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Jetzt erst kam Adele ins Wohnzimmer. Ja — fast hatte sie darauf vergessen, da lag der Brief, den ihr morgens der Briefträger gebracht hatte, noch ungelesen auf der gehäkelten Decke des Fisches. Was ihr die Freundin wieder zu schreiben hatte? Fröhliche Dinge voll Sorglosigkeit und Übermut, die sie schmerzten. Es gehörte schon ein wenig Gedankenarmut dazu, um an solchen Nichtigkeiten so ausdauerndes Vergnügen zu finden. Aber Adele stieß an den Rahmen des Gesetzes, das sie sich gegeben hatte: nicht überlegen oder sich überlegen fühlen zu wollen. Wozu nutzte das Denken, wenn man es nicht, wie Hajek, in philosophische Bahnen zu lenken verstand und machtlos zusehen musste, wie es sich immer wieder nur um die eigenen kraftlosen Wünsche herumtrieb. Ein Pferd, das traben könnte — Adele wollte nicht einmal ans Fliegen denken — und das man mit einer kurzen Leine an einen Pflock befestigt hat. Und die Überlegenheit? Die Freundin war in ihrem bequemen und vierkantigen Geiste sicher glücklicher als sie. Vielleicht hing auch alles davon ab und damit zusammen, dass die Freundin um vier Jahre jünger war.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Title Page
Impressum
Die gefährlichen Strahlen
Die gefährlichen Strahlen
Karl Hans Strobl
Verlag Heliakon
2017 © Verlag Heliakon, München
Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
www.verlag-heliakon.de
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Meiner Frau und Freundin
Die gefährlichen Strahlen
Als Adele aus dem Schulzimmer auf das Vorhaus hinaustrat, lag ein Schatten vor ihren Füßen quer über die hellroten Ziegel. Sie erschrak fest, denn das Geschrei der unbändigen Rangen hatte ihre Kraft aufgezehrt und Müdigkeit in ihre Glieder gegossen.
Der Schatten bewegte sich ein wenig, und als Adele aufsah, musste sie lächeln. Sie musste immer lächeln, sobald sie den Herrn Hajek sah, und wenn sie auch noch so müde war. Sein dickes, rotes Gesicht grinste sie immer in eine wohltätige Heiterkeit hinein, und sie fühlte ein leises Schweben und Loslösen ihrer Seele. Einen fernen Schimmer von Behaglichkeit und Zufriedenheit, wie ihn der Anblick eines ganz Glücklichen gibt.
Jetzt nahm der Mann seine Dienermütze mit dem silbernen K.G.V. vom Kopf und wischte mit der Hand über die Stirne. Die Hand war nass, und indem Hajek sie mit großem Interesse betrachtete, sagte er: »Heiß, heiß, Fräulein.«
»Aber, aber. Jetzt mitten im Winter.«
»Ja freilich! Wer laufen muss, für den gibt es keine Jahreszeit.« Hajek war ein großer Philosoph, der jede Gelegenheit zu Exkursen über Leben und Tod, und was dazwischenliegt, benutzte. »Die Arbeit kennt keine Jahreszeit. Ich bin ein einfacher Mensch, aber ich denke mir immer was dabei. Arbeit macht im Winter heiß und im Sommer heiß. Aber der Sommer ist schon selber heiß, und so wird es uns im Sommer noch viel heißer als allen anderen Leuten. Aber dafür haben wir es im Winter besser als die reichen Leute, denen es nie so recht warm wird, weil sie nicht arbeiten. Sehen Sie, Fräulein Adele, so gibt es für alles in der Welt seine Ausgleichung.«
»Das ist ein großer Trost.«
»Das habe ich mir so ausspekuliert. Und was ich mir so ausspekuliert hab, ist mir hundertmal lieber, als was der Pfarrer von der Kanzel predigt. Er hat ja recht: den Frommen das Paradies und den Schlechten die Hölle. So gehört sich es. Aber was geschieht mit denen, die nicht fromm sind, und die nicht schlecht sind. So wie ich und vielleicht neunundneunzig vom Hundert. Da muss die Erde herhalten.
Da muss sich jeder seine Ausgleichung schon hier verschaffen, weil ihm keiner sagen kann, was die Waage der göttlichen Gerechtigkeit einmal zeigen wird.«
»Sie haben recht. Aber kommen Sie in die Küche. Ich muss nicht so viel laufen wie Sie, und mir ist im Winter also kalt.«
»Jesus, Fräulein, ich habe doch nicht Zeit. Ich muss gleich wieder weiterlaufen.« Er zog das unter den Arm geklemmte Buch hervor, übergab ihr ein Schreiben und bat sie, den Empfang zu bestätigen. »Weihnachtsfest«, sagte er wichtig.
»Ach, in vierzehn Tagen schon.«
»Ja, viel zu tun, Fräulein, was? Weihnachtsfest! Freilich, das gibt zu tun. Und gar Ihnen. Bei sechzig Kindern ist das keine Kleinigkeit.« Er klappte das Buch mit einem kleinen Knall zu: »Gehorsamer Diener.« Der Vorplatz lag mit seinen hellroten Ziegeln im Mittagslicht, mit dem stillen Behagen eines Tieres, das seine Glieder in das kostbare, seltene Gold der Wintersonne streckt.
Adele entzündete in der immer dunkeln Küche eine Lampe und rief das Herdfeuer auf. In der kurzen Pause zwischen den Schulstunden musste sie ihr Mittagmahl bereiten. Eine hastige Arbeit und ein hastiges Verschlingen, um nur wieder zu ihrem Dienst zurechtzukommen. Das Feuer sprang mit kurzem, scharfem Knacksen die trockenen Scheite entlang zu den Kohlen und kam in eine stillere, fauchende Glut, die ein Stimmen in den Wassertöpfen und Kasserollen weckte.
Jetzt erst kam Adele ins Wohnzimmer. Ja — fast hatte sie darauf vergessen, da lag der Brief, den ihr morgens der Briefträger gebracht hatte, noch ungelesen auf der gehäkelten Decke des Fisches. Was ihr die Freundin wieder zu schreiben hatte? Fröhliche Dinge voll Sorglosigkeit und Übermut, die sie schmerzten. Es gehörte schon ein wenig Gedankenarmut dazu, um an solchen Nichtigkeiten so ausdauerndes Vergnügen zu finden. Aber Adele stieß an den Rahmen des Gesetzes, das sie sich gegeben hatte: nicht überlegen oder sich überlegen fühlen zu wollen. Wozu nutzte das Denken, wenn man es nicht, wie Hajek, in philosophische Bahnen zu lenken verstand und machtlos zusehen musste, wie es sich immer wieder nur um die eigenen kraftlosen Wünsche herumtrieb. Ein Pferd, das traben könnte — Adele wollte nicht einmal ans Fliegen denken — und das man mit einer kurzen Leine an einen Pflock befestigt hat. Und die Überlegenheit? Die Freundin war in ihrem bequemen und vierkantigen Geiste sicher glücklicher als sie. Vielleicht hing auch alles davon ab und damit zusammen, dass die Freundin um vier Jahre jünger war.
Adele wog den Brief in der Hand … acht Seiten! … und warf ihn dann wieder auf die gehäkelte Decke. Zuerst die Pflicht. Sie riss das Schreiben der Direktion des Kindergartenvereins auf. Der Schriftführer teilte ihr im Namen des Vorstandes mit, dass man beschlossen habe, die diesjährige Weihnachtsfeier am Donnerstag, den 22. Dezember stattfinden zu lassen. Man erwartete von ihr, dass sie wieder, wie bisher, ihr möglichstes tun werde, um die Kinder würdig vorzubereiten und die Feier zur erhebenden zu gestalten. Sie las die langstieligen Phrasen Wort für Wort aus, wie es ihre Pflicht als gewissenhafte Kindergärtnerin war, und legte dann das Schreiben zu ihrer Sammlung von offiziellen Papieren.
