Die fremde Ehefrau - Daniel Tappeiner - E-Book

Die fremde Ehefrau E-Book

Daniel Tappeiner

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Beschreibung

Wer bist du, wenn du dich selbst im Spiegel nicht erkennst?
Der nervenaufreibende Thriller über Amnesie und die Abgründe der menschlichen Psyche

Als Becky nach einem schweren Unfall erwacht und in den Spiegel schaut, ist das Gesicht, das ihr entgegenblickt, fremd. Alle Erinnerungen an ihr bisheriges Leben sind wie ausgelöscht. Ihr Ehemann Don scheint alles für sie zu tun und trotz der Distanz zwischen ihnen nähern sich die beiden langsam an. Doch eine leise Unruhe wächst in ihr: Wer ist das blonde Mädchen, das in ihren flüchtigen Erinnerungen auftaucht? Und warum fühlt sie sich von einem unbekannten Mann verfolgt, der ihr sagt, sie solle niemandem vertrauen? Als Becky beginnt, zwischen ersten Enthüllungen und bruchstückhaften Erinnerungen nach der Wahrheit zu suchen, ahnt sie noch nicht, dass ihre Vergangenheit ein erschütterndes Geheimnis birgt, das alles verändern und sie in große Gefahr bringen wird. Wie viel kann sie riskieren, um endlich herauszufinden, wer sie wirklich ist?

Erste Leser:innenstimmen
„Ein packender Thriller, der die Grenzen von Identität und Vertrauen auslotet Gänsehautgarantie pur!“
Die düstere Geschichte voller unerwarteter Twists lässt einen bis zur letzten Seite nicht los.
Ein abgründiger Psychothriller über Lügen, Manipulation und die Suche nach der eigenen Wahrheit, fesselnd und überraschend.
„Spannend, beklemmend, verstörend: Dieser Amnesiethriller hat Gruselfaktor.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Als Becky nach einem schweren Unfall erwacht und in den Spiegel schaut, ist das Gesicht, das ihr entgegenblickt, fremd. Alle Erinnerungen an ihr bisheriges Leben sind wie ausgelöscht. Ihr Ehemann Don scheint alles für sie zu tun und trotz der Distanz zwischen ihnen nähern sich die beiden langsam an. Doch eine leise Unruhe wächst in ihr: Wer ist das blonde Mädchen, das in ihren flüchtigen Erinnerungen auftaucht? Und warum fühlt sie sich von einem unbekannten Mann verfolgt, der ihr sagt, sie solle niemandem vertrauen? Als Becky beginnt, zwischen ersten Enthüllungen und bruchstückhaften Erinnerungen nach der Wahrheit zu suchen, ahnt sie noch nicht, dass ihre Vergangenheit ein erschütterndes Geheimnis birgt, das alles verändern und sie in große Gefahr bringen wird. Wie viel kann sie riskieren, um endlich herauszufinden, wer sie wirklich ist?

Impressum

Erstausgabe Januar 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-567-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-569-8

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © andras_csontos shutterstock.com: © Aleshyn_Andrei depositphotos.com: © svetas Lektorat: Regina Meißner

E-Book-Version 21.03.2025, 09:54:56.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die fremde Ehefrau

1

Brea, Kalifornien, 12. Mai 2016

Drei schwarze Limousinen des Fabrikats Cadillac warteten am Straßenrand direkt vor dem asiatischen Restaurant. Während Don gemeinsam mit seiner rechten Hand Frank, Clarice aus der Rechtsabteilung und einem ihrer Ingenieure das Lokal verließ, hielt ihnen ein Mitarbeiter des Etablissements die Tür auf. Ihnen schloss sich eine Schar japanischer Volksvertreter an, die aus hochrangigen Staatsmännern und dem halben Stab des Sicherheitsrates bestand. Mehrere Hünen von Männern in schwarzen Anzügen spähten mit Argusaugen hinter ihren dunklen Sonnenbrillen die Umgebung aus und ebneten ihrer Klientel sicheres Geleit zu den Automobilen.

Zum Abschied verneigten sich Frank, Clarice und der Mitarbeiter vor den Asiaten, während Don es ihnen gleichtat – so wie er es heute Morgen gelernt hatte. Den gesamten Oberkörper um etwa dreißig Grad neigen, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Die Hände bleiben dabei flach an den Seiten der Oberschenkel. Der Rangniedrigere beugt sich tiefer und länger als der Höherstehende – ich also länger als die. Geschafft.

Ebenso verneigte sich ein jedes ihrer Gegenüber, wobei sämtliche der japanischen Gesichter von einem überfreundlichen Lächeln beherrscht wurden. Anschließend bewegte sich einer nach dem anderen der Delegation auf eine der schwarzlackierten Karossen zu, während die Sicherheitsmänner ihnen die Wagentüren öffneten.

Don konnte es kaum erwarten, bis das Geschwader im Inneren der Limousinen verschwunden war. Denn es war anstrengend gewesen, das Jonglieren zwischen guten Argumenten und professionellem Auftreten. Ein jedes dieser Treffen war von Anspannung geprägt und er war immer wieder froh, wenn es vorbei war. Auch dieses Mal war er während des Essens unruhig auf seinem Sessel hin und her gerutscht und hatte mehrmals aus dem Fenster geblickt. Mit seinen dunkelblauen Augen beobachtete er, wie die Mittagssonne ihre hellen Kegel über das gesamte Orange County warf. Über die vielen Gebäude, die sie mit ihrem gelben Schleier umhüllte und die oftmals sogar noch höheren Palmen, die hinter jeder Ecke hervorragten. Er blickte auf den lautlosen Verkehr, der sich vor dem Lokal langsam und schleppend vorbeibewegte und die zahllosen Menschen, die eilig davor umherschwirrten und von denen jeder genau zu wissen schien, wo er hinwollte.

Dabei hatte ihm Clarice nicht nur einmal einen jener Blicke zugeworfen, die davon zeugten, dass sie ihn wieder mal ertappt hatte. Ertappt dabei, wie er ganz woanders war, wobei sich ihre Augenbrauen beinahe bis zum Ansatz ihres Haars hochgezogen hatten. Jenem brünetten Haar, das sie zum Anlass des Tages zu einer Geisha-Frisur mit Dutt und Kanzashi-Haarnadeln gestylt hatte.

Ab und an, ohne dass Don oder einer seiner Begleiter etwas davon verstanden hatten, stammelten die japanischen Männer in ihrer Muttersprache untereinander im Chor, bis sie sich ihnen wieder zuwandten und erneut eine Aneinanderreihung an Fragen stellten. Und so hatte die Konversation ihren Lauf genommen. Förmlich und ermüdend.

Bei Erstgesprächen, noch bevor ein Geschäft zustande kam, war Don stets anwesend. Es galt dem Kunden gegenüber als Zeichen der Anerkennung und des Respekts, wenn der Inhaber des Unternehmens dem Treffen persönlich beiwohnte. Den weiteren Verlauf überließ er jedoch den fachkundigen Händen seines Stellvertreters Frank. Frank Witherspoon war ein ebenso fähiger Mann wie er selbst und sie hatten in all den Jahren kaum eine Meinungsverschiedenheit gehabt, weshalb Don ihm bereits seit Längerem den Großteil der Leitung von Cullen Armaments anvertraut hatte.

Somit fielen weitere Treffen und anfällige Formalitäten in den Arbeitsbereich von Frank und dem Rest der Truppe. Don für seinen Teil würde sich nun zurückziehen und spielte mit dem Gedanken, einen Spaziergang zu unternehmen. Eine der vielen Einkaufsmeilen Breas hinabschlendern und den mühseligen Geschäftsalltag hinter sich lassen. Ja, so werd’ ich das machen.

