Die Gefangenen des Tartaros - Nicole Schmidt - E-Book

Die Gefangenen des Tartaros E-Book

Nicole Schmidt

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Beschreibung

In diesem Abenteuerroman sind die Götter der griechischen Antike real, wenn sich auch viele Ereignisse anders abgespielt haben, als sie überliefert wurden: Nach dem Krieg gegen die Olympier wurden die unterlegenen Titanen in die Unterwelt verbannt, wo sie ihren Hass auf die Sieger an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Krieg zwar entschieden ist, sich die Intrigen der Göttersippen jedoch mal mehr und mal weniger subtil fortsetzen. In diese Situation platzt die Wissenschaftlerin Tanja Förster. Zuerst vermag sie kaum zu glauben, was ihr da widerfahren ist, doch nach und nach erweitert Tanja ihr Weltbild. Dass zwei Angehörige unterschiedlicher Göttersippen ihr Herz an die schöne Sterbliche verlieren, gestaltet Tanjas Lage nicht unbedingt einfacher ...

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Inhaltsverzeichnis

Niemandsland

Titanen und Olympier

Ordnung und Chaos

Eros

Seltene Erden

Kleingeld

Die elysischen Gefilde

Elysium

Gerichtstag in der Unterwelt

Jäger gegen Märchenprinz

Hundert Arme

Die fünfzehnköpfige Hydra

Die geteilte Unsterblichkeit

Die Rache des Unterweltjägers

Liebesgott gegen Sohn des Todes

Die Wahrheit

Offener Vollzug

Niemandsland

Der Jäger keuchte. Es handelte sich um kein normales Keuchen, nicht das „hech, hech“ eines bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit geforderten Mannes, sondern um den Protest eines zusätzlich noch über alle Maßen ärgerlichen Kerls, der seiner Frustration Ausdruck verleihen musste.

„Kch! Kch!“ presste der Jäger hervor. Das war sein Fehler.

Wenn man gegen eine Kampe antrat, brachte es nicht den geringsten Vorteil, das Monster wissen zu lassen, was man dabei fühlte. Kampen kamen in der Unterwelt des Tartaros in den verschiedensten Arten vor und ihnen allen war eines gemeinsam: Sie standen sehr weit oben in der Hierarchie der Raubtiere. Das mochte daran liegen, dass sie sich ebenso lüstern gebärdeten wie der durchschnittliche Olympier oder in ihrem Körperbau begründet sein.

Der Jäger befand sich in der unangenehmen Position, „seine“ Kampe aufs Genaueste studieren zu können. Die spezielle Art konnte mit einer harten Schuppenhaut aufwarten, die ihren Bärenkörper einhüllte. Und obwohl der Jäger gelehrt bekommen hatte, dass höhere Tiere sich auf der Jagd nicht mehr auf Gift verließen, schien diese Erkenntnis irgendwie an den Kampen vorbeigegangen zu sein. Sie waren so giftig wie Hera und sahen dabei so abscheulich aus wie alle Hekatoncheiren zusammen. Selbst der Speichel, welcher der Kampe aus dem Maul troff, vermochte einen normalen Krieger zu lähmen, die Bewegungen eines Olympiers zu verlangsamen oder aber einen Bauern sofort zu töten.

In der ewigen Finsternis des Tartaros ließen sich keine Farben ausmachen. Der Jäger stellte sich das Monster grau vor. Und das war sein zweiter Fehler. Tagträume waren hier unten ebenso tödlich wie Gefühle. Noch tödlicher war nur... nun ja, eine Kampe zum Beispiel.

Der Jäger trug keinen Schild bei sich. In der rechten Hand hielt er sein kurzes Schwert, mit dem linken Arm sorgte er für Balance bei allen seinen Manövern. Noch hatte seine Klinge die Rüstung des Monsters nicht berührt, geschweige denn durchdrungen. Aber sie hätte es gekonnt. Die Kampe befand sich in weniger als einer Armeslänge Entfernung von dem Jäger-

sie war zu nah. Viel zu nah!

Und hinter ihm eine solide Felswand...

Fallen und Pfeile, das war der Weg des Jägers. Sich der Beute Auge in Auge zu stellen, machte sie zum Gegner und dann wurde aus der Jagd ein Kampf. Nicht, dass der Jäger nicht auch einen guten Krieger abgegeben hätte, darum ging es gar nicht. Aber ein Kampf war einfach nicht das, worauf er sich in dieser Nacht eingestellt hatte. Das Monster hatte ihn unvorbereitet erwischt, in ein Duell gezwungen, mit dem der Jäger nicht gerechnet hatte. Überrumpelt befand er sich trotz all seiner Kampfeskunst mehrere Sekunden lang im Nachteil. Sekunden aber glichen Jahrtausenden, wenn man die Zeit von innerhalb eines Zweikampfes aus betrachtete.

Hinzu kam der Zorn. Der Jäger fühlte sich in seiner Ehre beschnitten, nicht rechtzeitig bemerkt zu haben, was da auf ihn zukam. Er hatte versagt und musste nun die Konsequenzen seiner Unaufmerksamkeit tragen.

Wieder einmal nicht aufgepasst...

Wieder einmal seiner Umwelt ausgeliefert!

Der Jäger schien sein Leben lang dazu verdammt zu sein, immer nur zu reagieren. Das ließ die Wut in ihm kochen! Doch diese Wut verlieh der Klinge des Jägers nicht etwa zusätzliche Wucht. Ganz im Gegenteil ließ sie die Bewegungen seines Körpers fahrig und seinen Geist ein klein wenig langsamer werden, als der Jäger es normalerweise gewohnt war.

Zu sehr auf sich selbst fixiert, kassierte der Mann einen Treffer durch die Klauen seines Gegners. Viel mehr als Klauen und Schuppen nahm er ohnehin nicht von der Kreatur wahr. Ihr Bild entstand in seinem Kopf, nicht auf der Netzhaut. Das Hirn des Jägers musste die aus fünf Sinnen geschöpften Eindrucke verarbeiten, um zu einer Vorstellung seiner Umgebung zu gelangen. Auf der Oberfläche hätte diese leichte Verzögerung einen erheblichen Nachteil dargestellt, hier unten im Tartaros jedoch orientierten sich alle Lebewesen auf diese Weise. In einer größtenteils lichtlosen Umwelt mussten sich die Bewohner dieser Umwelt neue Überlebensstratgien einfallen lassen, die Eingeborenen wie auch die von der Erdoberfläche Zugewanderten. Jäger und Kampe waren einander ebenbürtig. Doch ein Kampf mit ausgeglichenen Chancen war das Letzte, was der Jäger riskieren wollte. So etwas schickte sich für Athleten in ihren Wettkämpfen, aber nicht auf dem Schlachtfeld und schon gar nicht auf der Jagd!

Die Kampe holte mit ihrer Tatze aus. Sie gab sich keine Mühe zu zielen. Anderthalbmal so hoch wie der Zweibeiner musste sie einfach nur durch die Luft wischen, um mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendeinen Teil des Jägers zu treffen.

Dieser „sah“ den Angriff kommen. „Hah!“ brüllte er, damit das Monster auch ja mitbekam, in welcher Höhe sich sein Kopf befand. Einen Sekundenbruchteil später warf er sich zur Seite.

Doch die Kampe fiel nicht auf den Trick herein. Sie richtete ihre zweite Attacke nicht auf die Stelle, von der aus der Ruf erklungen war, sondern dorthin, wo ihr der Luftzug verraten hatte, dass ihre Beute sich tatsächlich befand. In blinder Panik hielt der Jäger mit seinem Schwert gegen. Es gelang ihm, die auf ihn zurasende Pranke zur Seite zu schlagen.

Die Kampe hatte einen leichten Kratzer erlitten, der Arm des Jägers hingegen schmerzte wie nach einer Prellung. Dem Mann war zum Heulen zumute, doch durfte er sich jetzt keinerlei Schwäche leisten. Er rappelte sich auf und stürmte vor, direkt auf die Kampe zu.

So nah an seiner Gegnerin bestand die Gefahr, von dieser liebevoll in die Arme genommen und zu Tode gequetscht zu werden. Der Jäger musste es darauf ankommen lassen.

Mit voller Wucht rammte er sein Schwert in den Leib des Monsters. Hier am Bauch war die Haut der Kampe wesentlich dünner. Dünner und von feinen Äderchen durchzogen. Doch floss in diesen Adern kein Blut, sondern Lebenssaft einer anderen Art. Kampen gehörten zu jenen Kreaturen aus uralter Zeit, die ihre Nachkommen bereits mit Milch versorgten, aber noch keine Euter besaßen, das den Jungen als Zapfhahn dienen konnte.

Der Jäger rammte seine Klinge in das weiche Gewebe hinein. Schon begann der Stahl der Waffe zu glühen. „Nein...“ flüsterte der Jäger. „Bitte nicht!“

Mit schier unmenschlicher Willenskraft gelang es dem Mann, seinen Stoß mitten in der Bewegung abzubrechen. Lediglich die Spitze seines Schwerts ritzte die Milchdrüsen der Kampe. Sofort, als der Jäger die Klinge zurückzog, erlosch das Glühen der Waffe.

Schon wollte der Jäger erleichtert aufatmen, als eine zähflüssige, säureartige Flüssigkeit seinen Kopf traf. Er beging nicht den Fehler, mit der Hand in den Schleim zu greifen, um ihn fortzuwischen. Stattdessen schüttelte er seinen Haarschopf, so heftig es ihm möglich war und sprang wieder zurück zur Felswand. Gänzlich unschädlich machen konnte er den Kampenspeichel auf diese Weise zwar nicht, doch die Gefahr war fürs erste minimiert, wenn schon nicht gebannt.