Dann nahm sie das einzelne Haar, das ihr immer widerspenstig in die Stirne hing, mit zwei spitzen Fingern und zog es in den hohen Kranz ihrer braunen Zöpfe. Und nun Emiliens Brief. Ach, dieses weichlich und süß duftende Papier mit dem goldenen Schnitt. Das hatte die Freundin erst seit kurzer Zeit, seit einigen Monaten, ungefähr seit … seit ihrem letzten Besuche in der Heimat. Und Adele überlegte, was das zu bedeuten habe, denn sie dachte, dass eine Frau das Briefpapier nicht ohne Grund wechselt. Und wenn aus einem bescheidenen weißen Kanzleiformat plötzlich ein englisches Leinenpapier mit Fliederparfüm und goldenem Schnitt wird, so muss in der Seele der Schreiberin eine Umwälzung geschehen sein. Eine neue Epoche. Ein Riesenschritt über eine Kluft, so groß wie der Abstand zweier Perioden der Erdgeschichte. Das griff ernsthaft in ihr ruhiges Leben, denn sie war immer daraus gefasst, von ihrer Freundin etwas Besonderes, Absonderliches, Beunruhigendes zu vernehmen. Irgendeinen Streich, der das Gleichgewicht ihrer Abgeschlossenheit erschütterte. Und in diesem ängstlich erwartenden Gedanken kam sie über die ersten, nichtssagenden, kindlichen Zeilen des Briefes hinweg, ohne zu lächeln, wie sonst. Aber da stand ein Wort, das sie auf den Beginn seines Satzes zurückstieß. »Mein Ferdinand« … Und sie las: »Genau dasselbe sagt nämlich auch mein Ferdinand.« Noch einmal. Ja … ganz recht, und sie las weiter: »Er sagt, dass mir Blau entzückend steht, und nennt mich sein Stück Himmel, das sich im Wasser spiegelt. Drollig; was?« Adele fand das Ganze konfus. Was für ein Ferdinand, der das Blau wie Himmel im Wasser findet? Aber da kam schon die Erklärung: »Du wirst nicht wenig erstaunt sein, dass ich von meinem Ferdinand spreche.« (Adele war nicht wenig erstaunt.) »Und so muss ich Dir doch endlich schreiben, was ich Dir bis jetzt verschwiegen habe. Ich bin nämlich Braut, und mein Ferdinand ist ein lieber, prächtiger Mensch und eine gute Partie. Ich liebe ihn ganz närrisch. Er schreibt mir jeden Tag und ich ihm auch. Und jedes Mal schreibt er mir: „Umsurrt vom Schwung der Maschinen höre ich immer nur Deine liebe Stimme, und aus der Schwüle der Fabrik sehne ich mich nach dem Duft deiner Küsse.“ Das ist doch drollig. Aber poetisch; was? Er ist nämlich Fabriksbeamter. Aber ich habe Dir noch gar nicht gesagt, dass ich ihn kennenlernte, als ich das letzte Mal daheim zu Besuch war. Ein lieber Kerl und er gefiel mir gleich so gut. Wir haben dann korrespondiert — köstlich, sage ich Dir. Er liebt nämlich die armen Leute, und das hat ihm so besonders an mir gefallen, dass ich es auch nicht leiden kann, wenn man sie schlecht behandelt. Wie ich Dir sagte, er jeden Tag einen Brief und ich auch. Ich wusste oft nicht, was ich schreiben sollte, aber ein Kollege hält eine Zeitung, ein Arbeiterblatt, das las ich mir immer durch und schrieb dann über diese Dinge, was mir so einfiel. Wie mir eben der Schnabel gewachsen ist. Er hatte große Freude darüber und schrieb mir oft, dass ich ihn anrege. Nun — und vorige Woche kam er plötzlich hierher. Ich war in der Schule und hatte keine Ahnung. Gerade an dem Tage nicht, denn ich hatte Geschichte, und Du weißt, dass mich dieser Gegenstand immer aufregt. Gerade an diesem Tage blieb ich auch bis halb fünf im Konferenzzimmer — ohne Ahnung, sag’ ich Dir. Wie ich dann herauskomme, steht er vor dem Haustür und kommt auf mich zu. Fräulein Emilie, sagt er und nimmt meine Hand. Sonst nichts. Wir sind dann spazieren gegangen, denn ich kann ihn doch nicht in meine Wohnung führen. Abends waren wir dann im Theater, und auf dem Nachhauseweg hat er um meine Hand angehalten. Ganz förmlich, wenn’s auch auf der Gasse war. In den Witzblättern sagen die Backfische immer: „Sprechen Sie mit meiner Mama.“ Ich habe aber keine Eltern und habe ihn also zu meiner Tante geschickt. Noch in derselben Nacht schrieb ich der Tante, und wie er dann wieder nach Haus kam, hat er mit ihr gesprochen. Mein Gott, das war doch nur so gemacht. Und nun bin ich seit zwei Tagen Braut. Das ist großartig, und ich wünsche Dir, dass Du das auch noch wirst. Die lieben Kolleginnen. Sie zerplatzen vor Neid, und meine intimsten Freundinnen sind am aller wütendsten. Die männlichen Kollegen lachen, wenn sie Junggesellen sind, und grinsen, wenn sie Ehemänner sind. Alle aber beneiden mich, dass ich jetzt die Lehrerin hinschmeißen kann. Herrgott, Adele, das wünsche ich Dir, dass Du einmal vor deine Direktion hintreten kannst und sagen kannst: „Ich danke bestens, ich lege meine Stellung nieder.“ — Diese Schinderei habe ich wirklich schon satt gehabt. Na, jetzt ist es bald ganz vorbei. Ich muß nur noch so lange warten, bis ein Ersatz für mich da ist, aber zu Weihnachten komme ich schon ganz bestimmt zurück, und da freue ich mich schon jetzt, dich zu sehen. Ich habe auch furchtbar viel zu tun: du kannst dir denken, die ganze Ausstattung und alles. Aber diese Arbeit wird mir Freude machen. Zu Weihnachten also auf Wiedersehen, mein lieber, süßer Schatz. Du gutes, treues Herz, wie geht’s dir denn? Schreib bald deiner Emilie, die dich küsst als immer deine Einilie, verflossene Bürgerschullehrerin.«
Adele warf den Brief zum zweiten Mal auf die gehäkelte Decke. Dann trat sie vor den Spiegel über dem Blumentischchen. Sie suchte nach den Spuren dieses Briefes auf ihrem Gesicht. Aber alle Züge lagen wie die Falten einer Maske, und nur die Augen sahen mit großen Pupillen in ein fernes Land. Die Augen waren das einzig Lebendige und Junge in ihrem alten Gesicht. Die Qual des Beobachtens und Betrachtens zwang sie zu grausamen Selbstzerfleischungen. Darüber half nichts hinweg, dass ihre dreißig Jahre die traurige Zerstörung der Zeit an ihr begonnen hatten. Kein Frühling mehr. Alles Blühen ohne Sommer in den Herbst geweckt. Und auch keine Früchte als Erneuerungen ihres reifen Lebens. Die hässlichen Krähenfüße krallten neben den Augen über die Schläfers und die alte Kinderfalte zwischen den Augenbrauen war schattentief geworden.
Ihre Hand spannte die Bluse über der dürftigen Brust und tastete dann nach den Blättern einer Pflanze auf dem Blumentischchen. Weich, von tausend feinen Härchen übersamtet waren diese Blätter und dabei hatten sie die frische Kühle feuchten Erdreichs. So weich war einst ihre Haut gewesen. Sie hatte sich geliebt und hatte an warmen Sommerabenden ihre Wangen mit einer stillen und erwartungsvollen Freude gestreichelt. Nun waren diese Wangen gelb und trocken wie Papier, das lange in der Sonne gelegen hat. Die unnachsichtlichen Jahre hatten ihr die Farbe des Altjungferntums gegeben. Dreizehn Jahre, die sie in der Schulstube unter schreienden, unartigen Kindern und in diesem kleinen Zimmer langsam hingeschlachtet hatte.
Sie sah an ihrem Gesicht vorbei in das Zimmer hinein, das ihr seine bescheidenen Möbel und die gut gemeinten Bilder im Spiegel entgegenhielt. Sie liebte diese Dinge, an denen der Staub ihres Lebens haftete.
Die polierten Kasten, die Kleider und Wäsche hinter ihren Türen versteckten. Das Bett mit der einfachen, rot und grün gestreiften Decke, deren Farben nun im Verblassen allmählich ineinander überzugehen schienen. Wie sich müde Menschen nicht mehr bestreben, ihre scharfen Unterschiede zu erhalten und in lässigem Schlendern einander ähnlich werden. Der Waschtisch, den ein altertümlicher Mechanismus zu einem Pfeilertischchen verwandelte und der nun auf seiner Platte kleine Nippesfiguren und einen Handspiegel trug. Das Regal mit den wenigen Büchern mit altersblindem Golddruck aus den Rücken.
Und Adele dachte daran, wie sie früher das und jenes Stück aus ihrem knappen Gehalt dazugekauft hatte. Und an ihren großen Schreck, als der Tischler für den Rahmen, den sie für jenen schlechten Holzschnitt machen ließ, mehr verlangt hatte, als sie damals ausgeben konnte.
Das sprach aus dem Spiegel zu ihr mit traurigen, verhaltenen Stimmen.
Und als sie ihr Zimmer so im Spiegel zur Fläche ausgebreitet sah, ging es ihr seltsam durch den Kopf. So hatte sie ihr ganzes Leben gesehen. Ohne Tiefe, ohne frohe Farben. So hatte sie ihr Schicksal entgegengenommen. Kein fröhliches Mitwirken, sondern nur ein Betrachten, ein scheues Zustimmen von ferne.
Ein scharfes Zischen und ein leichter Rauch sagten ihr von einem kleinen Unglück auf dem Küchenherde. Sie lief in das finstere Loch, in dem die Petroleumlampe qualmte, und schob rasch mit Töpfen und Kasserollen, um ihr kleines Mittagmahl zu retten. Es war spät geworden, und ihre Zeit reichte nur gerade noch dazu, um ihre Vorbereitungen zu beenden und die armseligen Bissen, die ihr genügten, zu essen. Dann räumte sie rasch das Geschirr ab, strich die Schürze glatt und betrachtete sich noch einmal in dem Spiegel. So oft hatte sie das schon seit Wochen nicht getan. Mit einem Seufzer, wie ihn die Vögel im Traume ausstoßen, wandte sie sich ab und ging in die Schulstube, aus der ihr das Geschrei der Rangen und der übte Geruch verwahrloster Kinder von armen Leuten zu grausamer Begrüßung entgegenkam.
* * *
Die nächsten Tage stürzten mit einer brausenden Woge von Arbeit über Adele. Vorbereitungen zum Weihnachtsfest! Anderen kann die heilige Friedenszeit mit einem ruhigen Fortschreiten heran, mit einem sanften Kinderlächeln voll geheimnisvoller Verheißungen.