Er sah, wie der letzte der japanischen Repräsentanten in einer der beiden Limousinen verschwand und die Fahrzeuge kurz darauf langsam davonrollten. Auch Clarice hatte inzwischen im hinteren Teil der dunklen Firmenkarosse Platz genommen, während Frank gerade dabei war einzusteigen. Bereits mit einem Fuß im Inneren hielt er inne und sah sich forschend nach allen Seiten um. „Don, kommst du?“

Don blickte in Franks erwartungsvolle Augen und wusste, dass die Antwort, die er ihm gleich geben würde, wie immer für ein Kopfschütteln sorgen würde. Trotzdem setzte er ein seichtes Lächeln auf und erwiderte in beiläufigem Ton: „Fahrt ihr schon mal, ich werde mir noch ein wenig die Beine vertreten.“

Franks Blick erstarrte für einige Sekunden, als sich sein Ausdruck schließlich wandelte, als wäre er besorgt und mutlos zugleich. „Was soll denn das, Don?“

„Nichts weiter, ich möchte einfach noch ein bisschen durch die Gegend spazieren und die Sonne genießen – alleine.“

Es war unübersehbar, wie sich Franks Brauen langsam hoben. „Du willst also bloß noch ein wenig in Ruhe durch die Gegend spazieren. Aha.“

Don kam kaum umhin, ein Schmunzeln zu verbergen. „Ja. Ist das drin – oder sollten wir das zuvor mit dem Vorstand absprechen?“

Was auch immer Franks plötzliches Lächeln zu bedeuten hatte, er schien Dons Wunsch zu respektieren. „Natürlich ist das drin. Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag, Don.“

„Ich dir auch. Mach’s gut.“

Don sah, wie sich Frank in den Wagen schwang und hinter den schwarzgetönten Scheiben verschwand. Natürlich würde es Clarice kaum schaffen, sich einen Kommentar zu verkneifen, so viel war Don klar. So etwas wie Will er wieder alleine sein? oder Tanzt er wieder mal aus der Reihe? Er konnte die Szene förmlich vor seinen Augen sehen, Clarices ironischer Blick und wie Frank eine schlichtende Bemerkung dazu abgab.

Wie auch immer, dachte Don locker und überquerte die belebte Straße, während er vernahm, wie sich die schwarze Limousine im Hintergrund in Bewegung setzte. Dabei fuhr er sich einmal kurz mit der Hand über sein kantiges, glattrasiertes Gesicht. Anschließend lockerte er die Designerkrawatte und strich sich eine Strähne seines mittellangen, karamellfarbenen Haars nach hinten. Dann öffnete er den obersten Knopf seines samtweißen Hemdes, das er unter einem dunklen Anzug trug und stapfte auf den Fußgängerweg.

Sowie er um eine Ecke bog, reihten sich mit Sonnenblenden überdachte Cafés zwischen Modeboutiquen, Galerien und Schmuckgeschäfte ein, zugleich schimmerten ihm farbenfrohe Aushängeschilder entgegen, so weit das Auge reichte.

Die Luft stand still und war gesättigt von der Sonne, sodass die Hitze sein Gesicht berührte. Gemächlichen Schrittes schlenderte er die dichtgefüllte Einkaufsmeile entlang und ließ seinen Blick von Schaufenster zu Schaufenster schweifen. Obgleich lebender Trubel um ihn herrschte, spürte er, wie seine Anspannung sank und all die Gedanken um Geschäft und Termine allmählich schwanden.

Unbekümmert hielt er an einer der Auslagen inne. Sie war leer, zu sehen war lediglich die weiße, rundgebogene Dekorationswand, hinter der sich der Verkaufsraum befand. Er blickte empor und las die Schrift, die sich in einer hellpinken Buchstabenreihe über der angrenzenden Eingangstür erstreckte. Die Zeichen funkelten und reflektierten das helle Sonnenlicht, wobei sie in Einheit die Worte Lorelana Jewellerys bildeten. Eine Marke, die laut seines Wissens gleichzusetzen war mit Guess oder Fossil und all den anderen berüchtigten Schmucklabels.

Plötzlich kam hinter dem Ladenfenster Bewegung ins Spiel, als sich eine Werbetafel aus Pappe von oben herabsenkte. Sie war an zwei transparenten Schnüren befestigt und offenbarte eine Abbildung von Brad Pitt, der ein goldenes Armband an seinem Handgelenk trug. Der Slogan Wenn es ihm steht, steht es auch Ihnen fiel Don augenblicklich ins Auge.

Er trat einen Schritt näher und beugte sich vor. Sowie Don seinen Blick nach oben richtete, kamen hinter dem Vorsprung zwei zarte Hände mit pink lackierten Fingernägeln zum Vorschein. Schlanke, geschmeidige Finger jonglierten mit den Enden der Fäden, als versuchten sie, ein Marionettenspiel darzubieten. Als die Tafel schließlich auf mittlerer Höhe in endgültiger Position schien, war deutlich zu erkennen, dass sie alles andere als waagerecht war. Dons Lippen entwich erneut ein amüsiertes Lächeln.

Er reckte sich ein wenig, um mehr von jener Person zu erspähen, die hier im wahrsten Sinne des Wortes die Finger im Spiel hatte. Plötzlich schwang sich ein Strom aus gewelltem, goldblondem Haar von oben herab, wie der fallende Vorhang einer Theaterbühne. Folgend strich eine der zierlichen Hände die gelbe Mähne beiseite. Eine kleine, spitze Nase, zarte Konturen eines weichen Gesichts und schmale Lippen, die zu einem sinnlichen Mund verschmolzen, traten zum Vorschein. Peinlich genau inspizierten große, meergraue Augen das getane Werk, als sie kurz darauf in Dons Richtung blickten.

Für einige Sekunden schien es, als sei die Zeit stehen geblieben und dabei sämtliche umliegende Geräusche verstummt. Don schluckte und bemerkte, wie der Blick der blonden Gestalt, die ihm hinter dem Schaufenster entgegensah, ebenso erstarrte wie seiner. Augenblicklich versuchte er, sich wieder zu fangen und einen lockeren Ausdruck aufzusetzen, worauf er sich bemühte, der jungen Dame mit einer Geste beizubringen, dass sich ihre Schöpfung in äußerster Schieflage befand. Verzagt kräuselten sich ihre Augenbrauen, so als fragten sie in aller Verzweiflung: Sind Sie sicher?

Don zögerte einen Moment lang, presste dann schweren Herzens seine Lippen aneinander und nickte. Anschließend deutete er mit dem Finger auf die rechte Seite der Tafel und leitete die Dame an, diese etwas anzuheben. Sie begann zu hantieren, während sich der Gegenstand wie von Geisterhand zu bewegen schien.

Anschließend sahen ihm ihre großen Augen erneut fragend entgegen, worauf er kritisch seine Lider zusammenkniff. Er wiederholte die Geste und die Papptafel bewegte sich ein weiteres Mal.

Noch ein klein bisschen … ja genau … perfekt! Letztlich signalisierte er mit einem Daumen nach oben, dass es geschafft war und sah, wie ihm die Frau ein dankbares Lächeln entgegenwarf.

So verabschiedete sich Don mit einem kurzen Wink, wandte sich um und setzte seinen Weg fort. Nach einigen Schritten ertönte im Hintergrund das Schellen einer Ladenglocke, zugleich vernahm er den Klang einer weiblichen Stimme.

„Hey, Sie!“

Don hielt inne und drehte sich um. Es war die blonde Frau aus dem Schaufenster und er sah, wie sie auf ihn zumarschierte. Sie trug ein elegantes, lilienweißes Sommerkleid und dazu ein beigefarbenes Paar Ballerinas. Der Saum ihres Kostüms, das ihre glattrasierten, schlanken Beine umhüllte, flackerte in der warmen Brise, während sie eilig herbeikam. Direkt vor ihm machte sie Halt, strich sich eine ihrer blonden Strähnen hinters Ohr und blickte ihm mit heiterem Ausdruck entgegen. „Vielen Dank für Ihre Hilfe!“

„Keine Ursache. Ihre Vorgesetzten werden sicher zufrieden sein.“

Einen Moment lang sah sie verschämt zu Boden, blickte dann aber gleich wieder auf. „Das müssen sie gar nicht – ich bin die Chefin.“

„Sie meinen“, setzte Don an und zögerte kurz, um sich wohlüberlegt auszudrücken. „Ihnen gehört das Geschäft und Sie verkaufen für Lorelana Jewellerys deren Produkte?“

„Ja, es ist mein Lokal.“ Verstohlen kniff sie ihre Augenlider aneinander und fuhr mit etwas schamhaftem Ton fort. „Und die Mitarbeiter dort drin verkaufen meine Produkte.“

Ein Augenblick der Stille entstand und Don bemühte sich, seine Kinnlade nicht nach unten sacken zu lassen.

„Sie sind die Lorelana-Tochter?“, meinte er schließlich euphorisch.

„Jup.“

„Die Lorelana-Tochter, von der niemand weiß, wie sie aussieht, weil sie sich nie den Medien zeigt?“

Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein überraschter Ausdruck. „Haben Sie denn schon mal online nach mir gesucht?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Hätten Sie das getan, wären Sie sicherlich früher oder später fündig geworden. Es ist ja nicht so, dass ich mich verstecke. Ich stelle mich nur nicht so gerne ins Rampenlicht – das ist alles.“

Don war durch und durch begeistert von ihrer Haltung. Sie stammte aus bekanntem und einflussreichem Hause und war dennoch ziemlich bescheiden. Und obendrein auch noch eine äußerst ansehnliche Erscheinung, ergänzte er in Gedanken.

