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In einer Gesellschaft, die sich kulturell sowie demographisch aufgibt, sind die Bürger den Übergriffen bösartiger und in ihrer Persönlichkeit narzisstisch gestörter Clowns ausgesetzt. Der Roman gehört in die Kategorie der Dystopien und greift metaphorisch die Absurdität des zeitgenössischen politischen Systems auf.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2022
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten der Protagonisten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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© 2021 Chaddanta
Lektorat, Korrektorat und Umschlaggestaltung: Ernst Böck, www.lektoratböck.at
Illustration Cover: Georg Pichl
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Softcover
978-3-347-46838-2
Hardcover
978-3-347-46840-5
e-Book
978-3-347-46841-2
Großdruck
978-3-347-46849-8
Moyses quo sibi in posterum gentem firmaret,
novos ritus contrariosque ceteris mortalibus
indidit. Profana illic omnia quae apud nos sacra,
rursum concessa apud illos quae nobis incesta.
TACITUS
Immer wieder werde ich von Mitmenschen befragt, wie die Clowns eigentlich unter uns gekommen sind, ob sie von „außerhalb“ eingewandert wären und warum sie äußerlich so schwer zu erkennen seien. Diese Fragen sind nur allzu berechtigt. Sie lassen sich jedoch nur metaphorisch anhand eines Exkurses in die Biologie beantworten. Die meisten Leser werden mit dem Fachbegriff „Auchenorrhyncha“ wenig anfangen können. Was ich damit anspreche, ist eine an Pflanzen saugende Unterart der Hemiptera, umgangssprachlich Zikaden oder Zirpen genannt. Weltweit – von der Ostsee bis in die Subtropen und Tropen – besiedeln sie terrestrische Lebensräume mit Pflanzenbestand. In unserem Zusammenhang ist ihre hemimetabole Verwandlung vom Ei über die Larve zum Vollinsekt von Bedeutung. Etwas flapsig formuliert, schlüpfen sie umständlich aus einer goldenen Hülle, die sichtbar zurückbleibt, während die meisten Zirpen zwar auffällig gefärbt sind, aber dennoch als Spezialisten der Tarnung gelten. In ihren spezifischen Lebensräumen sind sie in der Regel durch ihre Farbgebung hervorragend angepasst. Manche Arten verfügen über kontrastreiche Muster, die den Körperumriss auflösen. Auch die Clowns waren einst in eine glänzende Verpuppung gehüllt. Zu gegebener Zeit haben sie dieses Stadium hinter sich gelassen und führen seither ein weitgehend unsichtbares Dasein. Doch wir unbedarften Bürger betrachten immer noch die verwaiste Hülse und ahnen nichts von der unheilvollen Existenz der Clowns.
*
Als Kind war ich im Besitz eines kleinen Plattenspielers. Eigentlich war es ein Kasten, den man in zwei miteinander verkabelte Teile zerlegen konnte. Der eine Part war ein Lautsprecher. Der andere Teil bestand aus dem Plattenteller und einem Tonarm, den man zunächst etwas zurückdrücken musste, worauf die Scheibe sich zu drehen begann. Mit etwas Übung gelang es dann, die Nadel auf die äußersten Rillen des Vinyls zu legen. Da das Repertoire meiner Sammlung an Schallplatten nur wenige gängige Schlager umfasste, kannte ich die Liedtexte fast auswendig. Ein Titel ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“. Den Namen des Interpreten habe ich längst vergessen. Er ist Teil jener Schar von Barden, die nach ihrem Durchbruch in den öffentlichen Medien zu Stars gekürt wurden. In ihrem Leben durchliefen sie zumeist ähnliche biografische Perioden. Da waren die glanzvollen Auftritte in fast