Die Töchter saßen und stickten an irgendeiner wertlosen Geschmacklosigkeit, die man nach dem Fest in die Ecken stellte. Die Hausfrauen riefen die gräulichste Hexe des Haushaltes herbei, die Reinigungsfurie. Die Väter sannen über die sinnlosen Geschenklein nach, die sie ihrer Familie unter den Baum legen wollten. Aber alles geschah in Liebe, ohne Hass und mit gleichmäßigem Überlegen.
Bei Adele stürzten sich diese letzten Tage in einen Wirbel von Arbeit und Aufregungen; die Kinder mussten noch fest gedrillt werden, damit sie bei der Feier nicht versagten. Die Sprüchlein, Reigentänze und Spiele gingen schwer in die kleinen Köpfe. Ein mühsames Aufwärts konnte in wenigen Stunden wieder in die tiefe Schlucht des Vergessens stürzen, wenn es nicht sorgsam geführt wurde.
Die Geschenke der Wohltätigkeit liefen immer erst in den allerletzten Tagen ein. Zuerst die Ausschusswaren der Fabrikanten. Schadhafte Tuche und Wollwaren. Gestrickte Leibchen und Kinderschuhe. Da musste die Näherin ins Haus. Im stillen Zimmer Adelens ratterte von früh bis abends die Nähmaschine. Für sechzig Kinder Hosen oder Röckchen. Der Dunst der zerrissenen Tuchflecken, die aufgewühlten Düfte der Färberei, die mit Säuren und scharf dampfenden Farbstoffen arbeitet, lagen fingerdick auf den Möbeln, den Büchern und erzeugte die Rauigkeit einer beginnenden Entzündung im Hals.
Adele stand unter der Tyrannei der Näherin. Sie war gezwungen, ihre freien Stunden nach der schlechten Luft der Schulstube in der nun noch schlechteren ihres Zimmers zuzubringen. Wenn sie das Fenster öffnen wollte, so klagte das Weib mit dem Winseln eines kranken Hundes über Zug. Sie hatte die Abneigung aller armen Leute gegen frische Lust. Und Adelens Mitleid mit dem immer schwangeren Weib war so zwingend, dass sie keine andere Näherin auszunehmen vermochte. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit, zeigte der Leib der Frau neuen Segen an. Das kam so regelmäßig wieder wie das Fest selbst. Und jedes Jahr brachte sie ihr Baby vom vorvorigen Jahr mit. Da saß das Kind mit den eingefallenen Wangen, dem großen Wasserkopf und der spitzen Nase unter den Tuchflecken am Boden und spielte mit den Abschnitzeln sein tiefgründig unerforschbares Spiel.
Um dieses Babys und um des armen, entstellten Leibes der Frau willen ließ sich Adele alles gefallen. Sie hielt es in dem überheizten, übel riechenden Zimmer aus, bis ihr Kopf anzuschwellen schien und sie schwammige Auswüchse an den Schleifen zu fühlen glaubte. Abends riss sie dann die Fenster auf und ließ die kalten Ströme der Winterluft über ihren Körper gleiten, bis sie erstarrt war.
Noch mehr fast als diese physischen Leiden folterten sie die Befehle ihres Gerechtigkeitsgefühles. Wie waren die Gaben zu verteilen? Es sollte keines von den Kindern weniger bekommen. Aber da fehlten einige Kleidchen oder Hosen. Der konnte keine Stiefel haben, und dieses kleine Mädchen sollte auf die Puppe verzichten. Und Adele suchte ängstlich nach einem Ausgleich für die fehlenden Güter.
Dort, wo sie Schicksal spielen musste, sollte es gleich zugehen. Sie wollte nicht unter den Kindern jene Verbitterung lebendig machen, die aus den Gebärden und den Worten ihrer Eltern raubtierartig knurrte. Für Adele, die die Welt draußen nur vom Hören kannte, gab es einzig den Gegensatz zwischen arm und reich, und den wollte sie in ihrem Reich auslöschen.
In den letzten Stunden kamen dann große Körbe mit Esswaren; Bäckereien, Äpfel, Nüsse, Zuckerwerk. Und auf der Goldwsage feinsten Empfindens verteilte sie auch diese Güter. Mit dem Rest ihrer Kraft putzte sie den grünen Baum des Festes. Papierketten, rote, grüne, blaue Kerzchen, Flimmersternchen und die kleinen fantastischen Abenteuer aus dem Reich des Zuckers. Als schönsten Schmuck hing sie ihr müdes, stilles Lächeln daran.
Zwei kleine Mädchen und die steinalte Wärterin halfen ihr dabei. Eine Hilfe, die so kindisch und unzulänglich war, dass Adele immerfort wachsam dahinter sein musste. Die Wärterin zerbrach, was sie in die Hand nahm, und die kleinen Urenkelinnen der Alten steckten die süßen Dinger lieber in den Mund als an den Baum.
Draußen war ein Schneetreiben losgegangen und verfinsterte mit seinen Wehen das Zimmer. Um halb vier Uhr mussten sie die Lampen anstecken. Jemand riss die Vorhaustüre auf: »Adele!«
Adele stand auf der Leiter und überlegte, wo sie den Engel aus Tragant hintun sollte: »Emilie.«
Ja, es war Emilie.
Da kam sie ins Zimmer herein, lachend, übermütig mit den weißen Verbrämungen des Winters auf ihrer kostbaren Pelzgarnitur. Eine kecke Kappe über dem ausgelassenen Gesicht. Jung, frisch und winddurchlüftet. Als ob sie nicht um vier, sondern um zehn Jahre jünger wäre.
»Liebe, liebe Ada, wie geht es, was machst du?«
Adele sah ihr immer fest in das rote Gesicht.
Ihre stillen Augen wunderten sich über die laute Freundin.
»Jetzt komm aber von der Leiter runter, sonst kraxle ich zu dir hinauf. Meiner Seele«, und sie setzte schon den Fuß auf die erste Sprosse. Adele schlang schnell den grünen Faden ihres Tragantengels um einen Zweig und sprang herab. Sie konnte auch noch springen. Nun aber verging sie in den überschwenglichen Liebkosungen der Freundin: »Mädel, Mädel, du siehst nicht gut aus; was machst du nur?«
»Ach, Arbeit, so viel Arbeit. Aber du — es steht dir gut, Braut zu sein.«
»Nicht wahr!« Das war ein naiver Triumph des Weibes. »Ich bin so glücklich.« Das war eine etwas aufdringliche Beteuerung. »Du solltest auch von hier heraus.« Das war ein verletzendes Mitleid.
Adele zuckte mit den Achseln. »Das hält mich fest«, sagte sie und zeigte auf die aufgestapelten Pakete, die den großen Geschenktisch beluden, und aus den Baum, der unter den ungeschickten Händen der drei Kinder ächzte und wankte.
»Weihnachtsfest. Wann denn?«
»Schon morgen.«
»So — morgen? Aber dann bist du frei! Du musst in den Weihnachtstagen zu mir kommen.«
»Ich bin nach dem Fest so müde, dass ich nichts anderes wünschen kann als Ruhe.«
»Das sagte ich auch, als ich noch Lehrerin war. Aber ich sehe ein, dass das falsch ist. Abwechslung hilft besser als Ruhe.«
»Du bist glücklich — sag mir, du hast ihn sehr lieb?«
»O sehr.« und Emilie schwenkte lachend Mütze, Muff und Pelzboa über den Boden, dass der Schnee in Streifen abspritzte. »Ich werde dir helfen.« Sie griff nach den vergoldeten Nüssen. Während sie die glänzenden, leblosen Früchte unter den Zweigen versteckte, sprach sie von ihrer Liebe, unbekümmert um die Alte und die beiden Kinder, die ihre Ohren spitzten. Ein toller, köstlicher Wirrwarr, der ihren sechsundzwanzig Jahren die Unverfrorenheit und Unbekümmertheit des Backfisches zurückgab.
Die Lampen blassten leise zwischen den wütenden Stößen des Windes an den Fenstern und wenn Emilie eine Pause des Ausatmens machte, klapperten die Zuckerstücke und Nüsse in den Körben.
»Jeda«, sagte die alte Wärterin und horchte auf, wie der Sturm heulend in das Vorhaus fuhr und winselnd einen Ausweg suchte. »Der blost wie a Wilda.«
»Das macht nichts. Ich hab’ das gern. Er soll nur fest blasen.«
Die Wärterin schüttelte missbilligend den Kopf und knüpfte über den grünen Fäden eines Herzchens aus Linzerteig vergeblich die Luft zu einem Knoten.
»Sie haben mich in der Schule die Windsbraut genannt, weil ich den Sturm so liebe. Sie waren überhaupt alle sehr lieb zu mir. Aber es gefällt mir zu Hause doch besser als dort. Ich war sehr traurig, als ich versetzt wurde, aber es musste sein, wegen der Beförderung. Dass ich so bald wieder zurück sein werde, habe ich nicht gedacht.«
»Dein Bräutigam ist Fabriksbeamter?«
»Ein lieber Mensch. Ein guter Kerl. Du wirst ihn kennenlernen. Er muss dir gefallen.«
»Sicher.«
Der Baum war geputzt und verbarg seine Zweige unter dem fremden Kleid. Er stieg wie eine von barbarischen Völkern geschmückte Pyramide empor und verleugnete seine Herkunft aus dem Wald durch die neuen Bilder, die er trug. Von dem roh gezimmerten Kreuz, in dem sein Stamm steckte, ging der Blick zu dem goldenen Schweifstern seiner Spitze über alle Symbole des menschlichen Lebens, diese Kronen, Kränze, Dreiecke, Schlüssel, Zöpfe, Herzen, und über die runde Weltgestalt der Äpfel und Nüsse. Dazwischen gingen die bunten Ketten ziellos von Ast zu Ast, zickzack und quer … so wie die Ketten des Schicksals laufen. Und von irgendwoher, aus einer verborgenen Höhe hingen die glitzernden Metallfäden des Engelshaars wie ungewöhnliche und freudige Begegnungen von schimmernder Plötzlichkeit. Und Menschen standen um den Baum, von denen ihn ein jeder anders sah, wie Menschen vor der Welt und dem Leben stehen. Zwei Kinder, eine Braut, ein verblühtes Weib und eine steinalte Urgroßmutter.
