Im Auge der Dämmerung - Daniel Tappeiner - E-Book

Im Auge der Dämmerung E-Book

Daniel Tappeiner

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Beschreibung

Als der nach einem Bombenanschlag schwer traumatisierte Polizist Dennis seinem Leben im Wald ein Ende setzen will, taucht plötzlich aus der Dämmerung ein völlig verstörtes Kind auf, das ihn um Hilfe anfleht. In einer höllischen Nacht und einem erbarmungslosen Wettlauf gegen die Zeit kämpft er unter Einsatz seines Lebens für die Rettung Unschuldiger und findet dabei zu sich selbst zurück – und zu einer bemerkenswerten Frau …

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

09/2022

 

Im Auge der Dämmerung

 

© by Daniel Tappeiner

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Diana Maier

Korrektorat: Barbara Dier

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Daniel Tappeiner

 

Coverbild ›Remoment‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Mein ist die Strafe‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-165-2

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

Daniel Tappeiner

 

Im Auge der Dämmerung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nichts auf der Welt ist

dem Menschen mehr zuwider,

als den Weg zu gehen,

der ihn zu sich selber führt.

 

Hermann Hesse

 

Prolog

 

»Du weißt, dass wir während unserer Bereitschaftswochen nicht trinken dürfen«, flüsterte Josh Dennis aufgebracht ins Ohr, während der Transportwagen der Sondereinheit auf quietschenden Reifen durch die überfüllten Straßen Mailands zischte.

»Und du weißt, dass ich das bisher auch noch nie gemacht habe«, verteidigte sich Dennis und sah Josh dabei eindringlich in die stahlblauen Augen. »Die ganze Woche sind wir zu keinem einzigen Einsatz gerufen worden, wer hätte das denn voraussehen können? Lisa hatte eine Geburtstagsparty für ihren Bruder arrangiert, wir hatten Spaß und dann führte das eine eben zum anderen. Es waren nur ein paar Gläser Schampus.«

»Ein paar Gläser?« Josh lehnte sich an die Seitenwand hinter ihm und schüttelte den Kopf. Diese Aussage war die Untertreibung des Jahres. Sein Blick fiel kurz durch die geöffnete Zwischentür zum Fahrer des Transportwagens, bevor er wieder zu Dennis sah. In seinen Augen flackerte Verärgerung. »Sieh dich doch an, du bist vollkommen verkatert. Ich sollte dich eigentlich freistellen.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Dennis seinen Freund eingehend an, während tiefe Falten seine Stirn zerfurchten. »Jetzt mach mal ‘nen Punkt, ich bin vollkommen einsatzfähig.« Dennis’ Stimme war etwas zu laut und erregte sofort die Aufmerksamkeit der neben und vor ihm auf ihren Bänken sitzenden Teamkollegen. Jedoch ließen sie sich nichts anmerken.

»Das will ich für dich hoffen. Trotzdem reihst du dich heute in der Formation als Letzter ein und gibst uns Deckung. Sei froh, dass ich dich nicht melde.«

Dennis wollte dem nichts mehr hinzufügen und lud mit einer ruckartigen Bewegung das Sturmgewehr durch.

Das Geräusch ließ ihn kurz zusammenzucken. Sein Schädel dröhnte. Er verzog das Gesicht und legte eine Hand über seine Augen. Dieses Verhalten war nicht typisch für ihn und er schämte sich dafür. Tatsächlich hatte er als Teil des zehnköpfigen Einsatzteams in all den Jahren noch niemals die Regeln gebrochen, war stets zuverlässig gewesen und hatte sich nie auch nur das Geringste zu Schulden kommen lassen.

Dennoch, dieses Mal war ihm ein Fehler unterlaufen. Ein Fehler, den er bereute.

Joshua mochte zwar sein bester Freund sein, doch er war auch sein Vorgesetzter und es war niemals in Dennis’ Sinn gewesen, ihn zu enttäuschen.

Doch dem war nun so. Unwiderruflich.

Als der Einsatzwagen ruckartig anhielt, wurden Dennis, Josh und die restliche Mannschaft durch die Vollbremsung einen Augenblick lang in ihre Gurte gepresst. Sofort schnallten sich die Insassen los, worauf einer von ihnen umgehend die Hintertür des Busses öffnete.

Als sie nach draußen traten, stieß ihnen blanke Hitze entgegen. Heißer Asphalt, der von der Sonne erwärmt wurde. Das Areal rund um das Schulgebäude war bereits lückenlos abgeriegelt worden. Das Geheul von Polizeisirenen lag in der Luft und ein Einsatzhelikopter umkreiste den gesamten Komplex.

Eine Menschenansammlung aus besorgten Eltern, Schaulustigen und Reportern wurde von unzähligen Polizeibeamten darüber informiert, sich ausschließlich hinter den Absperrungen aufzuhalten.

