Enuma Elisch - Nicole Schmidt - E-Book

Enuma Elisch E-Book

Nicole Schmidt

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Beschreibung

Apsu, Ea und Marduk - drei Generationen, drei Lebensentwürfe, aber nur eine Welt, die in ihre Grundfesten erschüttert wird. Die Urgötter Apsu und Tiamat entstehen gemeinsam. Schon bald bevölkern ihre Nachkommen die Ozeane. Mummu verlangt es nach der Anerkennung seiner Eltern, Qingu sucht die wahre Liebe und Ea interessiert nur sein Vergnügen. Doch da jeder dieser Jugendlichen die Macht eines Gottes in sich trägt, nehmen auch ihre Teenagerkonflikte ungeahnte Ausmaße an und ihre idyllische Unterwasserwelt wird nie mehr dieselbe sein.

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Inhaltsverzeichnis

„Tafel“ steht hier einfach nur für „Kapitel“, Kapitelnummern stimmen nicht mit den Tafeln des Mythos überein.

Textfassung

Prolog

Tafel 1

Tafel 2

Tafel 3

Tafel 4

Tafel 5

Tafel 6

Tafel 7

Tafel 8

Tafel 9

Tafel 10

Tafel 11

Tafel 12

Tafel 13

Tafel 14

Tafel 15

Epilog

Textfassung

Diese Fantasy-Bearbeitung des babylonischen Schöpfungsmythos erhebt keinen literaturwissenschaftlichen Anspruch. Sie werden aus diesem Werk auch nichts über Sprache oder Geschichte der Zweistromlandkulturen erfahren.

Wer die Helden und wer die Schurken sind sowie die Frage, wie man einen Urgott tötet, der gleichzeitig ein Ozean ist, wird einzig und allein durch die Augen einer Einzelperson gesehen, die keinen Stadtgott zu verherrlichen, nicht für die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung zu sorgen und auch keine Studenten fundiert zu unterweisen hat, sondern die diesen Text schreibt, um bei ihren Lesern Neugier auf einen vielleicht weniger bekannten Sagenkreis zu wecken.

Meine Neuerzählung stützt sich vornehmlich auf

“The Epic of Creation” (mit Anleihen bei „Atrahasis“)

In: Oxford World´s Classics Myths of Mesopotamia; Ed. Stephanie Dalley; Oxford University Press, revised edition, 2000

In dem genannten Buch finden Sie auch einen Einstieg in die Geschichte und Bedeutung des Epos, den ich hier nicht laienhaft nachplappern will. Stattdessen einige Worte zu meiner Bearbeitung:

Von Anfang an war klar, dass ich die fünfzig Namen, die Marduk am Ende des Epos verliehen werden, als eigenständige Waffengefährten des Gottes agieren lassen würde. Da jedem Namen nur ein bis zwei Sätze gewidmet sind, bleiben diese Statisten entsprechend eindimensional. Größeres Augenmerk lag auf der Entwicklung einer in sich stimmigen Fantasywelt, die auch Nichtkenner der Vorlage unterhalten soll, sowie die Einbindung der Hauptfiguren des Epos in diese Welt unter Bewahrung ihres ursprünglichen Charakters.

Prolog

Warum kämpfen wir? Wofür leiden wir? Um der Liebe willen vielleicht? In der gröbsten noch zutreffenden Verallgemeinerung lautet die Antwort: Um zu Überleben. Das trifft für den Soldaten im Feld ebenso zu wie für den zahnlosen Greis, der sich abmüht, seine Nahrung zu zerkleinern. Und da wir wissen, in diesem Kampf letzten Endes auf verlorenem Posten zu stehen, steigt irgendwann das Bedürfnis in uns auf, Nachschub an die Front zu holen.

Dreht sich nicht alles in unserer Existenz darum, erfolgreich zur Paarung zu gelangen? Wir zeugen Nachkommen und verdammen sie dazu, den Krieg an unserer Stelle weiterzuführen.

Aber spätestens wenn diese Kinder auf der Welt sind, verwandeln sie sich in Konkurrenten um die überlebensnotwendigen Ressourcen. In anderen Worten: Die so heiß herbeigesehnten Verbündeten werden zu Kriegsgegnern. Und es vergeht nicht viel Zeit, da werden sich die heranwachsenden Kinder dieser Tatsache bewusst...

Tafel 1

Manchmal lag Lahmu nächtelang wach, ohne in den Schlaf finden zu können, den seine Art doch so nötig hatte. Er warf sich auf seinem Lager hin und her, bis er entweder schweißgebadet aufstehen und sich reinigen musste, oder vor Erschöpfung in einen todesähnlichen Schlaf fiel, aus dem er für einen weiteren Tag, dem unweigerlich eine erneute unruhige Nacht folgte, erwachen würde. Lahmu versuchte verzweifelt, sich an früher zu erinnern, an eine Zeit, in der es nicht nur keine Betten für ihn gegeben hatte, sondern noch nicht einmal eine Notwendigkeit für dieses Konzept existierte. Andere hatten dessen Raum eingenommen, andere Irgendwasse, für die Lahmu keine Begrifflichkeit mehr besaß.

Der Urgeborene fragte sich, welche Art der Wahrnehmung er und die seinen mit dem Übertritt in diese Welt verloren hatten. Sinne verglich der Unsterbliche mit Werkzeugen, aber es war eine Sache, einen Gegenstand nicht mehr benutzen können, weil man sich an der Hand verletzt hatte oder weil er einem weggenommen worden war. Jener Sinn, den Lahmu vermisste, hatte nicht einmal mehr einen Abdruck hinterlassen, aus dem man Rückschlüsse auf sein Aussehen, geschweige denn seine Handhabung, zu ziehen vermochte.

An solchen Tagen schlich sich der Zweifel in Lahmus Geist, Zweifel darüber, sich tatsächlich einst durch den Weltenozean bewegt zu haben, aus dem alles hervorgegangen war. Denn um diese Welt zu schaffen, in welcher die Menschen Jahraus und Jahrein Preislieder auf ihre Götter sangen, hatte die alte Welt untergehen müssen. Dieser Verlustschmerz war Lahmus letzter Anhaltspunkt, dass da einmal etwas anderes gewesen sein musste. Es handelte sich um den einzigen Schmerz, den von Asarluhi bekämpfen zu lassen ihm nicht einmal im Traum eingefallen wäre. Lahmu kultivierte seine Pein bis zu dem Punkt, an dem sie ihm half, zu verdrängen, dass er zu jenen gehörte, die zugelassen hatten, dass die Alte Welt nicht mehr existierte...

*

Am Anfang aller Dinge standen Tiamat und Apsu, die Urgötter, die Weltenozeane. Sie entstanden gemeinsam und weil das so war, konnten sie nicht anders sein als von einander verschieden, wenngleich einander in ihrer Macht ebenbürtig. Wo Tiamat nicht war, da war Apsu und wo Apsu endete, da begann Tiamat. Etwas anderes existierte nicht in dieser Welt endlosen Wassers.

Da war kein Himmel.

Da war keine Erde.

Da war kein Bewusstsein dessen, dass „es gab noch kein“ die stilistisch elegantere Alternative dargestellt hätte.

Aber da war Bewusstsein: Apsu.

Da war eine Alternative zu seinem Bewusstsein: Tiamat.

Und da war Stil, Tiamat besaß ihn, dessen war sich Apsu ganz sicher.

*

Tiamat und Apsu... woher kamen diese Namen? Lahmu war sich sicher, dass zu Zeiten des Urgötterpaares niemand gesprochen hatte. Sein Problem bestand darin, dass er sich mittlerweile so an die artikulierte Sprache gewöhnt hatte, dass er selbst in Worten dachte. Auch nur zu versuchen, für einige Minuten ohne auszukommen, jagte dem Erstgeborenen der Urgötter einen Schauder über den Rücken. Ein Rücken war nun wieder etwas, das er von Anfang an besessen hatte, seit dem Moment, an dem er aus Apsu und Tiamat ausgetreten war.

*

Apsu lag neben Tiamat. In ihrer Existenzform blieb den Urgöttern gar nichts anderes übrig, ließ sich doch das eigene Selbst nur dadurch definieren, dass man es als von dem benachbarten verschieden erkannte. Ihre Wasser waren einander so ähnlich, dass es ihnen leicht fiel, sich zu vermischen. Und sie waren unterschiedlich, dass sie sich vermischen mussten. Aber Tiamat konnte nicht in Apsu sein und Apsu nicht in Tiamat. An den Grenzen ihrer Leiber-Domänen entstand eine dritte Lebensform, ein brackiger Auswurf des Urgötterpaares und dabei doch etwas unendlich Wundervolles.