»Weißt du«, sagte die Braut, »den möchte ich morgen sehen, wenn er angezündet ist.«
»So komm doch zur Feier. Du warst doch sonst auch dabei. Warum machst du solche Umstände?«
Emilie trug ihre Verlegenheit zum Baum hin und gab ihr eine der raschelnden Papierketten zum Spiel. »Er wird nämlich morgen auch hier sein.«
»Ach so!« Adele verstand, und ein ironisches Lächeln über die Umschweife der Freundin erhöhte das Gefühl der Überlegenheit, das der Leidende über den Glücklichen immer zu haben glaubt. »Kind, das hättest du doch gleich sagen können.«
»Ich habe ihm versprechen müssen, auch zu kommen.«
»Interessiert er sich für Kinder?«
»Ja … auch. Aber er käme doch wohl nicht, weil er so unglaublich viel zu tun hat. Es ist grässlich. Das lässt sich nicht beschreiben. Wenn man ihm zuhört, so bekommt man Angst. Aber der Herr Bauer hat wieder anbefohlen, dass die Beamtenschaft seiner Fabrik zur größeren Ehre der Feier ausrückt. Dein Direktor versteht es, das ist klar.«
Adele lächelte. Sie sollte den Bräutigam der Freundin in jener Schar von gleichgültigen Menschen kennenlernen, die die Wohltätigkeit Bauers als Trabanten begleiteten. Sie erinnerte sich an den Aufmarsch der Beamtenschaft, die alljährlich mit verdrossenen Mienen zur Bescherung kamen, unwillig über den Zwang, der sie zu dem unwillkommenen Feste presste, ungehalten über die versäumte schöne Zeit. Sie standen wie eine schwarze Nacht, die kein fröhlicher Weihnachtsschimmer zu verklären vermag. Wie eine dunkle Wolke, die bereit ist, die kleinen Kerzenlämmchen mit grauen Tüchern zu ersticken. Adele dachte lächelnd zurück: »Du wirst mir ihn morgen zeigen.« Pelzkappe, Boa und Muff hatten sich schon wieder zur Winterjacke der Freundin gefunden. Jetzt steckte sie nur noch die Nadel durch die Kappe und das schwarze Haar. Ein weiches Parfüm kam von ihr her, der Duft ihres Briefpapiers.
»Ja, ja«, sagte sie eifrig, »also morgen um halb fünf.« Dann ging sie mit einem übermütigen Kopfaufwerfen steif an Adele vorbei. »So macht es der Herr Bauer«, rief sie noch von der Türe her.
Die alte Wärterin brummte etwas und zog eine ihrer Enkelinnen unter dem Baum hervor, wo sie auf dem Bauch liegend nach abgebrochenem Zuckerwerk gesucht hatte.
»Gehen Sie schlafen«, sagte die Kindergärtnerin; »morgen müssen wir zeitig aufstehen.« Dann stand sie noch und dachte angestrengt nach. Sie erwachte und sah, dass sie mit der Lampe in der Hand den Baum betrachtet hatte. Und wollte ihre Gedanken fragen. Aber die kamen einer nach dem anderen zurück, in ihre dunkeln Mäntel gehüllt, wie Pilger, die weit durch die Nacht wandern mussten; sie schlichen an ihr vorbei, wichen den Fragen aus und wollten nicht sagen, wo sie gewesen waren.
Da nahm Adele das einzelne Haar, das ihr stets in die Stirne hing, und zog es in seine braunwellige Heimat zurück; seufzte ein wenig und ging in ihr Zimmer, das noch vom Dunst der Armut erfüllt war.
* * *
Der Tag kam steil im Osten empor, sah sich aus den Höhen eines fernen Wolkengebirges, das zackig über irgendeinem Land des Elends wuchtete, nach der Stadt um und schickte seine Boten aus.
Ein grausamer Wintertag, der sich darüber freut, dass die Menschen zitternd und frierend aus dem dunkeln Schwanenflaum der Nacht in seine höhnische Grelle kriechen müssen, die er, wie zur Überraschung, nach langen nebeldüsteren Wochen plötzlich eines Morgens über die Dächer träufeln lässt. Folterlustige Ärzte lieben es so, scharfe, lange, dünne Lichtstrahlen mit einem Male blendend in ungeschützte, kranke Augen zu stoßen, die sich auf schonende Dämmerung bereiteten.
Eine goldene Nadel schoss plötzlich in Adeles Zimmer und riss unsichtbar wirbelnde Staubwolken in eine leuchtende, bewegte Bahn. Aber dieses Zimmer war nicht unvorbereitet und erschrak nicht über die Blendung: ein kleiner Haushalt, der schon vollständig in Ordnung war, eine wohlriechende Sauberkeit, in der Adele die letzten Gaben verteilte und sich mit den Befehlen ihres Gerechtigkeitsgefühles abquälte. Die alte Frau Zimmermann war auch schon auf dem Trab. Seit fünf Uhr früh ein Hin und Her im Vorhaus, auf der Kellerstiege, im Schulzimmer. Aufkehren, Abstäuben, Lüften. Mit Seufzen und Stöhnen ging alles vor sich, aber es ging: Ach nein, ach nein, ach nein! Das ist ein Jammer! So bald aufstehen müssen! Freilich mit achtzig Jahren tut sich es nimmer wie früher, wo man mit der Harfe herumgezogen ist! Der Rücken ist schon recht krumm. War auch nicht immer so. Hat manchmal ein freundliches Tätscheln auszuhalten gehabt. Damals mit der Harfe. Da hat die Kunst noch gelebt. Jeda!! Vor Grafen und Baronen hat man ausspielen dürfen. Und Geld, Geld. Was, die Dummheiten mit der Liebe! Aber Geld! Schade drum, dass man alt werden muss. Achtzig Jahre. Jesus! Und der Staub überall. Wo die Mistfratzen nur so viel Kot austreiben; als ob sie ihn mit Fleiß zusammentragen würden. Ach ja … gähnen muss man auch, wenn man so bald ausgestanden ist und noch einen nüchternen Magen hat. Ein nüchterner Magen ist das Ungesündeste. Aber, wer wird sich denn die Gesundheit verderben lassen. Ein Topf Kaffee ist jetzt das Wichtigste.
Und darum ließ Frau Zimmermann eben Staubtuch und Besen im Stich, um sich ihr Allheilimttel zu bereiten, als Adele in das Schulzimmer trat.
»Mir ist es eben eingefallen, dass wir noch keine Lampen haben. Laufen Sie schnell zum Spengler.«
»Jeda, do wird doch nicht gleich aus sein.«
»Na freilich wirds nicht gleich aus sein. Aber ich möchte es gern gleich wissen, ob uns irgendein Spengler die Lampen borgt. Und dann müssen sie ja auch erst angebracht werden.«
Frau Zimmermann ließ sich nicht erschüttern. Sie hatte ein Menschenleben als Harfenmädchen und ein zweites Menschenleben als altes Weib hinter sich.
»Aber, Fräulinko, da is noch Zeit.«
»Wir haben ja noch andere Sachen zu tun. Ich will das gleich besorgt haben.«
»Wird schon geschehn. Bis nach ’n Kaiser.«
Adele musste anerkennen, dass ein noch nicht getrunkener Kaffee eine vis major sei, gegen die sich nicht ankämpfen lasse. Und so verging der aufregende Tag im Widerstreit zweier Mächte, von denen die eine die Ungeduld, die andere die Bequemlichkeit als Wagenlenkerinnen hinter sich stehen hatten. Ein Bruchteil der Kraft entfiel aus diese unnützen Reibungen, und als Emilie um halb fünf Uhr den Winter in Adeles stille Stube trug, fand sie die Freundin schon ziemlich erschöpft. »Denk dir nur, der Spengler hat mir anstatt vier nur drei Lampen geschickt. Gott weiß, was die Zimmermann da wieder ausgerichtet hat.«
»Aber, Ada, du wirst dich doch nicht im Ernst aufregen.« Emilie sprang mit der Beweglichkeit eines Füllens im Zimmer herum und regte Adele nur noch mehr auf.
»Da soll man sich nicht ärgern. Jetzt wird es drüben zu düster sein.«
»Mein Gott, der Weihnachtsbaum ersetzt doch eine Lampe. Was glaubst du, soll ich mit der Boa hineingehen?«
»Es wird doch furchtbar heiß sein.«
»Aber sie steht mir so gut.«
Adele entgegnete nichts und strich mit der Hand ihre große Empireschürze herab. Die Freundin sah aus, als ob sie seit gestern schon wieder junger geworden wär. Ein großer Lärm, das Getöse, mit dem ein junger Bach seine unvernünftigen, tollen Wellen über Kiesel herab und großen Steinen an den Kopf wirst, kam durch die dünne Wand aus dem Zimmer der Wärterin.