Als Josh und seine Truppe sich umblickten, marschierte der uniformierte Einsatzleiter Robert Hansen bereits auf sie zu und nahm im Laufen die Sonnenbrille ab. Er war ein Mann in den Fünfzigern, dessen schütteres Haar sich allmählich zu einer Glatze auswuchs, während sein fülliger Bierbauch über den Pistolengürtel ragte.

»Wir haben es mit einem Einzeltäter zu tun«, begann er, als er vor ihnen haltmachte. Seine Stimme klang kratzig, sein deutscher Akzent war unverkennbar und was er zu sagen hatte, sprach er in nur einem einzigen Atemzug aus. »Er hat sich in der ersten Etage im Chemielabor mit zwölf Geiseln im Alter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren verschanzt. Wir haben weder eine Ahnung, wer er ist, noch wie er aussieht, da er das Gebäude laut Kameraauswertungen bereits mit einer Skimaske über dem Kopf betreten hat. Die Ermittlungen laufen jedoch noch. Die postierten Scharfschützen können uns ebenfalls nicht weiterhelfen, da nach ihrem Eintreffen die Jalousien des Raumes bereits verschlossen waren.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Alles, was wir wissen, ist, dass er einen Rucksack und einen Revolver bei sich trägt. Bisher gibt es weder Forderungen noch sonst irgendwelche Arten der Kontaktaufnahme. Auch haben sich bislang keinerlei Gruppierungen zu dem Vorfall bekannt. Ich weiß nur, dass so schnell wie möglich gehandelt werden sollte, denn, da wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben, könnte der Kerl genauso gut auch ein gewöhnlicher Kurzschluss-Irrer sein, der praktisch jeden Moment damit beginnen könnte, aus einer Laune heraus rumzuballern.«

Josh blickte sich einen kurzen Moment lang zu seiner Truppe um und wandte sich schließlich wieder Hansen zu.

»Haben Sie einen Gebäudeplan?«

»Ja, liegt alles hier drüben. Kommen Sie!«, antwortete Hansen und zeigte nach links. Schnellen Schrittes ging er auf ein weitflächiges, blaues Einsatzzelt zu, das sich gleich in der Nähe befand. Es diente der anwesenden Truppe als provisorische Zentrale.

Als die Männer ihm ins Innere des Zeltes folgten, schwirrten etliche, beschäftigte Beamte umher. Sie riefen sich hektisch Informationen entgegen, telefonierten oder notierten sich etwas auf Notizblöcken.

Auf einem Schreibtisch breitete Hansen eine Blaupause aus und zeigte dann auf einen bestimmten Abschnitt.

»Die Treppenhäuser sind bereits gesichert. Wie Sie sehen, befindet sich auf besagter Etage gleich auf der linken Seite des Treppenabsatzes die Tür, die zum Vorraum und dann von da aus zum Chemiezimmer führt.«

Josh nickte, während er den Informationen des Einsatzleiters lauschte. Plötzlich sah dieser zu ihm auf. »Es gibt weder Luftschächte noch andere Eingänge. Es gibt keinen anderen Weg dort rein. Was gedenken Sie zu tun?«

Josh hob die Hand und zeigte mit einem Finger auf die Karte. »Nun, wir müssenden Vorraum in jedem Fall zuerst sichern und uns dann zum Chemielabor vorarbeiten. Wir werden dafür eine unserer Kameras unter dem Türschlitz hindurchschieben.«

»Gut. Dann los, Männer!«, sagte Hansen, worauf Joshs Einheit sich augenblicklich umwandte und nach draußen marschierte.

Wenige Minuten später stand das gesamte Kommando in Reih und Glied vor der offen stehenden Eingangshalle des Schulhauses. Die Schutzhelme hatten sie aufgesetzt und ihre Gewehre schussbereit.

Josh stand an vorderster Front und ließ einen letzten forschenden Blick über seine Einheit schweifen. Dabei überprüfte er, ob Dennis dem Befehl Folge leistete und auch tatsächlich das Schlusslicht der Riege bildete. Aber wie er sah, hatte Dennis seine Anweisung ohne Widerstand entgegengenommen.

Seit Jahren war Dennis nicht mehr als Schlussglied eingesetzt worden. Es fühlte sich ungewohnt an. Dabei handelte es sich nicht um eine degradierende Positionierung, denn die gab es nicht. Sie besaßen alle dieselben Fähigkeiten, verfügten alle über herausragende Reaktionsfähigkeiten und eine zielgenaue Treffsicherheit. Jeder Einzelne von ihnen war mehr als erstklassig qualifiziert. Allesamt hatten sie einen jahrelangen regulären Polizeidienst hinter sich und waren in ihrer späteren Spezialausbildung an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben worden. Nur die Besten der Besten hatten durchgehalten und von denen war wiederum nur den Fähigsten eine Zusage erteilt worden.

Fakt war: Hier stand die Elite. Und Dennis gehörte dazu.