Tiamats Existenz hatte Apsu ermöglicht, zu sagen „Ich bin“. Nun ermöglichte Apsus Sendung seines Wassers Tiamat zu sagen „Ich habe geschaffen!“. Das Ergebnis des gemeinsamen Schaffens glich seinen Erzeugern, kannten sie doch nichts anderes als sich selbst und einander.

So kamen Lahmu und Lahamu ins Leben.

Im Gegensatz zu ihren Schöpfern besaßen die jüngeren Götter eine Gestalt. Diese Gestalt vermochten sie nicht abzulegen oder zu verändern, sie waren auf eine Form festgelegt. In ihren Körpern konnten sie sich frei durch die Ozeane bewegen, die ihre Eltern waren.

Apsu und Tiamat beobachteten ihre Kinder, die aus ihnen hervorgegangen waren. Beängstigend eingeschränkt erschienen ihnen die Leiber der beiden, weshalb die Schöpfer noch zögerten, zu realisieren, was die Existenz dieser Körper für die bedeutete.

So lagen die Partner weiter beisammen.

Lahmu und Lahamu aber wuchsen heran und erkundeten ihren Lebensraum. Kaum hatten sie herausgefunden, was es mit ihrer Entstehung auf sich hatte, wiederholten sie den Vorgang.

Anshar und Kishar erschienen und wurden von ihren Eltern benannt. Von diesem Paar kamen Anu und Nammu und schließlich der kleine Ea, doch das waren nur die Herausragendsten unter den jüngeren Göttern. Bisweilen schien es Tiamat und Apsu, als wimmele das gesamte Meer von den Früchten ihrer Verbindung.

Unter allen diesen Kreaturen war Tiamat Apsu nach wie vor die Liebste. Er suchte beharrlich ihre Nähe. Es genügte ihm nicht, neben ihr zu liegen, es verlangte ihn danach, mit seinen Wassern in die ihren einzudringen!

*

„Sieh dir unsere Kinder an“, hauchte Tiamat Apsu zu. Gleichmäßige, sanft ausrollende Wellen trugen ihre Gefühle bis an den Rand ihrer Domäne, wo Apsu sie empfing.

„Ich finde diese Wesen ziemlich beschränkt“, gestand der Urgott seiner Gemahlin. “Sie sind aus uns hervorgegangen und doch können sie nirgendwo anders als in uns sein.“

„Dennoch sind sie viel freier als wir. Sie können ihre Welt erkunden und weil wir endlos sind, endet die Reise nie. Wir hingegen können nur immer neue Kinder produzieren.“

Es sollte sich um die letzten Worte handeln, die Tiamat auf lange Zeit zu ihrem Gatten sprach.

Apsu brütete vor sich hin. Wieso genügte er Tiamat nicht mehr? Hatte er ihr nicht stets alles von sich gegeben? Wie sollte er ihr etwas bieten, das er nicht war? Bereit dazu wäre er gewesen, alles, alles um Tiamat glücklich zu machen! Aber woher sollte der Urgott dieses Andere nehmen? Hilflosigkeit und Wut stiegen in Apsu auf. Wo seine Wasser vorher altbekannten Pfaden gefolgt waren, bildeten sich mächtige neue Strömungen, deren Verlauf unvorhersehbar war und die denjenigen, der hinein geriet, nicht nur unbarmherzig an einen fernen Ort, sondern unmittelbar in das düstere Gefühlsleben des Urgottes hineinzog.

*

Weit entfernt von derartig mystischen Vorgängen und doch mitten darin, ließ sich der Knabe Ea vernehmen: „Das Wasser wird ungemütlich.“

„Schwimmen wir rüber?“ erkundigte sich sein Altersgenosse Namru.

„Nach Tiamat? Nein, das würde uns keine Erleichterung bringen. Damkina und ich kommen gerade von dort. Der Ozean ist nicht so düster und aufgewühlt wie hier, aber dafür regt sich drüben keine einzige Welle.“

Damkina spielte mit ihren Händen im Wasser bis sich kleine Strömungen bildeten. Die Schwimmhäute zwischen Damkinas Fingern verdrängten das Wasser oder ließen es nach ihrem Willen tanzen.

Die Kindgöttin beobachtete, wie das Ergebnis ihres Fingerspiels gegen die Eigenbewegung der Wasser Apsus anstürmte. Immer wieder forderte sie die Strömung heraus. Im Salzwasserozean, der Tiamat war, gab es zurzeit keine solche Eigenbewegung. Nicht nur musste dort jede noch so geringfügige Vorwärtsbewegung einem irgendwie zähflüssig gewordenen Wasser abgetrotzt werden, auch das Atmen fiel schwer.

„Tiamat ist stumm?“ hakte Namru ungläubig nach.

Ea bestätigte durch ein kurzes Nicken. „Das ist genauso schlimm wie Apsus Unruhe“, erklärte er.

Damkina legte ihre Arme um den Körper, als wolle sie ihn vor ihrem heimatlichen Element schützen. „Was nützt es, überall hingehen zu können, wenn es nirgendwo mehr schön ist?“ klagte sie. „Dann möchte man am liebsten nirgendwo sein, aber das geht ja nicht, weil man immer irgendwo sein muss und... und das Ganze so blöd ist! Als sei man in einen Gedankenstrudel Vater Apsus reingefallen.“

Mummu verließ die Gruppe der jüngsten Götter. Er hatte sich nicht an ihrer Unterhaltung beteiligt und fand überdies, dass Worte hier keinen Zweck erfüllten. Der junge Ea schaffte es schon ganz gut allein, seine Altersgefährtin zu trösten. Mummu schmunzelte, während er sich seinen Weg durch den Apsu bahnte. Ea wurde unerbittlich älter und würde schon bald neue Wege entdecken, sich um Damkina zu kümmern. Der Gedanke gefiel dem Gott, der selbst nicht der Linie Apsu - Lahmu - Anshar - Anu entstammte, sondern während einer späteren Vermischung direkt aus dem Urgötterpaar hervorgegangen war. Viele der Urgeborenen teilten dieses Schicksal, zwar Tiamat und Apsu ihre Eltern zu nennen, dabei aber nicht mehr Erfahrung als die restlichen Angehörigen der letzten beiden Generationen aufweisen zu können. Unter denen stellten sie Außenseiter dar, andererseits aber verstanden sie auch ihre Geschwister Lahmu und Lahamu nicht und blieben ihnen fremd.

*

Der Urgeborene ließ die Jüngeren immer weiter hinter sich zurück. Sein schuppenbedeckter Leib und die aus seinen Armen und Beinen herauswachsenden Flossen sorgten für ein rasches Vorankommen des Göttersohnes im Süßwasserozean.

Mummu war eine Weile geschwommen, da begegnete er Qingu, der wie er ein nachgeborener Sohn Tiamats war. Während es den Geschwistern, Neffen und Onkels bisweilen schwer fiel, Mummu von dem ihm umgebenden Ozean zu unterscheiden, so nichtssagend war sein Körper gestaltet, musste Qingu als auffallend hübscher Göttersohn gelten. Seine Züge waren einzigartig, unverwechselbar. Wo die Haut der meisten männlichen Götter dem Blau Apsus glich oder ins Graue hineinspielte, wies Qingu eine eher grünliche Färbung auf, die ihn näher an Tiamat heranrückte. Das war ungewöhnlich und hatte dem jungen Qingu bereits in seiner Kindheit viel Hohn seiner Neffen eingebracht. Er kompensierte dies durch besonders männliches Verhalten und es hieß, es sei nur eine Frage der Zeit, bevor Qingu sich selbst Tiamat mit einem Flirt auf den Lippen und dem Versprechen auf mehr in den Lenden nähern würde.

„Wohin schwimmst du?“ warf Qingu dem Bruder anstelle einer Begrüßung entgegen. „Es ist gefährlich, sich aus einem sicheren Gebiet herauszubewegen. Bleib lieber hier und leiste mir Gesellschaft!“

„Die Gefahr kommt zu uns, Qingu“, widersprach Mummu. „Vater achtet nicht darauf, ob sich einer von uns an den Orten aufhält, an denen er Gedankenstrudel erscheinen lässt.“

„Auch wieder wahr“, seufzte der Grünblaue. „Und wohin führt dich nun dein Weg?“

„Zu Vater Apsu.“

Qingu prustete! Die aus dem Ozean gefilterte Luft entwich seinem Mund in Blasen. Die Kiemen an den Hälsen der Götterkinder waren zum Atmen gut, der Mund aber zum Sprechen - und zum Lachen!