„Ich verstehe“, erwiderte er und fügte zwanglos hinzu: „Wie haben Sie es geschafft, Brad Pitt eines Ihrer Armbänder überzuziehen?“

„Die Kampagne ist allein unserer Werbeagentur geschuldet“, antwortete sie locker. „Ich persönlich habe ihn nur einmal ganz kurz zu Gesicht bekommen. Das war zu Beginn des Shootings. Und selbst da hat es sich lediglich um eine knappe Begrüßung gehandelt – es war allerdings eine überaus höfliche Begrüßung.“

„Brad Pitt ist also ein sehr freundlicher Mensch – ist notiert.“

„So ist es.“

Es folgte eine kurze Pause, als sie ihm plötzlich mit einem herzlichen Lächeln ihre Hand entgegenstreckte. „Becky Hoberman.“

Er tat es ihr gleich. „Nicht Becky Lorelana?“

„Ach, das ist doch bloß ein erfundener Markenname.“

„Ehrlich?“

„M-hm“, bejahte sie.

„Und ich bin Don Cullen.“

„Abkürzung für Donald?“

„Gott bewahre“, wehrte er mit einer Geste ab. „Don. Einfach nur Don – so steht’s auch in der Geburtsurkunde.“

Ihr Lächeln wurde breiter, wobei sich Don beinahe darin zu verlieren drohte.

„Alles klar, Don Cullen.“

„Ebenso, Becky Hoberman“, gab er zurück.

Einige Sekunden blickten sie sich noch stumm entgegen, bis Don erneut das Schweigen brach. „Tja, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg.“

Verlegen nickte sie. „Oh ja, ich auch …“

Noch immer hielten sie eindringlichen Augenkontakt, wobei weder Becky noch er selbst auch nur die geringste Anstalt machten sich fortzubewegen. Er rang mit sich und rieb seine Zähne aneinander, als er sich endlich ein Herz fasste.

„Wissen Sie was?“, sagte er entschieden. „Wie wär’s, wenn ich Sie irgendwann auf einen Drink einlade, würden Sie dazu Ja sagen?“

Wie aus der Pistole geschossen entgegnete sie: „Irgendwann? Warum nicht morgen?“

Don war verblüfft und erfreut zugleich, denn anscheinend war sie von ihm genauso angetan wie er von ihr.

„Sie sind keine Frau des Wartens, nicht wahr?“

„Selbst als die Geduld verteilt wurde, habe ich mich schon vorgedrängelt.“

Ihm entglitt ein heiteres Lachen und er klatschte in die Hände. „Na dann, ich werde mir die Zeit nehmen - was schlagen Sie also vor?“

„Nun, wenn ich wählen darf, dann plädiere ich für einen Lunch im Bowen-Club. Ist Ihnen der Name geläufig?“

„Ja, ich weiß, wo das ist. Ich fürchte bloß, ich bin kein Mitglied dieses Clubs.“

Mit einer lockeren Handbewegung winkte sie ab und erwiderte: „Sie treten natürlich als mein Gast ein.“ Anschließend stemmte sie die Hände in die Hüfte und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. „Ich erwarte Sie vor dem Eingang. Wäre Ihnen zwölf Uhr mittags recht?“

„Zwölf Uhr, abgemacht.“

„Fein.“ Becky sah ihn einige Momente lang stumm an und sagte dann: „Gut, dann sehen wir uns morgen.“

„Ja, bis morgen!“

Sie winkten sich zum Abschied zu, worauf sie sich gemeinsam umwandten und jeder seines Weges ging.

Was für eine Frau, schoss immer wieder durch seine Gedanken. Zu wissen, er würde ihr am darauffolgenden Tag wiederbegegnen, erfüllte ihn mit Vorfreude sowie einer bestimmten Art an Unruhe – allerdings im positiven Sinne. Schon lange hatte es nichts mehr in seinem Leben gegeben, dem er mit Spannung oder gar Neugier entgegengefiebert hätte. Becky wiederzusehen, war hingegen aufregend und eine willkommene Abwechslung zugleich. Jemanden unbedingt wiedersehen zu wollen, war ein Bedürfnis, von dem er schon beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Und wie er so darüber nachdachte, verspürte tiefe Zufriedenheit.

Er schätzte ihre lockere, unbekümmerte Art und ihr warmherziges Wesen. Auch konnte er sich nicht erklären, weshalb er in ihrer Gegenwart dieses eigenartige Gefühl von Vertrautheit empfand. In welcher Hinsicht er sich sonst noch zu ihr hingezogen fühlte, war ihm natürlich weniger ein Rätsel. Becky war schließlich eine überaus attraktive Frau und besaß ein nahezu makelloses Äußeres. Dennoch würde Don es niemals wagen, sie einzig und allein darauf zu reduzieren, denn da war noch mehr – viel mehr. Es war diese unvergleichliche Herzlichkeit, die sie ausstrahlte und das Bildnis einer intelligenten, erfolgreichen und trotz allem bescheidenen Frau, das sie verkörperte. All diese Eigenschaften waren es, die ihn an ihrer Person so sehr faszinierten und in ihm den Drang hervorriefen, seine Verpflichtungen allesamt hinter sich zu lassen und seinem grauen Alltag zu entfliehen.

Und so schritt er gemächlich weiter, bis ans Ende der Geschäftsstraße, wo er sich ein Taxi nahm und den Heimweg antrat.

2

Don ließ seinen Blick über das Parkgelände des Bowen-Clubs schweifen, das so groß war wie der Stellplatz eines Supermarktes. In den Parklücken erspähte er Automobile der Marken Porsche, Mercedes und Ferrari, auch einen Lamborghini meinte er entdeckt zu haben. Er spürte, wie ihn unwillkürlich ein Schmunzeln überkam, denn was er sah, beeindruckte ihn nicht sonderlich. Er selbst hätte sich problemlos einen gleichermaßen teuren Untersatz leisten können, doch in seiner Garage stand lediglich das aktuelle Modell eines Alfa Romeos. Dass er sich persönlich ans Steuer setzte, kam ohnehin recht selten vor und auch heute hatte ihn wie üblich sein Fahrer gebracht.

Angrenzend erblickte Don ein riesenhaftes Bauwerk von historischer Architektur. Die Weite des Grundstücks, das sich auf der Rückseite erstrecken mochte, ließ sich hinter dem sechs Meter hohen Sicherheitszaun und den ebenso hohen Kiefern nur erahnen.

„Sie sind ja schon da.“

Die Stimme, die er aus dem Hintergrund vernahm, riss ihn aus seinen Gedanken und er wandte sich zum Eingang um. Es war Becky, sie stand an der Schwelle einer offenen Tür und blickte ihm mit vergnügtem Lächeln entgegen. Erneut trug sie ein weißes Kleid, dieses allerdings betonte ihre Figur bei weitem mehr als das am Tag zuvor. Dennoch schien sie Wert auf ein dezentes Dekolleté zu legen und nicht mehr Bein zu zeigen als angebracht.

„Na, Sie anscheinend auch – ich habe Sie gar nicht kommen sehen.“

„Ich war schon etwas früher hier, da ich für uns noch eine Kleinigkeit arrangieren musste“, gab sie zurück und wies ihn mit einer Geste an einzutreten.

Er bewegte sich auf sie zu und hielt dicht vor ihr inne, wobei er in ihre funkelnden, tiefgrauen Augen blickte und sagte: „Hallo.“

„Hey“, erwiderte Becky und sah ihm einen Moment lang ebenso eindringlich entgegen.

Schließlich zeigte sie wiederholt nach drinnen und setzte zum Gehen an. „Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Bereitwillig kam er ihrer Bitte nach und schloss sich ihr an. Sie traten durch die große Eingangshalle, bis sie an einer Empfangstheke ankamen, wo ein Mitarbeiter in rotem Sakko sie erwartete. In seinen Händen hielt er einen Lunchkorb aus hellem Weidematerial und eine gemusterte Picknickdecke.

Dankend nahm Becky beide Utensilien entgegen und reichte den Weidenkorb an Don weiter. Anschließend ging Becky weiter und Don folgte ihr bis zu einem offenen Durchgang, wo sie einen langen, schlicht beleuchteten Korridor erreichten. Links und rechts säumte sich eine Reihe verschlossener, gläserner Türen. Dahinter erblickte er Thermalbäder und Massageräume, während er den dampfenden Geruch ätherischer Öle vernahm.

„Ich hoffe, ich wirke nicht überheblich auf Sie, weil ich Sie an einen solchen Ort führe?“, bemerkte sie, als sie sich zu ihm gesellte. „Die Mitgliedschaft ist ein Überbleibsel meines Vaters.“

„Keineswegs, ich betrachte es als erfrischend.“

„Da sich das Etablissement gleich am Rande der Stadt befindet, bietet es sich für mich geradezu an, wenn ich mal das Verlangen nach Erholung und Natur verspüre, ohne dass ich dabei gleich eine lange Fahrt auf mich nehmen muss.“

„Absolut verständlich“, merkte er an, während sie einen backsteinernen Rundbogen passierten, der ins Freie führte.