Mit seinen knapp über dreißig Jahren hatte er sich bereits mehr als bewiesen und gehörte seit jeher zur vordersten Front. Dabei bildete Josh meist selbst die Nachhut, um aus dem Hintergrund heraus dirigieren zu können.

Doch heute war es genau umgekehrt.

Dass Josh seinen Freund heute zur hintersten Deckung verurteilte, war eine Entscheidung, die mit einer persönlichen, tieferen Bedeutung verbunden war. Zwischen den Zeilen steckte die Botschaft, die Dennis ermahnte, sich für den Rest des Tages zurückzuhalten.

Und obgleich Dennis es widerstrebte und er nicht umhinkam, unentwegt den Kopf zu schütteln, tat er dennoch, was man ihm befahl. Denn er hatte Mist gebaut.

Und das wusste er. Und er wusste auch, dass es im eigentlichen Sinne Joshs Pflicht gewesen wäre, ihn zu sperren und einen Bericht über ihn zu verfassen. Was ein strenges Disziplinarverfahren zur Folge gehabt hätte.

Doch Josh ließ es ihm durchgehen. Beschützte ihn. Wofür er letztendlich sogar dankbar sein musste.

»Also«, wies Josh sie an. »Haltet euch an den besprochenen Plan! Und los geht’s!«

Das Kommando schlich im Gleichschritt vorsichtig über die Eingangsschwelle ins Innere des Gebäudes. Die Gewehre im Anschlag und konzentriert durch die Zielvorrichtungen blickend, tasteten sich die Männer langsam über das Stufenwerk hinauf in den ersten Stock.

Dort angekommen, sahen sie bereits die verschlossene Tür des Vorraumes. Sie positionierten sich direkt davor in einer Reihe an der Wand. Ein junger Mann trat aus der Schlange, warf sich auf den Boden und robbte lautlos an der Gruppe vorüber.

Er erreichte die Tür und zückte einen handlichen Bildschirm aus einer der Seitentaschen seiner Weste hervor. An dem Monitor waren ein winziger Joystick angebracht sowie eine perlenkleine, runde Kamera, die an einem dünnen, aufgerollten Kabelschlauch befestigt war. Der Schlauch bestand aus einem harten, jedoch biegsamen Material. Der Mann rollte den Schlauch auseinander und schob die Kamera unter dem Türschlitz hindurch. Mit seinem Daumen fuhr er über den Joystick, wodurch sich das Kabelrohr in Bewegung setzte und sich der Winkel der Kamera ändern ließ.

»Und, was siehst du?«, flüsterte Josh.

»Hier liegt ‘ne Menge Zeugs rum«, antwortete der Mann, während er angespannt auf den kleinen Bildschirm blickte und mit sachten Bewegungen die Kamera manövrierte.

»Ich sehe haufenweise Schuhe, Jacken und Handys am Boden liegen. Auch einige Handtaschen und Sportkappen. Die Tür zum Labor ist verschlossen.« Er drehte weiter an dem Joystick. »Sie hat ein kleines Fenster. Doch ich kann die Kamera nicht so hoch positionieren, als dass ich hindurchblicken könnte.«

»Wir müssen da rein und uns durch das Fenster einen Überblick verschaffen. Denkst du, der Raum ist sicher?«

»Ich weiß es nicht. Wie gesagt, da liegt massenhaft Zeug rum.« Der Beamte schien gereizt, offensichtlich spürte er den Druck, der von seinem Vorgesetzten ausging.

»Hansen«, wollte Josh wissen, als er in das Mikrofon seines Headsets sprach. »Gibt’s inzwischen was Neues bezüglich der Ermittlungen? Konnten Sie herausfinden, wer der Kerl ist?«

»Nein, leider noch nicht«, kam zurück.

Da erscholl plötzlich ein lauter Pistolenschuss, der ein mehrfaches Echo hinterließ. Geschrei hallte durch das Gemäuer. Die Männer zuckten kurz zusammen und ihre Blicke wanderten untereinander hin und her. Einige hielten den Atem an, die Anspannung war deutlich ihren Gesichtern zu entnehmen.

»Verdammt! Wir müssen stürmen.« Joshs Körper war angespannt und diese Spannung konnte man in der Luft fühlen. »Siehst du eine potenzielle Gefahr da drinnen?«, rief er dem jungen Beamten mit der Kamera entgegen. »Ja oder Nein.«

Ein kurzes Zögern, dann antwortete der Mann: »Nein.«

»Dann los!«, befahl Josh. Der junge Polizist zog augenblicklich die Kamera unter dem Schlitz hervor. Im selben Moment stieß Josh die Tür auf und die Mannschaft trat gefechtsbereit in den Vorraum. Da ertönte unter einer der am Boden liegenden Jacken ein leises, elektronisches Piepsen.

Josh hielt inne.

