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Die Geflüchteten E-Book

Viet Thanh Nguyen

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Beschreibung

Menschen im Transitzustand

Ein junger vietnamesischer Geflüchteter gerät in den späten Siebzigerjahren in eine Schwulen-WG in San Francisco und erleidet einen profunden Kulturschock; ein dementer Physikprofessor beginnt, seine Frau mit einer Geliebten aus der alten Heimat zu verwechseln; eine junge Frau besucht ihre Halbgeschwister in Ho-Chi-Minh-Stadt und gibt vor im Einwanderungsland Amerika erfolgreicher zu sein, als sie eigentlich ist.

Dieser Band versammelt acht Erzählungen über Menschen, die in den Monaten und Jahren nach dem Fall von Saigon aus Vietnam geflüchtet sind und versuchen, in Amerika eine neue Heimat zu finden.

Ein fesselndes Zeugnis der universellen Erfahrung von Verlust, Flucht, Vertreibung und der Suche nach der eigenen Identität.

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Seitenzahl: 319

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Zum Buch

Ein junger vietnamesischer Geflüchteter gerät in den späten Siebzigerjahren an ein schwules Paar und erleidet einen profunden Kulturschock; ein Physikprofessor mit Demenz im Frühstadium beginnt seine Frau mit einer Geliebten aus der alten Heimat zu verwechseln; eine junge Frau besucht ihre Halbgeschwister in Ho-Chi-Minh-Stadt und gibt vor, im Einwanderungsland Amerika erfolgreicher zu sein, als sie eigentlich ist.

Die acht Erzählungen, die dieser Band versammelt, erzählen von Menschen, die in den Monaten und Jahren nach dem Fall von Saigon aus Vietnam geflüchtet sind und versuchten, in Amerika eine neue Heimat zu finden.

Stilistisch brillant und scharf beobachtet, beschreiben diese Geschichten die Sehnsüchte jener, die ihr Herkunftsland verlassen müssen, um woanders neu anzufangen, das Leben zwischen zwei Welten, die Hoffnungen und Härten, die mit der Migration verbunden sind, und den Wunsch nach Verortung und Selbstverwirklichung, der unser aller Leben prägt. Ein fesselndes Zeugnis der universellen Erfahrung von Verlust, Flucht, Vertreibung und der Suche nach der eigenen Identität.

Zum Autor

Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt »Der Sympathisant« (Blessing 2017) erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award.

VIET   THANH   NGUYEN

DIE   GEFLÜCHTETEN

ERZÄHLUNGEN

Aus dem Amerikanischen

von Wolfgang Müller

BLESSING

Originaltitel: The Refugees

Originalverlag: Grove Press, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Viet Thanh Nguyen

Copyright © 2018 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München, unter Verwendung einer Illustration von © Shutterstock/Dooder

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-23466-9V002

www.blessing-verlag.de

Für alle Geflüchteten, überall.

INHALT

SCHWARZÄUGIGE FRAUEN

DER ANDERE MANN

KRIEGSJAHRE

DIE TRANSPLANTATION

I’D LOVE YOU TO WANT ME

DIE AMERIKANER

JEMAND ANDERS

VATERLAND

DANKSAGUNGEN

Ich habe dieses Buch für

die Geister geschrieben, die,

weil sie außerhalb der Zeit stehen,

die Einzigen sind, die Zeit haben.

Roberto Bolaño, Antwerp

Es sind nicht die Erinnerungen,

die dich heimsuchen.

Es ist nicht, was du geschrieben hast.

Es ist das, was du vergessen hast,

was du vergessen musst.

Was du weiter vergessen musst

dein ganzes Leben lang.

James Fenton, Ein deutsches Requiem

SCHWARZÄUGIGE FRAUEN

SCHWARZÄUGIGE FRAUEN

Da erlangt jemand Berühmtheit. Üblicherweise eine Art Berühmtheit, wie sie sich kein zurechnungsfähiger Mensch wünschen würde – jahrelange Gefangenschaft infolge einer Entführung oder ein demütigender Sexskandal oder weil er etwas überlebt hat, was man normalerweise nicht überlebt. Diese Überlebenden brauchen jemanden, der ihnen beim Schreiben ihrer Memoiren hilft, und ihre Agenten stoßen manchmal auf mich. »Wenigstens taucht so dein Name nirgends auf«, sagte meine Mutter einmal. Als ich erwiderte, dass ich gegen eine Erwähnung in den Danksagungen nichts einzuwenden hätte, sagte sie: »Ich erzähle dir jetzt mal eine Geschichte.« Diese Geschichte sollte ich nun zum ersten, aber nicht zum letzten Mal hören. »In unserer Heimat«, sagte sie, »gab es einen Reporter, der behauptete, die Regierung würde Menschen im Gefängnis foltern. Also macht die Regierung genau das mit ihm, von dem er behauptete, dass sie es mit anderen Menschen machen würde. Sie lassen ihn verschwinden, und er taucht nie wieder auf. Genau das passiert Schriftstellern, die ihre Namen irgendwo draufschreiben.«