Erneut hieb die Kampe auf ihren Gegner ein. Und nun begriff der Jäger, was das Monster plante, weshalb es nicht sein Maul senkte und ihn einfach der Länge nach durchbiss: Er sollte lebendig gefangen werden. Offenbar wies dieses Exemplar nicht nur Milchdrüsen auf, sondern zog gerade einen Wurf Jungtiere groß, die dringend ein Jagdspielzeug benötigten.

„Nicht - mit - mir!“ presste der Jäger hervor.

Er stemmte seine Füße in den Boden, hielt seinen Körper so steif wie möglich und erwartete erneut die Pranke des Untieres. Sein Schwert packte er fest mit beiden Händen und rechte es nach oben. Wieder lies der Schlag ihn bis in die Knochen erzittern. Doch diesmal blieb es nicht bei einem Kratzer. Diesmal drang die Klinge des Jägers in die Handfläche des Monsters ein. Blut floss.

Begierig nahm die Blutrinne des Schwerts die Flüssigkeit auf. Krieger unter- und oberhalb der Erdoberfläche nannten diese unterhalb des Heftes verlaufende Rinne spaßeshalber so. In Wirklichkeit diente sie der Verbesserung der Balance und machte die Waffen leichter. Doch was das Schwert des Jägers anbetraf, durfte man den Spitznamen wörtlich nehmen. Aus diesem Grund war es keine gute Idee gewesen, vorhin auf die Milchdrüsen zu zielen. Wer vermochte schon vorauszusagen, was passiert wäre, hätte die magische Klinge Muttermilch anstatt von Blut eingesogen? Der Jäger war nicht bereit, das auch nur an einer zahmen Ziege oder einer der wertlosen Titanin auszuprobieren. Dafür war ihm seine Waffe zu kostbar.

Viel mehr Blut, als durch einen einfachen Schwertstreich hätte vergossen werden dürfen, floss in die Rinne. Doch um sein Schwert vollständig zu füllen, musste der Jäger es mehrere Sekunden lang gerade halten. In dieser Zeit hielt das Monster nicht still. Mit seiner zweiten, unverletzten Pranke, schlug es wieder zu, diesmal nicht, um zuzugreifen, sondern, um dem Zweibeiner die Klauen in den Rücken zu graben.

Der Jäger schrie auf!

Von der Wucht des Schlages zu Boden geschleudert, gelang es ihm nur mit knapper Not, sein Schwert nicht aus der Hand zu verlieren. Der Jäger ging in die Knie. Über ihm stieß die Kampe ihr Kampfgeheul aus.

Der Mann begriff, seine relative Immunität verspielt zu haben. Er hatte sich als eine Spur zu gefährlich erwiesen. Seine Gefangennahme war keine Option mehr in den Augen der Kampe.

In dem Augenblick, in dem die Klauen der Kampe das Gewand des Jägers zerfetzten und seinen Rücken blutig schrammten, begann auch das Blut in seinem Kopf zu rasen. Der Schmerz und der Überlebenswille verdrängten jeden Gedanken, jedes Gefühl aus dem Geist des Kämpfers.

Der Name des Jägers lautete Outis - „Niemand“. Und obwohl der Mann die Gründe für seine Benennung bis ins Kleinste hätte darlegen können, so war jetzt einfach nicht der richtige Moment dafür. Seine Persönlichkeit tief in sich vergraben, ließ sich der Jäger allein durch seine Erfahrung leiten. Er ging ganz in seiner Funktion auf.

Die Kampe wusste, was sie war, aber nicht, wer. Outis musste ihr gleich werden, wollte er aus diesem Kampf als der Sieger hervorgehen. Fort von seinem Namen, fort von seinen persönlichen Erinnerungen, die früheren Siege und Niederlagen allein auf die aus ihnen gezogenen Lehren reduziert, schwang Outis sein Schwert.

Andere Kämpfer an Niemands Stelle hätten möglicherweise die Sonne Hellas vor ihrem geistigen Auge aufsteigen lassen. Sie hätten sich die schattigen Olivenhaine, den Duft des Harzes der Wälder und die Musik der Schäferflöten verinnerlicht, den Frieden eines Ortes, an dem sie sich in diesem Moment viel lieber aufgehalten hätten. Doch sich darauf zu konzentrieren, wofür er kämpfte, hatte Outis noch nie dabei geholfen, zu wissen, wie er es tun musste.

Der Jäger umfasste sein Schwert fester. Beinahe meinte er, die Lederbänder, die um den Griff gewickelt waren, atmen spüren zu können. Outis Erinnerung daran, wie genau er an dieses spezielle Leder gelangt war, blockierte sein Geist derzeit. Wichtig war nur, dass sie da war und für einen sicheren Griff sorgte.

Outis Schwert war Zyklopenarbeit und bestand aus einer Adamaslegierung, doch noch nicht einmal dieses Kompositmaterial war hart genug, um den Schutzpanzer einer Kampe zu durchdringen. Es bedurfte schon zusätzlicher Magie (oder natürlich eines gehörigen Abstandes und einer sicheren Hand am Bogen, aber das hatte der Jäger ja vermasselt) um die Kreatur niederzustrecken. Zu Outis Glück stand ihm diese Magie zu Gebote. Der Jäger veränderte den Druck der obersten Schicht der Hautzellen seiner Fingerkuppen ganz leicht. Mehr war nicht nötig. Die Lederbänder wurden unmerklich in Vibration versetzt, das Metall darunter reagierte und in einem mächtigen Strahl schoss das vorher eingesaugte Blut wieder aus der Klinge heraus.

Der Aufenthalt darin hatte den Lebenssaft verändert. Anstatt zu gerinnen, war er verdünnt worden und obwohl er sich noch genau daran erinnerte, woher er kam, hatte er sich in einen Fremdkörper verwandelt. In der gesamten Natur der Ober- und der Unterwelt existierte nichts Bedrohlicheres als das absolut Fremde, das alle deine Geheimnisse kennt, weil es aus dir hervorgegangen ist. Auf diese Weise hatten ihre Schöpfer dem Jäger die Macht seiner Waffe erklärt. Dieser hatte sich von all dem nur gemerkt: Es steckte Titanenmagie in der Klinge.

Das magisch verwandelte Blut tat sein Werk. Die Kampe jaulte auf, als Outis Geschoss unter sein Schuppenkleid drang und die darunterliegende Haut verletzte. Das Monster taumelte, wich einen halben Schritt von seinem Kontrahenten zurück.

Der Jäger gestattete sich kein Aufatmen. Er führte eine weitere Bewegung aus, die er nicht anders als „Ich ziehe meine Fingernägel zurück“ zu beschreiben vermochte. Andere Kriegsmänner hätten ausgefeilte Diagramme in den Boden gekratzt. die erklärten, wie das Wunder zustande kam. Outis hatte diese Anleitungen nie verstanden. Er handelte einfach und meisterte seine Waffe auf diese Weise.

Ein klein wenig Blut war in der Titanenklinge zurückgeblieben. Nun trat auch dieser Rest hervor. Gelartig verdickt, gleich dem Wachs der Bienen, lagerte es sich auf dem Stahl ab. Die Schärfe der Schneide blieb unberührt, nein, wurde durch den magisch aufgeladenen Überzug sogar noch verbessert.

Endlich fühlte sich Outis in der Lage, den Kampf zu beenden. Um seinen Hieben mehr Kraft zu verleihen, führte er seine Waffe nun mit beiden Händen.

Klauen und Füße der Kampe arbeiteten. Sie konnte ihren Kopf nicht senken, um an den Zweibeiner zu gelangen, ohne gegen die Felswand zu stoßen, daher wich sie ein Stück zurück.

Outis schwang seine Waffe erneut, doch der Streich ging ins Leere. Da der erwartete Widerstand ausblieb, stolperte der Jäger nach vorn. Es gelang ihm nicht mehr, sich rechtzeitig zu fangen. Der Jäger schlug lang auf dem Höhlenboden hin. Über ihm lauerte weiterhin die Kampe und sie fühlte sich ihrer Sache sicher.

Outis lag auf seinem schmerzenden Rücken, halb besinnungslos vor Pein, unfähig, sich auch nur auf die Seite zu rollen. Das war der Nachteil seines geistigen Zustandes, der ihn auf Augenhöhe mit den Tieren brachte: Das Beutetier wusste, wann es verloren hatte und kämpfte nicht weiter. Es mochte seine Jungen auffressen, bevor es aus dem Bau flüchtete, um dem Räuber diese Nahrungsquelle vorzuenthalten, aber wenn es keinen Ausweg mehr gab, dann blieb nur die letzte, geistlose Starre.

Doch Outis war kein einfaches Beutetier. Allein der Gedanke daran, seinen Kindern die Kehlen aufzuschlitzen, bevor es die Titanen tun konnten, widerte ihn an. Jagen würde er die Mörder, sie bis ans Ende der Welt und darüber hinaus verfolgen, um Rache zu nehmen!

Der Jäger ließ seine so hart erworbene professionelle Kühle wieder fahren. Seine Gefühle kehrten zurück und mit ihnen die Angst. Wie immer sein Ende aussehen mochte, er malte sich jede einzelne Möglichkeit und noch einige zusätzliche in den schlimmsten Details aus, noch bevor sie Wirklichkeit werden konnten. Doch diese Eigenart seiner Art kam dem Mann zu Hilfe. Indem er vorwegnahm, was passieren könnte, erlangte er die Kraft, sich dagegen zu stemmen.

Der Kopf der Kampe senkte sich. Das Monster hatte sich Zeit gelassen, sich in die bestmögliche Tötungsposition zu bringen. Outis Herz schlug bis zum Hals. Er ließ das Kinn und die Kehle der Kampe nicht aus den Augen. Doch erst, als die Kreatur ihr Maul öffnete, streckte er ihr trotzig seine Klinge entgegen. Der Zyklopenstahl drang ins Maul des Monsters ein, durchstach den Gaumen und durchbohrte das Hirn der Kampe von unten.