Seine Augen weiteten sich. Das Einzige, was er noch hervorbrachte, war: »Scheiße …«

Ein ohrenbetäubender Knall schallte draußen über das Areal. Auf dem Parkplatz vibrierte für einen kurzen Augenblick lang der Asphalt. Sämtliche Fenster des Gebäudes gingen klirrend zu Bruch. Glassplitter verteilten sich über das Gelände. Schwarzer, qualmender Rauch stieg hinter den Fensteröffnungen auf. Die Laute verstörter, schreiender Menschen legten sich über das Gelände.

»Los, rein mit euch! Aber schnell«, brüllte Hansen vor dem Gebäude und bedeutete den Polizeibeamten und Rettungskräften, ihm zu folgen.

Vollkommen außer sich rannte er auf den qualmenden Eingang zu, bevor er mit den Kollegen in die Halle stürmte. Er hastete mit gezogener Waffe das mit Rauch erfüllte Treppenhaus empor. Verkohlte und von Blut bedeckte Wände erwarteten ihn dort.

Am Treppenabsatz des ersten Stockes angekommen, hielt er erstarrt inne. Seine Gesichtszüge entgleisten. Der grässliche Geruch von verbranntem, menschlichem Fleisch stieg ihm in die Nase. Sein Mittagessen drohte sich durch die Speiseröhre hochzuarbeiten. Rauchende, zerfetzte Körperteile pflasterten den Flur. Es sah aus, als hätte Hansen einen Kriegsschauplatz betreten. Nicht die geringste Spur von Leben war zu entdecken.

Während er entgeistert auf das verstörende Bild blickte, bahnten sich hinter ihm Polizisten, Notärzte und mit Löschinstrumenten ausgerüstete Feuerwehrmänner den Weg durch den in Flammen stehenden Vorraum. Als einer der Feuerwehrleute begann, das Feuer rundherum zu löschen, eilten Beamte mit gezogenen Pistolen an ihm vorbei und spähten vorsichtig durch die gläserne Öffnung der noch intakten Tür, die zum Labor führte. Es handelte sich dabei um eine spezielle Sicherheitstür, die für Chemielabore zum Schutz der restlichen Schule Pflicht war.

»Ein maskierter Mann liegt bewegungslos am Boden«, rief einer der Polizisten Hansen aufgeregt entgegen. »Der Täter hat sich offenbar mit einem Revolver selbst das Leben genommen. Die Geiseln scheinen unverletzt und kauern in einer Ecke.«

Augenblicklich wandte Hansen sich zu ihnen um. »Lassen Sie diese auf keinen Fall raus! Die Ärzte sollen sich vorläufig drinnen um sie kümmern. Sie sollen das hier nicht sehen.«

»Jawohl!« Der Beamte griff nach der Türklinke und drückte sie herunter. Jedoch regte die Tür sich nicht. Einer der Schüler sah auf und blickte ihn durch das kleine Fenster an. Mit einer Handbewegung bedeutete der Beamte dem Jungen, die Türe zu öffnen. Unsicher blickte dieser zu dem Geiselnehmer am Boden und dann wieder zu dem Beamten. Schließlich stand er auf, ging zu der Tür und drehte das Schloss herum. Sofort öffnete der Beamte die Tür, schickte den Jungen zurück zu seinen Mitschülern und bewegte sich vorsichtig auf den am Boden liegenden Mann zu.

Er stieß den Revolver mit seinem Fuß aus dessen Reichweite und vergewisserte sich, dass der Entführer auch wirklich tot war. Währenddessen wehte das leise, verängstigte Wimmern der Geiseln durch das Gemäuer.

Sofort forderte der Polizist die Rettungskräfte mit einem Wink dazu auf, sich ihrer anzunehmen.

Zögernd drehte Hansen sich um und richtete seinen Blick wieder auf das verheerende Blutbad. Inzwischen waren eine Handvoll Mitarbeiter bereits dabei, unter den verkohlten Leichenteilen nach Überlebenden zu suchen. Plötzlich fegte ein Rascheln durch den Flur.

Hansen versuchte, dem Geräusch zu folgen. Er trat an den Hilfskräften und toten Körpern vorüber und lauschte.

Das Rascheln wurde immer lauter und deutlicher. Ihm war, als würde sich etwas bewegen. Weit vor ihm, im hinteren Teil des Ganges.

Hansens Schritte wurden immer schneller. Hinter einigen qualmenden Rauchwolken entdeckte er am Boden schließlich einen Mann, der sich inmitten fremder Körperteile hin und her wälzte. Als würde er einen epileptischen Anfall erleiden, wandte sich der Mann orientierungslos in alle Richtungen. Dabei stieß er kreischende Laute aus.

»O mein Gott, da lebt noch jemand. Kommt sofort her!«, schrie Hansen auf und rannte auf den Verletzten zu.

Sanitäter und Notärzte strömten herbei, während Hansen sich aufgeregt zu dem jungen Mann herunterbeugte und dessen hin und her schlenkernde Arme einzufangen versuchte.