Als Victor Devoto sich für mich entschied, hatte ich mich schon damit abgefunden, dass mein Name nicht auf Buchumschlägen auftauchte. Sein Agent hatte ihm ein Buch gegeben, das ich als Ghostwriterin für den Vater eines Jungen geschrieben hatte, der in seiner Schule mehrere Menschen erschossen hatte. »Ich kann nachempfinden, dass der Vater sich schuldig fühlt«, sagte Victor zu mir. Er war der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes, bei dem einhundertdreiundsiebzig Menschen gestorben waren, darunter seine Frau und seine Kinder. Er tingelte durch die Talkshows, war dabei zwar körperlich anwesend, aber ansonsten war nicht mehr viel von ihm übrig. Er sprach mit leiser und monotoner Stimme, und in seinen Augen, wenn sie denn aufblickten, schienen sich die Silhouetten trauernder Menschen versammelt zu haben. Sein Verleger sagte, er müsse seine Geschichte unbedingt erzählen, solange das Publikum sich noch an die Tragödie erinnere. Und genau damit war ich beschäftigt an dem Tag, als mein toter Bruder zu mir zurückkehrte.

Draußen war es noch ganz dunkel, als meine Mutter mich weckte. »Keine Angst«, sagte sie.

Das Licht im Flur, das durch die offene Tür hereindrang, blendete mich. »Warum sollte ich Angst haben?«

Als sie den Namen meines Bruders nannte, dachte ich nicht an meinen Bruder. Er war schon vor langer Zeit gestorben. Ich schloss die Augen und sagte, ich würde niemanden kennen, der so heißt. Aber sie ließ nicht locker. »Er ist zu Besuch gekommen«, sagte sie, zog mir die Bettdecke weg und rüttelte mich an der Schulter, bis ich schließlich aufstand, die Augen noch halb geschlossen. Sie war dreiundsechzig, ab und zu verwirrt, und als sie mich ins Wohnzimmer führte und aufschrie, überraschte mich das nicht. »Genau hier hat er gestanden.« Sie kniete im Baumwollpyjama neben ihrem geblümten Lehnstuhl und betastete den Teppich. »Nass.« Auf allen vieren folgte sie der Spur bis zur Haustür. Ich berührte den Teppich ebenfalls, er war feucht. Einen Augenblick lang war ich verunsichert. Es war vier Uhr morgens, und eine unheilvolle Stille erfüllte das Haus. Dann hörte ich den Regen in der Dachrinne, und die Angst, die mich im Nacken gepackt hatte, lockerte ihren Griff. Meine Mutter hatte wahrscheinlich die Tür geöffnet, war nass geworden und dann wieder ins Haus gegangen. Mit der Hand am Griff kauerte sie vor der Tür. Ich kniete mich neben sie auf den Boden und sagte: »Das bildest du dir ein.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.« Sie stieß meine Hand von ihrer Schulter und stand auf. Ihre dunklen Augen funkelten vor Zorn. »Er ist hereingekommen. Er hat geredet, und er wollte dich sprechen.«

»Und, Mama, wo ist er jetzt?« Sie seufzte, als sei ich diejenige, die das Offensichtliche nicht kapierte. »Er ist ein Geist, oder?«

Seit dem Tod meines Vaters ein paar Jahre zuvor lebten meine Mutter und ich artig zusammen. Wir teilten die Leidenschaft für Worte, allerdings zog ich die Stille des Schreibens vor, während sie es liebte zu reden. Sie fütterte mich unablässig mit Klatsch und Geschichten, von denen ich nur eine Sorte mochte: die über meinen Vater, als er noch der Mann gewesen war, den ich nicht kannte, jung und glücklich. Außerdem erzählte sie gern Horrorgeschichten wie die eine über den Reporter, mit der Moral, dass sich das Leben, genauso wie die Polizei, gelegentlich einen Spaß daraus macht, auf einen einzudreschen. Und schließlich waren da noch ihre Lieblingsgeschichten, sie handelten von Geistern, und ein paar davon hatte sie sogar selbst erlebt.