Mit einem lauten Schrei warf die Kampe ihren Kopf in den Nacken. Outis wurde mit nach oben gerissen. Er ließ sein Schwert nicht los, auch nicht, als seine Füße in der Luft zappelten.

Mit letzter Anstrengung nahm der Jäger sein ganzes Geschick zusammen. Er brachte seine Füße nach vorn, stützte sie gegen den Leib der Kampe und riss an seinem Schwert. Blut und Fleischfetzen spritzten ihm entgegen.

Als das Monster nach hinten umkippte, landete Outis auf seinem Bauch. Noch immer schlugen die Pranken der Kampe wild um sich, noch immer ging von ihnen das Potential aus, den Jäger mit in den Tod zu reißen.

Outis ließ sich am Leib der Kampe herunterrutschen. Er kam auf seinen Knien auf, zog einen Fuß hoch und stieß sich ab. Mehr krabbelnd als springend manövrierte er sich aus der Gefahrenzone heraus.

Das Monster verfolgte seinen Bezwinger nicht. Tödlich verwundet erwartete es den Gnadenstoß. Doch diesen letzten Schlag führte Outis nicht aus.

Der Jäger hatte bereits vor Beginn des Kampfes die Präsenzen weiterer Jäger in den Tunneln gespürt. Keiner zweibeinigen, sondern Monstrositäten wie jener, die er gerade besiegt hatte. Ein anstrengender Tag und ein harter Kampf lagen hinter Outis. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach weiteren Herausforderungen.

Die sterbende Kampe stellte ein verlockende Beute für sämtliche Raubtiere dar, die sich in der Nähe aufhielten. Alles, was Outis tun musste, war, es in seinen Todeszuckungen zurückzulassen. Die Kreatur brauchte noch nicht einmal zu kreischen. Der Geruch des vergossenen Blutes allein würde die anderen Fleischfresser anlocken. Möglicherweise würden sie zuerst untereinander um die leichte Beute kämpfen. Wie dem auch sei, Outis konnte sich zurückziehen, ohne befürchten zu müssen, selbst erneut zum Ziel zu werden.

Der Jäger suchte die Stelle in der Höhle, an der er seine Falle für die Kampe hatte aufbauen wollen, ein Unternehmen, das gründlich schiefgegangen war. Hier fand er auch die Tasche mit seiner Ausrüstung wieder. Hastig zerrte der Mann einen Verband aus seinem Vorrat und wickelte ihn gleichermaßen um seinen Rücken und die Reste seines Gewandes. Solange die notdürftige Binde nur fest saß und die Blutung stoppte, erfüllte sie ihren Zweck.

Der Jäger nahm seinen Rucksack mit den früher in dieser Nacht erbeuteten Trophäen auf, hängte sich das um des leichteren Transports willens bereits ausgenommene Fleisch darüber, und trat den Heimweg an. Doch bereits nach wenigen Schritten nahm er die Gurte wieder ab und schleifte sein Gepäck hinter sich her…

*

Outis bahnte sich seinen Weg durch die Tunnel der Unterwelt. Von Zeit zu Zeit kreuzten sich die unterirdischen Wege, dann wieder galt es, tiefe Felsspalten oder Wasserläufe, die sämtlich dem Styx entsprangen, zu überqueren. Ohne erkennbares System öffneten sich die Tunnel in Höhlen. Nicht wenige dieser Höhlen mussten als bewohnt bezeichnet werden, doch hütete sich der Jäger, diesen Begriff mit „belebt“ gleichzusetzen. Wer hier hauste, waren die Schemen, die Schatten der verstorbenen Menschen, die von Hermes in die Unterwelt geleitet zu werden pflegten. Alte, Junge und Kinder gingen hier ihrer fortgesetzten Existenz nach. Sie waren sich ihres Zustandes kaum bewusst, doch behaupteten die unsterblichen Bewohner des Tartaros gern, dass dies keinen Unterschied zum menschlichen Leben auf der Erdoberfläche darstellte. Der endlose Aufenthalt der Menschen in der Unterwelt war von denselben stets wiederkehrenden Tätigkeiten geprägt, die sie bereits im Leben ausgeführt hatten: Sie bauten Nahrung an, konsumierten diese und wunderten sich kein bisschen darüber, nichts mehr ausscheiden zu müssen, das der nächsten Ernte als Dünger hätte dienen können. Lediglich die Lust hatte sie verlassen.

Nur die kühnsten unter den Verstorben wagten sich an eine Viehzucht. Lebendige Tiere lockten die Monster der Unterwelt an. Jäger, welche dennoch Fleisch, Felle und Knochen heranschafften, wenn sie benötigt wurden, standen in hohem Ansehen. Outis glaubte sich über diesen Dingen stehend. Seine Abenteuer nahm er nicht auf sich, um Bedürfnisse zu stillen, welche tote Menschen glaubten, noch zu besitzen.

Der Jäger passierte mehrere ihrer Wehrdörfer. Er fragte sich kurz, was eigentlich geschah, wenn die steinernen Wälle, die Fallen und die primitiven Waffen nicht ausreichten, um die Bewohner der Ansiedlungen vor Klauen und Zähnen der Kampen zu schützen. Wohin verschwand ein von Monstern verschlungener Schatten? Er war doch schon tot!

Outis schüttelte den Gedanken ab. Solcherlei Grübeleien führten zu nichts. Er beeilte sich, sein eigentliches Ziel zu erreichen.

Auf dem Weg dorthin durchquerte der Jäger eine Höhle, in der die Schemen an vielversprechenden Stellen Bergbau betrieben. Es handelte sich um eine mühselige Arbeit, die keiner von ihnen nötig gehabt hatte. Doch war dies nun einmal der Tartaros, das innerste und auswegloseste Gefilde in Hades Reich. Und dafür, fand der Jäger, erging es den geistig betäubten Bergleuten noch ziemlich wohl.

*

Endlich erreichte Outis das riesige Tor, hinter dem sich die Asphodeloswiesen erstreckten. Er konnte schon das Rauschen des Stroms dahinter hören. Direkt vor seinen Augen hingegen spielte sich ein Anblick ab, der den Jäger trotz seiner Erschöpfung und Schmerzen zum Lächeln brachte: Fünfzehn Köpfe, zwanzig Pfoten, fünf Schwänze und eine Unzahl an Haaren bildeten ineinander verschlungen ein Knäuel, von dem zwischen Bellen und Quieken wechselnde Geräusche ausgingen. Beinahe hätte man glauben mögen, es mit einem besonders exotischen Monster zu tun zu haben, welches das Tor bewachte. Vorausgesetzt natürlich, man hätte noch nie Höllendhundwelpen beim Balgen zugesehen.

Schwanzwedelnd rannten die fünf Jungtiere auf den Jäger zu. Outis musste sich zwingen, nicht zu blinzeln. Zwar wusste er, es mit Verbündeten zu tun zu haben, doch begriffen das die Welpen ebenfalls? Oder würde sie früher oder später der Geruch des Blutes, das seine Verbände tränkte, überwältigen?

Nacheinander jeden einzelnen Höllenhund hinter den Ohren kraulend rang sich Outis ein „Ja, ist ja gut, meine kleinen Racker.“ ab. Bemüht, seinen Besuch so kurz wie möglich zu halten, drängte er sich dann durch die Bande hindurch zum Tor. Die Welpen ließen sich nicht abwimmeln. Sie tollten neben dem Besucher her.

Outis blickte sich um. Außer ihm und den Tieren war niemand zu sehen.

„Briareos!“ brüllte der Jäger. „Verdammt, wo steckst du schon wieder?“

Von irgendwo innerhalb des Felses antwortete ihm eine tiefe Stimme: „Ich bin hier.“

Die Stimme verriet den Sprecher als alt. Doch was hatte das in einem Land der Unsterblichen zu bedeuten? Eigentlich nur, dass die Alten den Jungen Kampferfahrung voraus hatten. Alt bedeutete hier alles andere als harmlos.

Glücklicherweise musste sich der Jäger weniger Gedanken über eventuelle Feindseligkeiten des Briareos als über die Hundewelpen machen. Der einzige Instinkt, der den Riesen kontrollierte, war Dankbarkeit. Das mochte merkwürdig anmuten, denn Briareos´ Dankbarkeit galt Zeus, der den zu Unrecht in den Tartaros eingekerkerten Hekatoncheiren dereinst befreit hatte. Im Anschluss an diese Befreiung hatte der Riesenhafte in einem brutalen Krieg mitkämpfen und anschließend einen Posten als Kerkermeister im Tartaros annehmen müssen. Das bedeutete eine Rückkehr in das alte Gefängnis! Und dennoch blieb Briareos dem Zeus in Dankbarkeit verbunden? Nun gut, überlegte Outis, niemand hatte je behauptet, dass die Kinder des Uranos mit überragender Intelligenz gesegnet gewesen seien…

Ungeduldig schnarrte Outis den Riesenhaften an: „Öffne mir die Pforte, Arme genug besitzt du doch, oder etwa nicht?“

Wortlos gehorchte der Hekatoncheire. Aus beiden Seiten des Tores fuhren Arme aus dem Fels. Outis zählte zwei, drei, vier, fünf Stück - gerade einmal ein Bruchteil der wirklichen Macht des Riesenhaften. Zehn Arme, fünf auf jeder Seite, zogen das Tor auf. Dahinter erwarteten den Jäger die Wiesen, das elysische Gefilde. Nicht, dass er in dieser Höhle mehr als in den Tunneln hätte sehen können, dafür wurden die durch seine anderen Sinne übermittelten Eindrücke intensiver. Outis zögerte nicht, das Tor zu durchqueren. Er ließ die Höllenhundwelpen hinter sich zurück und schritt zügig weiter aus. Erst als er hörte, wie Briareos hinter ihm das Tor wieder fest verschlossen hatte, gestattete sich der Mann ein Aufatmen - und ein amüsiertes Grinsen über seine übertriebene Vorsicht.