Augenblicklich hatte die Sonne sie wieder und strahlte ihnen warm entgegen. Rechts von sich erkannte er den makellosen Rasen eines Golfplatzes und mehrere Golf-Carts, deren Insassen die Fahrzeuge gemächlich über die Grünfläche lenkten. Becky steuerte einem kieselsteinernen Pfad entgegen, der auf der linken Seite in einer Parkanlage mündete. Als sie diese erreichten und dem Weg weiter folgten, verdichtete sich rings um sie eine bunte Farbenpracht aus exotischen Pflanzen, Wildsträuchern und Baumgewächsen jeglicher Art. Hin und wieder flatterte ein Schmetterling an ihnen vorüber und der süßliche Duft von Blütengewächsen lag in der Luft.

Don erfüllte plötzlich eine Art innere Ruhe und ihm wurde warm ums Herz. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal Luft in seine Lungen gebracht und dabei an keinerlei Zahlen oder Quartalsergebnisse gedacht hatte. Heute jedoch, in diesem Augenblick, war es anders und er fühlte sich frei von jeglichen Gedanken.

„Sie verkehren also eher selten in solchen Kreisen?“, fragte Becky beiläufig.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und sah sich dann weiter um. „Lediglich des Geschäftszwecks wegen. Privat allerdings, hatte ich noch nie das Bedürfnis, gemeinsam mit Anwälten und Richtern auf einer grünen Weide Bälle einzulochen.“

In ihrem Gesicht las er, dass seine Aussage sie amüsierte, worauf sie erwiderte: „Na dann bin ich aber froh, dass ich kein Anwalt bin.“

„Ja, Sie sehen auch nicht so aus – Sie haben kleinere Hände und längeres Haar.“

Nun lachte Becky lauthals. „Oh ja, diese äußerlichen Unterschiede sind ein Segen!“

Nach einigen Augenblicken machte sie unvermittelt Halt und zeigte mit dem Finger auf eine Grünstelle abseits des Weges. „Das hier wäre doch ein schönes Plätzchen, was sagen Sie?“

„Perfekt“, antwortete Don. Als sie die Stelle auf der frisch gemähten Grasfläche betraten, setzte er den Picknickkorb ab, während Becky die karierte Decke ausbreitete, die sie unter dem Arm getragen hatte. Er entledigte sich des silbergrauen Jacketts seines Seidenanzugs, unter dem er nichts weiter als ein weißes Shirt mit V-Ausschnitt trug. Er faltete es sorgfältig und legte es sich über den Arm, als er sie dabei ertappte, wie sie für die Dauer eines Augenzwinkerns seinen Körper musterte.

„Nun haben Sie mich aber neugierig gemacht, die Frage nach ihrem Beruf ist jetzt wohl unerlässlich“, lenkte Becky unverzüglich ab und zupfte verlegen an einer ihrer blonden Strähnen.

Gemeinsam ließen sie sich nieder und er erkannte, dass sie den gedrückten Ausdruck erhaschte, der ihn unweigerlich überkam. Don war seinem Geschäft gegenüber noch nie sonderlich euphorisch gewesen und es strömte ihm wohl aus jedweder Pore. Auch Frank und der Vorstand wussten um seinen hin und wieder aufkommenden Missmut und trieben ihn und das Unternehmen stets voran. Don schätzte das Engagement seiner Mitarbeiter und vertraute ihnen voll und ganz. Wodurch er pflegte, ihnen so viel eigenständigen Spielraum abzutreten wie nur irgend denkbar – und das nicht zuletzt aus purem Eigennutz. Trotzdem musste er in sämtliche Entscheidungen einbezogen werden, Unterschriften abgeben und neue Strategien absegnen sowie in jegliche interne Probleme eingebunden werden, was in der Regel ein Meeting nach dem anderen zur Folge hatte.

„Mein Unternehmen stellt Rüstungskomponenten her – im Bereich der Abwehr“, antwortete er schließlich.

Beckys Blick zeugte von Interesse. „Sie meinen sowas wie Raketenabfangstationen?“

„Ja genau, wir erstellen die Pläne und produzieren die Einzelteile. Zusammenbauen muss es der Kunde selbst.“

„Warum das?“

„Zum einen, um einen einfacheren Transport zu gewährleisten und zum anderen, da es auf diese Weise für den Kunden günstiger ist.“ Er kratzte sich am Kinn. „Aber um ehrlich zu sein, versuche ich mich damit bloß halbwegs von meiner Schuld freizusprechen. So nach dem Motto: Ich baue keine Waffen, sondern stelle nur die Teile dafür her. Ziemlich lächerlich, nicht wahr?“

Becky sah ihm in die Augen. „Ganz und gar nicht, finde ich. Ich erachte es als lobenswert, dass Ihnen diese Diskrepanz bewusst ist. So merkt man, dass Sie ein Gewissen besitzen. Und ich hatte schon Angst, Sie wären Börsenmakler oder sowas Ähnliches – da sucht man vergebens nach jedem noch so kleinen Funken an Moral.“

Er schmunzelte ein wenig, als sie ihn gleich darauf fragte: „Wie kamen Sie denn zu diesem Beruf?“

„Aus dem ältesten Grund der Welt: Ich bin wie Sie wohl oder übel in die Fußstapfen meines Vaters getreten. Ich war der einzige Erbe und es lag in meiner Verantwortung, den Konzern weiterzuführen. Dennoch war ich nie besonders angetan vom Geschäft mit dem Tod und dem Krieg.“

„Warum sehen Sie es nicht als Geschäft des Schutzes an? Immerhin sind Sie kein kolumbianischer Waffenhändler – Ihr Metier dient doch viel mehr der Verteidigung.“

„Dennoch schlage ich Profit aus der real bestehenden Möglichkeit, dass auf irgendeinem Fleckchen Erde ein Krieg ausbricht.“ Don ließ seinen Blick kurz in die Ferne schweifen, hinweg über das viele Grün bis an die Grenzen der Anlage, dann fuhr er fort: „Und genau darum stelle ich mir immer wieder dieselbe Frage: Schütze ich damit die Welt oder mache ich sie dadurch nur noch gefährlicher?“

Becky sah ihm aufmerksam entgegen, während sich die Züge ihres Gesichts zu einem gutmütigen Ausdruck formten. „Natürlich verstehe ich Ihre Ansicht. Nun, meiner Meinung nach sollte man gegenüber dem, was man tut, niemals abgeneigt sein.“ Sie hielt einen Moment inne und fügte vorsichtig hinzu: „Haben Sie schon mal daran gedacht zu verkaufen?“

„Öfter, als Sie denken. Dennoch ist es das Vermächtnis meines Vaters. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es letztendlich übers Herz bringen würde. Das ist der einzige Grund, weshalb ich weitermache.“

„Das verstehe ich sehr gut“, erwiderte sie.

Sie hatte offenbar erkannt, wie unangenehm ihm das Thema war, worauf sie es auf elegante Weise beendete, indem sie ihre Handflächen laut auf die Schenkel fallen ließ und sagte: „Wer weiß, vielleicht, wenn die Zeit reif ist. Und bis dahin trösten Sie sich damit; Broker, Banker und Politiker sind schlimmer – glauben Sie mir.“

„Nun, dann vertraue ich mal auf Ihr Wort“, antwortete er und fühlte sich dabei ungemein wohl.

Sie sahen sich mehrere Sekunden lang tief in die Augen, bis Becky irgendwann die Stille brach. „Sie haben vielerlei Facetten, Mr. Cullen.“

„Sie ebenfalls – und ich spreche dabei von ausschließlich positiven.“

Wieder lächelte Becky und er spürte mit jeder Faser seines Körpers, wie vernarrt er in dieses Lächeln war.

„Dann lassen Sie uns mal anstoßen“, meinte sie und griff nach dem Lunchkorb. „Horsd'œuvre und Champagner?“

***

Ein Schleier aus lieblichem Rot legte sich über den Horizont, während sich der Nachmittag allmählich dem Ende zuneigte. Der Fluss an amüsantem Gesprächsstoff schien kaum abzureißen, sodass sich Becky und Don während als auch nach dem Lunch ununterbrochen unterhielten. Ihre Gespräche drehten sich um Literatur, Theater und Weltgeschehen, wobei sie, wie Don erfreut feststellte, den meisten Themen gegenüber dieselben Ansichten teilten.

Mittlerweile hatten sie den Club verlassen und waren von dort aus einem abgelegenen Fußweg gefolgt, fernab von jeglichem Trubel und Straßenlärm.