„Wir befinden uns im Apsu, Bruder! Nur, weil er heute anders aussieht, als sonst...“

„Verspotte mich nur“, erwiderte Mummu. „Aber schon bald wird meine Antwort auch für dich Sinn ergeben.“

Qingu bemühte sich um eine ernste Miene. Es gelang ihm für die Dauer eines Schlagens der Wellen.

„Weißt du was?“, schlug Mummu dem Bruder vor. „Schwimm so weit, bis du Damkina und die anderen Kinder triffst! Ich werde euch dann finden. Und Apsu bringe ich mit.“

„Du bringst Apsu mit“, wiederholte Qingu. „Mitten im Apsu. Sollte dir nicht weiter schwer fallen...“

*

Mummu wartete, bis sich der andere entfernt hatte. Genaugenommen war er deswegen so weit geschwommen: Um sich möglichst weit von allen anderen Göttern zu entfernen, bevor er sein Anliegen an Apsu herantrug.

„Vater!“ rief Mummu in das aufgepeitschte Meer hinein. „Vater, sieh mich an!“

Für einen kurzen Moment schien das Wasser kälter zu werden, dann bildete sich eine Wasserhose. Mummu befand sich in der Mitte, er schwebte vom restlichen Ozean abgegrenzt im Apsu - und lächelte.

„Ich dachte mir, dass du einst darauf kommen würdest“, erklärte er. „Du vermagst eine Menge mit deiner Domäne anzustellen, Vater.“

„Ich vermag nicht genug, um die Domäne Tiamat von ihrem Kummer zu heilen“, entgegnete Apsu. „Also bedeutet all mein Können nicht mehr als eure minderen Künste, Kind.“

Unbeirrt sprach Mummu weiter: „Wir Kinder sind von dir, oh, Apsu. Alles, was du uns gegeben hast, musst du daher ebenfalls können. Komm, sieh mir zu!“

Inmitten der Wasserhose war der Ozean ruhig. Mummu fiel es leicht, in seinem wässrigen Gefängnis einen Purzelbaum zu schlagen, sich nach oben und unten zu schrauben, seine Arme und Beine weit vom Körper abzuspreizen und schließlich überdeutliche Atemzüge auszuführen, die ganze Wolken von Blasen erzeugten.

„Alles das kann ich, Apsu!“ lockte Mummu.

Zuerst geschah gar nichts. Dann veränderte sich die Wasserhose. Sie bildete nun keinen Trichter mehr, sondern einen Ring, doch auch der brach auf, wurde zu einer Spirale, die sich um sich selbst drehte und schließlich neue Stränge ausbildete, die an Arme und Beine erinnerten.

‚Na also’, dachte Mummu vergnügt.

Endlich stand vor ihm das Ebenbild seines Bruders Lahmu, doch Mummu wusste, es war genau andersherum: Lahmu stellte das Ebenbild des Mannes, den er gerade betrachtete, dar.

Apsu strich sich prüfend über den Hinterkopf. Im Wasser wallendes Haar befand sich dort, aber auch ein kleiner Kamm vom selben Aufbau wie die Arm- und Beinflossen der Kinder. Welchen Zweck erfüllte das Ding? Ließ es sich bewegen? Bewegte es sich in angemessenen Situationen von selbst? Der Urgott wandte sich mit seiner Neugier nicht an seinen Sohn. Er war bereit, auf alle seine Fragen selbst eine Antwort zu finden!

„Die Farbe des Körpers zu intensivieren, um nicht im Ozean unsichtbar zu erscheinen, war das Schwerste“, meinte Apsu. Es handelte sich um die ersten Worte, die er jemals in seiner neuen Form gesprochen hatte.

„Dann ‚mach dich unsichtbar’, Vater“, riet Mummu. „Und wir erlauben uns einen Scherz mit den Jüngeren!“

Apsu schüttelte probeweise seinen Kopf. Er sah den Wellen zu, die seine Bewegung erzeugte, bis sie sich im Süßwasserozean verloren. Dass es sich bei diesem Ozean um ihn selbst handelte, verstörte Apsu in seiner neuen Gestalt nicht. Seine Avatarform hatte er so beschränkt angelegt, dass sie Dinge „die eben so waren“ nicht weiter hinterfragte, um einer nicht aufzulösenden Verwirrung vorzubeugen.

„Nein, später. Zuerst möchte ich etwas tun, das ich mir sehr lange gewünscht habe“, erklärte der Urgott Mummu. Dann schwamm er auf seinen Sohn zu, unbeholfen noch, doch geleitet von dem Wunsch, sein Vorhaben endlich auszuführen. Mummu konnte sich nicht erklären, worin dieses Vorhaben wohl bestehen mochte, bis ihn Apsu mit seinen tiefblauen Armen umfing. Nichts anderes als die Umarmung der Eltern hatte der Sohn des Urgottes sein Leben lang erfahren, doch auf diese Weise vor den anderen ausgesondert zu werden, ließ einen ehrfürchtigen Schauer seinen Rücken herunterlaufen. Apsu umschloss Mummu eine lange Zeit auf diese neue Weise. „Ich will das mit jedem von euch tun!“ versprach er dann.

Mummu schluckte schwer. „Ja“, antwortete er. „Das wird wohl das Beste sein.“

Anders als mit den Verwandten geteilt, fand der Gott-Mann, wäre diese Erfahrung nicht zu ertragen gewesen.

„Aber“, fügte er schelmisch hinzu, „eigentlich wollte ich, dass du Tiamat diese Behandlung zukommen lässt.“

„Mummu, mein Junge“, erwiderte Apsu grinsend, „sei dir versichert, dass, wenn ich das tun werde, du nichts davon mitbekommen wirst und ich einige besondere... Griffe für diesen Anlass dir und deinen Brüdern, ja selbst deinen Schwestern, vorenthalten werde!“

Vater und Sohn lachten gemeinsam! Dann ließ Apsu die Kontrolle über seine Hautfarbe fahren, wurde für die Augen aller anderen eins mit dem Ozean und begleitete Mummu auf diese Weise unsichtbar gemacht zu dessen Treffen mit Qingu und den jüngsten der Kinder.

*

„Führe mich nun zu Tiamat“, forderte der Urgott Mummu auf, nachdem er die Kinder ebenso umarmt hatte, wie es mit Mummu geschehen war. In seiner Avatarform empfand Apsu seine Nachkommen zwar noch immer primitiv, aber nicht mehr jämmerlich, hatte er doch nun für sich entdeckt, wie nützlich ihm so ein Körper sein konnte.

„Wir kommen alle mit!“ rief Qingu überschwänglich. „Wir begleiten dich in den Salzwasserozean, Vater!“ Die Vorfreude, in einem wiederhergestellten Tiamat-Ozean schwimmen zu können, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie verlieh Qingus ohnehin attraktiven Zügen eine noch reizvollere Qualität.

„Das werdet ihr tun“, stimmte Apsu zu. „Aber Mummu wird uns anführen, denn ich habe ihn für den guten Rat, den er mir schenkte, zu meinem Visier ernannt.“

*

Dem Zug der Jüngsten schlossen sich andere Götter an, Urgeborene und ihre Nachkommen, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Die Menge näherte sich dem Übergang vom Apsu in Tiamats trübes, stagnierendes Wasser.

Nachdem die Prozession zum Stillstand gekommen war, drängte sich Qingu durch die Leiber seiner Verwandten, bis er neben Mummu im Wasser schwebte.

„Mummu, Apsus Visier!“ grinste er. „Du weißt jetzt also, wo du hingehörst?“

„Für einen Urgeborenen ist das wichtig“, gab dieser zurück.

„Ja...“

Nachdenklich streckte Qingu seine Hand aus. Bevor sie die Grenze zu Tiamat berühren, gar durchbrechen konnte, hielt Lahmu den Grünblauen fest.

„Nicht! Dieser Moment ist für die beiden allein bestimmt!“

Enttäuschung, aber auch ein wenig Wut auf den älteren Bruder spiegelten sich in Qingus Miene.

„Es sei, wie du es sagst“, knurrte er.

Damkina und Ea schwammen vergnügt um den ersten Sohn des Urgottpaares, ihren Ahn, herum. „Ach, Lahmu, sei nicht so streng! Qingu will doch nur Tiamat sehen“, riefen die beiden. „Und sie wieder glücklich erleben! Wie wir alle!“

Mit einem Mal stockte Ea in seiner Bewegung aufgrund eines düsteren Gedankens, der ihm gekommen war. Anu und Anshar, sein Vater und Großvater, erschienen an der Seite des Jungen, als erahnten sie dessen Gedanken - oder vielleicht trugen sie sie ja unabhängig von Ea ebenfalls in ihren Herzen?