Outis Weg durch die Höhle wurde von einem mächtigen Fluss blockiert. Der Styx selbst, der Hauptstrom der Unterwelt, stürzte in Form eines riesigen Wasserfalls aus der linken Höhlenwand. Er umschlang die Asphodeloswiesen in einem langen Bogen, um dann in den Tiefen des Tartaros zu verschwinden, den restlichen Hades zu durchqueren und wieder hierher zurückzukehren. Outis wusste, dass das Flusswasser, welches direkt neben dem Wasserfall in den Tiefen der Erde verschwand, mit der Durchquerung dieser Höhle erst einen Bruchteil seiner Reise hinter sich hatte. Es würde eine weit längere Strecke zurücklegen, bevor es als der Wasserfall wieder ins Freie träte - ein geschlossener Kreislauf, wenngleich einer mit vielen Windungen.

Die eigenwillige Fließrichtung des Styx hatte eine Halbinsel in der Höhle geschaffen. Auf dieser Insel erhob sich die Stadt Elysium - das Ziel des Jägers.

Nicht immer war der Weg des Jägers ein einsamer. Die Bewohner Elysiums waren im Gegensatz zu den Schemen der verstorbenen Menschen auf Nahrungs- und Werkzeuglieferungen angewiesen. Wasser spendete ihnen der Fluss großzügig, solange sie darauf achteten, es nicht gerade am Lethe-Wasserfall zu schöpfen...

Die Schatten der Menschen waren in regen Handel mit den Stadtbewohnern verwickelt. Er wurde durch diejenigen unter ihnen abgewickelt, die noch Ansätze eines Bewusstseins besaßen. Die Toten belieferten die Städter mit Rohstoffen, welche diese wiederum verarbeiteten. Mit den Produkten ihrer Handwerkskunst bezahlten die Stadtbewohner die Nahrungsmittel, die sie so dringend benötigten.

Um diese Tageszeit vermieden es die Schatten allerdings, noch außerhalb ihrer Wehrdörfer unterwegs zu sein. Selbst die gleichförmig dahinrollenden Asphodeloswiesen vermochten mit Gefahren aufzuwarten, denen die Toten nicht gewachsen waren. Für den Jäger Outis stellten nur wenige Kreturen, die diesen Ort ihren Lebensraum nannten, eine Gefahr dar, gänzlich sicher würde allerdings auch er erst in der Stadt sein.

„Ich beeile mich besser“, sprach der Mann zu sich selbst. In der Tat ebbte die Magie bereits ab. Der Hades kannte weder Tag noch Nacht, dennoch richteten seine Bewohner sich nach einem diesen Phänomenen nicht unähnlichen Lebensrhythmus. Wenn Helios mit seinem Kahn auf dem Styx unterwegs war, wenn die Gefährten des Ra in ihrem eigenen Boot auf Schlangenjagd in den unterirdischen Strömen gingen und wenn Ereschkigal mit Hel zusammen an einem geheimen Ort tat, was Göttinnen ohne ihre Männer so zu tun pflegten (Outis wollte es nicht genauer wissen), dann strotzte die Unterwelt vor Magie. In diesen Stunden waren die Götter stark und dann konnten sich auch die Schemen sicher fühlen. Doch sobald Helios seinen Sonnenwagen bestieg und die Kemetengötter irgendetwas taten, an das sich Outis vage als mit einem Mistkäfer in Verbindung stehend erinnerte, wenn die Anunnaku und die Asen sich unter die Sterblichen mischten, um mit ihnen ihr Spiel zu treiben, dann herrschte im Hades nicht mehr das Licht der Götter, sondern die ursprüngliche Natur. Diese Macht wurde bei vielen Namen genannt: Chaos, Apophisschlange, Tiamat... besonders erfinderisch waren die Menschen in dieser Hinsicht. Doch wie immer sie hieß, diese Kraft kam den Unkreaturen zu Hilfe, schärfte ihre Sinne, stärkte ihre Leiber und machte sie gefährlicher als sie es bei Nacht waren.

Outis beeilte sich daher, die Fähranlegestelle zu erreichen, die ihn innerhalb weniger Minuten auf die andere Seite des Flusses und nach Elysium bringen würde.

Mürrisch wie stets reagierte der Fährmann nicht auf den freundlichen Gruß des Jägers. Charon war und blieb eben Charon, dachte der Mann bei sich. Aber wenigstens hatte er einfach nur geschwiegen, nicht geknurrt oder gezetert. Verdrießlich mochte der Gott sein, doch es war nichts Böses in seinem Wesen.

Wie genau es Hades Dienstmann schaffte, stets an exakt der Stelle des Flusses zu warten, an der ihm Hermes Tote vorbeibrachte oder jemand anderes Überfahrt begehrte, blieb ein Geheimnis, das Outis eines Tages zu erfahren hoffte. Aber nicht heute... nicht mehr heute morgen...

Der Jäger tastete in den lumpigen Resten seiner Kleidung nach einer Münze. Er benötigte eine ganze besondere Münze, um Charon zu entlohnen. Jene steinernen Exemplare, welche die Schatten aus dem Fels der Unterwelt fertigten, genügten nicht. Die Toten erinnerten sich daran, wie Geschäfte in der Oberwelt getätigt wurden. Sie benötigten das Konstrukt Geld, um den Rest dessen zu bewahren, was hier unten als geistige Gesundheit durchging. Vielleicht waren sämtliche Münzen, die die Menschen erfunden hatten, nur der letzte Rest einer Erinnerung an jene von der Art, wie sie Charon einforderte. Obolus wurden diese Währung genannt und sie hatte bereits lange vor der Entstehung der Menschen existiert.

„Lass dir ruhig Zeit beim Suchen“, brummte Charon. „Taxameter ist aus.“

Outis knirschte mit den Zähnen. Zum einen wusste er nicht, wo sich Taxameter aufhielt, kannte er ja noch nicht mal eine Göttin dieses Namens, zum anderen war es ihre eigene Schuld, wenn sie um diese frühe Uhrzeit noch ausgegangen war und zum dritten konnte er seinen Obolus einfach nicht finden.

„Andererseits biete ich auch keinen Gruppenrabatt an“, meinte Charon. „Also musst du mich hier nicht aufhalten, bis Hermes weitere Kundschaft vorbeibringt.“

Outis Finger erstarrten unter seinen Lumpen. Tränen des Entsetzens rannen seine Wangen herunter. „Charon...“, flüsterte der Jäger. „Charon, ich habe meinen Obolus nicht mehr!“

Übergangslos wurde auch der Fährmann ernst. Er strahle eine Aura tiefer Betroffenheit aus.

Outis sackte an der Anlegestelle zusammen.

Er hatte seine Obolusmünze verloren! Und es gab nur zwei Orte, an denen man an neue gelangen konnte. Der eine war die Oberwelt - aus dem Herzen des Tartaros heraus unmöglich zu erreichen. Der andere war Elysium, jene Stadt, die in Sichtweite vor Outis am anderen Ufer des Flusses aufragte.

„Das darf doch nicht wahr sein“, brachte er unter Schniefen hervor. „Nicht ausgerechnet heute! Charon, ich...“ Der Jäger hob seinen Kopf. „Ich kann nicht mehr!“ klagte er.

„Ich kann dir helfen... Nimmst du meine Hilfe an?“

Outis nickte. Der Fährmann verließ sein Boot. Mit einem einzigen Gedanken sandte er es in die Mitte des Styx. Niemand durfte die Gelegenheit nutzen, sich der Fähre zu bemächtigen, während der Bootsmann sich an Land anderen Geschäften widmete.

Doch Charon vermochte lediglich Outis körperliche Leiden zu lindern. So gewissenhaft er sich auch um die Wunden des Jägers kümmerte, vermochte er dem Mann doch nicht bei dessen eigentlichem Dilemma zu helfen. Die Gesetze des Hades waren hart. Und sie galten für jeden.

„Die Gesetze unseres Herrn Hades sind hart“, erklärte Charon. „Und er macht für niemanden eine Ausnahme.“

„Charon!“ Outis lächelte. „So viel hast du lange nicht mehr gesprochen.“

Der Fährmann nickte. Die Geste sorgte dafür, dass sich die Kehle des Jägers zuschnürte. Sein Schicksal bedeutete dem anderen also etwas. Wie viel mehr musste sein Ende dann erst denjenigen nahe gehen, die ihn liebten?

„Es tut mir leid!“ schluchzte der Jäger. „Ich wollte niemanden verletzen! Schon gar nicht mich selbst! Und zuallerletzt Persephone!“

„Noch ist nicht aller Tage Abend“, meinte Charon.

„Nein“, zischte Outis. „Jetzt ist erst mal bald helllichter Tag. Und dann gar nichts mehr. Für mich.“

Wieso der Fährmann plötzlich ein Ruder in der Hand hielt, obwohl er doch soeben seinen Kahn fortgeschickt hatte, konnte sich der Jäger nicht erklären. Dennoch war es so. Charon hatte das Holz einfach so manifestiert und wies damit nun über den Kopf des Jägers hinweg in die Wiesen hinein. „Schau, wer da kommt!“ sagte die Geste.

Outis folgte der Richtung, in die Charon wies, mit dem Kopf.

Ein anderer Jäger näherte sich der Anlegestelle. Wie bei Outis selbst handelte es sich um ein Wesen aus Fleisch und Blut, wenngleich den Vertreter eines völlig anderen Volkes. Eines, das mit dem das des Outis nicht unbedingt auf gutem Fuß stand.