„Shakespeares und Nikolai Leskows Macbeth sind zwei völlig unterschiedliche Geschichten, haben aber dennoch Gemeinsamkeiten“, predigte Don euphorisch, während er mit beiden Händen gestikulierte. „Die Verfilmung von Leskows Lady Macbeth aus 2016 fand ich sehr gelungen – von Shakespeares Werk muss ich erst noch eine überzeugende Adaption sichten.“

„Oh, da könnte ich Ihnen sofort ein Beispiel nennen!“, warf Becky ein.

„Wohl kaum.“

„Jetzt seien Sie mal nicht so kritisch.“

„Na, aber sicher doch.“

Lächelnd schüttelte Becky den Kopf, wobei ihr Schritt langsamer wurde und sie schließlich stehen blieb. Don sah sich zu ihr um und beobachtete, wie sie verträumt in den rosa Himmel starrte.

„Wunderschön, nicht wahr?“

„Absolut“, pflichtete er bei.

„Egal wie fortschrittlich wir werden, keine Technik der Welt wird je einen solchen Anblick ersetzen können.“

Don erwiderte aufrichtig: „Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu.“

Sie schwiegen und genossen den Moment. Er sah abwechselnd zwischen ihr und dem abendlichen Himmelsschauspiel umher, als er seinen Blick nicht mehr von ihr losreißen konnte: Ihr traumverlorener Ausdruck und ihre großen, meergrauen Augen, die sowohl Wärme, Güte als auch Scharfsinn ausstrahlten. All dies zog ihn völlig in ihren Bann, sodass er wie angewurzelt dastand und sich in seinen Gedanken verlor.

„Was ist?“

Ihre Frage riss ihn prompt aus seiner Blase und katapultierte ihn ins Hier und Jetzt zurück.

„Wissen Sie …“, er zögerte und fühlte sich noch immer ein wenig abwesend.

„Was?“, wiederholte sie und musterte seinen Ausdruck.

Dann blickte er ihr plötzlich bestimmt und eindringlich entgegen. „Ohne respektlos zu wirken, aber würde man es als unverschämt betrachten, wenn ich tief in meinem Inneren den Wunsch verspüre, dass Sie sich mir in diesem Augenblick völlig hingeben … jetzt sofort, auf der Stelle?“

Die Luft zwischen ihnen schien zu stocken und als würden sich die umliegenden Geräusche mit einem Schlag dämmen, breitete sich eine mystische Stille aus. Mit scharfem, durchbohrenden Blick sah sie ihm in die Augen, zugleich war da aber auch ein dezentes, in sich gekehrtes Lächeln zu verzeichnen, als fühlte sie sich irgendwo tief im Verborgenen geschmeichelt.

„Nun …“, setzte Becky kurz darauf an und versuchte gelassen zu wirken, wobei ihre Stimme trotz allem einen leicht heiseren Klang vernehmen ließ. „Wenn Sie es sich nur denken würden, ganz tief in Ihnen, dann wäre es noch einigermaßen hinnehmbar und würde als das natürliche Produkt männlicher Fleischesgier gelten. Aber leider haben Sie es laut ausgesprochen.“

Die Atmosphäre glühte, als stünden sie inmitten eines brennendheißen Flammenringes. Und wieder war da diese kaum auszuhaltende Stille. Es fühlte sich an, als schien sich die Luft mit jeder Sekunde weiter zu erhitzen, sodass er fürchtete, der Bereich zwischen ihnen könnte sich jeden Moment in einer unsagbaren Feuersbrunst entladen.

„Ich wollte nur ehrlich sein“, sagte Don. „Denn egal wie Sie es drehen und wenden: Wir verbringen Zeit miteinander, wir sprechen und tauschen uns aus … doch all dies führt dennoch nur unweigerlich dazu, dass ich immer mehr von Ihnen will – ungeachtet der männlichen Lust nach Fleisch, wie Sie es beschreiben. Denn es ist viel mehr als das; es ist der natürliche Verlauf der Gefühlswandlungen. Von Sympathie und Faszination zu Gefallen, bis schrittweise hin zu unbändigem Verlangen. Ich bin nun an Letzterem angekommen. Welcher ist Ihr Standpunkt?“

Der Augenblick war intensiv und nervenzerfetzend. Beckys Ausdruck wechselte schlagartig, worauf sie ihm durchdringend entgegensah, sodass er buchstäblich glaubte von ihrem Blick durchbohrt zu werden.

Schließlich trat sie einen Schritt näher. Nun standen sie sich ganz nah gegenüber und Don vernahm, wie ihr Atem immer schneller und lauter wurde. Ihre Lippen zitterten, es war ihr nicht anzusehen, ob vor Nervosität oder vor Erregung. Ihm war heiß unter seinem T-Shirt und er hatte Angst, es könnte ihm den Atem abschnüren. Er wusste nicht, was passieren würde, aber er hoffte zumindest, dass genau das geschehen würde, was er sich wünschte. Und während er darüber nachdachte, umklammerte Becky unerwartet sein Gesicht und küsste ihn hastig.

Der Kuss war heftig, hungrig und Don spürte, wie sie mit kreisender Zunge tief in seinen Mund eindrang, während sie ihn immer enger an sich zerrte. Er widersetzte sich keineswegs, denn genau in diesem Augenblick, nun da sein Herz pochte wie ein gesammeltes Trommelregiment, erkannte er, wonach er immer gesucht hatte. Nämlich nach ihr. Einer so unheimlich starken und anziehenden Frau, wie sie es war, und die er nun nie wieder loslassen würde.

Er verlor sich in ihrem Kuss und schmiegte sich an ihren Körper, den er nun mit beiden Händen begehrend berührte. Er wusste, würden sie nicht unverzüglich damit aufhören, würden sie sich auf der Stelle einander hingeben – ohne jegliche Reue. Und so wehrte er sich und lehnte sich gegen seine Lust auf. Offenbar bemerkte sie seine plötzliche Zurückhaltung und ließ von ihm ab. Erstaunt, aber auch etwas verlegen blickte sie ihm in die Augen, während ihr Atem nach wie vor bebte. Noch immer hielt er sie fest in seinen Armen, wobei er mit aller Mühe versuchte, sich wieder zu fangen.

„Was nun?“, fragte er knapp und ruhelos.

Sie schwieg für einen Moment, dann zeigte sie mit dem Finger den Fußweg entlang und antwortete leise: „Etwa zwanzig Meter in die Richtung liegt mein Anwesen.“

***

Er hatte sich im Badezimmer noch etwas frisch machen wollen und sie hatte ihm erklärt, wo sich die Räumlichkeiten befanden. Als er unmittelbar darauf in das Zimmer trat, lag sie bereits nackt auf dem Bett. Sie beobachtete, wie er sein Shirt abstreifte und seinen strammen Körper entblößte. Das gedämmte Licht in dem Raum sorgte dafür, dass sich die Konturen seines dezenten Muskelbaus als kleine Schattenlinien auf seiner geschmeidigen Haut abzeichneten.

Ihr Herz schlug zum Zerspringen, denn was sie da tat, war absolutes Neuland für sie. Noch niemals hatte sie einem Mann gleich beim ersten Treffen gewährt, in ihr Haus zu kommen. In ihr Schlafzimmer. Keinem zuvor hatte sie sich so schnell auf ihre intimste Weise geöffnet. Ihm erlaubt, die geheimste Schwelle zu übertreten. Zu sehen und zu spüren, was bislang nur einer Handvoll Auserwählten gestattet war. Und sie hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie ihren eigenen Regeln nun trotzte.

Don hatte mehr positive Eigenschaften zu ihrem ersten Date mitgebracht als jeder davor. Er war kultiviert, humorvoll, gutaussehend und wie sich anhand des Missmuts seinem Job gegenüber herauskristallisierte, besaß er als Extrabonus auch noch einen ausgeprägten, moralischen Kompass. Trotzdem wusste sie, dass jeder Eindruck täuschen konnte, besonders der erste. Egal wie traumhaft und vielversprechend das Paket auch aussah, den Inhalt kannte man erst, wenn man es geöffnet und darin herumgekramt hatte, so viel war ihr klar. Ihre Erfahrung im Umgang mit Beziehungen lehrte sie, dass man selbst nach einem Jahr noch nicht jede einzelne Seite eines Menschen kannte – und genau darum galt es, ihre selbst auferlegten Regeln einzuhalten und nichts zu überstürzen. Er konnte auch jemand sein, der am nächsten Morgen, wenn sie aufwachte, verschwunden wäre – die Gefahren waren vielschichtig.