„Was passiert“, sprach Anshar diesen Gedanken aus, „wenn Mutter Tiamat keinen Gefallen an dem Avatarspiel findet?“

„Nun, Mummu?“ Herausfordernd verschränkte Qingu die Arme. „Lass uns an deiner neuen Weisheit teilhaben, oh, Wort in Apsus Ohr! Was wird dann geschehen?“

„Dann? Ganz einfach, Bruder: Dann hat sich Apsu bemüht.“

„Umsonst.“

„Nein“, lachte Damkina. Sie drängte sich sehr nah an Ea, dem das zwar unerwartet, aber nicht unerwünscht geschah. „In der Liebe genügt es, sich bemüht zu haben. Das wird Tiamat einsehen.“

Eas Hautfarbe wechselte zu einem tiefen Violett, als sein dunkelblaues Gesicht auf die Worte seiner Altersgefährtin hin ganz unvermittelt rot wurde. Die Farbe vertiefte sich noch, als Damkina Qingu fragte: „Wen liebst du eigentlich?!“

„Meine Schwester natürlich, wie wir alle!“

Prüfend bohrte sich Eas Blick in die Augen des in beiden Ozeanen bekannten Frauenhelden. ‚Wehe’, schien dieser Blick zu warnen, ‚das stimmt nicht’!

*

Der Urgott bewegte sich mit Schwimmbewegungen durch den Salzwasserozean. Seine Gefühle wallten in dem zerbrechlichen Avatarkörper auf und ab. Apsu vermochte sie nicht zu beruhigen. Doch es gelang ihm die Emotionen zu bündeln, wenn schon nicht zu verbannen. Er kapselte sie ein und nannte es „Herz“. Das Herz wusste genau, was es wollte, doch sein unruhiges Schlagen war nicht dazu angetan, Apsu auch zielsicher dorthin finden zu lassen oder mit Hindernissen umzugehen. Daher richtete der Urgott eine ähnliche, ebenfalls ständig aktive Steuerzentrale ein, die er als sein „Hirn“ bezeichnete. Den winzigen Rest Wallung, der danach übrig blieb und sich nicht auflösen lies, verbannte er in die unteren Körperregionen, wo er sie als „Lust“ einer Verwendung zuzuführen gedachte, nachdem ihn Herz und Hirn ans Ziel geführt hatten. Die Lust wog schwer, sie zog den Avatarkörper aus seiner Schwimmlage in die Senkrechte. Das erforderte einen neuen Bewegungsmodus von Apsu, doch hatte er das Stehen und Gehen im Wasser bereits bei seinen Kindern beobachtet und vermochte es nachzuahmen.

So schritt Apsu, sein Innenleben geordnet, zuversichtlich durch Tiamat. Er hatte ihr ja so viel zu zeigen! Aber war es das auch, was seine Geliebte von ihm forderte? Oder hatte er an der falschen Stelle gesucht? Woher sollte der beschränkte Mummu wissen, was eine Urgöttin sich wünschte? Zwar, Apsus Avatarform hielt jeden seiner Ratschläge für weise, aber...

„Apsu!“

Der Urgott hielt inne. Die Wasser raunten seinen Namen!

Der Besucher erhob seine Stimme: „Ich bin hier!“

Seine Antwort erzeugte einen ansehnlichen Strudel, der den Apsus Körper erfasste. Hin und her geworfen von der Macht seiner eigenen Stimme musste er erst um sein Gleichgewicht ringen, bevor er es erneut versuchte. Diesmal gelang es dem Gott, seine Lautstärke zu beschränken.

„So hättest du mich nicht sehen sollen“, knurrte er leise.

„Aber wieso denn?“ fragten die Wasser. „Du bist wundervoll!“

„Und du kannst ebenfalls wie ich sein. Wundervoll - das bist du bereits jetzt.“ Apsu wies an seinem Körper herab. „So wie ich sein, meine ich.“

„Ja, vielleicht könnte ich das“, erwiderte Tiamat.

Apsu öffnete den Mund. „Aber...?“ fragte er furchtsam.

„Aber ich möchte, dass du mir zeigst, wie es geht!“

Erleichterung durchströmte Apsu. Mit Herz, Hirn und Lust ging er an die von ihm erbetene Arbeit, einen kleinen Teil Tiamats abzugrenzen, der doch ihre Ganzheit erhalten sollte. Einiges davon konnte er nach seinem eigenen Vorbild gestalten, anderes variierte er nach seinem Gefallen und wieder andere Strukturen verbot oder verlangte Tiamat von dem Konstrukteur ihres Avatar-Leibes.

„Ich habe übrigens sofort gewusst, dass du es bist, der Grenze überschritt, und keiner unserer Kinder“, eröffnete sie ihm, als sich zum ersten Mal ihre fülligen, lindgrünen Lippen öffneten, die so viel heller als der Rest ihres Gesichts waren. „Weil du als einziger nichts von mir in dir trägst.“

Apsu seufzte. „Das macht mich dir sicher fremd...“

Tiamats glockenhelles Lachen breitete sich in alle Richtungen aus: „Darum will ich dich!“

*

Tiamats Lachen erreichte auch die Grenze zum Süßwasserozean, wo die Kinder der Urgötter noch immer warteten. Überschwenglich teilten diese ihre Freude. Ihre Sorgen hatten sich als unbegründet erwiesen! Tiamat zeigte sich überglücklich über Apsus neue Entdeckung!

Von nun an würde es dem Paar möglich sein, sich einmal im Süß-, und dann wieder im Salzwasserozean zu treffen, an Orten, die ihnen bisher verschlossen geblieben waren.

„Mehr noch“, neckte Tiamat ihren Gemahl, „auf diese Weise besteht nicht mehr die Gefahr der Vermischung unserer Wasser. Das bedeutet: Keine weiteren Kinder mehr!“

„Außer, du willst es“, flüsterte Apsu liebevoll. „Dann verlasse ich dein Reich und kehre in meiner vollständigen Form an deine Grenzen zurück.“

„Nein, verlass mich niemals!“ rief Tiamat inbrünstig aus.

Sie stand vor ihrem Mann, angetan nur in ihr schönstes Grün, ihr Avatar eine Verkörperung der Wellen, jede ihrer Bewegungen ein Spiegel des Spiels der Strömungen. Apsu stürzte sich in diese Tiefen, um zu holen, was sie ihm versprachen. Er spülte über Tiamat hinweg in einem Liebesakt, in dem ihre Avatarleiber zuerst noch unbeholfen, dann immer inniger zu einer Synchronizität fanden, die ihren voneinander getrennten Domänen-Körpern nicht gegeben gewesen war. Anschmiegen, miteinander wiegen, bis sich Teile ihrer selbst ganz von selbst hoben und senkten, all das war Apsu und Tiamat nichts Neues. Aber zum ersten Mal konnten sie ungebremst ineinander fließen und dabei glauben, sich nie wieder trennen zu müssen.

*

Die folgende Zeit brachte viele neue Spiele für Alt und Jung. Um etwas Neues zu sehen, musste sich niemand mehr in die entfernteste Ferne begeben. Mitten in Tiamat entstand ein großer Palast, den die Götterkinder für ihre Mutter bauten. Apsu nannte ihn Aduruna und machte ihn seiner Gemahlin zum Geschenk. Für ihn und alles anderen Besucher standen jederzeit Gästequartiere bereit.

Die ältesten der Urgeborenen zeigten sich skeptisch. Zu beengt erschien ihnen Aduruna. Lahmu, Anshar und ihre Gemahlinnen hielten sich fern von dem Bau. Verständnislos zogen sie sich zurück, nachdem ihnen Ea auch noch eröffnete, dass so manche Kammer im Inneren des Palastes lediglich Luft und trockenen Boden anstelle von Wasser enthielt.

Doch ihre Nachkommen und jüngeren Brüder, allen voran Qingu und Mummu, aber auch der nur unwesentlich ältere Anu, fanden die Befürchtungen der Älteren unbegründet. Ganz im Gegenteil ermöglichten es ihnen die neuen Grenzen, ihre Phantasie erst richtig in Gang zu setzen. Auch Ea beteiligte sich voller Begeisterung am Erkunden der Möglichkeiten, obwohl Damkina wirklich mit jedem Tag interessanter wurde...

Tafel 2

An einem dieser mit Entdeckungen angefüllten Tage schleppte sich Apsu nur so durch Aduruna. Wie so oft zuvor hatte der Urgott die Belastbarkeit seines Avatarkörpers überschätzt. Zu viele neue Bilder hatte er den Wänden des Palastes hinzugefügt ohne seinem Leib Ruhe zu gönnen. Nun war er so erschöpft, dass er noch nicht einmal sehen konnte, wie sein Werk bei Tiamat ankam.