»Beruhige dich, mein Junge. Wir sind hier. Alles wird gut«, sprach Hansen mit sanfter Stimme auf ihn ein, während Dennis ihm mit verstörtem Ausdruck entgegenblickte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ACHT MONATE SPÄTER

15:24 Uhr

 

Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck presste Leila ihre Handflächen gegen das Wohnzimmerfenster und blickte nach draußen. Sie beobachtete, wie ihr Vater Lorenzo sich nach einer Zelttasche bückte und diese auf die Ladefläche des Jeeps lud. Er fuhr sich durch die kurzen braunen Haare und wartete, bis ihr jüngerer Bruder Max ihm nach und nach mehrere Rucksäcke entgegenstreckte, die einer nach dem anderen ebenfalls auf der Ladefläche verschwanden. Anschließend deckte ihr Vater alles sorgfältig mit einer Plane ab.

Manchmal konnten Erwachsene wirklich komisch sein. Sie tat sich von Zeit zu Zeit schwer, deren Entscheidungen nachzuvollziehen.

Genauso wie nun gerade. Warum durfte Max einen Ausflug unternehmen und sie nicht? Warum nicht gemeinsam? Worin lag der Sinn?

»Wieso darf ich nicht mitgehen?« Schmollend zog Leila ihre Augenbrauen zusammen. Sie lebten in einem großen, geräumigen Haus direkt am Waldrand, doch niemals hatte Leila sich außerhalb des Grundstückes aufhalten dürfen. Zu gefährlich, hieß es stets.

Und doch durfte Max nun die Tiefen des Waldes ergründen und sogar noch dort übernachten. Sie konnte dem absolut kein Verständnis entgegenbringen.

»Na, weil das ein reiner Männerausflug wird. Ein Ausflug zwischen Vater und Sohn«, meinte ihre Mutter Manuela, als sie ihr von hinten sanft die Hände auf die Schultern legte. »Wir beide werden auch bald gemeinsam etwas unternehmen. Außerdem sind solche Touren doch nichts für kleine Mädchen wie dich. Zehnjährige Mädchen wie du kaufen doch viel lieber Kleider und spielen mit ihren Freundinnen. Findest du nicht?«

»Ich will aber jetzt keine Kleider kaufen. Ich will auch in den Wald und in einem Zelt schlafen«, murrte Leila beinahe weinerlich.

Da drehte Manuela ihre Tochter mit einer sachten Bewegung zu sich, ging in die Hocke und sah mitfühlend in ihre haselnussbraunen Augen. »Ich weiß, meine Kleine. Doch bitte vermiese es den beiden nicht. Du weißt doch, dass es deinem Vater nun schon für eine so lange Zeit nicht gut ging. Dass er seinen Job verloren hat, hat ihn sehr getroffen. Es ist sehr lange her, dass er überhaupt das Haus verlassen hat, und nun sieh ihn dir an.« Sie blickte an Leila vorbei zu ihrem Mann Lorenzo, wobei ihr eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares in die Augen fiel. »Nun ist es endlich mal wieder so weit und wir sollten froh darüber sein. Dankbar. Okay?«

Widerwillig nickte das Mädchen, während ihr Manuela sanft über das hellbraune, lange Haar strich. »Danke, mein Liebes.«

Hinter ihnen ertönte das dröhnende Geräusch des Staubsaugers. Eine grauhaarige Hausangestellte in Dienstmädchenkleidung zerrte das Gerät durch den Raum und reinigte die Teppiche.

Schließlich richtete Manuela sich auf. »Also, mein Liebes, ich werde nun in die Stadt fahren und ein paar Besorgungen erledigen. Gertrude wird so lange bei dir sein. Bitte sei inzwischen brav.«

Manuela gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, wandte sich schließlich um und näherte sich der staubsaugenden Haushälterin, die umgehend das Gerät ausschaltete und ihr mit erwartungsvollem Ausdruck entgegenblickte.

»Ich mache mich jetzt auf den Weg, Gertrude. Es könnte etwas später werden.«

Gertrude nickte und Manuela warf ihrer Tochter ein letztes liebevolles Lächeln entgegen. Dann trat sie in den Hausflur. Kurz streifte Manuelas Blick die dunkle Kommode im Schlafzimmer, bevor sie aus Leilas Blickfeld verschwand.

Als ihre Mutter schließlich einige Augenblicke darauf das Haus verließ, vernahm Leila das Krachen der ins Schloss fallenden Eingangstüre, das durch die Räume drang.

Gertrude nahm den dröhnenden Staubsauger wieder in Betrieb und setzte ihre Arbeit fort. Sie ahnte jedoch nicht, dass nur wenig später vorsichtig und völlig lautlos die Tür zum Garten geöffnet wurde und kleine Fußtritte den Rasen zierten.