»Hörst du sie, wie sie schon ungeduldig sind. Die Zimmermann hat immer ihre Not, sie zurückzuhalten. Sie können es kaum erwarten.« Weihnachtsglück und Liebe legten leise einen Kranz auf Adeles braunwelliges Haar. Und ihre versunkene Schönheit leuchtete auf wie ein Märchen. »Da ist noch wirkliche Freude. Heute sind sie alle sechzig da, auch die, die ich sonst mir zweimal, dreimal in der Woche sehe.«
»Es ist zu herzig. — Ich werde mir doch die Boa nehmen!«
»Heute muss ich auch die lieb haben, die mich sonst das ganze Jahr nur ärgern. Komm jetzt herüber. Willst du mir dann beim Austeilen helfen?«
Gerne !« Emilie dachte daran, dass ihr Bräutigam einmal gesagt hatte, von allen Szenen bei Goethe gefalle ihm am besten die brotschneidende Lotte inmitten der Geschwister. Ein Symbol der Mutterwürde des Weibes! Ein Symbol segnenden Menschentums! Sie legte die Boa um und ging mit Adele in den Lärm der Kinder, die sich aus dem Vorhaus unter Anführung der Wärterin zu einem Schlachthaufen ungestümer Glückserwartung geordnet hatten. Die Zimmermann trug ihren krummen Rücken von einem Ende zum anderen und gab die Weisheit ihres langen Lebens in schrillem Gekeife von sich: »Nur schön erwarten. Man muss warten lernen. Das gibt es nicht, alles gleich haben wollen. Nichts kann man gleich haben. Jeder Mensch muss bescheiden sein. Anders geht es nicht.«
Aber das drängende Leben schob ihre Weisheit beiseite und brauste an die braune Türe des Schulzimmers, die heute den Eingang ins Paradies bedeutete. Hinter dem Schlachthaufen der Kinder drängten sich die Mutter, stießen sich in den Ecken herum und verzogen ihre Gesichter zur Fröhlichkeit. Der Widerwille des schwer arbeitenden Weibes gegen jede Entlastung, gegen harmlose Feste zeigte seine hässliche, verbissene Maske. Sie standen mit über den Leib gefalteten Händen, das große Umhängetuch über die knochigen Schultern gezogen und sahen fast neidvoll die unbedachte, leuchtende Kindheit vor sich. In der Eingangstür und auf der Stiege, die in den Garten führte, türmten sich ihre ungestalten, groben Körper auf. Sie wollten doch nichts von dem Schauspiel versäumen, das sie so schmerzvoll anzog.
Und einige gab es, die riss eine bürgerliche Aufregung aus ihrer Stumpfheit aus, newös zappelnde, tänzelnde, trippelnde Weiber, die sich rechts und links wandten, um mit ihren Nachbarinnen ein Gespräch des Triumphes anzufangen, Weiber, die den Wunsch hatten, bemerkt und beneidet zu werden, die Mütter jener Kinder, die bei dem heutigen Fest eine besondere Rolle zu spielen hatten. Eine Art von Lampenfieber, als ob sie selbst durch ihre Kinder heute zum ersten Mal in das Reich der Oberen eintreten sollten, in die Welt, in der sonst ihr Schicksal bestimmt wird, und in der sich ihnen nun der blasse Schein ferner Eroberungen zeigen wollte.
Zwei Wachleute stiegen gewichtig und rücksichtslos einen schmalen Steig durch die Menge, bahnten einen unsichtbaren Weg, der nur ihnen bekannt war, und ärgerten sich darüber, dass er hinter ihren Schritten immer wieder unter den ungestalten Leibern und den Umhängetüchern der Weiber verschwand.
»Die Tante, die Tante«, schrien die Kinder, als sie Adele erblickten, und stürmten vorwärts, um sich an ihre Rockfalten zu klammern.
»Scht … gleich kommt der Engel und wird den Christbaum anzünden.«
Die Kleinen schwiegen im Augenblick, als ob die blauen Schwingen des Engels über ihren Köpfen hingen. Nur das Gedränge und Gestampfe der Weiber auf der Stiege und die Rufe der Wachleute verstummten vor dem Engel nicht. Es war recht dunkel, und die drei Lampen des Vorhauses zitterten vor dem wieder beginnenden Lärm und wagten nicht, ihre Strahlen über den nächsten Kreis hinauszusenden.
Der Schani, der am weitesten zur Türe vorgedrungen war, sah unten im Spalt einen goldenen Schimmer. »Jetzt hat er den Baum gebracht«, sagte er zu seinem Freund, dem Poldl, und der Poldl riss seine großen, blauen Augen entzückt aus. »Der Baum ist da«, ging das Geflüster hinter ihnen weiter. Und zugleich stieg ein Geflüster vom Fuß der Stiege herauf und lief über die Weiber hin, dass sie die Tücher fester um die Schultern zogen und die Haare aus der Stirne strichen. Die Herren kamen!
Die Ehrfurcht lief voran und bahnte die Gasse, die den Wachleuten immer wieder weggeschwemmt worden war, staute die Weiber zu beiden Seiten in steilen Wänden an und machte sie stumm. Was dem Engel nicht gelungen war, gelang den Herren. Zornige Andacht ließ sie vorüberziehen, und gelber Neid, böswillige Verleumdung folgte ihrem Zug mit stieren Glotzaugen.
»Der Bauer, hast ihn g’sehn. Die Uhrkett’n, was. Dos is wieda Schweiß und Blut von uns.«
»Und seine Frau. So ane. Weniger als Seid’n tut’s nit mehr.«
»Sakra, die ganze Fabrik is ausg’ruckt.«
»Und der Gemeinderat, wie heißt a?«
»Von der Türkengoss’n. Armenkommissär im sieb’nten Armenbezirk is a.«
»Der kümmert sich mehr um sein’ Bauch als um die Armen.«
Die Herren nahmen aus zwei Reihen von Stühlen Platz, die einen weiß überdeckten Tisch mit den Weihnachtsbroten umstanden. Frau Bauer, die Ehrenpräsidentin, der Vereinsobermann Bauer und der Gemeinderat aus der Türkengasse setzten sich an den Tisch. Adele trat mit leichter Verlegenheit heran und meldete, dass alles bereit sei.
»Ach, Fräulein Weil!« sagte Bauer, und seine kalten Augen verschwanden hinter den glitzernden Zwickergläsern. »Sie haben uns ein erhebendes Fest vorbereitet.«
Der Gemeinderat aus der Türkengasse schleppte seinen schweren Leib zum Weihnachtsbaum.. »Sehr hübsch, sehr hübsch … geschmackvoll, sehr geschmackvoll.« Er sagte das alle Jahre, und, wie alle Jahre, setzte er hinzu: »Sie sind wohl mit ihren Kindern zufrieden?«
Frau Bauer spitzte den Mund, und irgendwoher aus dem kalten Weltraum flog ein Lächeln auf ihre Lippen: »Das Fräulein ist sehr tüchtig, wir können uns auf sie verlassen.« Auch dieses eisige Lob durfte Adele alle Jahre anhören.
Darauf konnte sie nicht anders, als — wie alle Jahre — zu erwidern: »Gnädige Frau, ich tue meine Pflicht und freue mich, dass meine Tätigkeit Ihren Beifall findet.« Frau Bauer nickte, und der Prolog war zu Ende.
»Darf ich jetzt die Kinder hereinlassen?«
»Ich bitte darum … aber … Sie, Wachmann.«
Der eine der an der Tür angestellten Wachleute salutierte. »Lassen Sie von den Eltern nur so viele herein, als hier Platz haben. Der Raum ist etwas eng.« Bauer wandte sich lächelnd an den Gemeinderat: »Solange uns die Gemeinde nicht unsere primitive Anstalt erweitert.«
»Ach mein Gott, die Gemeinde …«
Die Wachleute hatten die Türe geöffnet, und mit kurzen Tritten trugen die Kinder ihre Ehrfurcht und ihr gläubiges Staunen in das Zimmer. Der Baum glitzerte und funkelte wie die Pyramide des Lebens, die uns die guten Engel in verheißungsvollen Träumen zeigen. Alle Symbole riefen aus dem ewigen Grün des Lebens ihre Farben und bedeutungsvollen Formen aus. Kinderspielzeug, das uns die Welt entgegenhält, um uns zu ihren Zwecken zu gewinnen. Paar um Paar zogen die Kleinen an der schwarzen Wand von Gästen vorbei. Es war, als ob aller Glanz nur die Kinder überwellte, sodass keiner seiner schimmernden Tropfen an das schwarze Ufer gelangen konnte. Und so sehr hielten sie die goldenen Fäden vom Baume des Lebens, dass keines von ihnen sah, wie Frau Bauer, die Ehrenpräsidentin, ihnen unaufhörlich lächelnd zuzunicken versuchte.
Die kleinen Füße stellten vier Reihen von kleinen Menschen hintereinander aus, ein wohlgebildetes Quadrat von sündlosem Triebleben, eine Phalanx von unbewusstem und tierisch reinem Verlangen.
An der Tür war ein großer Kampf angegangen. Die Wachleute folgten den Weisungen des Herrn Obermannes genau und sperrten den Eingang, als sich der Hintergrund und die Winkel des Zimmers mit Weibern gefüllt hatten. Die anderen wollten nachdrängen und pflanzten ein drohende Murren bis in die vordersten Reihen fort. Die Wachleute stemmten beide Fäuste in die lebendige Masse und schaben keuchend ihren Angriff hinter die Schwelle. Es wurde von Schimpfworten laut. »Hunde, verfluchte«, schrie plötzlich eine ganz grell. Endlich drückten die Wachleute mit wilden Stößen die Türe frei und warfen sie rasch zu. Den Riegel vor, dann stellten sich beide mit dem Rücken gegen den Sturm, der draußen noch weiterrumorte. Sie nahmen die Helme ab, und ihre Blicke suchten nach Beifall und Anerkennung. Manchmal wandten sie sich noch mit wütendem Gesicht halb um, wenn ein Stoß die Türe erschütterte.
