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Die Freske des Narkissos E-Book

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Beschreibung

In einer Zeit des Unrechts, in welchem die Lüge zum Gesetz, der Betrug zum Anspruch, die Humanität zur Farce und die demokratische Herrschaft zur Tyrannei wider das eigene Volk wird, beginnen Menschen nach den Ursachen des Niedergangs zu fragen. Die antike Freskenmalerei verweist auf das mythologische Schicksal des Narkissos. Die in Wasser eingesumpften Pigmente, welche der Freskant in feinen Schichten auf den Kalk aufgetragen hat, sind stabil in den Putz eingebunden. Sie geben Zeugnis von einer Tragödie, die in ähnlicher Konstellation schon in ältester Zeit spielte. Mächtige Eliten halten sich für unantastbar. Sie frönen der Dekadenz sowie ihren perversen Neigungen. Doch der Verfall der Gesellschaft ist auch die Keimzelle des Aufbegehrens gegen die Despotie.

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EPUB
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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Chaddanta

Die Freske des Narkissos

Doch wer dies alles leicht entbehrt, Wonach der Thor nur strebt, Und froh bei seinem eignen Herd nur sich, nie Anderen lebt, der ist‘s allein, der sagen kann: Wohl mir, ich bin ein freier Mann!

Johann Aloys Blumauer

Für Portia

Chaddanta

Die Freske des Narkissos

Der vorliegende Roman ist eine Dystopie. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Die Örtlichkeiten und Ereignisse sind ebenfalls frei erfunden.

© 2019 Chaddanta

Cover-Design: Regine Ade

Lektorat: T. Jahn

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-7482-9558-7 (Paperback)

ISBN 978-3-7482-9559-4 (Hardcover)

ISBN 978-3-7482-9560-0 (e-Book)

Ein Bekannter hatte mir vor Jahren eine eigenartige Begegnung geschildert. Er hatte sich beim Sport eine leichte Verletzung zugezogen und humpelte deshalb fast unmerklich. In diesen Tagen sprach ihn unvermittelt eine Nachbarin im Treppenhaus an und erkundigte sich nach seinem Befinden.

„Sie machen in letzter Zeit auf mich einen angeschlagenen Eindruck“, sagte sie und sah ihm dabei mit ernstem Blick in die Augen.

„Das ist beim Squash passiert“, erklärte er höflich.

Die Nachbarin ließ nicht locker.

„Solche Verletzungen muß man sehr ernst nehmen“, mahnte sie in einem vorwurfsvollen Ton an. „Japanisches Heilpflanzenöl hilft, auch wenn es recht stark riecht.“

„Ich habe schon eine entsprechende Salbe in meiner Hausapotheke. Die hat sich schon mehrfach bewährt. Trotzdem besten Dank für Ihre Anteilnahme!“

Das hätte wie ein Abschiedsgruß klingen sollen, aber die Frau war nicht abzuwimmeln. Es entspann sich ein langwieriger Dialog über Heilmethoden, neueste medizinische Befunde und am Ende gar über die „Pflicht, gesund zu sein“. Am Ende gelang es meinem Bekannten, sich mit dem Versprechen, einen prominenten Heilpraktiker mit zwielichtigem Ruf aufzusuchen, von seiner Mitmieterin loszureißen. Das Ereignis beschäftigte ihn tagelang. Er war über sich selbst verärgert, da er private Daten, die eigentlich nur für seinen Hausarzt bestimmt waren, preisgegeben hatte. Außerdem konnte er in Erfahrung bringen, dass die Frau überhaupt keine medizinische Ausbildung hatte. Sinn und Motivation dieser spontanen Überrumpelung erschlossen sich ihm nicht.

„Paul, ich kann mir immer noch nicht erklären, was diese Frau eigentlich von mir wollte. Manchmal erlebt man bei älteren oder vereinsamten Personen, dass sie auf ungewöhnliche Weise Kontakt suchen. Aber in diesem Fall scheint mir dies unwahrscheinlich. Ihre Art war nicht plump oder unfreundlich. Tatsächlich begann ich mir erst am Abend Gedanken über den Vorfall zu machen.“

Ich lächelte, und eine Weile sagte ich nichts.