»Tante Six ist mit sechsundsiebzig an einem Herzanfall gestorben«, erzählte sie mir einmal, zweimal, vielleicht dreimal. Sich zu wiederholen gehörte zu ihren Angewohnheiten. Ich nahm ihre Geschichten nicht ernst. »Sie lebte in Vung Tau, wir lebten in Nha Trang. Ich trug gerade das Essen auf, da sah ich Tante Six in ihrem Nachthemd am Tisch sitzen. Die langen grauen Haare, die sie sonst zu einem Knoten zusammengebunden hatte, fielen ihr offen auf die Schultern und ins Gesicht. Fast hätte ich das Geschirr fallen lassen. Als ich sie fragte, was sie hier mache, lächelte sie nur. Dann stand sie auf, küsste mich, fasste mich an den Schultern und drehte mich zur Küche. Als ich mich wieder umwandte, war sie verschwunden. Es war ihr Geist gewesen. Ich rief den Onkel an, und er bestätigte es mir. Sie war am Morgen in ihrem Bett gestorben.«

Laut meiner Mutter hatte Tante Six einen schönen Tod gehabt, zu Hause, im Kreis ihrer Familie. Ihr Geist hatte einfach eine Runde gedreht, um sich zu verabschieden. An dem Morgen, als meine Mutter behauptete, sie habe meinen Bruder gesehen, ihren Sohn, wiederholte sie am Küchentisch diese Geschichte. Ich hatte ihr eine Kanne grünen Tee gekocht und gegen ihren Willen ihre Temperatur gemessen. Sie war normal, wie sie es prophezeit hatte. Sie fuchtelte mir mit dem Thermometer vor dem Gesicht herum und erzählte, er sei wahrscheinlich verschwunden, weil er müde gewesen sei. Schließlich hätte er gerade eine Reise von mehreren Tausend Meilen hinter sich gehabt.

»Und wie ist er hergekommen?«

»Er ist geschwommen.« Sie sah mich mitleidig an. »Deshalb war er nass.«

»Ein exzellenter Schwimmer war er ja«, sagte ich spöttisch. »Wie hat er ausgesehen?«

»Genau wie damals.«

»Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Er hat sich überhaupt nicht verändert?«

»Sie sehen immer genau so aus wie zu dem Zeitpunkt, als man sie das letzte Mal gesehen hat.«

Ich erinnerte mich daran, wie er beim letzten Mal ausgesehen hatte, und sofort verging mir jeglicher Spott. Der fassungslose Gesichtsausdruck, die weit geöffneten Augen, die nicht einmal zuckten, als ihm die zersplitterte Planke des Bootsdecks gegen die Wange drückte – ich wollte ihn nicht wiedersehen, wenn es denn überhaupt irgendetwas oder irgendwen zu sehen geben sollte. Nachdem meine Mutter zu ihrer Schicht ins Nagelstudio gegangen war, versuchte ich vergeblich, wieder einzuschlafen. Wenn ich meine Augen schloss, starrten mich seine an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht hatte. Ich hatte mich lange bemüht, ihn zu vergessen, brauchte aber nur um eine Ecke zu biegen – in der Welt wie in meinem Kopf –, um ihm, meinem besten Freund, zufällig zu begegnen. Seit ich denken kann, habe ich ihn draußen vor dem Haus meinen Namen rufen hören. Das war das Signal für mich, ihm zu folgen, auf den Wegen und durch die Gassen unseres Dorfes, durch die Jackfrucht- und Mangohaine, um die zerfetzten Palmen und Bombenkrater herum, zu den Deichen und Feldern. So sah damals eine normale Kindheit aus.

Rückblickend wurde mir jedoch klar, dass wir unsere Jugend in einem heimgesuchten Land verbracht hatten. Unser Vater war eingezogen worden, und wir fürchteten, dass er nie mehr zurückkehren würde. Bevor er ging, hatte er neben unserem Haus einen Luftschutzraum gegraben, einen Bunker mit einem Dach aus Sandsäcken, das von Holzbalken abgestützt wurde.