Die Frau Präsidentin rief Adele mit einem Zeichen zur Produktion auf. Und das Mädchen trat vor ihre Kinder hin.
»Wir singen das Lied: „Der Winter ist ein harter Mann“.«
Mit dünnen, zirpenden, hellen Stimmen fielen sie ein: »Der Winter ist ein harter Mann, lässt schneien, was es schneien kann.« Ein einfältiges Stimmungsbild, aus dem der Gedanke an warme Zimmer, an Tannenduft, an behagliche, häusliche Feste wuchs. Der eintönige Singsang, der langsam begonnen hatte, wurde von der Sehnsucht der Kinder nach dem Kern des Festes immer schneller. Adele versuchte zurückzuhalten. Aber die klare Kraft der jungen Lungen drängte vorwärts. Sie schlossen mit einem rauschenden Durcheinander, in dem sich die Stimmen voneinander entfernten, bis endlich eine einzige, glashelle, ganz hoch oben mit einem gebrochenen Quieken lang hinhaltend den letzten Ton gab.
Der Gemeinderat lächelte. Bauer und die Ehrenpräsidentin hielten den kalten Ernst aus. Die schwarze Mauer der Gäste rührte sich nicht. Nur ein junger Mann mit einem blonden Schnurrbart im unbedeutenden Gesicht zeigte das leichte Zacken lächelnder Ergriffenheit um den Mund.
Nun erhob sich der Obermann. Seine Augen wurden von den stahlharten Reflexen der Brille verdeckt. Er zog seine Uhr an ihrer langen Kette aus der korrekten oberen Westentasche hervor und begann, indem er ihren goldenen Deckel aufspringen ließ, zu sprechen: »Liebe Kinder! Alljährlich und so auch heuer naht sich das Weihnachtsfest, bei dem das liebe Christkind vom Himmel herunterkommt, um sich aus der Welt umzuschauen, was die kleinen Menschen machen. Das Christkind ist früher nur in die reichen Häuser gegangen und hat von den armen Kindern nichts wissen wollen. Aber da haben sich gute Menschen gefunden, die das Christkind gebeten haben, auch zu den armen Kindern zu gehen. Diese guten Menschen haben euch also, liebe Kinder, den Baum verschafft, den ihr dort brennen sehet, und die schönen Geschenke, die ihr dann bekommen werdet. Ihr müsst darum diesen guten Menschen immer dankbar sein, müsst euch und eure Eltern erinnern, dass ihr ohne diese braven Menschen keinen Weihnachtsbaum und keine Geschenke bekommen würdet. Eure Dankbarkeit könnt ihr nicht besser beweisen, als indem ihr fleißig und artig seid und der Tante schön folgt. Ich hoffe, dass ich niemals über euch klagen hören werde, damit ich den guten Menschen sagen kann, dass ihr dankbar seid.«
Bauer war mit den Kindern fertig, steckte die Uhr wieder ein und fuhr fort: »Aber auch wir Erwachsenen sollen unsere Lehre aus diesem Feste nehmen. Wir wollen uns nicht überheben und von Zeit zu Zeit einfach werden, wie die Kinder. Wir müssen uns daran erinnern, dass es unsere erste Pflicht ist, den Armen wohlzutun, ihre Not und Qual zu lindern und ihnen in ihren Kindern eine Freude zu bereiten. Unsere Zeit ist eine Zeit der Barmherzigkeit und des Mitleidens; Barmherzigkeit und Mitleiden muss auch unsere Losung sein. Deshalb sind wir höher gestellt worden, damit wir die Armseligen und Niedrigen erquicken und aufrichten. Wir müssen die christliche Nächstenliebe zu Taten führen.«
Die schwarze Mauer wurde unruhig, rückte hin und her und begann sich zu räuspern. Bauer aber schien die Uhr vergessen zu haben und dehnte seine Anpreisungen der christlichen Nächstenliebe und Mildtätigkeit ins endlose. Er spielte auf die Erweiterung der Anstalt durch die Stadtgemeinde an, gab Lobsprüche und Ermahnungen nach allen Seiten von sich. Endlich landete sein zielloses Geplätscher an der öden Sandbank eines Dankes an die Erschienenen. Der Gemeinderat! Die Ehrengäste, die so freudig hiehergeeilt waren, um an der Freude der Kinder teilzunehmen! Der ganze Kindergartenverein, dessen Mitglieder sicherlich, wenn auch leiblich verhindert, doch im Geiste anwesend waren! Adele war nicht unter jenen, denen er danken zu müssen glaubte.
Sie stand vor ihren Kindern und fühlte ihre warme, weiche Masse hinter sich. Und da kam das Flüstern ihrer Freundin, die hinter ihr stand: »Schau, Adele, der dort … Der junge Mann mit dem blonden Schnurrbart — das ist er.« Der junge Mann mit dem blonden Schnurrbart im unbedeutenden Gesicht hatte seine festen Blick an etwas gehängt, das hinter Adele stand. »Das ist er«, sagte Emilie noch einmal. Und der junge Mann ließ Emilie los, um aus Adeles Gesicht ihr Urteil zu suchen.
Herr Bauer hackte seine Rede, die noch zum Schlusse breiig auseinanderquoll, kurz ab. Und nun klatschte man Beifall. Die schwarze Mauer setzte eine Reihe von Händen in Bewegung. Nur Emiliens Bräutigam und ein zweiter Herr neben ihm verzichteten auf das Vergnügen des Theaters.
Die Salve ließ noch ihr Geräusch und ihre Bewegungen durch das Zimmer gehen, als schon der Gemeinderat seine Maschinen in Tätigkeit setzte, um den schweren Körper auszuziehen. Er hielt eine Rede voll gemeinderätlicher Würde und Salbung, eine jener Reden, die zeitungsreif geboren werden, und deren gedruckten Nachhall die ganze Türkengasse zu bewundern pflegte. Er war sich seiner Bedeutung bewusst und gab sich als Herold eines großen Fürsten, als Kanzler eines mächtigen Reiches, indem seine Hände immerfort zwei Gewichte gegeneinander abzuwägen schienen. Reichsäpfel oder Weltkugeln oder andere runde Symbole der Herrschaft.
Die Kinder waren sehr unruhig und zappelten von einem Fuß auf den anderen. Sie ahnten nichts davon, wie wichtig es war, dass der Gemeinderat der großen Verdienste der Frau Ehrenpräsidentin gedachte, dass er ihren unermüdlichen Eifer hervorheb, und dass er einige Male den Wunsch aussprach, sie möchte ihre unschätzbare Hingebung, ihre freudige Arbeitslust dem Vereine zum Wohle der Kleinen erhalten. Adele war in Verzweiflung, weil ihre Kinder dem Redner den Rücken zukehrten und mit hungrigen Blicken die glitzernde Schönheit des Christbaumes streichelten. Sie drehte die Nächststehenden herum, aber der hartnäckige Mechanismus der Kinderseele wendete sie wieder zu dem Baume zurück.
Die schwarze Mauer gab dem Gemeinderat die wohlverdiente Salve des Beifalls. Und nun hatte wieder Adele das Wort. Sie führte ihre Kinder zu einem kleinen Neigenspiel vor, das den Winter brachte, der das Kind bedroht. Aber das Kind lacht den Winter aus und zählt ihm auf, was es im Winter alles an Freuden habe. Die Schneeballschlacht, die Schlittenbahn, die Blumen an dem Fenster dran, vom Dach die langen Hängezapfen und dann die guten Faschingskrapfen
… »und als das Best’,
das wunderschöne Weihnachtsfest«.
Schani deklamierte das fröhliche Kind mit Überzeugung und Ausdruck. Der winterliche Freund Poldl zog unter Spott und Hohn davon. Ein Reigengesang der Kinder schlang sich um seine Flucht.
Noch einmal trat der Schani auf — er war Adeles Hauptakteur — und klapperte ein Gedicht in hartem Takte ab. Noch ein Gesamtlied, und dann entfaltete sich die Blume des Festes zu ihrem höchsten Glanz. Die Kinder ordneten sich zu Paaren, und Adele trat mit ihrer Freundin zum Geschenktisch. Emilie strahlte ihr Entzücken zu dem jungen Mann mit dem blonden Schnurrbart hinüber und sah den glücklichen Stolz seiner Augen. Die Frau Ehrenpräsidentin wollte die Verteilung überwachen und nahm mit kleinem Kopfnicken die Vorstellung Emiliens entgegen.
Die Namen riefen zum Tisch, und die Pakete fanden sich zu den Kindern, denen sie bestimmt waren. Die Ungeduld löste die Ordnung auf und drängte die Kinder in einen Knäuel zusammen, aus dem der Aufgerufene sich kaum loslösen konnte.
»Nun wird es interessant«, sagte der junge Mann zu seinem Nachbar, der das Klatschen unterlassen hatte. Dabei sah er Lotte im Kreise ihrer Geschwister.