„Lass dir den Kopf nicht schwer werden“, erklärte die Göttin, ein Lächeln auf ihren Lippen. „Bevor es dir nicht besser geht, werfe ich keinen Blick auf deine Bilder, Liebling! Die wollen wir in keiner anderen Weise als gemeinsam betrachten“

Der junge Qingu erhob sich von den Kissen, auf denen er nahe bei seiner Mutter gesessen hatte. „Ich gehe und verschleiere die neuen Kunstwerke!“ bot er eifrig an. „So fällt dein Auge nicht versehentlich auf sie!“

Die Eltern bedankten sich und akzeptierten das Angebot.

Qingu führte seinen Auftrag gewissenhaft aus. Er scheuchte die anderen Gäste im Palast fort von jenen Räumen, in denen Apsu seine Werke schuf. Niemand außer Tiamat sollte sie als erster betrachten. Nicht immer sahen die Jüngeren ein, bestimmte Säle plötzlich nicht betreten zu dürfen, aber mit Visier Mummus Unterstützung schaffte es Qingu schließlich, sich den nötigen Freiraum zu schaffen. Endlich stand er vor den Kunstwerken. Ein Schauer kroch Qingus Rücken herab, als er endgültig begriff, dass es nun er war, der als erster die Tiamat zugedachten Stücke beschauen durfte.

Apsus Schöpfungen bildeten Dinge ab, die im Ozean vorkamen, die Wellen, den Palast und seine Kinder. Aber wo die göttlichen Kinder ihre Umgebung stets in dem von den derzeitigen Gefühlen ihrer Eltern bestimmten Lichtverhältnissen wahrnehmen mussten, stand Apsu als der Quelle dieser Gefühle frei, jeden möglichen Zustand im Bild festzuhalten. In mehreren nebeneinander gestaffelten Gemälden betrachtete Qingu nun Erscheinungsformen seiner Welt, die in Wirklichkeit nie gleichzeitig existieren konnten. Es sah all die Möglichkeiten des Seins, aber jede einzelne ins Bild gebannte Emotion seines Vaters fand er auch in sich angelegt. Wirklich jede, gestand sich der Urgeborene ein - bis hin zu einer über Verehrung hinausgehende Liebe zu Tiamat.

Bevor Qingu jedes Gemälde, jedes Relief und jede Statue zudeckte, studierte er jedes einzelne Werk aufs Genaueste, in der Hoffnung, die unter Apsus Händen entstandenen Dinge könnten ihm eine Antwort auf die Frage vermitteln, was dieser ihm eigentlich voraus haben sollte. Als dem Urgeborenen nichts einfallen wollte, umschlang er die Kunstwerke besonders fest und wünschte sich dabei, Tiamat würde ihre Perfektion nie zu Gesicht bekommen.

*

Die jüngsten Götter interessierten sich nur wenig für Apsus Schöpfungen. Mit sich und den eigenen Spielen beschäftigt lärmten sie durch Aduruna wie an jedem Tag. Qingus zwischen den Betrachtungen von Apsus Kunst halbherzig geblaffte Ermahnungen vermochten sie nicht zum Schweigen zu bringen. Selbst Mummu besaß keine Autorität gegenüber der Bande. Seine Aufgabe beschränkte sich darauf, Apsu Ratschläge zu unterbreiten. In jenen Tagen aber hatte der Urgeborene keine zu bieten.

*

„Es ist so laut im Palast! Ich will nicht wissen, was im Nebenraum geschieht, ich will, dass es aufhört!“ jaulte der auf einem breiten Bett in seiner Gästesuite in Aduruna ruhende Apsu. Trotz seiner Erschöpfung, die sich mittlerweile schmerzhaft im Kopf festgesetzt hatte, sein Herz zu schweren Schlägen nötigte und aufgrund derer selbst die Lust ermattet darniederlag, sprang er auf und stürmte ins benachbarte Zimmer.

„Ruhe! Jetzt ist sofort Ruhe!“ brüllte der Urgott.

Ea und seine Freunde hielten in ihrem Tun inne. Sie saßen auf dem Boden oder in kunstvoll aus Korallenstein geformten Sesseln. Korallum war überhaupt das erste Baumaterial, das das Urgötterpaar aus seinen Domänen hatte auskristallisieren lassen. Doch ihre Verwendungsmöglichkeiten endeten nicht bei Möbeln. Kombiniert mit anderen Materialien ließ es sich in die vielfältigsten Werkzeuge, Spielzeuge oder Musikinstrumente verwandeln, wie die Kinder herausgefunden hatten.

Der halbwüchsige Ea wandte der Avatargestalt sein Gesicht zu. „Aber mein Ahn, hast du denn alles vergessen, was du einst wusstest?“ erkundigte er sich verstimmt. „Das ist Musik aus Wassersteinen. Das geht gar nicht leise!“

„Ich habe Kopfschmerzen“, stöhnte Apsu.

„Aha“, lies sich eine Stimme in seinem Rücken vernehmen. Dort stand Qingu im Türrahmen. Der Urgeborene zuckte die Schultern und kam tiefer in den Raum hinein. Er wählte aus den Instrumenten ein spiralförmiges Horn aus, mit dem er sich der kleinen Kappelle zugesellte.

Angesichts von soviel Unverfrorenheit entriss Apsu seinem Sohn wütend dessen Musikinstrument. Mit Schwung schleuderte er es durch die Wand des Palastes in den Ozean hinaus! So rasch hatte Apsu zugegriffen und den Wurf ausgeführt, dass selbst das Licht nicht hinterherkam. Als das Spiralhorn durch den Raum flog, sah es daher so aus, als umklammerten Qingus abgerissene Finger das Instrument noch immer.

Grünliches Wasser drang durch das Loch in der Mauer ins Innere, sickerte über die Dielen in die aus unbelebten Fasern gewebten Teppiche hinein und spritzte auch auf die Musizierenden.

„Er macht das schöne Haus kaputt, das wir Mutter Tiamat gebaut haben!“ rief Damkina empört. Doch sie verweilte nicht lange in ihrer Entrüstung, sondern beeilte sich, gemeinsam mit den anderen Schwestern der Götter das Leck wieder zu verschließen.

„Dass uns so ein bisschen Wasser stören sollte“, grinste Ea. „Einst haben wir im offenen Meer gelebt.“

„Ja, aber jetzt nicht mehr!“ Damkina drückte dem Bruder einen Kuss auf die Stirn. „Mein schöner Barbar...“

Qingu bewegte indessen prüfend seine Finger. Jeder einzelne befand sich noch dort, wo er hingehörte. Dennoch war ein Abbild von ihnen mit dem Horn durch die Wand geflogen. Dieser Umstand faszinierte den Gott außerordentlich und er nahm sich vor, so bald wie möglich herauszufinden, was aus dem Spiralhorn geworden war. Sicher würde man einiges damit anfangen können und er wollte herausfinden, was alles dazugehörte! Dass es aber ausgerechnet Apsu gewesen sein sollte, der den Anstoß zu diesem Experiment gegeben hatte, wollte Qingu nicht schmecken.

„Tiamat wird von deiner Zerstörungswut erfahren“, meinte der Urgeborene zu Apsu. „Wir sind geschaffene Wesen, wir können daher auch nur in begrenztem Maße selbst schaffen. Das mag dir gegen deine Kunst lächerlich erscheinen, aber es wäre nett, wenn du respektiertest, was wir erbauen.“

Mit diesen Worten wandte sich Qingu ab.

*

Der Urgeborene musste sich nicht weit von Aduruna entfernen, um sein fortgeschleudertes Instrument wiederzufinden. Das zu einer Spirale gewundene Horn trieb in einiger Entfernung im Tiamat. Qingu schwamm näher heran. Als er das Objekt aber zu greifen versuchte, wechselte dieses seine Richtung! Erneut griff Qingu zu und wieder wich ihm sein Instrument aus. Die Erinnerung seiner Finger zappelten dabei im Wasser. Doch, nein, korrigierte sich Qingu, sie zappelten nicht zu der Bewegung, sie waren überhaupt erst dafür verantwortlich!

Vorsichtig streckte der Gott seine Hand aus. Seine echten Fingerspitzen berührten die durchscheinenden.

„Was tust du da, mein Sohn?“

Erfreut fuhr Qingu herum, als er die Stimme seiner Mutter erkannte.

„Ich spiele, Mutter“, antwortete er. „Und, schau!, mein Spielzeug spielt auch mit mir. Es ist kein Bruder, es ist kein Gegenstand, bitte, Mutter Tiamat, was ist es denn?“

Tiamats Avatarform schwamm an Qingu vorbei. Der Urgeborene seufzte wohlig. Aller Zorn fiel von ihm ab, als ihn die Wellen streiften, die sonst Apsu vorbehalten waren. Wie sehr er sich doch danach sehnte, dass es für immer die seinen wären!