Aber warum sollte es nicht auch mal anders kommen, fragte sie sich in Gedanken und versuchte sich verzweifelt damit zu trösten, dass jede Ausnahme die Regel bestimmen konnte. Außerdem war Don nicht wie die meisten. Schon von der ersten Sekunde an hatte sie sich auf betörende Weise zu ihm hingezogen gefühlt. Sein gesamtes Auftreten und sein faszinierender Charakter hatten sie wie eine Wucht getroffen und an Ort und Stelle verzaubert. Hinzu kam, dass er ein Mann war, der selbst dann, nachdem sie ihn einen ganzen Tag lang kennengelernt hatte, von Minute zu Minute immer noch interessanter zu werden schien. Außerdem hatte sein Sexappeal sie schon in Wallung gebracht, noch bevor sie überhaupt den Club verlassen hatten. Und so wusste sie, dass ihr keine andere Antwort übrigblieb als jene, die sie ihm gegeben hatte – obgleich sie sich dabei so schuldig fühlte wie ein junges Schulmädchen.

Während er Knopf und Reißverschluss seiner Anzugshose öffnete, richtete sie sich auf und trat an ihn heran. Sie berührte seinen Leib, die Muskeln und das Fleisch. Dann ließ sie ihre Hände über seinen Körper gleiten und half ihm dabei seine Hose und Boxershorts loszuwerden.

Glühend vor Ekstase berührte sie seinen strammen Hintern und drückte Don unsanft zu sich. Zugleich wollte sie wütend auf ihn sein, doch sie konnte es nicht. Sie wollte ihn zum Teufel jagen, aber sie tat es nicht. Im Gegenteil, sie wollte sich nur noch an ihn klammern und ihn für immer festhalten. Und während sie ihre lüsternen Hände über seine harte Brust streifen ließ, überkam sie der Gedanke, dass es sich hierbei nicht mehr bloß um pure Anziehungskraft und Verlangen drehen konnte, sondern dass es viel mehr sein musste, das sie verband. Nämlich Zuneigung. Don war der Mann, nach dem sie strebte. Er war der Mann, auf den sie so lange gewartet hatte und den sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen würde. Dann sah sie ihn eindringlich an und küsste ihn leidenschaftlich. Sie küsste ihn mit solch unbändigem Temperament, dass sie fürchtete, sie könnte ihn verschrecken. Der Kuss war hart, impulsiv und strotzte vor Verlangen. Endlich würde sie ihren Hunger stillen, den Hunger nach ihm.

Plötzlich bemerkte sie, wie er innehielt.

Sie blickte zu ihm auf. „Ja?“, fragte sie rastlos.

Er sah ihr in die Augen und ein verschmitztes Lächeln wich über seine Lippen. „Hätte beinahe die Sache mit deiner Ungeduld vergessen.“

Sie verkniff sich ein Lachen –der Mann ist doch kaum zu fassen. Dann wurde Dons Ausdruck wieder ernst und sie fühlte, wie er mit aller Sanftheit mit beiden Händen ihre Brüste umklammerte. Geschmeidig glitt er an ihr hinab, wobei seine Lippen sich ihrem Busen näherten. Sie spürte, wie sich ihre Brustwarze zwischen seinen Zähnen erhärtete. Augenblicklich sträubten sich ihr die Haare über den gesamten Körper. Eine Schar spannungsgeladener Impulse sauste wie Geschosse durch sämtliche ihrer Regionen, besonders durch ihren Unterleib.

Als er sich wieder aufrichtete, gingen ihre zierlichen Finger auf Wanderung und konnten ertasten, dass er ebenso erregt war wie sie. Plötzlich drückte er sie an sich und küsste sie, zügig und stürmisch. Dann umklammerte er sie mit seinen starken Armen und presste ihren Körper eng an sich. Sie machte einen Satz und schwang ihre Beine um seine Taille, während sie sein Gesicht mit unzähligen Küssen überhäufte.

Vorsichtig trug er sie zu Bett und ließ sie sanft auf das weiche Seidenlaken niedergleiten, und sie ließ es mit sich geschehen – alles, was er wollte.

Er schlängelte sich an ihr hinab und streifte dabei mit seiner Zunge über die erregte Haut ihres Körpers. Als sein Mund ihre kahle Scham erreichte, konnte sie fühlen, wie ihre Muskeln zuckten und ihr gesamter Leib wie wild bebte. Und dann begann er.

Kribbeln.

Zucken.

Stimulierende Schläge schossen durch ihren Körper und entluden sich binnen Sekunden in einer ekstatischen Explosion. Sie stöhnte laut auf, während sich ihre beiden Hände durch sein Haar gruben und sich dort festkrallten. Sie hielt einen Augenblick lang die Luft an, ihr gesamter Körper war angespannt, dann stieß sie erneut einen gellenden Schrei aus. Einen Schrei der Befreiung, worauf ihre Muskeln erschlafften.

Dann griff sie nach seinem Gesicht und bewegte ihn dazu, ihr noch näher zu kommen. Denn nun wollte sie mehr. Sie wollte ihn endlich in sich spüren. Ganz tief. Was sollte die Quälerei, er wusste doch, wie es um ihre Geduld stand! Er schien zu begreifen und beugte sich über sie. Geschmeidig suchte er den Platz zwischen ihren Schenkeln und dann war es so weit. Behutsam und vorsichtig glitt er in sie und sie klammerte sich an ihn. Sie konnte fühlen, wie er sich sacht bewegte. Vor und zurück. Immer wieder, bis sie schließlich fürchtete, von innen heraus zu verglühen. Überwältigt stockte ihr der Atem und ihr gesamter Leib zuckte. Und als hätte sich mit einem Schlag eine gewaltige Energie in ihr entladen, stöhnte sie erneut gellend und ekstatisch auf. Dann umfasste sie seine Wangenknochen, zog sein Gesicht zu sich heran und drückte ihm eine Schar fester Küsse auf, während sie Schübe elektrisierender und prickelnder Reibung in sich verspürte. Und sie genoss es.

Jede Sekunde davon.

3

Brea, 02. Juni 2024

Die Zeit war unaufhörlich fortgeschritten. Jahre, die einst Monate waren und Tage, die einmal Stunden waren, zeugten davon, dass nichts so beständig war wie die Zeit selbst. Und auch Beckys und sein Leben hatte weder Halt noch Rast gemacht, wie Don immer wieder feststellte.

Unvermeidbar hatte sich, wie in jeder Ehe, auch in ihrer allmählich der Alltag eingeschlichen. Die letzten Jahre, und besonders die letzten zwei, bestanden aus einer Aneinanderreihung von Tagen, die ein und derselbe zu sein schienen. Termine, Deadlines und Verkaufsgespräche dominierten beiderseits ihren Lebensweg.

Besonders Don selbst war es, der eingespannt war. Sein Geschäft hatte Hochkonjunktur, seit ein beispielloser Konflikt in Osteuropa im Begriff war, die Welt aus den Angeln zu heben. Er wünschte, er würde Becky öfter in den Arm nehmen, aber immer genau dann, wenn er daran dachte, war einer von ihnen beschäftigt. Entweder hing Becky an der Strippe oder ihm fiel plötzlich etwas ein, das er noch schnell erledigen wollte, bevor er es vergessen würde oder es zu spät wäre. Manchmal war es wie verhext.

Doch das änderte nichts an seiner Liebe zu ihr. Zu keiner Zeit. Und er hoffte, dass es ihr ebenso erging.

Noch immer loderte ein immenses Feuer in ihm, wenn sie sich liebten, was allerdings auch nicht mehr so häufig geschah wie einst. Sie verstanden sich noch immer gut und selbst wenn sie nicht mehr so viel Zeit miteinander verbrachten wie früher, sahen sie sich noch immer als gemeinsame Front gegen den Rest der Welt. Mit Stolz konnte Don von sich behaupten, es geschafft zu haben, ihr in all den Jahren nicht ein einziges Mal fremdgegangen zu sein, obgleich ihm das ein oder andere Angebot durchaus untergekommen wäre.

Natürlich gab es ab und an Streit und Meinungsverschiedenheiten, aber auch das änderte nichts an seiner Liebe. Zwar war die anfängliche Euphorie mit den Jahren verflogen, der Zauber und die Magie ihrer Liebe jedoch blieben. Denn, dass sie die Einzige für ihn war, stand nach wie vor fest.

Geheiratet hatten sie drei Jahre nach ihrem ersten Zusammentreffen. Es war ein Fest im kleinsten Kreise gewesen, mit nur einigen geladenen Gästen wie ausgewählten Verwandten und ein paar Mitarbeitern. Der Tag war sicherlich einer der wichtigsten ihres Lebens, doch der größte war für sie nach wie vor der, als sie sich vor acht Jahren kennengelernt hatten. Sie gaben nichts darauf, sich monatelang mit der Organisation und den Vorbereitungen des vermeintlich schönsten Tages herumzuplagen und sich letztlich bis kurz davor völlig ausgelaugt zu fühlen, wie sie es anhand zahlreicher Beispiele in ihrem Bekanntenkreis miterlebt hatten – von dem übrigens knapp die Hälfte mittlerweile in Scheidung lebte. So war die Feier bescheiden ausgefallen und dennoch hatten auch sie, auf diese Weise einen wunderbaren Tag erlebt.