»Siehst du, wie die ursprünglichen Triebe in den Kindern hervorbrechen. Jetzt, wo es was zu haben gibt, kommt die Tigerin Natur über sie, und alle Ordnung geht im Greifen unter.«
»Wir wollen eben ins Greifen und Besitzen Ordnung bringen.«
»Wo zwei Menschen zusammenstehen, kannst du ein schönes Experiment machen. Nimm ein Brot und sage: Ich will dieses Brot unter euch teilen. Brich es so schnell als möglich. Du wirst finden, dass jeder von ihnen zuckt, um als erster nach seiner Hälfte zu greifen. Gib jetzt jedem sein Stück. Du wirst finden, dass ihre Augen, noch bevor der Hunger das Brot zum Munde führt, messen, ob das Stück des anderen nicht größer ist.«
Die staunende Ehrfurcht der Kinder war vor der Gier gewichen. Die kleinen Fäuste stießen und drohten, die Füße arbeiteten in dem allgemeinen Wirrwarr, um nur schnell zur Verteilung zu tragen, und der goldglitzernde Schein des Weihnachtsbaumes streute seine Schätze unbeachtet vor sich. Die hundert kleinen Weihnachtskerzen in den Augen der Kinder waren in einem hässlichen, trüben See erloschen. Das Zischen der versenkten Flammen brodelte noch auf der Oberfläche. Wie das Fauchen junger Panther. Eine ermüdende Arbeit, die andrängenden Kinder abzuwehren. Eine große Anstrengung der Lungen, in diesen Lärm die Namen hineinzurufen.
Emilie ließ die Arme sinken und hustete.
Die Frau Ehrenpräsidentin stand hilflos dabei. Dann trat sie einen Schritt hinter den schützenden Tisch und zog das Kleid an sich. Einer der Jungen war ihr mit derben Absätzen auf die Volants gestiegen.
Adele hielt inmitten der wild gewordenen Kinder aus. Sie rief und ermahnte unermüdlich. Nun mischten sich aber auch die Mütter hinein, die bisher vom Respekt in den Ecken festgehalten worden waren. Sie stürzten sich mit ihren unförmigen Leibern in die Schlacht, stießen um sich und drängten vorwärts, um ihre Kinder zu erreichen und mit ihnen zu fordern. Die Angst und Habgier gaben ihnen ein, dass am Ende zu wenig Pakete da sein könnten, dass man ihr Kind vergessen hatte. »Man muss sich um’s Seinige kümmern«, schrie Schanis Mutter. Sie hatte gesehen, dass der Schani schon lange vorne stand und vergeblich seine Hände nach jedem Paket ausstreckte, weil das Alphabet noch nicht seinen Namen gebracht hatte.
Die Wachleute an der Türe gaben ihre ganze Kraft her, um den Einbruch der Menge zu verhindern, wenn jemand das Zimmer verließ.
Als das Handgemenge zum Einzelkampf wurde, traten die Gäste an die Tafel heran. Die schwarze Mauer war gedrillt, sich zu erwärmen, wo sich Herr Bauer erwärmte, und näherzukommen, wo er näherkam.
»Sie haben reizend ausgesehen, gnädige Frau«, sagte der Gemeinderat und schnaufte bei dem Gedanken, dass auch er sich in dem Getümmel hätte befinden können.
Bauer küsste seiner Gemahlin galant die Hand, und der Fabrikdirektor wagte es, die schlanken Finger mit seinem buschigen schwarzen Schnurrbart zu überdecken. Die anderen durften aus der Ferne zusehen, und sie bemühten sich, in ihren Mienen Dankbarkeit und Verehrung mit dem Bewusstsein der eigenen Niedrigkeit zu mischen.
Eine andere Gruppe, in der das Leben andere Mischungen bereitete, stand abseits.
»Erlaube, liebe Adele, dass ich dir meinen Bräutigam vorstelle. Herr Ferdinand Spranzer. Meine liebste, beste und älteste Freundin, Adele Weil. Ich habe dir schon viel von ihr erzählt.«
»Du konntest mir nichts Lieberes erzählen, als was ich heute selbst gesehen habe.«
»Nicht wahr, das ist doch drollig!«
»Drollig? Auch! Aber vor allem rührend und erhebend, wenn die Kinder so ihre Weihnachtsfreude empfangen.«
Emilie zog die Boa wie einen Strick straff um den Hals. Die leise Zurechtweisung ließ aus ihrem Gesicht das Spiel eines hässlichen Zuckens aufsteigen.
Ein vierter stand dabei, der hatte ebenso wie Adele bis jetzt nichts gesprochen. Der sagte jetzt: »Erhebend vielleicht für den, der die Arbeit aus sich genommen hat. Das Fräulein, das sich die Mühe der Vorbereitungen gab und die Kinder mühsam in ihr Geschirr brachte, mag sich davon erhoben fühlen. Ich zweifle, dass in einem der Kinder jetzt noch ein Schimmer der Güte und Milde dieses Festes lebt.«
Spranzer nahm den Mann beim obersten Rockknopf und stellte vor: »Ein grimmiger Antisozialist, mein Freund, Gustav Hampel.« Für Adele hatte nun ein Stück der schwarzen Mauer Leben und Bewegung und Namen bekommen. »Nur ein Gegner der übertriebenen Bedeutung, die man diesen Dingen beilegt. Sonst nichts! Und ein Freund der persönlichen Freiheit. Ein Anarchist der sozialen Gefühle, wenn Sie gestatten, dass ich mich selbst analysiere.«
»Das soll der Held in einem Drama niemals tun«, sagte Emilie, die ihre Zurechtweisung vergessen machen wollte.
»Ich bin kein Held, und hier ist kein Drama im Gange.«
Die andere Gruppe aber tat doch beinahe so, als ob hier eine jener alten Haupt- und Staatsaktionen gespielt würde, die ihre nackten Gerippe mit bunten Teppichen und Bühnenflitter behängen. Leere, hohle Fässer, die man mit Schwertern und Ordenssternen deckt, Gebärden der Größe vor einem Nichts von Gedanken, höfliche Verbeugungen strohgefüllter Puppen und als König ein notdürftig verkleideter Hanswurst. Dazu Palmengewedel der Umstehenden, Gedränge einer gemalten Menge und aus den Potemkinschen Dörfern an der Straße die Hochrufe einiger armseliger Statisten.
Ein Festzug bewegte sich durch die Ehrenpforte der beiden Wachleute vom Schauplatz. Die Masken seiner Teilnehmer grinsten noch einmal den festlichen Baum an, dessen Kerzen schon niedergebrannt waren, nickten den Zurückbleibenden einen starren Gruß und gingen der Türe zu, die in ihre Puppenwelt zurückführte. Voran die Ehrenpräsidentin, der Gemeinderat und der Gotte als Ehrenwachen zu beiden Seiten, dann die wandelnde schwarze Mauer, langsam und bedächtig, wie es sich für wandelnde Martern schickt. Zuletzt schlossen sich die beiden Wachleute an.
Und nun war ein Augenblick stillen Aufatmens von unbehaglichem Druck. Die Kerzenstümpfchen versengten die Fichtennadeln und das duftende Knistern trug die wehmütige Melodie vom Ende des Festes.
»Eines nach dem anderen wird ausgelöscht«, sagte Adele und es wurde immer dunkler.
»Ich finde, die kleinen Dinger haben lange ausgehalten.« Emilie zeigte keine Spur von Sentimentalität. »Es war wunderschön heute.«
»Ich war erst wütend über den Zwang, aber …« und da schwieg Gustav Hampel plötzlich.
»Bauer braucht uns zur Folie seiner Größe. Morgen muss doch in der Zeitung stehen: in Anwesenheit einer großen Zahl von festlich gestimmten Gästen. Heute wird der Reisenhofer wieder fünfmal seinen Bericht schreiben müssen und wird ihn fünfmal zerrissen vorgeworfen bekommen; bis er zum sechsten Mal genug lobende Worte findet, die den Bauer zufrieden machen.«
»Du stehst also, dass die Wohltätigkeit hier zur Komödie wird.«
»Einerlei. Aber notwendig ist sie doch. Es ist überflüssig, den Quellen nachzufragen.«
»Furcht ist eine trübe Quelle, und ihre Wasser sind ungesund.«
»Ganz gewiss! Aber der Arbeiter empfindet diese Fürsorge schon als eine Pflicht der Gesellschaft. Und es ist jetzt auch alles eins, wie die Pflicht erfüllt wird. Selbstverständlich ist dies alles nur ein Provisorium bis zur vollständigen Ausgleichung.«
»Bis zum großen Zahltag«, sagte Emilie und zog an ihrer Boa.
Man sah sie ein wenig erstaunt an, und in die Stille knisterten die letzten erlöschenden Weihnachtskerzchen — bis die Tür des Schulzimmers aufflog und an die Wand trachte. Ein kreischender Wirbelwind fegte eine Frau vor Adele: »Glauben S’ denn, Sie können mit die armen Leut’ olles moch’n. Das is wirklich schon ’s Höchste. Mein Schani ist der Beste in Jhra Schul, er deklermiert Ihre Gedichte und red’t wie a Olter. Und was is der Dank? Dass er weniga kriegt als andere. Sie holten’s mit die reichen Lent’, wie olle. Und die ormen Teufeln wer’n betroggen hinten und vurn. A jeda soll gleich viel kriegen, es is g’nug da.«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Vorreiter«, sagte Adele. Ihre Hilflosigkeit machte sie rührend und schön.