Aber der Moment ging vorüber und Tiamat wandte ihre Aufmerksamkeit dem Horn mit den Fingern zu. Sie kicherte ob des Anblicks, der sich ihr bot. Das Abbild von Qingus Fingern versuchte, nach etwas zu greifen, wie es sich für eine Hand gehörte, doch da es nur Wasser berührte, sorgte das Gezappel für Antrieb.

Tiamat konzentrierte sich auf jenen Teil des Salzwasserozeans, auf den sie schaute, die Stelle ihres wahren Leibes, an welcher das eigenwillige Horn schwamm. Sogleich meinte sie, die Bewegung der Finger als ein Kitzeln auf der Haut ihres Avatarkörpers zu spüren.

Die Urgöttin tippte das eigenwillige Objekt an. Sogleich nahmen Qingus Finger fleischliche Gestalt an und auf jeder Seite des einstigen Musikinstruments wuchs ein Auge, wie die Schöpferin es auch ihren göttlichen Kindern auf jeder Kopfseite mitgegeben hatte.

„Jetzt weiß es immer, wohin es geht“, meinte Tiamat mit einem Schmunzeln im Gesicht.

Doch sein neuer Sinn schien dem Tierchen noch unheimlich zu sein. Es blickte in eine Richtung, bewegte sich aber hektisch in die entgegengesetzte.

„Ich denke, das müssen wir noch üben“, kommentierte die Urgöttin den Vorgang. „Wenn du möchtest, Qingu, mache ich deinem Horn eine Schwester. Dann hast du bald viele davon, mit denen du spielen kannst.“

„Das würde mir gefallen“, gestand der Urgeborene. Dann hauchte er beinahe andächtig: „Es ist so schön. Wie alles, was von dir kommt!“

„Danke, Qingu. Du schmeichelst mir. Aber den Kopffüßer haben wir gemeinsam ins Leben gerufen.“

„Vielleicht können wir ja mal wieder etwas ähnliches erschaffen?“

„Das können wir sogar sehr gern“, antwortete Tiamat und Qingu strahlte!

*

In den Tagen, die der Schöpfung des ersten Lebewesens folgten, schloss sich Qingu wieder enger seiner Schwester an. Natürlich hatte er ihr als erster das wundervolle Geschenk zeigen wollen, das ihm Tiamat gemacht hatte. Und er wurde nicht müde, jedem zu erzählen, welchen Anteil er selbst an dieser Schöpfung gehabt hatte. Endlich fühlte er sich Apsu ebenbürtig. Was sollte es jetzt noch geben, dass den Götterkönig vor ihm, Qingu, auszeichnete? Tiamat musste das ebenso sehen, fand der Urgeborene. Immerhin hatte sie nur ihm, ihrem Sohn, nicht aber ihrem Gemahl, ein derartiges Geschenk gemacht!

*

„Du hast den aufsässigen Jungen auch noch beschenkt!“ beschwerte sich Apsu bei seiner Gemahlin. „Getröstet hast du Eas Bande, wieder und wieder, wenn ich sie für ihren Lärm strafte, ganz so, als seien in Wahrheit sie die Geschädigten gewesen!“

„Und ich werde das auch immer wieder tun“, erwiderte Tiamat mit leiser, aber fester Stimme. „Da wir uns ja gelobt haben, keine weiteren Kinder zu zeugen, sind sie alles, was uns bleibt.“

„Vermisst du das Zeugen so sehr?“ erkundigte sich Apsu.

„Ich weiß nicht...“

Tiamat drängt auf einen Themenwechsel. Sie war sich noch nicht sicher, was sie von ihrer neu entdeckten Fähigkeit halten sollte, Gegenständen in Lebewesen umzuwandeln. Diese Tiere waren keine Kinder, aber etwas überaus ähnliches. Es bereitete ihr Freude, durch ihren Palast zu spazieren und sich dabei weitere Formen auszudenken. Aber wieweit sollte sie dabei gehen? Wie weit durfte sie gehen? Würde bald der gesamte Ozean von den kleinen Kreaturen wimmeln? Und wenn ja, welche Probleme würde das mit sich bringen? War Tiamat ehrlich zu sich selbst, so musste sie zugeben, dass bereits ihre göttlichen Kinder mit ihrem Lärm kaum mehr zu bändigen waren. Die älteren aber hatten sich ja in entfernte Winkel der beiden Weltenozeane zurückgezogen. Sie waren ihren Eltern keine Hilfe mehr.

In Gedanken versunken näherte sich Tiamat dem Raum, der zu ihrer Rechten vom langen Flur abzweigte. Hier bewahrte das Urgötterpaar die schönsten von Apsus Kunstwerken auf. In der festen Absicht, etwas zu ihrer Freude zu verwandeln, das außerdem von ihrem Gemahl stammte, es ihm vorzuführen und das Band zu ihm dadurch wieder zu stärken, zog sie den Vorhang auf.

Kurz darauf hallte ein Schrei durch Aduruna. Der Schall erreichte das Tor, um sich als mächtige Welle durch den Ozean weiter auszubreiten. Einige der draußen spielenden Götterkinder wurden durchgeschüttelt und beschlossen, sich lieber im Inneren eine Beschäftigung zu suchen.

Auch Qingu, der gerade mit weiteren Lebensformen experimentiert hatte, eilte zum Palast. Er suchte seine Herrin Tiamat.

Mit den Worten „Nicht weiter!“ hielt Mummu den Eindringling auf.

„Wieso nicht?“

„Der Herr und die Herrin wollen allein sein. Es gab... Schwierigkeiten in Aduruna.“

Qingu lächelte entwaffnend.

„Deine Rede ist seltsam, aber sicher wird mir das, was dahinter steht, weniger seltsam vorkommen, wenn du es mich sehen lässt...“

Doch mit welchen klugen Worten oder Schmeicheleien es der Urgeborene auch versuchte, Apsus Minister lies an diesem Tag niemand zu dem Götterpaar vordringen. Tiamat und Apsu blieben unter sich und niemand erfuhr, was die Urgöttin in dem Gemach gesehen hatte, das ihren Zorn so erregt haben mochte.

*

Wieder verging Zeit. Apsu verlies Aduruna nur noch selten. Nachdem jemand die meisten seiner Kunstwerke zerstört hatte, verbrachte er seine Tage damit, neue zu entwerfen und auszuführen. Jene, die Qingu verhüllt hatte, waren noch intakt, doch alle älteren waren der Zerstörungswut eines Unbekannten zum Opfer gefallen.

„Was, wenn du es nun in deinem Schmerz rasend selbst getan hast?“ wagte Mummu zu fragen.

„Mein Zorn gehört zu mir!“ brüllte Apsu.

Mummu nickte ernst, dann gab er zu bedenken: „Nicht aber die Raserei.“

„Das ist wahr. Also kann ich es nicht selbst getan haben. Mummu, mein Sohn, du wirst mir den Schuldigen finden, damit mein zielgerichteter Zorn ihn oder sie treffen kann!“

Mit diesem Auftrag schickte Apsu seinen Visier fort und widmete sich erneut seinen Werken.

Tiamat freute sich auf jedes neue Stück, doch da sie ihren Gemahl während des Entstehungsprozesses nicht stören wollte, gesellte sie sich Qingu, dessen Schwester und einigen weiteren Urgeborenen zu, die im Wasser vor dem Palast mit den Lebewesen spielten. Sie zeigte den Kindern neue Techniken, die man an den selbstbeweglichen Körpern verankern konnte und lobte die anderen Götter, wann immer diese von sich aus mit einer eigenen Idee aufwarten konnten.

So viele Geschenke empfing Tiamat in diesen Tagen aus den Händen Apsus und ihrer Kinder, dass sie das Zeugen nicht mehr vermisste. Andere zu lehren, wie man es anstellte und dann die Ergebnisse ihrer Bemühungen zu schauen erfüllte sie ebenso sehr.

Besonders Qingu strengte sich an und schien nur dann seinerseits zufrieden zu sein, wenn sein Werk einmal größere Anerkennung einbrachte, als die Kunst Apsus.

„Er leidet noch immer“, gestand Tiamat den Kindern.