„Es ist schwierig, aufgrund einer einzelnen Begegnung eine Persönlichkeit umfassend einzuordnen. Aber kannst Du Dich noch an die Erzählung Narziss und Goldmund entsinnen?“

Hermann Hesse war für mich während der Adoleszenz eine Art Kultautor. Vielleicht war es seine in sich gekehrte Weltsicht, welche mich in dieser Lebensphase so faszinierte. Jahrzehnte später kaufte ich eines seiner wenigen Bücher, die ich noch nicht gelesen hatte, als Urlaubslektüre. Der Roman interessierte mich nicht im geringsten. Ich kam über das erste Kapitel nicht hinaus und gab das Exemplar schließlich in einem Antiquariat in Kommission.

„Du meinst die Geschichte von dem Klostergelehrten Narziss, der die Welt rein rational verstehen will und dem Lebemann Goldmund, der die sinnliche Erfahrung sucht?“

„Ja, genau darauf will ich hinaus. Was man uns damals in der Schule verschwieg, war die Tatsache, dass der Protagonist Narziss im psychologischen Sinne kein Narzisst war. Das ist eine der Schwächen dieses Werks, welche mir erst spät bewußt wurde. Literarisch steht Narziss für einen gleichberechtigten Gegenpol zum prallen Leben. Eine wirklich narzisstische Person ist jedoch von Fall zu Fall mehr oder weniger gestört.“

„Und was hat das alles mit meiner Nachbarin – Frau Mautz oder wie auch immer sie heißt – zu tun?“

Ich hatte den Bogen zu weit gespannt und vielleicht lag ich mit meiner Diagnose ohnehin völlig falsch.

„Nun, Du bist sicher gut beraten, um Frau Mautz – oder so ähnlich – einen großen Bogen zu machen. Und falls das nicht möglich sein sollte, dann erzähle ihr, dass du eine Koryphäe der Orthopädie zu Rate ziehen wirst.“

„Und was soll das bewirken?“

„Das wird der mutmaßlichen Narzisstin den Wind aus den Segeln nehmen“, versprach ich.

*

Lange Zeit hatte mich das Phänomen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nicht mehr interessiert. Hin und wieder diagnostizierte ich es in unterschiedlicher Ausprägung und in Verbindung mit anderen Symptomen bei Patienten. Bei Männern tritt es etwas häufiger auf als bei Frauen. Personen mit dieser Beeinträchtigung suchen sehr selten einen Therapeuten auf. Das liegt daran, dass es sich im eigentlichen Sinn um keine mentale Erkrankung handelt und der Betroffene unter der Störung selbst nicht leidet. Traumatische Erlebnisse und eine genetische Disposition sind die Wurzel des Problems, welches von den Bezugspersonen des Narzissten um so intensiver verspürt wird. Er unterscheidet sich in seiner Art, zu denken und zu fühlen, ganz wesentlich von anderen Menschen und weiß genau dies geschickt zu verbergen. Die Natur seiner Veranlagung liegt darin, dass er keinerlei – oder allenfalls sehr wenig – Empathie für seine Mitmenschen empfindet. Ohne ein Minimum von Anteilnahme gegenüber der Umwelt ist eine Integration in die Gesellschaft jedoch sehr schwierig. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als Mittel und Wege zu finden, eine gelungene Sozialisation vorzutäuschen. Das ist der Kern des Narzissmus. Man sollte jedoch keineswegs dem Irrglauben verfallen, der Narzisst sei im gesellschaftlichen Umgang ein Analphabet. Im Gegenteil: Gerade weil er sich mühsam und oft unter schmerzlichen Umständen aneignen mußte, was der Mehrheit der Menschen in die Wiege gelegt wurde, kann er ein besonders hohes Maß an Charme, Überzeugungskraft oder Charisma entwickeln. Allerdings ist dies immer nur eine oberflächliche Illusion und nie sein eigentliches Ich. Wenn sich die narzisstische Störung bei einer Persönlichkeit mit einem hohen Maße an kognitiven Fähigkeiten verbindet, dann hat dieser Mensch eine gute Chance, eines Tages zu einem der angesehensten Anwälte, Investoren oder Staatsmänner zu werden. Ist es um das analytische Talent weniger gut bestellt, dann ist die Wahrscheinlichkeit für ihn, im Justizvollzug zu enden, allerdings wesentlich höher.