Auch heute noch spürte er, wie ein zartes Flattern in seiner Bauchgegend erwachte, wenn er sich daran erinnerte, wie sie sich am Tag nach ihrer Begegnung zum ersten Mal körperlich geliebt hatten. Oder immer dann, wenn er von hinten ihre Taille umfasste, während sie sich im Badezimmer zurechtmachte. Wie sie ihn auf das Kitzeln seiner stacheligen Bartstoppeln hinwies, wenn seine Lippen über ihren Nacken strichen und er ihr Haar sanft über ihre Schulter schob, damit er ihren Hals küssen konnte. Aber auch das war immer seltener geworden.

Trotzdem liebte er sie, damals wie heute, egal wohin sich die Dinge entwickeln würden, und es wäre ihm nicht schwergefallen, für sie auf vieles zu verzichten. Sein gesamtes Bestreben bestand darin, ihr ein guter Mann zu sein und sie glücklich zu sehen.

Wie oft hatte sie ihm erzählt, wie viel Tadel sie sich selbst auferlegt hatte, weil sie so schnell mit ihm geschlafen hatte. Nie hätte sie erwartet, dass es irgendwann sogar zu einer Heirat kommen würde. Sie hatte es sich damals zwar gewünscht, wie sie stets erwähnte – dass es echt wäre, dass er der Richtige wäre, aber sie hatte kaum gewagt, tatsächlich damit zu rechnen. Doch letztlich hatte sie recht behalten und ihre Hoffnung war augenscheinlich zur Wahrheit geworden.

Und obgleich ihr gemeinsames Leben stets die ein oder andere Überraschung für sie bereitgehalten hatte, hätte er keine einzige Stunde davon eintauschen wollen. Weder an guten Tagen, an schlechten, noch an solchen wie heute. Denn heute war wieder einer jener Wochentage, an denen eine hektische Situation der nächsten gefolgt war. Telefonate, Besprechungen und ein stetiges Verweilen im Straßenverkehr aufgrund der scheinbar niemals endenden Autobahnreparaturen an den Stadtzufahrten, hatten ihren Stundenplan völlig ausgefüllt – praktisch ein ganz normaler Freitag. Becky und Don sahen es wie gewohnt mit Humor und hatten sich, als sie vor anderthalb Stunden nahezu gleichzeitig nach Hause gekommen waren, gegenseitig daran gemessen, wer länger im Stau gestanden hatte.

Inzwischen hatten sie geduscht und waren soeben dabei sich für eine Benefizgala zurechtzumachen.

Becky rief aus dem Schlafzimmer nach ihm. Don spitzte aus dem Badezimmer durch den offenen Türspalt. „Ich frisiere mir gerade die Haare!“

Sie erwiderte etwas, aber er verstand es nicht. Er trat aus dem Raum, die Finger voller Haargel. „Was?“

„Wenn ein Paar heutzutage zu spät kommt, darf der Mann nicht mehr den Kopf schütteln und spöttisch das Wort Frauen von sich geben, von wegen diese kämen nicht aus dem Bad – ich werde heute eine neue Ära einleiten und beim Empfang sagen: Männer … Und das mit einem auffälligen Augenrollen dazu!“

„Du hast meinen Segen, Schatz. Du weißt, ich bin voll und ganz für Emanzipation!“, rief er ihr zu. Und sie hatte tatsächlich recht; in ihrer Beziehung war eindeutig er derjenige, der mehr Zeit im Badezimmer verbrachte. Aber nicht, wie sie es zu glauben pflegte, weil er überaus eitel oder pingelig war. Nein. Sondern aus dem einfachen Grund, dass er dort trödelte. Das Bad war der einzige Ort, an dem für ihn die Zeit stillstand. Es war ein Ort der Ruhe, der Rast und der Freiheit, an dem er keinerlei Hektik oder negative Gedanken zuließ – es war sein Aus-Bereich auf jenem turbulenten Spielfeld namens Leben.

Er wusch sich das Gel aus den Händen und sah ein letztes Mal in den Spiegel. Er war noch immer gutaussehend und athletisch, er hatte in den letzten acht Jahren höchstens drei oder vier Kilo zugenommen. Aber als er mit der Hand durch sein Haar fuhr, erblickte er immer öfter graue Strähnen darin. Wie die Zeit vergeht … Als er Becky kennengelernt hatte, war er zweiunddreißig Jahre alt gewesen und sie vier Jahre jünger. Jetzt war er vierzig, fühlte sich aber kein Jahr älter als damals. Obgleich jene Haarsträhnen das Gegenteil bewiesen. Was soll´s, dachte er und versuchte auszublenden, was er soeben entdeckt hatte.

In schwarzem Smoking trat er ins Schlafzimmer und rückte seine Fliege zurecht.

„Na du?“, meinte Becky, die sich gerade aufs Bett setzte und in ihre zehenfreien, hochhackigen Schuhe schlüpfte.

„Ich bin fertig.“

Becky blickte auf und musterte ihn. „Na wenigstens hat sich der lange Badaufenthalt gelohnt, du siehst gut aus.“

Sie trug ein dunkelbraunes Cocktailkleid, war wie immer dezent geschminkt und hatte ihr Haar in einem kunstvollen Knoten nach oben gesteckt. Wie üblich war Don verblüfft. Denn egal ob aufgedonnert oder morgens im Bademantel gleich nach dem Aufstehen, Becky sah stets umwerfend aus. Sie besaß diese natürliche Schönheit, die auch ohne jedes Make-up auskam.

„Na und du erst“, erwiderte er und reichte ihr eine Hand. „Du wirst wieder mal alle anderen Frauen ausbooten und dir neue Feindinnen machen.“

„Ach was“, winkte sie ab und ließ sich von ihm aufhelfen.

Er gab ihr einen zarten Kuss und einen sanften Klaps auf den Po. „Na los, wir sind sowieso schon zu spät dran.“

„Ist nicht meine Schuld“, gab Becky zurück und begab sich zur Tür.

„Hey!“

Sie blieb im Türrahmen stehen und wandte sich zu ihm um. „Ja?“

„Liebst du mich?“

„Na klar.“

Und da war es wieder. Dieses flüchtige Augenzwinkern und dieser kurze Luftkuss, den sie im stets zuwarf, immer wenn er sie danach fragte. Diese beiden Gesten, in die er sich mit den Jahren so sehr verliebt hatte. Dann trat sie aus dem Raum und er vernahm das klacksende Geräusch ihrer Schuhe, während sie den gefliesten Flur bis zur Eingangskommode entlangschritt.

Don warf einen Blick auf die Uhr: schon fast acht. Das Dinner auf der Benefizveranstaltung würde bereits in fünf Minuten beginnen. Sie müssten noch durch den bewaldeten Vorort und hinterher ins Stadtzentrum, was mindestens eine halbe Stunde beanspruchte. Er zuckte mit den Schultern. Spenden kann man auch, wenn man zu spät kommt, dachte er und nahm die Sache gelassen.

***

Becky starrte ausdruckslos hinaus auf die Straße, mal durch die Frontscheibe, mal aus dem Seitenfenster. Draußen war alles dunkel, mit Ausnahme von kaum zu erkennenden Silhouetten einer Vielzahl an Baumstämmen, die auf beiden Seiten der Landstraße an ihnen vorüberzogen. Ab und an brachen sich die in Schwarz getauchten Schatten des Waldes am Licht des Mondscheins, ansonsten sah und hörte man nichts von dem Land, das sie umgab. Jene einsame Strecke durch die dunklen Wälder nutzte jeder für sich mehrmals pro Tag. Im Gegensatz zu Becky genoss Don es, sie nachts zu durchfahren. So wie jetzt, wenn die Stille zusammen mit der alles umhüllenden Finsternis eine friedliche und beruhigende Wirkung auf ihn ausübte.

Am Straßenrand befanden sich weder Laternenpfähle noch Leitpfosten, es war eine Fahrt durch völlige Dunkelheit. Durch eine schwarze Nacht, die von keinerlei Licht in der Landschaft gemildert wurde. Dennoch schien es plötzlich so, als wären sie nicht mehr allein auf der Straße. Winzige Lichtkegel, weit vor ihnen, brachen sich durch das Finster und steuerten direkt auf sie zu. Dahinter blitzten rot-blaue Sirenenleuchten auf, deren Schein sich in alle Himmelsrichtungen verteilte. Die Scheinwerfer schienen immer schneller auf sie zuzurasen, wobei sie stetig größer und größer wurden.