jeder Fernsehgala und die Entgegennahme unzähliger Medienpreise. Das war die Phase, in welcher enthemmte Hausfrauen Unterwäsche, beschriftet mit ihrer Privatadresse, auf die Bühne warfen. Nicht selten wurde es nach einigen Jahren stiller um diese Mimen und die Auftritte wurden zur Akkordarbeit auf Betriebsfesten und der Eröffnung von Möbelhäusern. Nicht selten endete der ehemalige Schwarm aller Schwiegermütter dann verlebt in einer Fernsehrunde, erzählte von seinem Kampf gegen eine Suchterkrankung und seine Privatinsolvenz. Völlig unerwartet hielt er dann ein Pappschild mit seiner Telefonnummer in die Kamera und erklärte, für einen Fünfhunderter und die Fahrtkostenerstattung käme er in jedes Wohnzimmer. Der Liedtext erzählt von einem Mann im Liebestaumel, der sich so bedingungslos seiner Geliebten verschrieben hat, dass er nicht einmal mehr die Frage stellt, wo dies enden soll. Züge ohne klaren Bestimmungsort bereiten mir Sorgen. Es ist unmöglich, auf ihre Route Einfluss zu nehmen. Selbst wenn es den Fahrgästen gelingen sollte, die Kabine des Zugführers zu stürmen, so sind jene, welche die Weichen stellen, dennoch außerhalb ihrer Gewalt. Aber so sind die Zeiten, in denen wir leben. Die Herrschenden sitzen unantastbar an den Hebeln der Macht und den Bürgern bleibt keine andere Möglichkeit, als die Ruhe zu bewahren und auf einen gnädigen Ausgang zu hoffen.
*
Bürger betritt sein Arbeitszimmer und findet auf seinem Schreibtisch einen Aluhut vor.
Bürger: „Was ist denn das? Liebling, hast du eine Ahnung, wer diese Requisite bei mir abgelegt hat?“
Clown: „Schatz, ich bin gerade in der Wäschekammer mit dem Bügeln deiner Hemden beschäftigt. Stell nicht zu viele Fragen, sondern setze dir den Hut einfach einmal auf!“
Bürger: „Da unterstellt mir also jemand, Verschwörungstheorien anzuhängen! Was für ein Unsinn! Übrigens klingt deine Stimme so ungewohnt.“
Clown hustet mehrfach.
Clown: „Ich habe Halsschmerzen. Das ist der Grund.“
Bürger setzt sich widerwillig den Aluhut auf.
Clown: „Es ist an der Zeit, deine weltanschaulichen Irrungen anzusprechen.“
Bürger: „Sag bitte, worum es konkret geht. Ich steh vor einem Rätsel.“
Clown: „Ich will nur ein Beispiel nennen: Kannst du dich noch an deine Äußerungen in Bezug auf einen Parlamentsabgeordneten anatolischer Herkunft erinnern, der seine Nebeneinkünfte nicht pflichtgemäß anmeldete?“
Bürger: „Ich ahne, wen du meinst. Der Gauner hatte schon vor Jahren in Bezug auf Vergünstigungen durch Dienstflüge betrogen. Jetzt hat man ihn auf dem Umweg über eine supranationale Institution auf die politische Bühne zurückgehievt.“
Clown: „So, nun ist es an der Zeit, dir ein paar wichtige Richtlinien mit auf den Weg zu geben: Jeder Mensch verdient eine zweite Chance. Außerdem sollten sich Aussagen über Personen mit Migrationshintergrund mit einer besonderen Sensibilität verbinden. Da ist gerade auch die Wortwahl von Bedeutung.“
Bürger: „Du warst doch früher nicht so pingelig. Was ist denn plötzlich mit dir los?“
Clown: „Das ist noch lange nicht alles. Du hast in diesem Zusammenhang die Behauptung aufgestellt, die etablierten Politiker lebten wie die Maden im Speck. Angesichts ihrer Bildungsabschlüsse wären sie auf dem Arbeitsmarkt schwer oder gar nicht vermittelbar.“
Bürger: „Ich gebe zu, dies mag eine Verallgemeinerung gewesen sein.“
Clown: „Jetzt ruderst du zurück. Aber weißt du noch, welche Gruppe du nanntest, als es darum ging, wer angeblich Hollywood kontrolliert?“
Bürger ist sprachlos.