Obwohl es drinnen heiß und stickig war, nach feuchter Erde roch und von Würmern wimmelte, spielten wir als Kinder oft dort. Als wir älter waren, gingen wir zur Schule und erzählten Geschichten. Ich war die beste Schülerin an der ganzen Schule, so exzellent, dass mein Lehrer mir nachmittags Englischstunden gab. Die Lektionen gab ich an meinen Bruder weiter, der mir dafür Märchen, Sagen und Klatschgeschichten erzählte. Wenn wir mit unserer Mutter im Bunker kauerten, während Flugzeuge über unsere Köpfe hinwegkreischten, flüsterte er mir zur Ablenkung Geistergeschichten ins Ohr. Nur behauptete er eisern, dass es keine Geistergeschichten waren, sondern historische Berichte aus zuverlässigen Quellen, sprich: von uralten Weibern, die in der Hocke auf dem Markt saßen, Betelnüsse kauten und roten Saft ausspuckten, während sie ihre Kohleöfen oder Warenkörbe bewachten. Zu den festen Bewohnern unseres Landes, so sagten sie, gehörten die obere Hälfte eines koreanischen Leutnants, die eine Mine in die Zweige eines Gummibaumes katapultiert hatte, ein skalpierter schwarzer Amerikaner, der nicht weit von seinem abgeschossenen Hubschrauber in einem Bach trieb und dessen Augen und frei liegende Hirnsichel im Wasser glitzerten, und ein enthaupteter japanischer Gefreiter, der im Maniokgebüsch nach seinem Kopf tastete. Diese Invasoren hatten unser Land erobert und würden nie wieder abziehen, sagten die alten Damen und entblößten dabei kichernd ihre lackierten Zähne. Jedenfalls sagte das mein Bruder. Ich kauerte im Halbdunkel und zitterte vor Vergnügen, als würde ich den schwarzäugigen Frauen selbst lauschen, und es kam mir vor, als würde ich solche Geschichten nie erzählen können.

Blanke Ironie also, dass ich meinen Lebensunterhalt als Ghostwriterin verdiente? Diese Frage stellte ich mir selbst, als ich mitten am Tag im Bett lag, aber die schwarzäugigen und schwarzzahnigen Frauen hörten mich. Das nennst du Leben? Sie lachten mich zähneklappernd aus. Ich zog mir die Decke bis zur Nase hoch, wie ich es in den ersten Jahren in Amerika getan hatte, wenn nicht nur im Flur finstere Gestalten lauerten, sondern auch draußen auf der Straße. Aus Angst vor unseren jungen Landsleuten, die im Krieg schon als Kinder Gewalt kennengelernt hatten, lugten meine Mutter und mein Vater immer erst durch den Wohnzimmervorhang, bevor sie die Tür öffneten. »Mach nie jemandem die Tür auf, den du nicht kennst«, warnte mich meine Mutter, einmal, zweimal, dreimal. »Wir wollen nicht enden wie die Familie, die man mit vorgehaltener Pistole gefesselt hat. Sie haben auf dem Baby so lange Zigaretten ausgedrückt, bis die Mutter ihnen gezeigt hat, wo das Geld versteckt war.« Meine amerikanische Jugend war voller solcher Leidensgeschichten, mit denen meine Mutter zum Ausdruck brachte, dass wir nicht hierhergehörten. In einem Land, wo Besitz alles galt, hatten wir nichts als unsere Geschichten.

Es war dunkel draußen, als ein Klopfen mich weckte. Meine Uhr zeigte 18:35 Uhr. Es klopfte wieder. Leise, zaghaft. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich wusste, wer da klopfte. Für alle Fälle hatte ich die Schlafzimmertür abgeschlossen. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf, mein Herz raste. Ich wollte, dass er wegging, aber als er am Türgriff rüttelte, wusste ich, dass mir nichts übrig blieb, als aufzustehen. Mit einer Gänsehaut stand ich in Habachtstellung vor der Tür und starrte auf den heftig zitternden Türgriff. Ich rief mir in Erinnerung, dass er sein Leben für mich gegeben hatte. Die Tür zu öffnen war das Mindeste, was ich tun konnte.

Er war aufgedunsen und bleich, das Haar fedrig, die Haut dunkel. Die knochigen Arme und Beine steckten in schwarzen Shorts und einem zerlumpten grauen T-Shirt. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er einen Kopf größer gewesen als ich. Jetzt war es umgekehrt. Er sagte meinen Namen mit heiserer, rauer Stimme, die überhaupt nichts mehr von ihrem jugendlichen Alt hatte. Seine Augen waren allerdings noch die gleichen, so neugierig wie damals, ebenso die leicht geöffneten, immer sprechbereiten Lippen. An der linken Schläfe glänzte eine lila, ins Schwarze spielende Beule; das Blut, an das ich mich erinnerte, war verschwunden, wahrscheinlich abgewaschen von Salzwasser und Unwettern. Er war tropfnass, obwohl es nicht regnete. Ich konnte das Meer riechen, und ich konnte, was schlimmer war, das Boot riechen, den widerlichen Gestank von menschlichem Schweiß und menschlichen Exkrementen.