Hünenhaft, kräftig und dabei nicht grobschlächtig, sondern in allen Belangen wohlgeformt und mit attraktiven Gesichtszügen ausgestattet, marschierte der Fremde über die Asphodeloswiesen. Im Gegensatz zu Outis begnügte er sich mit dem Nötigsten an Kleidung und auch er hatte sich nur mit leichter Rüstung, gerade einmal einem Helm und je einem Paar Arm- und Beinschienen, den Gefahren der Unterwelt gestellt. Seine Bewaffnung fiel primitiver aus, weil diesen Kreaturen zwar die Herstellung, nicht aber das Führen sämtlicher vorstellbarer Jagd- und Kriegsutensilien erlaubt war.

Dennoch fürchtete Outis, dass ein einziger Schlag mit den kräftigen Flügeln des anderen ihn in einem Kampf mühelos von den Beinen gerissen hätte.

Der Ankömmling war einer der Titanen, ein Häftling des Tartaros. Zeus selbst hatte ihn und sein gesamtes Volk am Ende eines langen Krieges begnadigt und anstatt es zu vernichten lediglich hierher verbannt.

Der Altersunterschied des alten Gottes zu seinem Bruder Uranos fiel so gering aus, dass er nicht der Erwähnung wert war. Doch auch dieses Wesen kannte die Furcht vor dem Ende, denn es konnte getötet werden. Vielleicht nicht gerade durch Outis Hand, wohl aber durch eine Verkettung unglücklicher Umstände.

Der Titan neigte den Kopf zur Begrüßung Charons und des Jägers.

Charon erwiderte den Gruß nicht, Outis aber streckte seine Arme vor. Noch bevor der indignierte Fährmann protestieren konnte, hatte sich der Jäger an dessen Kutte wieder auf die Beine gezogen. „Verzeih mir, guter Fährmann“, grinste Outis, „ich mache es wieder gut!“

An den Titanen gewandt erkundigte er sich, in welcher Region der Unterwelt dieser gejagt habe.

„Ich habe den Schatten der Sphinx verfolgt“, erwiderte der andere.

„Oh.“ Outis verschränkte die Arme vor dem Körper. „Seit ihrer Niederlage war sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst, wie man so sagt. Aber wer hätte damit gerechnet, dass sie es wahr macht und sich in einen Schatten verwandelt?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte der Titan ausweichend. „Ich kann dir nicht sagen, was an Selbstmord so attraktiv sein soll, denn wenn ich es täte, käme mein Schatten ohnehin nur dort heraus, wo ich mich jetzt schon befinde: Im Tartaros.“

Outis wischte die im Tonfall des anderen Jägers mitschwingende Anklage beiseite. „Genug der Plaudereien“, erklärte er. „Ich bin meiner Münze verlustig gegangen. Charon verweigert mir die Überfahrt!“

„Tja. Eines Tages musstest du ja einmal lernen, dass der Tartaros keine Spielwiese für deine Art ist“, erwiderte der Titan. „Dieser Tag ist wohl heute gekommen. Fragt sich nur, ob du ihn überleben wirst, um eine Lehre daraus ziehen zu können?“

Titanen und Olympier

Am Anfang aller Dinge war das Chaos, die wirbelnde Urleere. Manche behaupten, dieser Zustand habe sich inzwischen geändert, aber das zeigt nur, dass unser Geist noch immer von den Chaosstrudeln verwirrt ist. Wie sieht sie denn aus, die Ordnung der Welt, die wir sorgfältig in unseren Schriftrollen und auf steinernen Tafeln festgehalten haben?

Eurynome, die weiße Taube, legte ein Ei, dem Uranos mit seinen Geschwistern entsprang. Jeder von ihnen verkörperte einen Teil der Welt, wie wir sie heute kennen. Nun war der Kosmos geboren, eine Struktur mitten im Chaos, welches der Kosmos immer weiter zurückdrängte.

Doch die Trennung dessen, was einst im Ei zusammengelegen hatte, in Einzelteile war zu schwer zu ertragen. Erneut zog es die Teile zueinander. Uranos lag mit seiner Schwester Gaia zusammen. Aus ihrer Verbindung gingen die Zyklopen hervor.

Kaum, dass sie entstanden waren, fühlte sich ihr Vater durch die Existenz dieser Wesen bedroht. Es hatte Gaia Kraft gekostet, sie zu gebären. Wann würde der Tag kommen, an dem die Nachkommen auch ihn in seiner Macht beschneiden würden? Denn daran, dass dies geschehen würde, zweifelte Uranos keine Sekunde lang. War es nicht genau das, was er und seine Geschwister mit der Urleere taten, aus der sie hervorgegangen waren? Sie verkleinern und von sich stoßen?

Und so verbannte Uranos seine ersten Kinder, die Zyklopen, in die Unterwelt. Und die Hekatoncheiren gleich mit - sie gefielen ihm nicht.

Das Rascheln einer Toga verriet dem Erzähler, dass einer seiner Zuhörer sich voreilig erhoben hatte.

„Sht!“ zischte jemand. Eine Kinderstimme erklärte: „Da fehlt noch ganz viel!“

Der Sprecher schmunzelte. Welcher der Knaben genau gesprochen hatte, vermochte er anhand der Stimme nicht zu sagen. Wie stets, wenn er eine der ältesten Geschichten wiedergab, hielt der Erzähler seine Augen geschlossen. Zu groß wäre sonst die Versuchung gewesen, auf die Reaktionen der Zuhörer einzugehen, der Erzählung mehr Spannung, Humor oder welchen Wunsch auch immer er in ihren Gesichtern las, zu verleihen.

Uranos und Gaia zeugten zwölf weitere Kinder und diese lernten, es ihren Eltern nachzutun.

Iapetos zeugte Prometheus mit Klymene. Er zeugte weitere Kinder und Kindeskinder.

Kronos zeugte Kinder mit Rheia, die er sofort nach ihrer Geburt verschlang, damit ihm keines seinen Thron streitig machen konnte.

Sein jüngster Sohn Zeus entkam. In einem fernen Land wurde er von der Ziege Amaltheia großgezogen. Dort wuchs Zeus heran. Als er ausgewachsen war, tötete er seine Amme und fertigte aus ihrer Haut einen magischen Schild.

Zeus besiegte Kronos und befreite seine Geschwister aus dessen Leib. Dann holte er die Zyklopen aus den Tiefen der Unterwelt. Und damit hätte alles wieder gut sein können.

Doch Zeus und seine Gefährten sagten nun sämtlichen Titanen den Krieg an. Sie alle sollten dafür büßen, was ein einziger von ihnen seinen Nachkommen angetan hatte.

Die Zyklopen schmiedeten ihren Befreiern allerlei mächtige Waffen und wundersame Hilfsmittel. So ausgestattet, konnten die Olympier den Krieg gar nicht verlieren und einige der unseren verstanden das... rechtzeitig... rechtzeitig genug, um die Seiten zu wechseln...

Alle überlebenden Titanen wurden in den Tartaros verbannt.

Das heftige Einatmen eines seiner Zuhörer verbannte das Lächeln aus dem Gesicht des Erzählers. Es war ohnehin bereits seit geraumer Zeit dort eingefroren.

Zeus teilte das Lager mit Metis. Als er erfuhr, dass sie mit einer Tochter schwanger war, die ihm ebenbürtig werden sollte, verschlang er seine Gefährtin mitsamt dem ungeborenen Kind.

Danach nahm Zeus seine Schwester Hera zur Frau. Hera ließ alle Kinder ihres Mannes mit anderen Frauen verfolgen oder ermorden.

Dionysos lockte einen menschlichen König in eine Falle und ließ ihn zerreißen, bevor dieser seine Geheimnisse ergründen konnte.

Ares tötete seinen Vetter Halirrhothios und wurde freigesprochen.

Der Erzähler hielt inne. Er streckte seinen rechten Arm aus. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er die Stele an der Rückwand des Raums, in welche die Namen der Alten eingraviert waren.

Eurynome... Uranos... Kronos... Zeus... So lauteten die Namen der Herrscherlinie, die er und sein Volk sich einzuprägen hatten, die sie ehren mussten, wollten sie selbst überleben.

Seit unzähligen Generationen lebten die Titanen nun schon in ihrem Exil in den unterirdischen Höhlen des Tartaros, ein unsterbliches Leben, das durch die in der Unterwelt ansässigen Monster kurz gehalten wurde. Hades wachte als Kerkermeister über die Gefangenen. Er hielt davon Abstand, ihnen ihre Existenz noch mehr zu erschweren, zeigte aber auch nicht das geringste Entgegenkommen. Solange die Titanen keinen Ausbruchsversuch wagten, wurden sie in Ruhe gelassen. Sie waren frei, ihre eigenen Gesetze aufzustellen, Städte und Dörfer anzulegen und sogar einfache Waffen anzufertigen, um sich gegen die Kreaturen der Unterwelt zu behaupten.

Sie hätten sogar vergessen dürfen, warum sie so lebten, wie es sie es taten, solange sie weiterhin die Oberherrschaft der Olympier anerkannten. Doch der Erzähler und seine Verwandten wollten nichts von dem vergessen, was geschehen war. Sie hielten die Erinnerung in Rede und Schrift lebendig.

Die Namenstafel im Schulgebäude der Stadt gefiel allen Olympiern, denen Hades von ihr berichtete. Die neuen Götter begriffen sie als ein Zeichen der Ehrerbietung, die ihre reuigen Gegenspieler ihnen nun entgegenbrachten, doch für den Erzähler stellte die Tafel das genaue Gegenteil dar: Eine in Stein gemeißelte Chronik des Neides und der Eifersucht, in Gang gehalten durch Blut. Blut, das weitergegeben wurde und Blut, das man vergoss.