*

Ich werde jetzt etwas sehr Umstrittenes tun, nämlich ein Konzept der Individualpsychologie auf ein gesellschaftliches System anwenden. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Gesamtheit mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ein Individuum verhält sich in der Masse oder eingebunden in eine Struktur von Institutionen anders als allein. Damit will ich keineswegs behaupten, dass die Vertreter der etablierten Politik sowie ihre medialen Handlanger allesamt unter einer narzisstischen Störung leiden. Sicherlich finden sich Narzissten auch unter den oppositionellen Politikern sowie den alternativen Medienmachern. Ich stelle vielmehr die Behauptung auf, dass das Regime selbst, unter dem wir gegenwärtig leben, ausgeprägt narzisstische Züge trägt und viele der grotesken Verzerrungen, die wir in diesen Tagen erleben, darauf zurückzuführen sind. Fragt man Menschen nach den Ursachen des politische Desasters, wird man – je nach ideologischem Flügel – auf das internationale Bankensystem oder auf eine diffuse Gruppe von Verschwörern verwiesen, die sich nächtens auf Prager Friedhöfen verabreden. Ich halte diese Theorien für ausgemachten Unsinn. Es geht somit in erster Linie nicht um einen „Mann, der hinter der Gardine steht“, sondern um die scheinbar seltsamen Merkmale eines politischen Komplexes sowie um die zentralen Frage, ob dieses System aus sich selbst heraus reformierbar ist oder nicht.

*

Die Kommunikation mit einem narzisstisch gestörten Menschen hat mehrere Eigenarten, auf die es sich einzugehen lohnt. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass die Kommunikationspartner für ihn selbst gar keine Signifikanz haben. Die eigentliche Funktion der Interaktion besteht für ihn darin, Kontrolle auszuüben. Gelingt ihm das nicht, reagiert er mit Frustration und beginnt, den Wert seines Gegenübers zu degradieren. Der Narzisst will nicht verstehen. Er will vielmehr verstanden werden. Ein typisches Zeichen der narzisstischen Geselligkeit ist das Erzählen der immer gleichen Geschichte oder ein und desselben Witzes. Wie ein Mantra werden dieselben Ereignisse oder Überzeugungen den Beteiligten gepredigt. Er selbst nimmt hingegen nie einen Rat entgegen. Einen Fehler zuzugeben, ist für ihn keine Stärke. Seine Verletzlichkeit läßt dies nicht zu. Der Narzisst versteht nicht, dass wechselseitiger Respekt, Sympathie und Zuneigung in Beziehungen zu besseren Resultaten führen als die einseitige Ausübung von Macht. Der in seiner Persönlichkeit Gestörte ist kein guter Zuhörer. Er bestimmt die zentralen Begriffe sowie die Sprache, mittels welcher er die Realität festlegen will. In der Politik ist dieses Verhaltensmuster leicht zu erkennen. Der Begriff „Flüchtlinge“ für die Unzahl illegaler Einwanderer war nicht nur eine unzulässige Pauschalisierung. Sie sollte auch über die Einsicht hinwegtäuschen, dass die Anreize der Massenmigration keineswegs nur in den Herkunftsländern lagen, sondern auch in der Anziehungskraft einer kleinen Anzahl von Zielländern, welche die Invasoren aufgrund materieller und politischer Vorteile bevorzugten. „Vielfalt ist unsere Stärke“ lautet eine der Parolen aus dem narzisstischen Lager. Vermutlich sind damit Synergieeffekte gemeint, welche in der Chemie, Pharmazeutik und Medizin tatsächlich entstehen können, wenn unterschiedliche Elemente in Verbindung kommen. Doch diese komplizierten Zusammenhänge zu diskutieren, macht sich die etablierte Politik nicht die Mühe. Der Alltag des Bürgers ist weniger von Mutualismus geprägt als vielmehr von Dissonanz. Diese wäre im Wettstreit konkurrierender Meinungen begrüßenswert, wird jedoch medial sowie juristisch unterbunden. Auch was die historische Schuld anbelangt, so sind es fast immer dieselben Anekdoten und Opferschicksale, die den Diskurs bestimmen. Jede Andeutung von steigendem Desinteresse oder Übersättigung kommt einer Majestätsbeleidigung gleich, und der Tabubrecher ist für immer geächtet. Auf diesen Lebenslügen beruht der Bestand des Staates und verliert damit Stück für Stück seine Legitimation.