Clown: „Nun öffne bitte die Schreibtischschublade! Welche Gegenstände findest du dort?“
Bürger: „Ich sehe einen Handspiegel.“
Clown: „Nimm ihn heraus und betrachte dich selbst!“
Bürger: „Mit solch einer Kopfbedeckung sieht jeder lächerlich aus! Und was soll eigentlich dieser Fotoapparat?“
Clown: „Mach ein Selfie von dir!“
Bürger kommt der Aufforderung nach und öffnet danach erstaunt eine ihm bisher unbekannte Schachtel.
Bürger: „Ein Bilderrahmen aus massivem Silber! Der muss teuer gewesen sein!“
Clown: „Du wirst diese Fotografie von nun an auf deinem Schreibtisch stehen haben.“
Bürger: „Was sollen denn Besucher denken, wenn sie dieses alberne Porträt sehen?“
Clown: „Sie werden erkennen, dass du deine Persönlichkeit weiterentwickelst. Jeder Neubeginn basiert auf Selbsterkenntnis.“
Clown kichert unhörbar.
*
Wenn sich ethnische Konflikte anbahnen, dann stellt sich die Frage, wie mit jenen Gerechten umzugehen sei, die eigentlich einer anderen Gruppe angehören. Meist sind das eher wenige, und von ihren eigenen Angehörigen werden sie als Verräter beschimpft. Aber es gibt sie auch in unserer Zeit, und ich bin mir bei einigen sicher, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck haben und ihre Loyalität zu unserem Land ehrlich ist. Für mich persönlich steht dann der Mensch im Mittelpunkt und nicht etwa seine Abstammung. Diese Einstellung ist jedoch nicht selbstverständlich. Aus evolutionspsychologischen Gründen leiden viele Personen heutzutage an einer Schlangenphobie. Der größte Teil unserer Vorfahren hat vermutlich keinen Unterschied zwischen giftigen und ungiftigen Schlangen gemacht. Auch in Phasen kriegerischer Konflikte neigen die Beteiligten aller Seiten dazu, im Feind das absolut Böse zu erkennen und differenzieren nur widerwillig. Ein Bekannter hat diese Haltung einmal so formuliert: Man kann einen Verwandten vor den Bus stoßen und man kann mit Fremden Cognac trinken, aber der Verwandte bleibt verwandt und der Fremde bleibt fremd. An einem historischen Beispiel will ich diese Einstellung illustrieren und außerdem erklären, wie dies alles noch dazu mit dem Anbau mediterraner Rebsorten zu tun hat. Wir befinden uns im England des 15. Jahrhunderts zur Zeit der Rosenkriege. Das Wappen der weißen Rose stand für das Haus York, die rote Rose für das Haus Lancaster. Die beiden Adelshäuser leiteten ihre Herrschaftsansprüche auf die gemeinsame Abstammung von König Edward III. ab. Die Kriege währten mit Unterbrechungen dreißig Jahre und waren für den englische Adel mit hohen Verlusten verbunden. Unter anderem beendeten sie die männlichen Linien beider Häuser. Eduard IV. war der älteste Sohn von Richard Plantagenet – dem 3. Duke of York – sowie dessen Gemahlin Cecily Neville, der das Erwachsenenalter erreichte. Eduard IV. war von 1461 bis 1470 und von 1471 bis zu seinem Tod 1483 König von England. Seinen jüngeren Bruder George schlug er anlässlich seiner Krönungsfeierlichkeiten zum Knight of the Bath und erhob ihn am Folgetag zum Duke of Clarence. Eduard IV. entsprangen aus seiner Ehe mit Elisabeth Woodville sieben Töchter und drei Söhne. Außerdem zeugte er in außerehelichen Beziehungen mindestens drei weitere Kinder. Sein Bruder George Plantagenet heiratete Isabella Neville, eine Großnichte seiner Mutter. Im Aufstand des Jahres 1470 lief er zunächst zu den Truppen seines Schwiegervaters über, folgte dann