»So, Sie wissen’s nit. Also do muss ich’s Ihnen sagen.« Und das Weib fuchtelte mit dem offenen Geschenkpaket ihre Kriegslust in die Lust. »Da wer ich’s Ihnen halt sag’n. Wer Ihnen besser passt, dem geben S’ mehr, und wer Ihnen nit passt, der kann krepier’n. Mein Schaut is gewiss a brava Bub, und das soll ich mer vun Ihnen g’foll’n lassen. Der Zwerenzpoldl hot zwa Paar Schuh kriegt und der Schani nur a Paar. Der Poldl hat zwa g’stickte Unterleibln und der Schani nur a Paar.«
Adele schaute den Schani an, der verlegen unter der Türe stand. Ihre Augen riefen ihn auf: Komm her und zeuge für mich. Solche Szenen kamen ja häufig vor, aber immer brachte sie dieser boshafte Unverstand aus der Fassung. »Liebe Frau Vorreiter«, und die Worte waren mühsam und krank, »der Poldl ist ein armer Teufel. Sein Vater ist schon lang krank, und seine Mutter hat ein ganz kleines Kind und kann nicht viel verdienen.«
»Ach, was geht denn das mich an, was andere Leut’ haben. Mein Schan …
Hampel legte aber da das Gewicht seiner Hand auf die Schulter des Weibes und drückte ihr Gefuchtel nieder; »Ruhig … lassen Sie das Fräulein reden!«
»Der Poldl braucht Schuhe und warme Kleider. Er hat kein einziges Paar ganzer Schuhe und kein Unterleibl. Sie sind gesund, und Ihr Mann ist gesund. Sie verdienen beide genug. Darum hat der Schani weniger bekommen. Dafür habe ich ihm viel mehr Äpfel und Nüsse und ein Bilderbuch gegeben.«
»A Bilderbuch Was mach’ ich mit an Bilderbuch.« Das Bilderbuch schwenkte seine bunten Seiten vor den Augen des Mädchens. »Ich bin grad so viel wie ondere … und brauch’ mich von Ihnen nit betrügen lassen. Loss’n S’ Ihnen den Krempel, ich pfeif’ Ihnen drauf, auf Ihr Bilderbuch und das ganze … Sie warf das Paket von sich und wollte es wie ein wütender Elefant zertrampeln. Aber zwei Hände kamen da und fassten ihre Arme. Zehn klammernde Finger drückten ihr Flecke in das welte Fleisch. Der Wirbelwind, der sie gebracht hatte, sprang nun als Orkan wieder auf und warf sie vor die Türe.
Langsam folgte Schani der Mutter, und als er von ihr zwei kräftige Ohrfeigen erhielt, vermochte sein kleiner Kinderverstand die Zusammenhänge nicht zu fassen.
* * *
Adele erwachte am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen. Wie immer am Tage nach der Weihnachtsfeier. Ihr Pflichtbewusstsein hatte sie um fünf Uhr geweckt. Aber heute — kein Schultag. Es schadete nichts, wenn sich alles verspätete. Sie streckte sich aus und gab ihren zusammengekrümmten Gliedern die Erholung der Veränderung.
Ach Gott, ach Gott, was war das nur? Ihr Kopf war im Dunstkreis stumpfer Trauer eingesponnen, in ihren Gliedern kroch eine schmerzhafte Ermüdung, aber als sie nun die Wange in die Polster drückte und den Duft ihrer Wäsche — Seife und Veilchenpulver — einatmete, da war es, als ob etwas Frohes an ihrem Bett stünde.
Ach Gott, ach Gott, was war das nur?
Es wartete etwas darauf, bis sie den Fuß aus dem Bett steckte, um schmeichelnd über sie herzufallen. hinter dem Ofen im Winkel saß der Verdruss und wagte sich nicht in die Helle, die dem kleinen Zimmer das Gold schöner Träume gab.
Und es war dabei doch stockrabentintenpechfinster. Nur die Gaslaterne draußen ringelte den Widerschein ihrer müden Flamme über die Decke und zeigte die unstete Beweglichkeit eines heißen Elementes im Reiche einer großen Stille.
Ach Gott, ach Gott, was war das nur?
Adele wurde philosophisch. Dieses Ringeln und, Züngeln, dieses geräuschlose, geheimnisvolle Leben konnte man sehen, wenn man Wasser in Spiritus schüttete. Auf und ab, wie die flüssigen Spuren der Wasserspinnen, wenn sie mit langen Beinen über die sonnenwarmen Spiegel kleiner Wiesenbäche laufen. Überall dieselbe urwichtige und rätselvolle zarte Schrift. Dieselbe Schrift, mit der die letzten zerzausten Federwollen ihren Abschied und ihre Auflösung auf den blauen Himmel zeichnen. Arabesken, Bruchstücke großer Schöpfungspsalmen, kleine Daseinsmelodien, für die Wesen eines dritten Reiches ohne Weiteres verständlich.
Nun gab das Glas eines Bildes den Reflex eines verirrten Laternenstrahles zurück. Ein kaltes, leeres Funkeln, das Adele an die Zwickeraugen Bauers erinnerte. Sie zog die Decke bis an den Hals und freute sich der guten Bettwärme. In ihrer Schwäche erschien ihr die noch immer dunkle Welt so voll verborgener Freudigkeit und aufblühender Hoffnungen.
Die Welt wurde noch dunkler. Denn der Laternenmann ging draußen vorbei und drehte den Gashahn ab. Und die Finsternis verlöschte die wirren, zitternden Kräuselzüge und Kringel eines dritten Reiches auf der Decke und dem Spiegelglas. Aber es schien, als ob das Licht der Erinnerung auf dieses Dunkel gewartet hätte. Adele hob nun auf einmal aus ihrem Inneren ein helles Erkennen. Eine Freude, die man beim Abschied in ein paar dürre Worte gekleidet hatte. Ein Versprechen. Man wollte am ersten Weihnachtsfeiertag zusammenkommen.
Nun hielt es aber auch schon Adele nicht länger aus. Sie sprang mit beiden Füßen in die Finsternis und Kälte ihres Zimmers. Nun etwas arbeiten, um die Ungeduld zu betrügen, die sie zu diesem Feste vorwärts zog. Noch zwei Tage. Es war verwunderlich, dass Adele so schnell zugesagt hatte. Sie verließ ungern ihre vier Wände und das kleine Häuschen, das die Welt ihrer Pflicht und ihrer Entsagung war.
Die Welt!!!
Das brauste so furchtbar, wenn sie es für sich sagte. Andere sprachen es hell, mit lautem Trompetenton. Das waren die Helden. Oder mit sanftem Schmeichelton. Das waren die Wucherer des Lebens. Sie sprach es mit Grauen und Zittern des Herzens. Das waren die Abseitigen, die so wie sie nie in den großen Kessel geschaut hatten.
In ihr Nachdenken knisterte das Ofenfeuer Gemütlichkeit und Wärme. Die Lampe schützte sie mit dem rotgelben Schild ihres Lichtes gegen die Dunkelheit, und die guten Genien der Arbeit und der Pflichten schritten langsam in das kleine Zimmer.
Aber dann, als die Sonne aufgegangen war, ging die Ruhe davon, und auf einmal stand Adele im Zimmer der alten Wärterin, die eben das Kaffeegeschirr abwusch. Mit Liebe und Sorgfalt wurden die braunglasierten irdenen Hafen von den Überresten des Frühstücks befreit. Die Fingernägel kratzten die angedörrten Krusten weg und das Wasser splüderte in der Sonne, die sich über dein Geschirrschaff breitmachte.
»Gestern war es doch schön, Frau Zimmermann?« sagte Adele und zog ein widerspenstiges Haar aus der Stirne in den Knoten.
»No, so wie olle Johr.« Frau Zimmermann wusch weiter und schonte ihre Fingernägel nicht.
»Es kommt mir vor, als ob es heuer ganz besonders gelungen wäre.«
«Is olle Jahr so.«
»Die Kinder haben doch noch nie so gut gesungen und vorgetragen. Der Schani … «
Hier war etwas, das der Frau Zimmermann Interesse hatte: »Hören S’ mer mit dem Schani auf. Seine Mutter is eine Bisgurn, eine niederträchtige Person.«
Das war peinlich. Aber woher sollte Takt zu Frau Zimmermann kommen? Wenn sie jemals zu ihrer Harfenzeit einen gehabt hatte, so war er gründlich in den Geschäften des Kindergartens untergegangen.
»Übrigens, dass ich’s Ihnen sog’. Das Paketl, das sie gestern weggeschmissen hat, hat sie sich heut früh schon wiedergeholt. Zuerst grob sein und schimpfen, und dann brauchen s’ uns doch.« Die Alte fühlte sich durchaus als Gönnerin.
Ach, mit der Zimmermann war nichts anzufangen. Sie kam nicht aus das, was Adele gewünscht hätte. Und ihre unangenehmen Exkurse vertrieben das Mädchen sehr bald. Adele kleidete sich an und ging aus. In der Linhartgasse gab es einen Vogelhändler. Hier hing die Erfüllung eines ihrer kleinen, zahmen Wünsche in einem grün gestrichenen Käfig, sprang von Sprosse zu Sprosse, wippte mit dem Schweif und sah mit schwarzen Stecknadelaugen auf die Freunde nebenan. Ein Vogel. Ein herziges, zartes Ding, mit dünnen Knochen und einem ängstlichen Herzchen, das man durch die Federn schlagen fühlt. Ein hartes, widerstrebendes Schnabelchen, das man zwischen die Lippen nehmen kann.
»Ein Männchens?« fragte der Vogelhändler.
»Das ist mir alles eins, es soll nur recht zutraulich werden.«
»Hier ist eines, das Ihnen aus der Schulter sitzen und Zucker aus dem Mund nehmen wird.«