Die Trittspuren führten bis an die hintere Einfahrt des Hauses, wo ein Geländewagen soeben seinen Motor aufheulen ließ. Ein Geländewagen, in dem ein Vater und sein Sohn saßen.

Auch ahnte die alte Dame nicht, dass im nächsten Augenblick zwei kleine Füße unter der Plane der Ladefläche verschwanden und sich somit ein blinder Passagier sein wohlverdientes Recht auf Spaß nicht länger entziehen lassen wollte.

 

17:14 Uhr

 

Dr. Laura Cardellini saß am Schreibpult ihres Arbeitszimmers, das sich in der dritten Etage eines fünfzehnstöckigen Staatsgebäudes befand. Das Gebäude lag im Zentrum der Stadt. Sozialämter, Gemeindeärzte und psychologische Dienstleister waren dort einquartiert. Gedämpft drangen die Geräusche der fahrenden Autos durch die Scheiben.

Völlig vertieft saß sie über einer dicken Personalakte und kritzelte Notizen an den Seitenrand. Neben ihr stand eine Tasse mit dampfendem Kaffee und der Duft des dunklen Gebräus schwängerte die Luft. Erneut konnte sie es nicht fassen, dass vor knapp einem Jahr unter der Masse an Bewerbern ausgerechnet sie einen Platz als Staatsbedienstete hatte ergattern können. Sie, wo sie am Ende ihrer Zwanziger kaum mehr als dreizehn Monate Berufserfahrung vorzuweisen hatte. Und alles hatte mit einer einzelnen Begegnung begonnen. Ohne Loretta Vicino wäre sie vermutlich nicht da, wo sie heute stand. Ein Schmunzeln zog sich über ihr Gesicht. Gleich darauf erinnerte sie sich an die Aussage ihres Vaters. Begabung ragt nun mal aus der Menge, hatte er damals zu ihr gesagt, als sie die Nachricht erhalten hatte. Doch dessen war sie sich nicht so sicher gewesen.

War sie wirklich begabt? Wenn es nach ihrem Ex-Freund ging, nicht. Wie hatte sie nur jemals an so einen Idioten geraten können, fragte sie sich immer wieder aufs Neue. Ich hätte es besser wissen müssen. Sie hatte schließlich menschliche Verhaltensweisen studiert, wer, wenn nicht sie, war prädestiniert dazu, die wohl geeignetste Partnerwahl zu treffen?

Warum hatte sie sich nicht alle Mühe gegeben, ihn vor Eingehen einer Bindung genauestens unter die Lupe zu nehmen? Ihn zu analysieren? War es das erste Entzücken, das sie daran gehindert hatte? Gewissermaßen die rosa Brille?

Oder hatte sie die sich anbahnende Wahrheit ganz einfach nicht sehen wollen? Schließlich würde sie nächstes Jahr um diese Zeit dreißig Jahre alt sein. Und dabei würde sie Single, unverheiratet und kinderlos sein.

War es also eine Art Torschlusspanik, die sie dazu trieb, übereilte Entscheidungen zu treffen und sich somit unterbewusst mit weniger zufriedenzugeben, als sie sich im Grunde wert war?

Oder war sie einfach genauso wie die meisten Menschen, was dieses Thema betraf, nämlich schlicht und ergreifend naiv. Wie sie es damals auf der Universität anhand zahlreicher Verhaltensstudien gelernt hatte. Was auch immer es war, dem der Mensch sich nicht stellen wollte, es existierte plötzlich nicht mehr. Gelinde ausgedrückt: Was er nicht sehen wollte, sah er auch nicht. Aus Schutz. Nämlich davor, nicht irgendwann an einem Punkt anzugelangen, an dem er sich selbst jeglicher Hoffnung beraubte.

Und dieser Mechanismus konnte sich leider auf jedweden Bereich des Lebens auswirken. In diesem speziellen Fall drehte sich alles um die panische Angst davor, niemals je gemeinsam mit jemandem alt werden zu dürfen.

Warum gab es Menschen, die bereits zwei oder mehr Scheidungen hinter sich hatten? Weil sie es immer wieder versucht hatten.

Denn schließlich suchte natürlich jedes Individuum auf diesem Planeten den passenden Partner fürs Leben. Ausnahmslos. Es war ein Urverlangen, woher auch immer es kommen mochte.

Ob nun der Mensch überhaupt dazu prädestiniert war, sein gesamtes Leben gemeinsam mit jemandem zu verbringen, war wiederum ein anderes, unschlüssiges und sehr weitreichendes Thema.

Doch ob nun letztendlich romantisch veranlagt oder nicht, niemand wollte alleine sein. Und der Drang danach wurde anscheinend mit steigendem Alter nur größer.

Eine stetige Suche sozusagen. Jeder folgte unbedacht, ja, schon beinahe triebhaft, einem Traum. Einem Traum der Erwartungen und der Hoffnung, der einen blind machte. Blind für die Wahrheit.