jedoch seinem Bruder Eduard IV. ins Exil nach Frankreich und kämpfte an seiner Seite in den Schlachten von Barnet und Tewkesbury. Nachdem Eduard IV. wieder als König eingesetzt war, verzieh er George seinen anfänglichen Hochverrat und ernannte ihn 1472 sogar zum Earl of Salisbury. Doch dann verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden. Es kam zu einem Machtkampf, und Eduard IV. verbot seinem Bruder die Eheschließung mit Maria von Burgund. Schließlich riss dem König der Geduldsfaden und er ließ seinen Bruder aufgrund von Einmischungen in Gerichtsprozesse anklagen. In der Bill of Attainder ächtete ihn das Parlament, wodurch er sämtliche Titel und Besitzungen verlor und zum Tode verurteilt wurde. An dieser Stelle kommt die nahe verwandtschaftliche Verbindung und ein Gewächs aus Kleinasien ins Spiel. Die Trauben des Malvasiers haben ihren Ursprung auf der Insel Kreta. Sowohl die Griechen als auch die Römer schätzten den süßen und schweren Geschmack dieses Weines sehr. Mit der Zeit verbreiteten sich abgeleitete Rebsorten in Anbaugebieten der Toskana, Lanzarote sowie der Liparischen Inseln. Auf Mallorca reicht der Anbau einer roten Sorte Malvasier in der Region Banyalbufar bis in die Zeit der Mauren zurück. Diese Traube brachte einen aromatischen Dessertwein hervor, der sich an Fürstenhäusern besonderer Beliebtheit erfreute und so den Beinamen „Wein der Könige“ erhielt. Als Fremder hätte George Plantagenet auf dem Schafott geendet. Aber als Zeichen seiner Verbundenheit überließ Eduard IV. seinem nächsten Verwandten die freie Wahl der Art seiner Hinrichtung. Am 18. Februar 1478 wurde der ehemalige Duke of Clarence auf eigenen Wunsch auf dem Londoner Tower Hill, einem Ort, welcher als Richtstätte ausschließlich Adligen vorbehalten war, in einem Fass dieses Malvasiers ertränkt.
*
Die Welt der Clowns besteht nur aus Lug und Trug. Jede Debatte mit ihnen ist deshalb sinnlos. Ihre Argumente sind leere Worthülsen, die nur durch die mediale Wiederholung in Endlosschleife Wirkung zeigen. Auf quantitative Berechnungen antworten sie nicht mit reellen Zahlen, sondern benutzen Nummern wie aus dem Telefonbuch oder von Autokennzeichen. Dies wirft uns kulturell in Epochen zurück, in welchen Entscheidungen auf bloßen Machtansprüchen beruhten. Der inhaltliche Austausch der Antike überträgt sich nicht länger auf den zeitgenössischen Parlamentarismus. Sensible Themen stehen nicht länger auf der Tagesordnung, sondern werden an undurchsichtige Ausschüsse delegiert. Wer es wagt, die engen Meinungskorridore zu verlassen, dem droht die Kriminalisierung. Das verstärkt ein gesellschaftliches Phänomen, das man als „Eskapadismus“ bezeichnen könnte. Beim Besuch eines Bekannten stand ich einst unverhofft vor einem Tisch voller Wimpel, gerahmten Fotos von Fußballstars sowie einem Schal, der möglicherweise von der Mutter meines Freundes gestrickt wurde. „Das ist der Altar“, erklärte mir seine Lebensgefährtin und fegte bei dieser Gelegenheit mit einem Staubwedel kurz über die Devotionalien. Vor hundert Jahren hätte dieser Kult noch Sinn gemacht. Der Verein war nach dem Stadtteil einer Industrieregion benannt, der stark von der Arbeiterklasse geprägt war. Die Spieler waren eine der Ihren gewesen. Sie kamen aus dieser Schicht, und auf dem Spielfeld ging es ihnen nicht darum, dass die bessere Mannschaft gewinnen möge. Vielmehr