Die Titanen waren die Gefangenen des Tartaros, die Olympier aber waren Gefangene ihrer Machtkämpfe.

Der Erzähler brachte seine Rede zum Ende:

Die Namensfolge auf der Tafel hier - ist das Ordnung? Ja, vielleicht. Im Sinne wiederkehrender, unabänderlicher Strukturen handelt es sich ganz sicher um „Ordnung“. Aber ist Ordnung besser als Chaos? Wie kann ein Phänomen, das Leid verursacht, besser sein, als ein anderes, das ebenfalls nur Leid verursachte? Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, beide Seiten der Münze in uns auszuprägen, in der Hoffnung, dadurch zu einer Balance zu gelangen, die unseren Vorfahren nicht gegeben war.

Nun öffnete der Mann seine Augen. Elf Kinder, acht Knaben und drei Mädchen, blickten ihn erwartungsvoll an. Wenn auch ein oder zwei zusammengezuckt waren, als die Rede wieder einmal auf die Verbannung in den Tartaros gekommen war, so waren die Gedanken der Jüngsten an diesem Tag doch nur auf eine Sache gerichtet: Die Übergabe der Münze. Wenn ihnen ihr Lehrer in wenigen Minuten die Münzen ausgeteilt haben würde, dann durften sie sich Erwachsene nennen. Und das war den Zuhörern viel wichtiger, als sich Gedanken über falsch und richtig, Ordnung und Chaos zu machen.

Der Erzähler, ein Halbtitan mit Namen Perses, löste einen kleinen Beutel von seinem Gürtel. Dieser und ein Lendenschurz genügten dem Mann als Gewandung. Nur selten einmal verließ er sein Haus und selbst dann begab er sich nie über die Stadtgrenze hinaus. Er hatte weder wärmende Kleidungsschichten noch Rüstung nötig.

Perses schüttelte den Beutel, klimperte mit den Münzen darin. Die versammelten Kinder saßen jetzt kerzengerade auf ihren Kissen. Sie strahlten vor Aufregung und einer boxte seinen Sitznachbarn in die Seite.

„Also gut, Kinder“, seufzte der Lehrer. „Es ist Zeit für euch, die Münze entgegenzunehmen, die es euch erlaubt, den Fluss zu überqueren, die Stadt zu verlassen und euch draußen herumzutreiben. Aber diese Münzen haben eine weitere wichtige Funktion: So, wie sie es euch erlauben, nach Belieben zu gehen, ermöglichen sie euch die Rückkehr nach Hause.“

„Ja, wissen wir!“ rief ein Knabe namens Reos in die Runde.

Perses nickte. „Ich weiß. Ebenso, wie ihr wisst, dass ihr besser nicht allein gehen solltet, worauf es draußen zu achten gilt und lauter Dinge, über die ich dankbar wäre, wenn ihr sie nicht nur wüsstet, sondern auch beherzigt!“

Doch diesen frommen Wunsch erfüllt zu bekommen, hielt der Lehrer für nicht sehr wahrscheinlich. Warum saßen denn diese Kinder vor ihm? Weil es immer wieder Tote gegeben hatte. Titanen waren verschwunden. Vielleicht hatten sie Schatten hinterlasen, wie es die Menschen taten, wenn sie starben. Doch wo immer sich ihre Schatten jetzt aufhielten, sie waren nicht mehr Teil der Gemeinschaft Elysiums.

Der Tartaros vermochte keine endlose Zahl von Bewohnern aufzunehmen. Luft, Nahrung, Wasser und, in geringerem Maße, Raum standen nicht unbegrenzt zur Verfügung. Im Laufe der Zeit hatten die Titanen gelernt, ihre Fruchtbarkeit zu kontrollieren. So oft sie sich dem Liebesspiel hingaben, blieb es ohne Frucht, es sei denn, das Paar spürte, dass ihre Heimat in der Lage war, ein neues Lebewesen aufzunehmen.

„Das ist der erste Lohn, den ihr in eurem Leben erhaltet“, verkündete der Lehrer den Kindern, wobei er die erste Münze aus seinem Beutel zog und für alle sichtbar hochhielt. „Ihr erhaltet ihn für eure Existenz. Dafür, dass ihr ins Leben eurer Eltern - in unser aller Leben - eingetreten seid. Mit der Übergabe der Münze werdet ihr gleichberechtigter Teil unserer Gemeinschaft.“

Was für eine Gesellschaft das war! Welch exotischer Quelle so mancher dieser neuen Mitglieder der Gemeinschaft entsprungen war! Der Erzähler kannte die Geschichte jedes einzelnen seiner Schützlinge längst auswendig. Was immer die Zukunft für sie bereithalten würde, sie waren bereits jetzt Teil seines Erinnerungsschatzes.

Nacheinander rief der Mann die Kinder auf, damit sie vorträten und ihren Obolus in Empfang nähmen:

„Hexametra, Tochter der Klymene!“

Eine etwa zwanzigjährige junge Frau erhob sich, eine Frau, die nie im Leib ihrer Mutter Klymene geschwommen war. Bei Hexametra handelte es sich um die Inspiration eines sterblichen Dichters, welcher von diesem Form verliehen worden war. Als das Theaterstück, in dem eine in Wirklichkeit nie gezeugte Tochter Klymenes vorkam, erstmalig aufgeführt wurde, war das Mädchen auch im Tartaros erschienen. Lange Zeit an ihr kindliches Erscheinungsbild im Stück gebunden, hatte Hexametra erst mit dem Tod des Dichters zu altern und zu reifen begonnen. Niemand verstand, wieso das so war, doch alle freuten sich für die Titanin.

„Tschefer aus der Ferne, Tochter der...“ Der Erzähler nahm nicht die Mühe auf sich, die unvertrauten Silben auszusprechen, welche den Namen der Göttin korrekt wiedergaben. Er nannte sie in seiner eigenen Sprache: „...Sothis.“

Die siebzehnjährige Tschefer vermochte nicht mehr zu sagen, wie sie in die Unterwelt der Titanen gelangt war. Eines Tages hatte man sie nach einem Erdbeben schwer verletzt in den Tunneln gefunden, beraubt jeglicher Erinnerung außer der an ihren Namen und ihre Abstammung. Bei den Gefangenen des Tartaros hatte sie eine neue Heimat gefunden.

„Vin, Tochter der Mänaden.“

„Tochter“ war hier nicht ganz der passende Ausdruck, fand der Erzähler. Bei Vin handelte es sich um das Bruchstück einer Mänade, die sich in Ekstase selbst zerrissen hatte.

Die Knaben und jungen Burschen wiesen gewöhnlichere Geburtsgeschichten auf.

„Merxeton, Sohn des Hermes.“

Der vierzehnjährige Merxeton verzog das Gesicht. Da er selbst ein Junge war, trug er den Namen seiner Erzeugers und nicht seiner Mutter, doch was wusste er schon von diesem Mann? Wenn der Olympier gerade einmal nicht auf dieser oder jener Mission für seine Herrschaften unterwegs war, dann verbrachte er die Zeit nicht im Tartaros, sondern bei seinem eigenen Volk. Vermutlich hatte er die Titanin, mit der eine einzige Nacht verbracht hatte, längst wieder vergessen.

„Korykios, Sohn des Typhon.“

Korykios, fünfzehn Jahre alt, glühte förmlich von innen heraus. Wenn sich der Junge verletzte, verlor er Magma statt Blut. Jegliches mindere Feuer gehorchte seinem Willen.

Aus den Todeszuckungen Typhons und dem Vulkan, in den Zeus seinen Widersacher geschleudert hatte, geboren war dieser Junge ein Gigant, kein Titan. Doch handelte es sich hier um eine Unterscheidung, die nur wenige vornahmen. Die beiden Rassen Titanen und Giganten unterschieden sich nur in geringem Maße, waren doch beide aus der gemeinsamen Urmutter Gaia hervorgegangen.

„Reos, Sohn des Briareos.“

Reos Vater gehörte zu den Hekatoncheiren, den herausragendsten Kriegern unter Uranos Nachkommen. Er hatte den Olympiern in ihrem Kampf gegen die Titanen und danach die Giganten beigestanden. Briareos hätte alles getan, um dem Tartaros zumindest für eine Weile entkommen zu dürfen. Für diese Gnade erklärte er sich sogar bereit dazu, für Zeus gegen Kronos zu kämpfen, seinen kleinen Titanenbruder, der die Hekatoncheiren in grauer Vorzeit als einziger gegen den grimmigen Uranos verteidigt hatte - und mehr. Doch Dankbarkeit und geschwisterliche Zuneigung verblassten gegen die Schrecken des Tartaros. Briareos war nun ein loyaler Gefolgsmann des Zeus.

Damals, zu Zeiten der Gefangenschaft der Hekatoncheiren, hatte die Stadt, die den Eingekerkerten heute Schutz gewährte, noch nicht existiert. Die Stadt Elysium hatten erst nach dem endgültigen Sieg der Olympier Titanen und Giganten gemeinsam errichtet. Perses erinnerte sich noch sehr gut an jene Tage - und an die Opfer, die damals gebracht werden mussten, um das Werk zu vollenden.

Einer, der während der Bauzeit unermüdlich mit seinem Bogen und Scharfblick Wache gestanden hatte, betrat gerade in diesem Moment das Haus des Lehrers. Perses spürte seine Anwesenheit, noch bevor sie ihm Auge oder Ohr bestätigten. Erfreut darüber, dass der alte Freund die frisch zu Erwachsenen ernannten Kinder begrüßen wollte, wandte sich der Hausherr zu dem Besucher um. „Eros, willko...“

„Guten Abend, Perses.“

Der Halbtitan erstarrte in seiner Bewegung. Seine dem Ankömmling entgegengestreckte Hand zitterte. „Du!“ brachte er hervor.