Und sie war davon nicht ausgenommen, das wusste sie nun. Denn es war menschlich. Der Richtige war meist schnell gefunden. Zu schnell manchmal sogar. Da das Verlangen nach Bindung und zu jemandem zu gehören immens war.

Denn die Zeit, in der die Menschen lebten, war knapp. Die Arbeit, der Stress, der Druck und nebenbei lief auch noch die innere Uhr ab. Und zwar unaufhaltsam.

Dies alles waren Motive, um die späte Erkenntnis, womöglich dem Falschen begegnet zu sein, zu verharmlosen. Davon war sie überzeugt.

Aus Beobachtungen erster Hand wusste Laura natürlich um das Geheimrezept, um letzten Endes mit absoluter Sicherheit irgendwann in einer Paartherapie zu landen. Man musste dafür nichts weiter tun, als aus Selbstschutz ein paar Jährchen die unausweichliche Entfaltung des wahren Charakters seines Partners zu ignorieren, folglich in steigende Frustration zu schlittern und das Ganze schließlich so lange köcheln lassen, bis die Fetzen flogen. Anschließend würde dann die langersehnte Therapie folgen – natürlich den Kindern zuliebe.

So war es nämlich auch ihren Eltern ergangen.

Sie liebte ihren Vater und sie liebte ihre Mutter, doch sie war froh darüber, dass die beiden sich bereits vor Jahren getrennt hatten. Denn ihr Zusammenleben war eine einzige Katastrophe gewesen.

O nein, Laura war bereits als junges Mädchen niemals traurig über die Trennung ihrer Eltern gewesen und dass sie jeden von ihnen künftig hatte einzeln besuchen müssen. Im Gegenteil, sie war heilfroh darüber gewesen. Kein Geschrei mehr. Kein Gezeter. Nun würde alles gut.

Und tatsächlich war die Bindung zu jedem von ihnen sogar noch enger geworden. Es war allerdings eine vorbildliche und friedliche Scheidung gewesen, was gewiss einiges zu dieser Entwicklung beigetragen hatte. Dessen war sie sich sicher.

Jedenfalls hatte deren Therapie damals zu keinem der erhofften Ergebnisse geführt.

Selbstverständlich war es auch möglich, ohne Behandlung an einer Beziehung zu arbeiten. Doch eine Beziehung bedeutete Entwicklung. Beidseitige und gemeinsame Entwicklung. Würde nur einer von zweien danach streben, so würde die Kluft zwischen ihnen immer größer.

Doch alles in allem war ihres Erachtens das entscheidende Kriterium die Partnersuche selbst. Denn mit ihr begann alles. Und leichtfertig gehandhabt, war sie auch der Ausgangspunkt für mögliche verschenkte Jahre.

Und wie Laura so über all das nachdachte, maßte sie sich keineswegs an, über die Betroffenen und ihre Überlegungen zu urteilen. Denn beinahe hätte sie selbst eines jener Schicksale geteilt, hätte sie nicht frühzeitig einen Schlussstrich gezogen.

Woraus sich für sie die Frage ergab, ob es denn möglicherweise sogar bloß dem reinen Zufall überlassen war, den richtigen Lebenspartner zu finden. Wenn es denn so viele Menschen auf diesem Planeten letztendlich nicht geschafft hatten. Dies belegte eine steigende Trennungs- und Scheidungsrate. Doch letztlich wusste sie die Antwort darauf nicht.

Womöglich gab es wirklich Menschen, die mit Bedacht an die Sache herangingen. Sich mit überlegter Sorgfalt auf die Suche begaben.

Doch könnte der Verstand während des Zustandes einer zuckersüßen Verschossenheit denn tatsächlich einwandfrei funktionieren? Sie wusste es nicht. Denn sie selbst war offenbar keiner dieser bedachten Leute.

Denn auch sie hatte Fehlbeziehungen hinter sich. Die letzte hatte sich über eine Dauer von fünf Jahren erstreckt. Und sie fragte sich, wie es bloß dazu kommen konnte.

Daniele war bedeutenden Kreisen entsprungen, hatte gut ausgesehen und eine vielversprechende Karriere als Anwalt vor sich. Ein Beruf also, der einen hohen Stellenwert in seinem Leben einnahm, genauso wie ihrer.

Dazu ein paar schmeichelnde Komplimente, teure Geschenke und einige dahingeklatschte Weisheiten, und schon war sie im siebten Himmel gewesen.

War sie denn wirklich so einfach zu haben, fragte sie sich im Nachhinein.

Denn was danach gekommen war, war alles andere als eine harmonische Beziehung gewesen. Am ehesten für ihn vielleicht. Denn es war eine einseitige Beziehung gewesen. Sie hatte nur einen Gesichtspunkt berücksichtigt, nämlich seinen.