verteidigten sie ihre Herkunft gegen all jene Clubs in ihrer Liga, die mit heimlicher Verachtung auf die rußigen Reihenhäuser mit ihren viel zu kleinen Vorgärten herabsahen. Wenn sie auf dem Sportplatz siegten, wurden sie vergöttert. Wenn sie Niederlagen hinnehmen mussten, dann standen ihre Anhänger treu hinter ihnen. Aber all dies ist längst Vergangenheit. Die Geschichte ist über diese Industrien hinweggegangen. Eine Zeit lang wurden sie noch von der Politik subventioniert, dann in museale Industrieparks verwandelt. Die Spieler sind eingekaufte Millionäre aus allen Teilen der Welt, und die Wohnsiedlungen werden nach mehreren Wellen der Migration nicht mehr von Arbeitern bevölkert. Der Verein selbst ist ein kommerzielles Unternehmen, wenn auch noch nicht an der Börse notiert. Seine Fans könnten genauso gut einem Pharmariesen oder einem Brauereikonzern zujubeln. Es hat für mich lange gebraucht, jenen Menschentypen zu verstehen, der Wochenende für Wochenende zu Zehntausenden die Stadien füllt, jedoch den tatsächlich drängenden Problemen unserer Gegenwart weitgehend teilnahmslos gegenübersteht. Vor dem Hintergrund der Herrschaft der Clowns verstehe ich ihn nun besser. Eine Scheinwelt zu schöpfen hat Methode. Sie kommt utopistisch daher und versucht den Fortschritt zu verkörpern. Auf diesem Weg hat sie die Möglichkeit, die Realität zu verändern, ohne dass der Bürger sich ihr effektiv entgegenstellen kann. Diesem bleibt am Ende nur die Flucht in einen unwesentlichen Ersatz.
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In jener Schule, die ich besuchte, galt Eishockey als wichtigste Sportart. Jährlich fand ein Turnier gegen die Mannschaften anderer Schulen statt, und über die Jahrzehnte hinweg triumphierte mehrfach unser Team. Da ich selbst nicht Schlittschuh laufen konnte, hatte ich an dem Geschehen keinen aktiven Anteil. Als nur scheinbar interessierter Zuschauer besuchte ich einen Teil der Spiele. Ich stand dann eher teilnahmslos am Rand des Sportplatzes und mischte mir unbemerkt Whisky unter den kostenlos ausgeschenkten Glühwein. Um mich herum tobte die Masse mit ihren Nebelhörnern und viel Geschrei. Hin und wieder zahlte ich einen Tribut an den Gemeinschaftsgeist und klatschte wenigstens in die Hände. Eigentlich war mir das ganze Spektakel völlig egal. Ein großer Teil unserer Spieler war mir unsympathisch, gerade weil sie sich in diesen Tagen für Helden hielten. Ihre Arroganz erreichte dann ihren Zenit. Gewann unser Team, dann ging der Lorbeer an die Aktiven. Verloren wir, dann trug ein – wie auch immer gearteter – schwacher Zusammenhalt innerhalb der Schülerschaft die Schuld. Diese Argumentation grenzt an Esoterik. Sie beruht auf der Vorstellung, dass sich die Realität durch ein Kollektiv herbeibeschwören ließe. Nicht die mangelhafte Vorbereitung der Spieler war für die Niederlage verantwortlich, sondern die fehlende Bereitschaft der gesamten Gruppe, ihr äußerstes emotionales Engagement einzubringen. Dieser undurchschaubare Humbug verfolgt mich bis zum heutigen Tag. Wenn ich mich politischen Überzeugungen verweigere, die mir gar zu weit hergeholt erscheinen, oder das Land verlasse, weil sich mit schierer körperlicher Präsenz und ins Leere laufendem Aktivismus nicht viel erreichen lässt, dann schlägt mir wieder diese vorwurfsvolle Feindseligkeit entgegen, nicht genügend mitgefiebert zu haben.