In der Tür stand nicht Eros. Wer da durch den Perlenvorhang eingetreten war, zählte weder zu Perses Freunden noch zu den Kindern Gaias.

„Outis!“ entfuhr es Vin. Die Mänade schlang die Arme um ihren Körper, als müsse sie auch diesen daran hindern, zu zerplatzen. Tschefer nahm die Freundin in ihre Arme, doch musterte auch sie die den Fremdling skeptischen Blickes. Sie kannten den Namen als den eines mutigen Abenteurers, und es gab kein Mädchen und keine junge Frau in Elysium, die Outis männliche Reize nicht zum Träumen veranlasst hätten, doch blieb der Mann bei allen seinen Erfolgen einer der verachtenswerten Olympier!

Verwirrt verharrte Perses an Ort und Stelle, unfähig, auch nur seine Hand zu senken. Wieso fühlte sich Outis plötzlich wie der Jäger Eros an? Und was, bei Typhons in alle Ewigkeit glühender Asche, hatte er überhaupt hier zu suchen?!

„Wie kannst du einfach so hier hereinplatzen?“ fuhr der Erzähler den Eintretenden an. „In unser heiligstes Ritual? An einem Festtag, auf den sich die Kinder freuen, seit sie hören und sehen können? Müsst ihr Olympier uns denn alles verderben? Macht euch das vielleicht Spaß?!“

Outis hob nun seinerseits seine Hand. Er griff nach der des Erzählers, doch der schlug die Begrüßung aus.

„Perses...“ Der Ankömmling schüttelte den Kopf.

In Perses Rücken sanken die sechs bereits zu Erwachsenen ernannten Stadtbewohner indessen vor dem Besucher auf die Knie. Von den Kindern hingegen wurden die Geste noch nicht erwartet und freiwillig würden sie diese auch nie ausführen.

Der Lehrer selbst deutete lediglich eine leichte Verbeugung an. Sie bezog kaum die Schulerpartie mit ein.

„Haben wir denn im Leben nie Ruhe vor euch?“ fauchte er. „Nicht mal in unserem Kerker! Selbst hier peinigt ihr uns!“

Outis zuckte die Schultern in einer halb wegwerfenden, halb entschuldigenden Geste. „Es lag nicht in meiner Absicht, eine Veranstaltung zu stören“, erklärte er.

„Aber du hast es auch nicht für nötig gehalten, dich im Vorfeld zu informieren, ob du in eine eindringst, Sohn des Hades“, entgegnete Perses.

Die Kinder wechselten sorgenvolle Blicke. Der junge Olympier bekleidete innerhalb seines eigenen Volkes einen der niedrigsten Ränge, im Tartaros jedoch stellte er immerhin die zweithöchste Autorität dar. Outis war der legitime Sohn ihres Kerkermeisters, die unerwartete Frucht der Verbindung des Hades mit Persephone. Persephone wiederum war die Tochter der Demeter, einer jener Göttinnen, die Kronos dereinst verschlungen hatte und wieder ausspeien musste. Wie dieses Rettungswunder zu vollbringen war, hatte die Nymphe Metis ihrem Geliebten Zeus verraten. Perses verehrte seine Mutter für ihre Schläue und ihre Güte, die Hand in Hand miteinander gegangen waren. Metis hatte dem jungen Burschen Zeus helfen wollen, seine Geschwister zu retten, ohne zu ahnen, mit ihren Taten einen Krieg in Gang zu setzen. Am Ende war sie aus Liebe zu ihm sogar bei dem Kriegstreiber geblieben. Sie war seine Gefährtin geworden und hatte es mit dem Leben bezahlen müssen. Mit dem eigenen und dem ihres ungeborenen Sohnes! Lediglich die gemeinsame Tochter Athene war der Vernichtung entkommen und lebte nun als eine der ihren unter den Olympiern, dem Volk ihres Vaters. Perses fand, dass seine Halbschwester dort durchaus hingehörte.

„Was willst du hier?“ schnarrte er Outis an. „Und ihr, Kin... äh, Bürger, erhebt euch wieder! Ihr habt diesem hier den Gesetzen angemessen Ehre bezeugt. Es besteht kein Grund, euch länger als nötig vor dem Olympier auf dem Boden herumzuwälzen.“

„In Ordnung“, seufzte Outis. „Kommen wir also zum Geschäft. Das hält eine Stadt am Leben, während die Höflichkeit hier tot zu sein scheint, ohne die geringste Hoffnung, betrauert zu werden.“

Hades Sohn holte eine Münze aus einer Tasche seines notdürftig geflickten Jagdgewandes hervor. Sie bestand aus purem Gold. Während eine Seite vollständig mit Schriftzeichen bedeckt war, zeigte die andere die Abbildung eines geflügelten Humanoiden in sehr stilisierter Form.

„Irgendetwas stimmt nicht mit der“, gestand er dem Halbtitanen. „Sie fühlt sich wie ein Fremdkörper an, belastet mich, als trüge ich einen schweren Stein vor meiner Brust. Perses, die meisten Oboli, die im Tartaros im Umlauf sind, stammen aus deiner Fertigung. Du kennst dich mit den Dingern besser aus als selbst Midas. Kannst du diesen hier wieder in Ordnung bringen?“

Perses streckte seine Hand nach der Münze aus. Er berührte sie nur kurz mit den Fingerspitzen, bevor er zurückzuckte. Der Erzähler und Meister der Münzen ballte seine Hand zur Faust! Bereit, sie Hades Sohn ins Gesicht zu schmettern, schrie er: „Das ist nicht deine! Diese Münze gehört Eros! Er hat sie am selben Tag aus der Hand deines Onkels Zeus entgegengenommen, an dem auch ich die meine annehmen musste!“

Outis nickte. „Das ist alles wahr. Aber was stimmt denn nun nicht mit der Münze? Wenn sie doch noch von Zeus kommt, sollte sie...“

Perses ließ den Olympier nicht ausreden. „Sie sollte?“ brüllte er. „Was genau sollte sie? Ich sage es dir: Diese Münze sollte sich im Besitz Eros´ befinden! Wo hast du sie gefunden? Und wieso vertrödelst du deine Zeit hier, anstatt den Eigentümer zu suchen? Ihm könnte da draußen sonst was zugestoßen sein! Vielleicht liegt er irgendwo verwundet!“

„Ja, und ohne die Münze lässt ihn Charon nicht über den Fluss!“ mischte sich Korykios ein. „Wir müssen sie sofort zur Anlegestelle bringen, damit der Fährmann weiß, dass Eros Passage bezahlt ist!“

„Das wird nicht möglich sein, mein Junge“, schmunzelte Outis. „Eros Münze gehört jetzt mir. Ich habe die meine auf der Jagd verloren und dafür seine an mich genommen.“

Perses schluckte hart. „Der Jäger hat dir seine Münze aushändigen müssen?“ erkundigte er sich.

Outis nickte.„So ist es. Dein Freund befindet sich in einem der Dörfer - wenn er vernünftig ist.“

„Dorf oder Wiese“, erwiderte Perses tonlos. „Er ist da draußen. Und das bedeutet nur eines: In Lebensgefahr.“

Reos packte Vins Hand mit seiner rechten und Hexamatras mit der linken. Korykios stand bereits neben dem Erzähler, nun gesellten sich ihm die drei hinzu. Zögerlich traten Merxetos und Tschefer ebenfalls hinzu.

„Wir müssen sofort losgehen“, erklärte Reos. „Und den Fluss überqueren!“

„Lieb von euch“, entgegnete Outis. „Ich muss zugeben, dass ich meine richtige Münze vermisse. Diese hier mag ihren Zweck erfüllen, aber sie bereitet mir doch unziemliche Umstände.“

„Ihr bleibt hier!“ ordnete Perses an. „Erwachsen mögt ihr nun sein, aber ich habe noch immer mehr zu sagen in dieser Stadt!“

„Ja, Perses, das wissen wir“, erwiderte Reso ungeduldig. „Du hast die mitgebaut und so. Aber wir müssen Outis Münze rasch finden, damit Eros seine eigene zurückbekommen kann!“

„Dort, wo Outis zu jagen pflegt, ist es zu gefährlich für euch“, meinte Perses. „Jeder von euch würde mit dem fertig, was auf unseren Feldern im Umland herumkriecht. Aber nicht einmal ihr sechs zusammen wärt ein angemessener Gegner für die Wesen, die in den weiter entfernten Tunneln und Höhlen ihr Unwesen treiben.“

„Och, Perses, ich will aber helfen“, ließ sich Korykios vernehmen. Sein Beitrag zum Leben in der Stadt bestand darin, mit seinen Kräften dafür zu sorgen, dass das Feuer in der Schmiede stets genau die richtige Temperatur aufwies. Doch Korykion war wie der Vulkan, der ihn geboren hatte: In der Lage, lange Zeit ruhig zu verharren, um dann umso heftiger auszubrechen. Typhons Sohn brannte darauf, die Jagdwaffen, die er herstellen geholfen hatte, auch selbst zum Einsatz zu bringen. Daher erklärte der junge Erwachsene: „Richtig helfen, nicht nur, indem ich etwas bastle, als wäre es ein Geburtstagsgeschenk für meine Zieheltern!“

Outis legte dem jungen Giganten seine Hand auf den Kopf. Es hätte nicht viel gefehlt, da hätte Hades Sohn Korykios das Haar gewuschelt wie einem klugen Knaben.