„Warum eigentlich? Was ist im Palast vorgefallen, dass Minister Mummu seine Stirn jeden Tag in Falten legt, als wolle er einer ganzen Kolonie von Polypen darin Heimat bieten?“

„Jemand hat die Gemälde und Statuen meines Gemahls zerstört. Deine, Qingu, wurde regelrecht pulverisiert.“

„Es sind doch nur Dinge“, wiegelte der Urgeborene ab. Für diese weise Antwort in den Arm genommen zu werden, war ihm die Anstrengung wert, in aller Heimlichkeit all die Kunstgegenstände zerstört zu haben. Natürlich hatte Qingu die Staue, die ihn zeigte, besonders gründlich vernichtet. Wie konnte Apsu es wagen, ihn dergestalt nachzubilden, als sei er nur eine Mauer im Palast unter den Wellen! Wie konnte er sich wagen, jede Nacht mit Tiamat zu liegen, sie Qingu vorzuenthalten und dann auch noch sein Bild in seine Kammer zu stellen?!

Doch all diese Gedanken ihres Sohnes blieben Tiamat verschlossen.

*

Nicht nur Apsu, auch Tiamat selbst litt unter dem Aufruhr, den die Kinder des Urgötterpaares beinahe täglich in den Palast hereintrugen. Aber vielleicht meinten sie es ja gar nicht böse? Möglicherweise waren sie bloß so gedankenlos wie die Lebewesen, die ohne Ziel, aber dafür voller Lebensfreude, im Salzwasserozean herumschwammen? Ja, wenn man es genau durchdachte, konnte es gar nicht anders sein, dachte Tiamat bei sich. Bei beiden Schöpfungen handelte es sich um ihr eigenes Werk, also mussten sie einander sehr ähnlich sein. Aber die Lebewesen waren stumm und taub, Ea hingegen sah und hörte sehr gut und war in der Lage, Schlussfolgerungen aus dem Gehörten zu ziehen. Daher trat Tiamat auf den Urenkel zu und bat ihn, Aduruna für eine Weile zu verlassen.

„Das oder ein wenig leiser sein, erbitte ich mir von dir. Bis es mir wieder besser geht.“

„Ich spiele immer hier!“ empörte sich Ea. „Seit der Palast steht und ich noch ein Knabe war, ist das mein Zimmer!“

„Das weiß ich doch, Liebling. Aber so geht es nicht mehr weiter.“

Es sortierte seine Musikinstrumente, als wolle er sie geordnet hinterlassen, bevor er Aduruna verlies. „Wer sagt denn, dass ich es sein muss, der geht?“ fragte er dabei, ohne seine Ahnfrau direkt anzusehen. „Du musst nicht hier sein, Mutter Tiamat! Lege deine Form ab und sei wieder das Wasser! Du kannst das, dir fällt das ganz leicht, aber wir deine Kinder können nur in körperlicher Form existieren!“

„Du...“

Ea trat auf seine Ahnherrin zu.

„Du weißt, dass ich Recht habe“, meinte er lächelnd. „Eine so einfache Lösung!“

„Ja“, murmelte Tiamat. „So einfach. Einfach so...“

Und dann verließ sie die schützenden Mauern.

*

In Avatarform durch Tiamat treibend fand Apsu seine Gemahlin so. Sie hielten sich an den Händen, schaukelten im Wasser auf uns nieder und bewunderten, wie schön Aduruna auch von außen aussah. Tiamats Schmerzen verebbten.

„Eigentlich war dieser Ausflug Eas Idee“, gestand sie ihrem Partner. „Er ist sehr klug.“

„So, ist er das? Klüger als mein Mummu?“

Apsu lies sich das Gespräch Wort für Wort wiederholen. Kaum hatte seine Gemahlin zuende gesprochen, das schoss der Urgott voller Wut auf den Palast zu. Doch dort versperrten ihm Nibiru, Zisi und Asar-Alim-Nuna den Weg ins Innere und zu Ea.

„Vater Apsu!“ sprach Zisi auf den Urgott ein, während die anderen beiden den Weg weiterhin blockierten. „Hier kannst du nicht hinein, nicht zu dieser Stunde! Wir musizieren und das können du und unsere Mutter Tiamat doch nicht ertragen!“

Schon öffnete Apsu seinen Mund zum Schrei, da erblickte er seinen Sohn Mummu hinter den drei Nachfahren der weit verzweigten Lahmu-Linie. ‚Keine Raserei’ rief sein Anblick dem Urgott in Erinnerung.

Mummu schritt auf den Ausgang des Palastes zu. Die Wachen teilten sich vor ihm und ließen Apsus Visier zu seinem Herrn hinaus.

Mummu drehte sich noch einmal um.

„Qingu! Kommst du auch?“ rief er über seine Schulter in den Gang hinein.

Als keine Reaktion aus dem Inneren Adurunas erfolgte, rief Mummu ein zweites Mal.

Erst, nachdem Mummu ein drittes Mal gerufen hatte und schon aufgeben wollte, antwortete ihm Qingus Stimme: „Ich bin doch hier.“

Die Götter sahen sich um. Der Urgeborene hockte auf einem Fenstersims, halb im Wasser und halb im Palast. Nun lies er sich vollends in den Ozean gleiten.

„Ich bitte nicht die Jüngeren darum, durch ihr Portal ein- und ausgehen zu dürfen“, erklärte Qingu überheblich, wobei schwer zu sagen war, ob seine Geringschätzung nun Apsu und dem Bruder oder den Lahmuskindern galt. „Nicht, solange ein Fenster denselben Zweck erfüllt.“

Mummu packte den Bruder bei dessen Oberarm.

„Aber wir wollen ja gar nicht hinein! Zumindest nicht jetzt!“ schärfte er ihm ein. „Wir wollen zu unserer Mutter schwimmen, für sie da sein und gemeinsam Rat halten!“

Qingu nickte. „Ich komme mit euch“, erklärte er.

*

Eas Argument fand raschen Anklang bei den Göttern. Sie brachten es von nun an immer wieder vor, wenn sich Apsu oder Tiamat über den Lärm im Palast beklagten. Wieder und wieder schlossen sie ihre Eltern aus den Sälen aus, da diese ja problemlos in den Weltenozeanen, die ihre eigentlichen Leiber waren, existieren konnten, sie hingegen nicht.

„Jemand hat das allen weitergetragen“, knurrte Mummu, während er mit seinem Bruder Qingu gemeinsam außen um den Palast herumschwamm. „Jemand, der Tiamats und Eas Gespräch vorher belauscht hat. Ein heimlicher Beobachter!“

„Ja, kann sein“, erwiderte der andere unverbindlich.

Mummu bremste seine Bewegung. „Das ist nicht gut, Bruder! Sieh nur, dort unten!“

Die beiden Urgeborenen wandten ihre Aufmerksamkeit den Vorgängen am Portal zu ihren Füßen zu. Dort erbat Apsu Einlass in das Gebäude. Es dauerte eine Weile, bis der Avatar des Urgottes den Palastwachen überzeugend auseinandergesetzt hatte, weshalb sie seinem Ansinnen nachgeben sollten.

„Das hat es vorher noch nie gegeben!“ zischte Mummu. Sein Atem war so heiß vor Wut, dass er das Wasser zum Kochen brachte. „Mich lassen sie schon gar nicht mehr allein ein, wenn ich ohne meinen Herrn erscheine. Und Mutter Tiamat...“

„...ist schon drin“, unterbrach Qingu den Bruder mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln. „Die Fenster, weißt du? Komm, dann besuchen wir sie zusammen mit Vater Apsu in ihren Gemächern!“

Doch der Minister wehrte ab: „Nein. Lass ihnen ihre Zweisamkeit!“

*

„Schön, dich noch hier vorzufinden“, begrüßte Apsu seine Gemahlin. „In deinem eigenen Palast...“

Tiamat umfing ihren heimgekehrten Gatten, liebkoste ihn, neckte ihn und vermochte dennoch nicht die Düsternis aus seinen Gedanken zu vertreiben. Waren es denn nicht auch die ihren?

„Ich fühle mich nur noch wie ein tolerierter Gast“, vertraute sie dem Urgott an. „Unsere Nachkommen haben Aduruna in ihren Besitz genommen.“

„Das geht mir ebenso...“

Apsu nuschelte seine Worte in Tiamats Haar, das hier im Trockenen so kraftlos herunterhing. Seine Lust wollte mehr, doch das Herz teilte ihm mit, dass es jetzt nicht um seine Bedürfnisse ging, sondern darum, Tiamat zu trösten. Apsus Hirn aber wusste beizusteuern, dass nicht Trost, sondern einzig eine Lösung des Problems wieder zu einem Zustand führen würde, in dem auch die drängende Lust nicht zu kurz kam.

„Die Kinder müssen verschwinden!“ brach es aus ihm hervor.

Tiamat schüttelte den Kopf.