*

Auf eine einzelne, sehr zentrale Politikerin möchte ich jedoch näher eingehen, da sie einen Aspekt des versteckten Narzissmus lehrbuchhaft verkörpert. Es geht um die ehemalige Regierungschefin, welche vor einigen Jahren selbstherrlich die Grenzen öffnete und eine illegale Massenimmigration bisher unbekannten Ausmaßes in Gang setzte. Der verborgene Narzisst tritt wie ein Wolf im Schafspelz auf. Seine schlecht überspielte Unsicherheit, sein Mangel an Charisma und Eloquenz sind Teil seiner Tarnung. Die angesprochene Politikdarstellerin sprach immerzu von „unseren“ Werten. Gemeint waren damit die Mitgliedschaft in einem atlantischen Militärbündnis, die besondere – wie sie es formulierte: „immerwährende“ - Verantwortung für einen Staat, der ansonsten wenig Freunde hat, ein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem und ein paar Punkte mehr. Mit der Weigerung, von ihren eigenen Werten zu sprechen, versuchte sie jenen Opportunismus zu verhüllen, der für ihre Biographie charakteristisch ist. Aufgewachsen als Privilegierte in einem totalitären Staat und dessen Ideologie treu ergeben, hatte sie mit unglaublicher Raffinesse die Seite gewechselt. Niemand hat sie für demokratische Veränderungen demonstrieren sehen, als die Zentralverwaltungswirtschaft zusammenbrach. Es gibt kein einziges Dokument, das auch nur die leiseste Opposition zur Diktatur ihrerseits erkennen läßt. Ihre Akte bei der politischen Polizei gilt als „verschwunden“, und ihr berufliches Engagement im Dienst der Einheitspartei soll sich auf die Organisation „kultureller Veranstaltungen“ beschränkt haben. Es wurde viel über die Persönlichkeit dieser Frau gemutmaßt: das religiöse Elternhaus, die Verbitterung über den Verlust des untergegangenen Staates oder ihre biologische Unfruchtbarkeit. Dabei ist es schwierig, eine narzisstisch gestörte Person in diesem Sinne zu klassifizieren. Sie hat zu ihrem Staat eine ambivalente Beziehung. Solange sie Nutzen aus ihm zieht, wird sie ihm loyal ergeben sein. Welche Werte sich damit verbinden, ist gleichgültig. Die Standpunkte, welche sie vertritt, sind in Wirklichkeit für sie nicht bindend. Und es ist vor allem auch diese Flexibilität in der Positionierung, welche ihre steile Karriere erst möglich machte. Und da sind noch weitere Merkmale einer pathologischen Narzisstin, die sie bei der einen oder andern Gelegenheit erkennen ließ: Als in jener historischen Silvesternacht als Folge ihrer eigenwilligen Migrationspolitik über tausend Personen beraubt, bespuckt und sexuell mißbraucht wurden, da ging sie einfach über das Ereignis hinweg. Es interessierte weder sie persönlich noch ihre Lakaien. Von irgendeiner Anteilnahme oder gar Betroffenheit war nichts zu erkennen. Weder sie selbst noch einer ihrer Schleppenträger machten sich vor Ort ein Bild oder nahmen Kontakt zu einem der Opfer auf. Lapidar erklärte sie eine Woche nach dem Massentumult, „einige hätten ihr Gastrecht mißbraucht“. Das war alles. Die „Gäste“ waren also schuld. Sie selbst hatte sich nichts vorzuwerfen. Der Narzisst will zwar akzeptiert sein, aber auf eine andere Art als gewöhnliche Menschen. Er verbindet damit einen Sonderstatus in bezug auf sich selbst. Welchen Schaden er auch immer anrichtet, er – und nur er allein - hat in seinen eigenen Augen das Recht dazu, und jede Kritik an seinem Handeln wird als Anmaßung empfunden.