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Clown sitzt vor einem Theaterspiegel mit rund einem Dutzend dimmbarer Lampen. Er reguliert die Helligkeit durch das Berühren eines Sensors mit dem Zeigefinger und wählt dabei eine eher schwache Beleuchtung.
Clown (zu sich selbst): „Nichts ist mir wichtiger als mein sozialer Status. Der Platz im oberen Teil der Hierarchie gibt mir Bestätigung. Es geht um den Blick auf meine Bedeutung und nicht etwa um die menschlichen Beziehungen zu den anderen. Letztere sind mir im Grunde genommen nur lästig. Selbstverständlich lasse ich dies niemanden merken. Den Menschen soll gerade dies verborgen bleiben. Sie sind angehalten, mich als einen der Ihrigen zu betrachten. Nur so kann ich effektiv agieren. Es bleiben mir zur Regulierung meines Status ja nur zwei Wege. Der eine besteht in der Aufwertung meiner Person durch besondere Leistung. Diese Schiene habe ich weitgehend ausgereizt. Ich bin an meine Grenzen gekommen, und dennoch wird mir nicht der gebührende Respekt zuteil. Egal, was ich alles versuche, man begegnet mir mit hartnäckigen Ressentiments. Es ist, als ob meine Umwelt einen sechsten Sinn besitze. Dabei sind diese weitverbreiteten Vorurteile zweischneidig. Einerseits zwingen sie mich in die Defensive, andererseits sind sie in vielen Fällen übertrieben und widersprüchlich. Daran kann ich erkennen, dass die Bürger mein wahres Spiel nicht durchschauen. Und dies ist sehr wichtig. Mir kommt gerade ein Volksmärchen in den Sinn, in welchem ein Männchen immerfort um ein Feuer tanzt und singt: ,Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!‘ Es bleibt mir also nur die zweite Art der Steigerung meines Status, und das ist die Abwertung meiner Mitmenschen. Ich führe sie vor und mache sie irre. Unerkannt schleiche ich mich in ihr Leben und gebe ihnen meine Direktiven. Wie gackernde Hühner lasse ich sie umherrennen. Ich bin ein Meister meines Fachs, und meine Opfer sind zu naiv, um mein Treiben zu durchschauen. Außerdem wurde ihnen dies in der Öffentlichkeit streng verboten. Eröffnen wir also die Partie und mögen die Dinge ihren Lauf nehmen!“
Durch die erneute Berührung des Sensors am unteren Ende des Spiegels löscht Clown das Licht.
*
Zeiten von Seuchen sind geprägt vom Aktionismus der Regierenden, dem Hedonismus der Bevölkerung und der Dreistigkeit der Scharlatane, die mittels zweifelhafter Therapien den großen Gewinn wittern. Minderheiten geraten in die Rolle des Sündenbocks, und nicht selten dienen angeblich zwingende Maßnahmen zur Eindämmung des Virus der Etablierung eines totalitären Regimes. Aber jede Epidemie läuft anders ab. Das eine Mal reagiert die Politik über, das andere Mal versucht sie zu vertuschen. Im einen Fall gerät die Bevölkerung in Panik, im anderen Fall vermuten die Bürger, nur die Fremden seien betroffen. Meine historischen Untersuchungen führen mich nach San Francisco, genauer gesagt in das dortige Chinatown. Man schreibt das Jahr 1900, und die führende angelsächsische Mehrheitsbevölkerung begegnet den verschiedenen Einwanderergruppen mit gemischten Gefühlen. Früh hatten das die Iren zu spüren bekommen, etwas später die deutschen Immigranten. 