Als er meinen Namen sagte, zitterte ich, auch wenn er der Geist von jemandem war, den ich liebte und dem ich niemals etwas antun würde, die Art von Geist, die laut meiner Mutter auch mir nichts antun würde. »Komm rein«, sagte ich und kam mir dabei sehr mutig vor. Ohne sich zu rühren, schaute er nach unten, wo das Wasser von seinem Körper auf den Teppich tropfte. Ich holte ihm ein sauberes T-Shirt und saubere Shorts und ein Handtuch. Er schaute mich erwartungsvoll an, bis ich mich umdrehte, damit er sich umziehen konnte. Die Sachen waren die kleinsten, die ich hatte, aber immer noch eine Nummer zu groß für ihn. Das T-Shirt war riesig, die Shorts reichten ihm bis zu den Knien. Ich winkte ihn herein, und diesmal folgte er meiner Aufforderung und setzte sich auf mein zerwühltes Bett. Er wich meinem Blick aus. Anscheinend hatte er mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Er war immer noch fünfzehn und ich schon achtunddreißig und nicht mehr das quirlige, kaum zu bändigende Mädchen von damals. Inzwischen machte ich nur noch widerwillig den Mund auf, außer ich hatte einen Grund, zum Beispiel, wenn ich Victor interviewte. Mein Dasein als Autorin, und sei es eine der dritten oder vierten Garnitur, verlangte nach einer Etikette, der ich gerecht werden konnte. Aber was fragt man einen Geist, außer, warum er da ist? Ich hatte Angst vor der Antwort, also fragte ich stattdessen: »Warum hast du so lange gebraucht?«

Er schaute auf meine nackten Füße mit ihren nackten Fußnägeln. Vielleicht spürte er, dass ich mit Kindern nicht so gut konnte. Mutterschaft war mir zu intim, ebenso Beziehungen, die länger als eine Nacht dauerten.

»Du musstest schwimmen. Dauert lange, so weit zu schwimmen, oder?«

»Ja.« Sein Mund blieb offen stehen, als wollte er noch etwas sagen, wüsste aber nicht, was oder wie er es ausdrücken sollte. Vielleicht war diese Geistererscheinung die erste Folge dessen, was meine Mutter als meine widernatürliche Veranlagung zum kinderlosen Single betrachtete. Vielleicht war sie keine Ausgeburt meiner Fantasie, sondern ein Symptom von etwas Falschem, wie der Krebs, der meinen Vater getötet hatte. Auch er hatte laut meiner Mutter einen schönen Tod gehabt, zu Hause, im Kreis seiner Familie, nicht so wie ihr Sohn oder fast auch ich. Als aus dem bodenlosen, mit Beton versiegelten Brunnen in meinem Innern Panik zu quellen begann, hörte ich erleichtert, dass die Haustür sich öffnete. »Mutter will dich bestimmt sehen«, sagte ich. »Warte einen Moment. Ich bin gleich wieder da.«

Als wir zurückkamen, fanden wir nur seine nassen Sachen und das nasse Handtuch. Sie hielt das graue T-Shirt hoch, das er auf dem blauen Boot mit den roten Augen getragen hatte.

»Jetzt weißt du es«, sagte meine Mutter. »Drehe einem Geist nie den Rücken zu.«

Die schwarzen Shorts und das graue T-Shirt stanken nach Salzwasser und trieften vor Nässe, doch dass sie so schwer waren, lag nicht nur daran. Ich spürte ihr Gewicht in meinen Händen wie das von Beweismitteln, als ich sie in die Küche brachte. Zu Dutzenden Gelegenheiten hatte ich diese Sachen an meinem Bruder gesehen. Ich erinnerte mich an die Shorts, als sie nicht schwarz vor Dreck, sondern noch makellos blau, und an das T-Shirt, als es nicht grau und zerlumpt, sondern noch weiß und gepflegt gewesen war. »Glaubst du mir jetzt?«, sagte meine Mutter und öffnete die Klappe der Waschmaschine. Ich zögerte. Manche Menschen behaupten, der Glaube würde in ihrem Innern ein Feuer entfachen, aber mein neu entdeckter Glaube ließ mich frösteln. »Ja«, sagte ich. »Ich glaube dir.«

Die Maschine brummte im Hintergrund, während wir uns zum Essen an den Küchentisch setzten. Es roch himmlisch nach Sternanis und Ingwer. »Deshalb hat es so viele Jahre gedauert«, sagte meine Mutter und blies auf ihre heiße Suppe. Nichts hatte ihr jemals den Appetit verdorben oder den gusseisernen Magen verbeult, nicht einmal die Ereignisse auf dem Boot oder die Geistererscheinung ihres Sohnes. »Er ist den ganzen Weg geschwommen.«

»Tante Six hat fast tausend Kilometer entfernt gelebt, und die hast du am selben Tag gesehen.«