*

In meiner Phantasie waren politische Polizisten immer uniformierte, Knüppel schwingende Schergen eines totalitären Systems. Sie lauschten Telefongespräche ab, setzten verdeckte Romeos an wenig beachtete Frauen an, um sie zur Spionage gegen Andersdenkende zu animieren oder ließen Oppositionelle in südamerikanischen Polizeikellern verschwinden. In meiner Jugend gab es dieses sogenannte „Schild und Schwert der Partei“ wirklich. Allerdings lebte ich damals in einem anderen Teil unseres Landes. Auch im Bereich der Verschwörungstheorien hatten diese Unholde ihre Bühne. In Nordamerika gründete ein Guru eine obskure Sekte, deren Männer sich selbst kastrierten. Schließlich vergiftete sich die gesamte Gemeinschaft im Glauben, von außerirdischen Raumschiffen abgeholt zu werden. Besserwissende „Experten“ vermuteten, dass der Sektengründer ein Geheimdienstmitarbeiter war und dessen Aufgabe darin bestand, die Kraft charismatischer Herrschaft auszuloten. In unserem Staat sind die politischen „Ordnungshüter“ eher ein schnüffelnder Nachrichtendienst, der auf körperliche Gewalt verzichtet und Existenzen auf ökonomische Weise vernichtet. Doch diese zivilen Verhältnisse täuschen über die Realität hinweg. In Zeiten, in welchen Manipulation und Täuschung zur Kontrolle der Bürger nicht mehr ausreichen, kann ein narzisstisches Regime auch auf Gewalt nicht verzichten. Das trügerische Selbstbild des Narzissten läßt eine offizielle funktionale Verbindung mit dem Staatsterror nicht zu. Deshalb wird dieser auf scheinbar eigenständige Einrichtungen und Vereine verlagert. Diese haben unverdächtige Namen – zum Beispiel „Antirassistische Aktion“ oder „Stiftung für Toleranz“ -, werden finanziell großzügig unterstützt und genießen strafrechtlich weitgehend Narrenfreiheit. Hin und wieder beißen diese die Hand, die sie füttert, aber im großen und ganzen erfüllen sie ihre Aufgabe mit aller Brutalität und Tücke. Die Leere ihrer Lebensverhältnisse füllen sie mit moralischer Superiorität und wirrer Realitätsverweigerung. Sie sind mental Blut vom Blut ihrer in der Persönlichkeit gestörten Gönner, auch wenn sie diese angeblich hassen.

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Ein Narzisst hat ein ganz anderes Verhältnis zur Schuld eines Mitmenschen als ein ganzheitlicher Mensch. Er sieht im Bruch eines Gesetzes oder einer Regel nicht die Fehlbarkeit des Menschen an sich und gibt sich auch nicht mit einer angemessenen Sanktionierung oder Wiedergutmachung zufrieden. Die Schuld ist von nun an sein Instrument und eine Entschuldigung ausgeschlossen. Die narzisstische Persönlichkeit ist auf die Scham des Schuldigen ausgerichtet. Das Bewußtsein der eigenen Minderwertigkeit des Überführten garantiert die Superiorität des Narzissten. In einem narzisstisch gestörten Regime läßt sich die Rolle der Kollektivschuld oder -scham kaum überschätzen. Sie ist zeitlich unbegrenzt und wird in Zukunft allen kommenden Generationen zur Last gelegt. Sie hat keine juristische Legitimation und verweigert sich der wissenschaftlichen Überprüfung.

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Unser Staat unterscheidet sehr genau zwischen der Ballprinzessin und den Schmuddelkindern. Das Lager der Letztgenannten gibt sich möglichst nicht zu erkennen, denn sie stehen außer Acht und Bann. Das bedeutet, dass Gewalt unterhalb einer bestimmten Schwelle offen begrüßt wird. Da sind diese vermeintlichen Clowns, die eine angeblich bestellte Geburtstagstorte auf einer Pressekonferenz ins Gesicht eines oppositionellen Publizisten werfen. Die Medien überbieten sich wechselseitig mit verhohlenem Spott und verbreiten das Ereignis wie auf Bestellung mit unangemessen vielen Wiederholungen. Offenbar ist es erlaubt, bestimmte Menschen auf eine schelmische Art und Weise zu bespucken. Mancher amüsiert sich ganz offen darüber. Wahrscheinlich ist dieser Menschentyp derselbe, der im Mittelalter die Kiste mit dem faulen Obst an die Kinder der Stadt übergab und sich an den Treffern im Gesicht des an den Pranger Gestellten ergötzte. Andere sprechen von einer politischen Tradition des Hohns gegen den Extremismus. Der Sarkasmus reicht bis in die Chefetagen. Eine Café-Kette bewirbt ihre Pappbecher als „zum Wurf tauglich“. Es gibt keine scharfe Trennung zwischen legitim und verwerflich. Darf der Kaffee, den man einem anderen Menschen ins Gesicht schüttet, auch brühend heiß sein? Vermutlich wäre die Aktion für die Medien dann nicht mehr zu verwerten. Das ist jedoch in unserer Zeit das einzige Kriterium, das die Vogelfreien schützt.