Keine Kompromisse, keine gemeinsamen Entscheidungen. Und es war ihr lange Zeit nicht einmal aufgefallen. Denn er war ein raffinierter Redner. Der geborene Verdreher. Anwälte

Im Grunde hatte bloß ihm dieses Reiseziel schon lange vorgeschwebt, ihm hatte dieser Wagen eigentlich gefallen, nur ihm hatte es in diesem Restaurant geschmeckt. Doch in allen Dingen war sie davon überzeugt gewesen, ebenfalls davon angetan gewesen zu sein.

Es hatte ewig gedauert, bis sie begriff, was vor sich ging. Erst ein ergreifender Frauenroman machte sie allmählich darauf aufmerksam, wie ihr geschah.

War das denn zu fassen? Sie, Gelehrte der Psychotherapie, Beste ihres Jahrgangs, sammelte Weisheiten und Erkenntnisse aus einem Frauenroman. Ein Fünfhundertseitenschinken, den sie im Vorbeigehen an der Theke eines Supermarkts ergattert hatte.

Doch erst dann verstand sie, dass er sich mehr für seine verdammten Angelausflüge interessierte als für sie. Was ihr ein für alle Mal bewies, dass es sehr, sehr langer Zeit bedürfe, bis man jemanden wahrhaft durch und durch kennen würde.

Das Klingeln ihres Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Ohne hinzublicken, ergriff sie den Hörer.

»Laura Cardellini.«

»Hallo, Laura. Ich bin es. Daniele.«

Sie musste schlucken und es verschlug ihr kurz die Sprache.

»Hallo, Daniele. Lange nichts von dir gehört.«

Das durfte jetzt echt nicht wahr sein. Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht an ihrem Schreibtisch eingeschlafen war und nur träumte. Doch es war kein Traum. Es war die Realität. Hatte sie ihn allein durch ihre Gedanken zu diesem Anruf bewegt? Sie hatte schon öfter von Fällen erfahren, wo Menschen an Freunde oder Familienmitglieder dachten, von denen sie lange nichts mehr gehört hatten und die dann urplötzlich anriefen. Oft nach Jahren ohne Kontakt.

»Ja«, antwortete er. »Das stimmt.«

»Was willst du nach all den Jahren. Ich habe gleich einen Termin.«

»Ich wollte dich fragen, ob du noch meine Angelausrüstung hast. Ich bräuchte sie. Meine ist kaputtgegangen und ich wollte am Wochenende mit Freunden raus.«

Laura presste ihre Lippen aufeinander.

»Ja, die habe ich noch. Sie liegt bei mir zu Hause.«

»Super.« Daniele war sichtlich erfreut. »Kann ich morgen bei dir vorbeikommen und sie abholen? So gegen Mittag.«

Mit einer Handbewegung zog sie ihren Kalender zu sich. Kein Termin für morgen Mittag. Verdammt. Allerdings war es auch eine gute Gelegenheit.

»Du kannst sie morgen abholen. Und bei der Gelegenheit auch deinen anderen Kram noch mitnehmen.«

So hätte sie endlich alles los.

»Okay, dann nehme ich alles mit. Vielen Dank und bis morgen. Mach’s gut.«

»Ja, bis morgen.«

Laura legte sofort auf. Sie wollte nicht länger als nötig mit ihm sprechen.

Sie griff nach der Tasse, nahm einen Schluck und stellte sie zurück auf ihren weißen Schreibtisch. Dabei fiel ihr eine Strähne ihres strohblonden Haares ins Gesicht, das sich aus ihrer stilvoll nach oben gesteckten Frisur gelöst hatte. Mit einer gekonnten Bewegung strich sie sich diese aus dem Gesicht. Sie hatte diese Frisur bewusst gewählt, weil diese sie seriöser und um ein paar Jährchen älter wirken ließ.

Eitel war sie nicht. Sie gehörte zu den Menschen, die zwar ein gesundes Selbstbewusstsein besaßen, jedoch war sie niemals der Überheblichkeit verfallen. Darauf legte sie stets Wert. Denn ihr Fachwissen und ihre Erfahrung hatten sie gelehrt, wie gefährlich ein zu hohes Maß an Selbstvertrauen sein und was es aus einem Menschen machen konnte. Und immer wenn sie im Inneren über sich und ihr Selbstbild sinnierte, kam ihr als Mahnung jene Thematik in den Sinn, welche sie während ihrer Ausbildungszeit am meisten beschäftigt hatte. Nämlich jene, welche den Aspekt des modernen Narzissmus behandelte.

Ein Phänomen, das sich mittlerweile wie ein Lauffeuer in der Gesellschaft verbreitete. Es wurden inzwischen etliche Studien und Bücher darüber verfasst, die ihres Erachtens höchsten Anlass zur Besorgnis gaben.

Und auch sie selbst hatte es bereits mit genügend solcher Individuen zu tun gehabt. Nämlich Narzissten. Sofort fiel ihr wieder ihr Daniele ein. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, die Gedanken an ihn zu verscheuchen.

---ENDE DER LESEPROBE---