»Geister leben nicht nach unseren Regeln. Jeder Geist ist anders. Gute Geister, böse Geister, glückliche Geister, traurige Geister. Geister von Menschen, die im Alter sterben, die in der Jugend sterben, die als Kinder sterben. Glaubst du etwa, dass sich Babygeister genauso benehmen wie Großvatergeister?«

Ich wusste nichts über Geister. Ich hatte nicht an Geister geglaubt, und auch niemand, den ich kannte, glaubte daran, außer meine Mutter und Victor, der mir selbst geisterhaft vorkam. Der brennende Kummer hatte ihn bleich und fast durchsichtig werden lassen, das einzig Farbige an ihm war ein ungekämmter roter Haarschopf. Aber selbst er kam auf das Jenseitige nur zweimal zu sprechen, einmal am Telefon und einmal in seinem Wohnzimmer. Seit dem Tag, an dem seine Familie zum Flughafen gefahren war, hatte er nichts in der Wohnung angerührt, nicht einmal den kummervollen Staub. Ich hatte den Eindruck, die Fenster seien seit diesem Tag nicht mehr geöffnet worden, als wolle er die verbrauchte Luft konservieren, die seine Frau und seine Kinder geatmet hatten, bevor sie weit entfernt von zu Hause einen unschönen Tod starben. »Die Toten ziehen weiter«, hatte er gesagt. Er saß zusammengesunken, die Hände zwischen den Oberschenkeln, in seinem Lehnstuhl. »Aber wir, die Lebenden, wir bleiben einfach hier.«

Mit diesen Worten begann sein letztes Kapitel, an dem ich arbeitete, nachdem meine Mutter schlafen und ich hinunter in den von Neonröhren grell erleuchteten Kellerraum gegangen war. Ich schrieb einen Satz und hielt dann inne, um auf ein Klopfen oder einen Schritt auf der Treppe zu lauschen. Ein bewährter Rhythmus begleitete mich, Nacht für Nacht. Ich schrieb ein paar Zeilen, dann wartete ich auf etwas, was nicht kam.

Der Abschluss von Victors Memoiren stand kurz bevor, als meine Mutter vom Nagelstudio zurückkam. Sie hatte zwei Einkaufstüten aus Chinatown dabei, die eine voller Lebensmittel, die andere mit Unterwäsche, einem Pyjama, einer Jeans, einer Jeansjacke, einer Packung Socken, Wollhandschuhen und einer Baseballkappe. Nachdem sie die Sachen ausgepackt und neben das T-Shirt und die Shorts gelegt hatte, die nun trocken und gebügelt waren, sagte sie: »Mit den Sachen von dir kann man ihn doch nicht raus in die Kälte lassen, da sieht er ja aus wie ein Obdachloser oder illegaler Einwanderer.« Als ich sagte, dass ich das so noch gar nicht gesehen hätte, schnaubte sie verärgert über meine Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen eines Geistes. Erst nach dem Essen wurde sie wieder etwas umgänglicher. Ihre Laune hatte sich gebessert, weil ich mich nicht wie üblich in meinen Kellerraum zurückgezogen hatte, sondern mit ihr eine der Seifenopern anschaute, die sich um schöne koreanische, in Liebesdinge verstrickte Menschen drehten und die sie sich stapelweise auslieh. »Wenn der Krieg nicht gewesen wäre«, sagte sie an jenem Abend so wehmütig, dass ich näher an sie heranrückte, »dann wären wir heute wie die Koreaner. Saigon wäre Seoul, dein Vater wäre noch am Leben, du wärst verheiratet und hättest Kinder, ich wäre eine Hausfrau im Ruhestand und keine Nagelpflegerin.« Sie hatte Lockenwickler im Haar, und in ihrem Schoß hielt sie ein Schälchen Wassermelonenkerne. »Ich würde Freunde besuchen, und Freunde würden mich besuchen, und nach meinem Tod würden hundert Leute zu meiner Beerdigung kommen. Hier kann ich von Glück sagen, wenn zwanzig kommen, und du wirst dich darum kümmern müssen. Das macht mir mehr Angst als alles andere. Du vergisst sogar, den Müll rauszubringen oder Rechnungen zu bezahlen. Du würdest das Haus nicht mal verlassen, um Essen einzukaufen.«

»Ich würde nie vergessen, mich um deine Seele zu kümmern.«

»Wann würdest du die Totenwache halten? Wann würde die Feier zu meinem Todestag stattfinden? Was würdest du sagen?«

»Schreib mir auf, was ich sagen soll«, sagte ich.

»Dein Bruder hätte gewusst, was zu tun ist«, sagte sie. »Dafür sind Söhne da.«

Darauf hatte ich keine Antwort.