*

Wenn ich versuche, mich an die erste Konfrontation mit unserer Schuld zu erinnern, dann fällt mir der Name meines ehemaligen Religionslehrers ein. Damals war ich etwa sieben oder acht Jahre alt. Der Unterricht war wenig strukturiert. Andacht und religiöse Erörterungen verbanden sich häufig mit aktuellen Themen und Diskussionen. Geiger war der Name des Lehrers, und er gehörte zur Generation der Kriegsteilnehmer. Hin und wieder flocht er spontan Erlebnisse aus der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, die ihn nicht losließen, in seinen Unterricht ein: zum Beispiel, wie ihm in französischer Kriegsgefangenschaft ein Reisekoffer voll Frauenhaar präsentiert wurde. Wir Schüler konnten diese Erzählungen noch nicht einordnen. Wir wußten nichts von der Rache der Sieger an jenen Frauen, welche der Kollaboration beschuldigt wurden. Und eines Tages kam er auf jenen industrialisierten Massenmord zu sprechen, der unserem Volk zur Last gelegt wurde. Das war das erste Mal, als ich von der Schuld erfuhr, die so absolut war, dass sie in kein historisches Schema paßte, sondern fortan wie eine politische Religion über uns herrschte. Und daran knüpft sich noch eine weitere Erinnerung. Es muß etwa zeitgleich gewesen sein, denn ich kann mich noch an den ersten Fernseher meiner Eltern erinnern. Es war ein sperriges hölzernes Gerät auf vier kurzen Beinen und mit vier großen schwarzen Knöpfen für die Funktionen An/Aus, Lautstärke, Kontraste sowie die Wahl zwischen drei staatlichen Sendern. Wahrscheinlich wurde die Sendung am frühen Abend ausgestrahlt. Mein Vater war noch nicht von der Arbeit zurück und meine Mutter mit dem Haushalt beschäftigt. Es ging um ein gewisses Ehepaar K.. Die Gattin, Ilse K., soll eine – sagen wir - etwas abseitige Neigung in bezug auf tätowierte Häftlinge gehabt haben. Der ursprünglich amerikanischen Reportage zufolge pflegte sie jene Männer mit den stattlichsten Hautverzierungen in ihr Schlafgemach zu bestellen und ordnete unverzüglich nach dem Beischlaf deren Ermordung an. Die Haut der Opfer soll dann zu allerlei Dekoration, wie etwa Lampenschirmen oder Schrumpfköpfen, verarbeitet worden sein. Mir war zur damaligen Zeit nicht klar, dass eine solch sadistisch veranlagte Frau ein psychiatrischer Fall und weniger ein ideologischer Kasus war. Der Gemahl, Otto K., soll dem Treiben seiner Frau und den daraus resultieren anatomischen Unikaten gleichgültig gegenübergestanden haben. Heute betrachte ich jene Sendung als eines der Märchen, welche meine Großmütter vergaßen, mir zu erzählen. Das ist nicht weiter schlimm, aber ich würde gern wissen, welche Personen hinter dem kuriosen Klamauk standen, an dem am Ende die in der Nähe wohnende Stadtbevölkerung festlich gekleidet vorbeidefilieren mußte. Der besagte Lampenschirm – Experten sprechen von bemaltem Ziegenleder – ist heute in einem Archiv in Nordamerika eingelagert. Auch der Narrativ ist nicht mehr derselbe. Nach Angaben von zwei inzwischen verstorbenen Häftlingen hatte Ilse K. nicht einen Lampenschirm, sondern vielmehr eine gesamte Nachttischlampe, auf skelettierten Fußknochen und einem Schienbein stehend, als Utensil eines makaberen Festes geordert. Die Legenden ändern sich, manche verblassen und fristen ein tristes Dasein in der Requisite, dafür rücken andere in den Vordergrund. Die Schuld bleibt.

*