frage, Feststellung und überraschter Ausruf zugleich.
«Guten Tag, Marlene.» Er verneigte sich höflich. Zuerst vor ihr, dann vor dem Mann an ihrer Seite. «Guten Tag, Herr Emden.»
Natürlich fiel ihr sofort auf, dass Justus keine Uniform trug. Dann wurde ihr bewusst, wie dicht sie neben Max stand. Ihr Besucher könnte daraus die falschen Schlüsse ziehen. Aber es sollte ihr gleichgültig sein, was Justus dachte. Er kam regelmäßig in ihr Leben geschneit und ebenso regelmäßig verschwand er daraus. Nun war er eben wieder einmal da. Dass sie an den wechselvollen Begegnungen nicht unschuldig war, ignorierte sie. Sprachlos starrte sie den Eindringling an.
Max legte besitzergreifend den Arm um Marlenes Schultern – sie schüttelte ihn sofort ab.
«Guten Tag», grüßte er steif. «Was können wir für Sie tun?» Mit seinem wir brachte er eine Option ins Spiel, die die Luft seltsam vibrieren ließ.
Es ist gleichgültig, redete sich Marlene stumm ein. Es ist vollkommen einerlei, was Justus will. Dennoch schlug ihr Herz schneller, ihr Atem wurde flacher und sie kam nicht umhin, sich zumindest darüber zu freuen, dass er den Krieg überlebt hatte.
Er schlug die Hacken zusammen als wäre er noch im Dienste Seiner Majestät. «Ich melde mich zurück.» Diese Bemerkung war nach ihrem letzten Treffen zweideutig.
Marlene sah ihn an und musste sich zwingen, Haltung zu bewahren. Ihre Begegnungen mit diesem Mann hatten in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass sie die Contenance verlor und Grenzen überschritt. Ihre Beziehung war voller Widersprüche. Aber so war es immer gewesen, schon seit ihrer ersten Begegnung.
«Blöde Kuh!», zischte Marlene.
Ihre Wut richtete sich gegen Caroline von Ostwald, die sich über die ungeschickte Aussprache einer ihrer Mitschülerinnen lustig machte.
Sonja Grawitz hatte La Fontaines Fabel mit dem harten Akzent der Berliner Unterschicht vorgelesen, von der vornehmen Diplomatensprache, die den Schülerinnen der Königin-Luise-Stiftung beigebracht werden sollte, war ihr Französisch weit entfernt. Allerdings war Sonja nicht das einzige Mädchen in der Klasse, das den noblen Ton nicht beherrschte: Das angesehene Seminar zeichnete sich dadurch aus, dass hier Töchter aus Familien des Adels und des Bürgertums Seite an Seite mit Arbeiterkindern ausgebildet wurden. Während die meisten jungen Damen durch den modernen Unterricht ihren Horizont zu erweitern versuchten, nutzte Caroline von Ostwald das unkonventionelle Klassengefüge, um die eigene noble Person bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Szene zu setzen. Sonjas Fehler boten ihr dafür eine ausgezeichnete Gelegenheit.
«Mademoiselle Conchard …!» Caroline hob den Finger, wartete jedoch nicht ab, dass sie von der Lehrerin aufgerufen wurde, sondern sprang von ihrem Platz auf und rief enthusiastisch aus: «Darf ich den Text vorlesen? Ich liebe die französische Sprache so sehr! Die Worte La Fontaines berühren mich zutiefst.»
Die Französischlehrerin lächelte Caroline an, offensichtlich angetan von der theatralisch vorgetäuschten Begeisterung ihrer Lieblingsschülerin. «Bitte, Mademoiselle Caroline, fahren Sie fort.»
«Aber Sonja hat noch nicht zu Ende …», hob Marlene an, wurde jedoch von dem Knall des Rohrstocks in Mademoiselle Conchards Hand unterbrochen. Die Lehrerin ließ das Utensil, mit dem sie für gewöhnlich auf die Tafel zeigte, auf ihr Pult niedersausen. «Ihre Einwände sind ebenso inakzeptabel wie Ihr aufmüpfiges Benehmen, Marlène. Ich möchte, dass Sie das Klassenzimmer verlassen und vor der Tür warten. Tout de suite.»
«Oh, Marlene …», flüsterte Sonja betroffen.
«Glücklicherweise brauche ich mir nun nichts mehr von der da anzuhören», wisperte Marlene mit einem Seitenblick auf Caroline. Sie schob sich aus der Schulbank, knickste höflich vor ihrer Lehrerin und ging zur Tür. Dort wandte sie sich kurz um – und fing den hämischen Ausdruck in Carolines Gesicht auf. Die streckte ihr hinter Mademoiselle Conchards Rücken die Zunge heraus.
Gesindel, fuhr es Marlene durch den Kopf.