Als er um elf immer noch nicht aufgetaucht war, legte sich meine Mutter schlafen. Ich ging wieder in meinen Kellerraum und versuchte zu schreiben. Schreiben hieß, sich im Nebel einen Weg aus dieser Welt in die überirdische Welt der Worte zu ertasten, einen Weg, der an manchen Tagen leicht zu finden war, an anderen weniger leicht. Während ich durch den Dunst stolperte, lauerte der Fragepapagei auf meiner Schulter und wollte wissen, wie es gekommen sei, dass ich lebte und er tot war. Ich war jünger und schwächer, und doch war es mein Bruder, den wir bestatteten und ohne Leichenhemd oder ein Wort von mir in den Ozean gleiten ließen. Ich erinnerte mich an das Wehklagen meiner Mutter und das Schluchzen meines Vaters, aber weder das eine noch das andere übertönte mein Schweigen. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, ein paar Worte zu sagen, ihn zurückzurufen, wie er es wahrscheinlich gewollt hatte, aber mir fiel nichts ein. Als ich schon glaubte, eine weitere Nacht würde vergehen, ohne dass er zurückkäme, hörte ich es oben an der Treppe klopfen. Ich glaube es, ermahnte ich mich. Ich glaube, dass er mir nie etwas antun würde.

»Du brauchst nicht anzuklopfen«, sagte ich, nachdem ich die Tür geöffnet hatte. »Das ist auch dein Zuhause.«

Er schaute mich bloß an, und wir verfielen in ein verlegenes Schweigen. Dann sagte er: »Danke.« Seine Stimme war jetzt kräftiger, fast so, wie ich sie in Erinnerung hatte, und diesmal schaute er nicht weg. Er trug noch das T-Shirt und die Shorts, die ich ihm gegeben hatte, aber als ich ihm die Sachen zeigte, die unsere Mutter für ihn gekauft hatte, sagte er: »Die brauche ich nicht.«

»Du hast immer noch die Sachen von mir an.«

Er schwieg so lange, dass ich schon glaubte, er habe mich nicht gehört.

»Wir tragen das nur für die Lebenden«, sagte er schließlich. »Nicht für uns.«

Ich führte ihn zur Couch. »Du meinst Geister?«

Er setzte sich neben mich und dachte über meine Frage nach, bevor er antwortete.

»Wir haben doch immer gewusst, dass es Geister gibt«, sagte er.

»Ich war mir nicht so sicher.« Ich nahm seine Hand. »Warum bist du zurückgekommen?«

Sein Blick beunruhigte mich. Er hatte noch nicht einmal geblinzelt.

»Ich bin nicht zurückgekommen«, sagte er. »Ich bin hierhergekommen.«

»Du hast die Welt noch nicht verlassen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

Wieder schwieg er. Schließlich sagte er: »Was meinst du?«

Ich schaute weg. »Ich habe versucht zu vergessen.«

»Aber du hast es nicht geschafft.«

»Ich kann nicht.«

Ich hatte das namenlose blaue Boot nicht vergessen, und es hatte auch mich nicht vergessen. Die auf beiden Seiten aufgemalten roten Augen hatten nie aufgehört, mich niederzustarren. Nach vier ereignislosen Tagen bei ruhiger See, blauem Himmel und klaren Nächten tauchten schließlich wie schwarze Stickereien am weit entfernten Horizont Inseln auf. Zur gleichen Zeit erschien in der Ferne ein anderes Schiff, das auf uns zuhielt. Es war schnell, und wir waren langsam, ein mit über hundert Menschen beladenes Fischerboot, das eigentlich nur für eine Bootsmannschaft und eine Ladung kalter Makrelen gebaut war. Mein Bruder brachte mich in den engen Maschinenraum mit dem keuchenden Motor, klappte sein Taschenmesser auf und schnitt mir die langen Haare zu einer kurzen, fransigen Jungenfrisur, die ich noch immer trug. »Und kein Wort«, sagte er. Er war fünfzehn, und ich war dreizehn. »Du hast immer noch eine Mädchenstimme. Und jetzt zieh dein Hemd aus.«