„Dein Einwand bringt mich zu einer interessanten Frage, mein Junge. Stört es die Münze, dass ich nicht ihr Eigentümer bin oder reagiert sie generell auf meine falsche Volkszugehörigkeit?“

Mühsam beherrscht ging Perses auf die Frage des Olympiers ein: „Welches hältst du denn für dein Volk, Sohn des Hades? Hades Vater war ein Titan! Wieso nennt ihr euch Olympier? Das Kind eines Titanen ist auch ein Titan. Selbst Prometheus der Verräter ist ein Titan. Nur Kronos Kinder behaupten, etwas anderes zu sein. Was glaubt ihr eigentlich, was es ist, das euch so anders macht?!“

Ein überlegenes Lächeln auf den Lippen gab Outis seine Antwort unverzüglich: „Das Kind einer Titanin kann auch Zyklop sein, vergiss das nicht.“

„Weißt du, dass ich mit so einer naseweisen Antwort gerechnet habe?!“ fuhr der Erzähler auf. „Ihr wollt euch immer nur aus allem herauswinden! Alles bekommen wollen, nichts teilen müssen! Ihr seid wahrhaftig Kronos Söhne!“

Perses hielt sich nicht länger zurück. Er stürzte sich auf den Olympier, bewaffnet allein mit seiner über Jahrtausende angestauten Wut.

„So geht das natürlich auch“, kommentierte Merxeton das Geschehen. „Ihm Eros Münze wieder abzunehmen, anstatt Outis seine zu suchen.“

Tschefer hatte nur eine Kopfnuss für den jungen Mann parat.

„Nein, lass mich!“ beschwerte sich Hermes Sohn. „Vor den Monstern draußen habe ich Schiss, aber nicht vor dem da! Der ist einfach nur erbärmlich!“

Doch erbärmlich oder nicht, der Olympier gehörte unleugbar zu den Machthabern. Ein Angriff auf Outis stellte unabhängig vom Ausgang des Handgemenges eine schwerwiegende Straftat dar. Tschefer wusste das. Merxeton wusste es ebenfalls, doch es war ihm gleichgültig. Und so entbrannte unter den Jugendlichen parallel zum Duell zwischen Titan und Olympier ihr eigener Kampf. Merxeton, Hexametra und Reos versuchten, zu den Älteren vorzudringen und ihren Lehrer zu unterstützen. Tschefer, Vin und Korykios bemühten sich, eben das zu verhindern. Sie warfen sich ihren Freunden in den Weg. Doch die an diesem Tag aufgrund der Störung durch Outis Eintreten nicht zu Erwachsenen ernannten Kinder kochten ebenfalls vor Wut und so sahen sich die drei Verteidiger des Olympiers bald einer Übermacht entgegen.

Als es Reos gelang, die lebendige Drei-Personen-Barrikade durchzubrechen, gerade als der Jüngling schon zu einem Tritt gegen Hades Sohn ansetzte, streckte Perses seine Hand in Richtung der Jüngeren aus! Er vollführte einen Handkantenschlag in der Luft, der auf niemanden speziell gerichtet war. Dennoch fühlte sich jeder, ob er nun auf Outis oder Perses Seite in den Kampf hatte eingreifen wollen, getroffen und zurückgeschleudert. Unterschiedslos jaulten alle vor Schmerz auf.

Perses brachte seine Hand wieder nach vorn und nach oben. Outis hatte nicht damit gerechnet, dass der Titan seinen Fokus so schnell verlagern konnte. So fand er sich unerwartet im Griff des Älteren wieder.

„Meine Schüler entzweien sich“, zischte Perses. „Diese Zwietracht hast du gesät! Mich hast du gezwungen, den Kindern Schmerz zuzufügen! Eros stirbt vielleicht in diesem Moment in der Wildnis! Und das alles nur wegen dir!“

„Perses...“ Outis weit aufgerissene Augen verrieten seine Bestürztheit. „Perses, das hätte jedem passieren können! Ich bin nicht der erste, der eine Münze irgendwo verliert.“

„Ein Titan hätte Verantwortung für seinen Fehler übernommen!“ versetzte Perses. „Ihr mögt den Krieg gewonnen haben, aber wir haben daraus Lehren gezogen!“

Metis Sohn schüttelte sein Opfer. „Vielleicht brauchst du einfach mal eine Niederlage, die deine Perspektive zurecht rückt“, klagte er den Jäger an. „Dabei bin ich gern behilflich!“

Keiner der Anwesenden wagte sich zu rühren, während ihr Lehrer Hades Sohn hemmungslos zusammenschlug. Die jungen Männer und Frauen hielten selbst ihre Atemzüge so flach und leise wie möglich. Sie vermochten nicht, ihren Blick von dem Spektakel zu lassen.

Schließlich war es vorbei. Perses trat noch einmal gegen den Kopf des Bewusstlosen, der aus mehreren Wunden blutete. Die schwerste davon hatte nicht er, sondern die Kampe dem jungen Olympier erst vor wenigen Stunden zugefügt.

„Er wird leben“, erklärte der Halbtitan seinen Schülern.

Merxeton trat auf seinen Lehrer zu. Er hielt ihm die Münze entgegen, die zu Beginn des Kampfes Outis Fingern entschlüpft war. „Hier! Um die ging es doch die ganze Zeit!“

Perses lächelte. „Ich danke dir.“

„Und nun?“

„Nun wird einer von euch zur Anlegestelle laufen und Charon bezahlen“, erklärte Perses.

„Ja, ich!“ Reos strahlte! „Und wenn ich Eros nicht am anderen Ufer warten sehe, bringe ich ihm sein Eigentum in die Ebene!“

Perses zuckte zusammen. Er sandte dem gesamten Kosmos, den vermissten Jäger Eros eingeschlossen, stumm seinen Dank dafür, dass sich Jünglinge auch dann noch wie Jünglinge verhielten, nachdem man sie zu Erwachsenen ernannt hatte. Sie prahlten, bevor und nachdem sie eine Verrücktheit in Angriff nahmen - rechtzeitig für Perses, um seine Schützlinge davon abzuhalten, es zu tun.

„Nein, Reos, das halte ich für keine gute Idee“, erklärte der Lehrer. „Ich werde selbst gehen. Aber ihr dürft mich dabei begleiten, ihr alle! Denn jetzt werden wir ersteinmal das Ritual beenden, damit sich wirklich jeder hier im Raum einen Mann nennen kann.“

Die noch nicht volljährig gesprochenen Kinder wären ihrem Lehrer am liebsten um den Hals gefallen. Doch stattdessen eilten sie auf ihre Plätze zurück.

Ohne dem bewusstlosen Outis weitere Beachtung zu schenken, wandte sich der Lehrer Reos und den anderen bereits mit Münzen bedachten Jugendlichen zu. „Ihr anderen - raus hier! Diese Weihefeier ist nur für die bestimmt, die es betrifft. Erwachsene haben hier nichts zu suchen.“

Sichtlich stolz verließen die so geehrten jungen Leute das Haus. „Wir sind keine Kinder mehr!“ jubelte es in ihren Herzen, ob diese nun aus Fleisch und Blut waren, aus glühender Magma bestanden, sich im Sekundentakt neu zusammensetzten oder lediglich aus der Erinnerung an den Kuss einer der Musen bestanden.

„Outis geht es schlecht“, meinte Korykios, als die sechs wieder in den Straßen Elysiums standen. „Jemand müsste seine neuen Wunden versorgen.“

„Ja, irgendjemand“, erwiderte Merxeton wegwerfend. „Irgendwann mal.“

Hexametra lachte! „Nein, Korykios hat Recht!“ erklärte sie. „Die Verletzungen müssen vor allem gewaschen werden. Dafür benötigen wir Wasser. Aber Outis ist immerhin der Prinz der Unterwelt. Er ist etwas Besonderes. Also benötigen wir auch ganz besonderes Wasser! Versteht ihr?“

Doch Korykios hatte nicht verstanden. „Wie meinst du das, das er was Besonderes sei?“ erkundigte er sich. „Glaubst du vielleicht, mir liegt der Mistkerl irgendwie am Herzen? Ich will bloß nicht, dass wir Ärger bekommen, wenn er in Perses Haus bis in alle Ewigkeit verblutet.“

„Lieber das, als Wasser trinken müssen“, warf Vin ein. Die Mänade schüttelte ihr Haar. Die einzelnen Strähnen flogen in alle Richtungen. Haarwurzeln lösten sich vom Kopf und kehrten erst nach sekundelangem Umkreisen desselben wieder zurück, um sich erneut in die Kopfhaut zu versenken. Eines Tages würde die Frau dazu in der Lage sein, den ihrer ungewöhnlichen Geburt geschuldeten Prozess zu kontrollieren. Derzeit unterlag ihre Fähigkeit sich zu zerteilen allerdings noch ihren ureigensten Gefühlen anstatt dem Willen.

„Ärger bekommen wir ohnehin“, flüsterte Tschefer. „Ob Outis nun gepflegt wird oder nicht. Perses hat ihn angegriffen... und besiegt… Das vergisst der stolze Kerl nicht so schnell.“ Die Kemeterin stockte. Sie blickte Hexametra an. „Das vergisst er nicht so schnell!“ wiederholte sie, doch in völlig anderem Tonfall als vorher.

Klymenes Tochter nickte. „Und damit es auch der letzte begreift - ich gucke hier niemand im Speziellen an, Korykios...“ Die junge Frau wies tiefer in die Allee hinein. Die eine Richtung, jene, der sie den Rücken zukehrte, führte zu einem kleinen Platz, von dem wiederum mehrere Straßen Richtung Stadtmitte fortführten. Lief man hingegen in die andere Richtung, so erreichte man nach weniger als hundert Metern den Stadtrand. Und wiederum nur wenige Gehminuten von dort entfernt trat der Lethewasserfall aus dem Fels heraus. In diesem dem Lethe so nahen Stadtviertel bildete sein Rauschen ein konstantes Hintergrundgeräusch.

„Natürlich! Wie konnten wir nicht daran denken?!“ entfuhr es Typhons Sohn.