„Aus Aduruna? Sie werden sich keinen anderen Palast bauen wollen, da sie ja schon unseren haben.“

„Nein! Aus uns! Aus den Ozeanen verschwinden müssen sie! Endgültig! Für immer!“

Durch das Fenster schwappte grünliches Meerwasser in den Raum. Apsu und Tiamat standen in einer Pfütze, bevor sie es sich versahen.

„Das Wichtigste am Lauschen ist, dass man es heimlich tut!“ rügte der vor dem Fenster im Wasser schwebende Qingu seinen Bruder Mummu. Doch der strampelte mit Armen und Beinen und jede seiner Bewegungen spülte weiteres Wasser in den Palast. Qingu versetzte dem Minister einen Stoß, so dass dieser durch die Fensteröffnung ins Gebäudeinnere stürzen musste. Mit einem dumpfen Geräusch und unter weiteren Spritzern kam der Urgeborene auf dem Boden von Tiamats Heim auf. Deutlich eleganter schlängelte sich hingegen Qingu in den Raum.

„Verzeiht“, murmelte Mummu betreten. „Was wir gehört haben, hat mir die Orientierung geraubt. Aber jetzt sehe ich wieder klar.“

„Das geht mir allerdings ebenso“, knurrte Apsu. An seine Gemahlin gewandt wiederholte er seine Absicht, die Kinder aus den Ozeanen und damit in die Nichtexistenz zu verbannen. „Es war ein Fehler, sie so lange in unserer Nähe zu behalten. Wir haben sie gezeugt und durch sie gelernt, wozu wir fähig sind. Aber jetzt benötigen wir sie nicht mehr als Vorbild für unsere Avatarkörper.“

Tiamat schlug ihre Hände vor den Mund. „Apsu!“

Qingu versuchte, an die Seite seiner Mutter zu gelangen, doch Apsu streckte abweisend die Hand vor seinen Körper, um den Weg des Sohnes zu blockieren.

Mummu rappelte sich auf und ergriff im Aufstehen Qingus Beine, dann auch seine Arme. Er hielt den Bruder fest, so dass dieser sich nicht entgegen Apsus Willen der Urgöttin nähern konnte.

Der Avatar des Süßwasserozeans lies seinen Blick auf den beiden jungen Männern ruhen.

„Vielen Dank, mein Minister“, sprach er zu Mummu, um sich dann dem Festgehaltenen zuzuwenden: „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch, als ich dein Spiralhorn durch die Mauer warf?“

Qingu wusste nicht, was er darauf erwidern hätte sollen. Apsus Frage enthielt eine weitere, die der Urgeborene sich nicht zu erschließen vermochte. Daher nickte er nur knapp.

„Du warst so stolz auf eure Kunst, nachzubilden, Qingu. Ganz so, als mache es dich zu mehr als... Abschaum!“

Qingu wand sich in Mummus Griff. Abschaum der Begegnung zweier Urgötter, ja, das und nichts anderes war es ja tatsächlich. Doch die kurze, beredte Pause, die Apsu vor dem Wort eingefügt hatte, fügte der Information eine Wertung hinzu. Qingu stellte in den Augen seines Vaters nicht einfach „Abschaum“, sondern „nur Abschaum“ dar. Der Urgott wollte, dass sein Sohn das verstand, wollte gezielt verletzten. Qingu versuchte, seinen Kopf zu drehen, um einen Blick in Mummus Augen zu erhaschen. Fühlte der Bruder den Schmerz denn gar nicht? Schlimmer noch, wollte der Minister sich wirklich einfach so auslöschen lassen, seine Geschwister und Neffen womöglich noch festhalten, wie er ihn gerade festhielt, bis Apsu sich jeden einzelnen vorgenommen hatte?

„Mummu!“ jammerte Qingu. „Er will uns aus den Ozeanen verbannen! Begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Unser Ende! Wir werden verschwinden! Nicht mehr da sein!“

„Ich bin kein Geschaffener!“ brüllte Apsu. „Ich schaffe, daher kann ich auch zerstören!“

Qingus Muskeln erschlafften. Er sackte im Griff seines Bruders zusammen und da dieser nicht mit einer solche Reaktion gerechnet hatte, verlor er seine Gewalt über den Gefangenen. Qingu brach gänzlich auf dem Boden zusammen. Sein Gesicht kam in der Pfütze zu liegen. Das Wasser benetzte seine Lippen. Es schmeckte salzig...

„Tiamat“, wisperte Qingu. Er rollte sich auf die andere Körperseite, richtete sich in hockende Haltung auf und hob den Kopf. Die salzige Flüssigkeit, durch die er während dieser Bewegung sein Gesicht geschleift hatte, troff nun aus seinen Augen. Erstmalig weinte ein Gott und von diesem Moment an würde er immer wieder dazu fähig sein. Im Weinen flossen die Wasser Tiamats aus ihm heraus, aber auch über seine Haut. Der Akt brachte einen seltsamen Trost mit sich.

„Wie kannst du ihn lieben, Mutter!“ schluchzte Qingu. „Er will uns alle töten!“

Tiamat beugte sich über den Grünblauen.

„Qingu! Qingu, mein Sohn! Das ist doch Unsinn! Niemand wird euch etwas antun!“

Wieder und wieder streichelte die Göttin zärtlich über Qingus Haarschopf, Wangen und Lippen. Erst als seine Tränen verebbten, wandte Tiamat sich ihrem Gemahl zu.

„In deinen Wassern schwimmt kein Leben“, erklärte sie. „Du fühlst es nicht in dir, daher kannst du auch nicht wissen, was du sagst, wenn du verlangst, die Kinder abzu-schaffen.“

Apsu lächelte. Mummus Treue und Qingus Verzweiflung hatten ihm eine bisher unbekannte Genugtuung verschafft. In dieser Stimmung war er bereit, seiner Gemahlin entgegenzukommen.

„Du sprichst du Wahrheit“, erklärte der Urgott. „Das Leben spüre ich nicht in mir. Aber ich fühle dein Leid. Die Kinder tun es nicht, aber ich. Mir bist du Wichtigste in der Welt und deswegen will ich mein Vorhaben aufschieben.“

Der noch immer am Boden hockende Qingu streckte seine Hand nach oben aus. Mummu ergriff sie und drückte sie fest. ‚Doch, ich habe ebenfalls Angst gehabt’, vermittelte diese Geste dem Grünblauen.

Doch noch war die Krise nicht ausgestanden. Apsu richtete seine Hand auf die Brüder. „Im Apsu ist von dieser Stunde an kein Abschaum mehr willkommen! Wisst das und tragt es euren Verwandten in allen Generationen weiter!“

*

„Am Apsu haben sie kein Interesse!“

„Wie bitte?“

In Begleitung seines Visiers Mummu verlies Apsu am Ende seines Besuchs bei Tiamat den Palast. Was der Minister zu sagen hatte, lies seinen Herrn allerdings stocken.

„Erklär dich!“ forderte er.

„Die Strafe, die du über deine Kinder verhängt hast“, kam Mummu auf das Tage zurückliegende Urteil zu sprechen, „schreckt sie nicht. Am Aufenthalt im Apsu haben sie kein Interesse. Nur am Palast.“

„Das ist leider wahr“, seufzte Apsu.

„Mutter Tiamat dauert mich“, erklärte Mummu. „Aber wie ich ihr helfen könnte, weiß ich nicht.“

Der Urgeborene wählte seine Worte mit Vorsicht. Seine Gefühle als Sohn Tiamats waren die eine Sache, wie er sie dem Vater vortrug eine ganz andere. Apsu erfreute sich an der Unterordnung seiner Kinder, daher durfte Mummu auch nur jene Gefühle frei schildern, die nicht infrage stellten, dass es ohne Zweifel der Vater war, der am stärksten litt, am innigsten liebte und von allen Göttern im Salzwasserozean am mächtigsten war.

„Aber du wusstest es bereits kurz nach deiner Ankunft“, fuhr Mummu fort. „Und solltest bei deinem einmal gefassten Plan bleiben.“

Eine einzelne Träne rann Apsus Wange herunter. „Mein Sohn! Mein wohlgeratener Sohn!“ lobte er den Visier. „Mein Sohn, der so anders ist als die Brut der Lahmuskinder!“

„Ich bin nicht der einzige“, wagte Mummu zu erwidern. „Urgeborene jeden Alters stehen auf Tiamats Seite. Aber unsere Worte gehen vor dem Lärmen von Eas degenerierter Bande unter. Selbst vereint kommt unsere Macht deiner nicht gleich.“

Apsu bedeutete seinem Minister, den Lauf wieder aufzunehmen. „Diese meine Macht“, fragte er, kaum, dass die beiden im offenen Wasser standen, „Warum rätst du mir zu, sie gegen euch zu entfesseln? Was erhoffst du dir davon?“