Don kniff die Augenlider zusammen, versuchte zu erkennen, was da vor sich ging. „Was verdammt …“

„Schatz, fahr langsamer“, sagte Becky ein wenig erregt und fasste dabei an den Ärmel seines Jacketts.

Don ging vom Gas, bis sein Tacho nur noch 30 km/h anzeigte, während die Klänge aufheulender Sirenengeräusche die Stille der Nacht jäh beendeten. Im selben Moment wurde ihm klar, dass sich da vor ihnen nichts weniger als eine Verfolgungsjagd abspielte.

Ein zittriger Unterton schlich sich in Beckys Stimme. „Fahr an den Rand!“

„Ja doch!“

Schlagartig tanzten die Lichtkegel inmitten der Dunkelheit wie Ping-Pong-Bälle kreuz und quer über die Fahrbahn und Don begriff sofort, dass der flüchtige Lenker die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Don hatte ihr Auto bereits am Rand der Straße zum Stehen gebracht, ein weiteres Ausweichen war aufgrund der dicht angrenzenden Wälder nicht möglich.

Er und Becky starrten wie Statuen auf das umherschleudernde Gefährt, das ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegenschoss. Mit einem Mal ging alles ganz schnell und Don überlegte in Sekundenbruchteilen, ob er versuchen sollte, vorwärts oder rückwärts auszuscheren. Es war jedoch vergebens, denn niemand konnte auch nur ansatzweise erahnen, ob oder wo das Fahrzeug aufprallen würde. In Gedanken hoffte Don, der Wagen würde einfach an ihnen vorbeigleiten und er begann ein Gebet – was er zustande brachte, waren allerdings nur die ersten paar Worte davon. Vater im Himmel … Dann vernahm er, wie Becky lauthals aufschrie, während sich ihre Finger am Stoff seiner Anzugjacke festkrallten: „Oh mein Gott!“

Sein letzter Blick galt ihr. Er sah in ihre weit aufgerissenen, von Angst erfüllten Augen, die kaum glauben wollten, was passierte. Es war ein Ausdruck, den er noch niemals in ihrem Gesicht gesehen hatte. Schrecken, Verzweiflung, Bedauern, er drückte all jene Emotionen zur selben Zeit aus. Und Don wusste genau, was sie damit meinte – es war das Bedauern darüber, dass ihr gemeinsames Leben nun womöglich endete. Das Leben, das sie so gern noch ein wenig länger mit ihm geteilt hätte. Dann drang für einen kurzen Augenblick das schrille Pfeifen bremsender Autoreifen in sein Gehör, als schließlich Metall auf Metall krachte.

Ein Nebel aus Reifenqualm mischte sich mit den Dampfwolken ramponierter Motoren, zugleich verstreuten sich Tausende Scherben zerklirrender Front- und Seitenscheiben überall in der Luft. Fliegende Erdbrocken und aus dem Boden gerissene Wurzeln von Gebüsch schossen an Dons Gesicht vorüber, während sich sein Fahrzeug mehrmals überschlug. Was blieb, war das ohrenbetäubende Geräusch eines Donnerschlags, als das Gehäuse seines Wagens gegen den Stamm einer Eiche prallte.

Und dann war es still.

Don spürte, wie eine Träne über sein Gesicht floss. Sie mündete am Kragen seines Hemdes, wo sie gemeinsam mit seinem eigenen Blut vom edlen Baumwollstoff aufgesogen wurde.

Er röchelte und bekam kaum Luft. Bis letztlich alles verschwamm und sich vor seinen Augen ein Nichts aus schwarzer Dunkelheit ausbreitete.

4

Stimmen. Eine Vielzahl an Stimmen, welche sich gegenseitig etwas zuriefen. Ein ununterbrochenes Wackeln und das Geräusch von Rädern, die über einen glatten Boden rollten. Als er seine Lider einen Spalt öffnete, drang sich ihm der Schein geschwind vorüberziehender Neonlichtlampen entgegen.

Er konnte nicht schlucken. Ein breiter, transparenter Schlauch ragte aus seinem Rachen und eine fremde Hand über seinem Gesicht beförderte mittels eines Beatmungsbeutels Luft durch den Schlauch. Er spürte, wie sich sein Atemorgan mit jedem Stoß aufquoll und im Anschluss wieder in sich zusammenfiel.

Um ihn herum versammelte sich eine Schar fremder Gesichter, die auf ihn herabblickten und in medizinischem Kauderwelsch miteinander kommunizierten. Es waren verschiedene Männer und Frauen in weißen Kitteln, welche die ratternde Trage, auf der er lag, eilig durch den hellen Korridor schoben.

Er war schwach und bewegungsunfähig. Erschöpft fielen seine Augenlider zu und es wurde wieder dunkel. Akustisch nahm er ein Durcheinander an Sprachfetzen und medizinischen Fachausdrücken wahr, konnte ihnen jedoch nicht folgen.

„Was haben wir hier? Erstatten Sie mir Bericht!“

„Anfang vierzig, männlich, Autounfall! Enormer Blutverlust, mit zwei Konserven 0-negativ kompensiert! Schwacher Puls! Kollabierte Lunge, mögliche innere Verletzungen, vor Ort eine Thoraxdrainage gelegt und intubiert! Verdacht auf Schädelhirntrauma, dazu mehrere Knochenbrüche!“

„Machen Sie ein Notfalllabor, Thoraxaufnahme, Röntgenbilder und bereiten Sie das MRT vor! Und jetzt ab in den OP mit ihm – sofort!“

„Alles klar!“

Schrittgeräusche. Türen, die aufgerissen wurden und zuknallten. Weitere Personen, die hinzukamen und wieder Stimmen.

Er begriff gar nichts, weder, wo er war noch was vor sich ging.

Bis sich das Gesprochene letztlich in einem dumpfen Wortgemenge verlor und die Stimmen allmählich verklangen. Langsam und schleichend. Bis nur noch Stille herrschte.

Dunkelheit und Stille.

5

Als er die Augen öffnete, sah er, wie sich ein weißes Leinentuch über seinen Leib schwang. Er spürte, wie er wackelte, während eine junge Frau seinen Körper in das Bettlaken eintütete, wie man es mit kleinen Kindern machte. Sie trug ein einfarbig rotes Kostüm, wobei jede ihrer Bewegungen so fingerfertig war, als täte sie den ganzen Tag nichts anderes.

Es war ruhig, beinahe friedlich. Seine Augäpfel bewegten sich schwerfällig von links nach rechts und er erkannte einen weißen, sauberen Raum. Die Luft war ein wenig stickig und es roch nach Desinfektionsmitteln. Dann begriff er, dass er sich in einer Klinik befand und die Frau wohl eine Krankenschwester war.

Aber warum ein Krankenhaus? Er war doch auf dem Weg zur Gala. Dann blitzten plötzlich rote und blaue Polizeilichter vor seinem inneren Auge auf. Die Scheinwerfer. Der Wagen, der auf sie zuraste und … Becky!

Wie ein Blitz durchwanderte ein Zucken seinen gesamten Leib und sein Herz begann wild zu trommeln. Er wollte sich erheben, doch sein Körper war zu kraftlos und sackte gleich wieder in sich zusammen. Desgleichen bemerkte er, dass sein linker Arm bis zur Schulter eingegipst war und sich so schwer anfühlte wie Blei.

Er versuchte zu sprechen, aber sein Mund war so trocken, dass er nicht einmal schlucken konnte. Seine Lippen hafteten noch einen Augenblick wie zugeklebt aneinander, bevor sie sich öffneten.

„Mr. Cullen, Sie sind wach“, erklang die Stimme der jungen Dame. „Brauchen Sie etwas, möchten Sie etwas trinken?“

Don nickte und die Frau marschierte um das Bett und griff nach einem Becher Wasser mit einem Strohhalm, der direkt neben ihm auf dem Nachtkästchen stand. Während er trank, hatte er alle Mühe, sich nicht zu verschlucken, als er den Strohhalm schließlich mit der Zunge wieder aus seinem Mund schob.

„Wo ist meine Frau?“ Seine Worte waren nicht mehr als ein kratziges Flüstern und er wiederholte die Frage.

„Ich werde sofort Ihre Ärztin ausrufen lassen.“

„Warten Sie!“, krächzte er und versuchte, sie aufzuhalten. „Sagen Sie mir bitte, was mit meiner Frau …“

Die Krankenschwester aber eilte bereits durch den Türstock und verschwand in einem hell beleuchteten Korridor.

Unruhig wartete er einige Minuten, während er von Sekunde zu Sekunde nervöser wurde. Seine Gedanken drehten sich wirr im Kreis, wobei er versuchte, die Situation so gut es ging zu analysieren. Die Klinik, in der er sich befand, konnte nur das Regent County



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