1882 hatte Präsident Chester Arthur einen Erlass unterzeichnet, der zunächst für die nächsten zehn Jahre jede Einwanderung aus China unterband. Schon wenige Jahre zuvor war chinesischen Frauen aufgrund der Unterstellung, notorisch der Prostitution nachzugehen, die Immigration generell verweigert worden. Das Gesetz wurde sukzessive verlängert und erst 1943 gelockert. Die ersten Einwanderer aus China waren während des Goldrausches und dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn gekommen. Sie waren von Anfang an wenig willkommen, wurden jedoch in Zeiten ökonomischen Aufschwungs geduldet. Als es schwieriger wurde, Gold zu finden, und der Wettbewerb innerhalb der Arbeiterschaft zunahm, steigerte sich die Feindseligkeit gegen die Ostasiaten. Sie waren bereit, für vergleichsweise geringe Löhne zu arbeiten, und als Streikbrecher galten sie als berüchtigt. Als die Chinesen im Zuge gesetzlicher Erlasse und dem Betreiben von Gewerkschaften aus dem Minenbau ausgeschlossen worden waren, siedelten sie sich in Großstädten wie San Francisco an und betrieben dort vor allem Wäschereien und Restaurants. Die Vorbehalte ihrer Umwelt führte zu einer Konzentration in bestimmten Stadtbezirken, in denen fast nur noch Mandarin und Kantonesisch gesprochen wurde. Die Politisierung der allgemeinen Animosität führte zu erheblichen Auflagen in Hinsicht auf Wirtschaft und Lebensführung. Ende des 19. Jahrhunderts war in der chinesischen Provinz Yuhan die sogenannte Dritte Pest ausgebrochen. Ihren Namen trägt sie aufgrund der Justinianischen Pest im 6. Jahrhundert und dem Schwarzen Tod im 14. Jahrhundert. Nachdem die Seuche Hongkong erreicht hat, gelingt es dem Schweizer Arzt Alexandre Yersin im Jahre 1894, den Erreger zu identifizieren und den Übertragungsweg weitgehend zu erklären. Zur Aufklärung der vollständigen Infektionskette dieser Zoonose fehlt nur noch die Erkenntnis, dass der Erreger durch den Biss des Rattenflohs auf den Menschen übertragen wird. Dieser Nachweis gelingt drei Jahre später Masanori Ogata und Paul-Louis Simond in Bombay. Yersin versucht, ein Heilserum für Pestkranke zu entwickeln. Dieses zeigt jedoch keine Wirkung. Andere Forscher experimentieren mit Tierversuchen, nehmen jedoch aufgrund der Gefahr einer Auslösung der Krankheit von Impfungen an Menschen Abstand. Im Oktober 1896 bricht die Pest in der Kronkolonie Indien aus. Die britische Regierung entsendet den Bakteriologen Vladimir Aaronovitch Havkin aus Odessa nach Bombay. Dieser verzichtet auf Tierversuche und erprobt nach dreimonatigen Studien Keime, die bei 60 Grad abgetötet wurden, an Insassen des Gefängnisses von Byculla. Da die Beulenpest zu dieser Zeit bereits zur Lungenpest mutiert war, blieb das Serum für den Verlauf der Epidemie bedeutungslos. Trotzdem wurde Waldemar Mordecai Haffkine, wie er sich von nun an nannte, in den Adelsstand erhoben. Als glühender Zionist wandte er sich 1898 an Aga Khan III., um mit den Finanzmitteln der jüdischen Gemeinde Palästina aufzukaufen. Sein Begehren wurde umgehend abgewiesen. Im Jahre 1902 sterben in der nordindischen Region Punjab 19 Einwohner nach einer Tetanusimpfung durch Haffkine. Nach einer Untersuchung durch eine unabhängige Kommission wird dieser des Landes verwiesen. Sir Waldemar schiebt die Schuld auf seinen Assistenten und spricht von einer zweiten „Affäre Dreyfus“. Eine Metastudie aus den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts kommt zu dem Ergebnis, dass keiner der historischen Impfungen gegen das Bakterium Yersinia pestis irgendeine Wirksamkeit nachgewiesen werden kann. Gegen die Lungenpest gibt es bis heute keinen Impfstoff. Gegen die Beulenpest gibt es heute ein Serum, das jedoch nur drei bis sechs Monate wirksam ist und aufgrund seiner schweren Nebenwirkungen nur besonders gefährdeten Personen verabreicht wird. 1899 erreicht die Pest Honolulu, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auf