Ich tat immer, was er sagte. In diesem Fall schüchtern, auch wenn er mich kaum anschaute, während er das Hemd in Streifen riss. Er wickelte sie um meine noch kaum erkennbaren Brüste, zog dann sein eigenes Hemd aus, streifte es mir über und knöpfte es zu. Er trug jetzt nur noch sein zerlumptes T-Shirt. Dann schmierte er mir Maschinenöl ins Gesicht, und wir kauerten uns in eine dunkle Ecke und warteten, bis die Piraten kamen. Diese Männer ähnelten unseren Vätern und Brüdern, sie waren drahtig und braun gebrannt, nur dass sie Macheten und Maschinengewehre trugen. Wir gaben ihnen unser Gold, unsere Uhren, Ohrringe und Eheringe, unseren Jadeschmuck. Dann griffen sie sich die halbwüchsigen Mädchen und jungen Frauen, es waren etwa ein Dutzend, und erschossen einen Vater und einen Ehemann, die dagegen aufbegehrt hatten. Alle verstummten, bis auf die, die sie verschleppten. Sie schrien und kreischten. Ich kannte keine von ihnen, es waren Mädchen aus anderen Dörfern, und das machte es mir leichter, dafür zu beten, verschont zu werden. Ich klammerte mich an den Arm meines Bruders. Erst als die Piraten das letzte Mädchen an Deck ihres Schiffes geworfen hatten und selbst an Bord geklettert waren, konnte ich wieder atmen.

Der letzte Mann schaute mich an, bevor er von Bord ging. Er war etwa so alt wie mein Vater. Seine Nase glich einem sonnenverbrannten Schweinsfuß, er roch nach einer Mischung aus Schweiß und Fischgedärm. Dieser kleine Mann, der ein bisschen unsere Sprache sprach, trat auf mich zu und hob mein Kinn. »Du bist ein gut aussehender Junge«, sagte er. Nachdem mein Bruder mit seinem Taschenmesser zugestochen hatte, standen wir drei einen Augenblick lang stumm da und schauten verwundert auf die blutige Klinge, bis der kleine Mann vor Schmerz aufheulte, ausholte und mit dem Kolben seines Maschinengewehrs hart auf den Kopf meines Bruders einschlug. Das Knacken konnte ich noch immer hören. Mit der Wucht toten Gewichts fiel mein Bruder um. Blut lief über seine Stirn; Kinn und Schläfe prallten mit einem grässlichen dumpfen Knall, der in meiner Erinnerung immer noch nachhallte, auf das hölzerne Deck.

Ich berührte die Beule. »Tut es weh?«

»Nicht mehr. Tut es dir noch weh?«

Einmal mehr tat ich so, als dächte ich über eine Frage nach, deren Antwort ich schon kannte. »Ja«, sagte ich schließlich. Als der kleine Mann mich aufs Deck warf, schlug ich mit dem Hinterkopf auf und bekam eine Beule. Als er mein Hemd zerriss, kratzte er mir mit seinen scharfen Fingernägeln die Haut blutig. Als ich mein Gesicht abwandte und meine Mutter und meinen Vater schreien sah, schien mein Trommelfell zerfetzt zu sein, denn ich konnte nichts hören. Auch als ich selbst schrie, konnte ich nichts hören, obwohl ich spürte, dass mein Mund sich öffnete und schloss. Die Welt war stumm und blieb es fortan, für meine Mutter und meinen Vater und mich. Keiner von uns verlor jemals wieder ein Wort über diese Sache. Ihr und mein Schweigen versetzte mir wieder und wieder einen Stich. Nichts davon, und auch nicht das Gewicht des Mannes auf meinem Körper, war es jedoch, was mich am meisten schmerzte. Es war das Licht, das in meine dunklen Augen schien, als ich nach oben schaute und sah, wie sich die glimmende Zigarette Gottes am Himmel auf mich zu bewegte, um schließlich auf meiner Haut ausgedrückt zu werden.

Seitdem meide ich den Tag und die Sonne. Sogar ihm fiel das auf, als er seinen Unterarm neben meinen hielt, um mir zu zeigen, dass meine Haut blasser war als seine. Das Gleiche hatten wir schon im Bunker getan – und uns die Hände mit gespreizten Fingern vors Gesicht gehalten, um herauszufinden, ob wir sie im Dunkeln noch sehen konnten. Wir wollten wissen, ob wir alle noch da waren unter der Schicht aus Staub, die nach jedem Angriff auf uns herunterrieselte. Beim Gedanken an die kreischenden amerikanischen Jets fange ich an zu zittern. Als wir sie das erste Mal hörten, flüsterte mir mein Bruder ins Ohr, dass ich keine Angst zu haben brauche, das seien nur Phantome.

»Weißt du, was ich damals schön fand?«

Er schüttelte den Kopf. Wir saßen auf dem Sofa in meinem Kellerbüro, wo es im November wärmer war als im Wohnzimmer. »Nach einem Bombenangriff sind wir aus dem Bunker gekrochen, du hast meine Hand gehalten, und zusammen haben wir in die Sonne geblinzelt. Das habe ich geliebt, dass nach der Dunkelheit das Licht kam und nach all dem Donnern die Stille.«

Er nickte ungerührt. Wie ich lag er mit angezogenen Beinen auf dem Sofa. Unsere Knie berührten sich. Seit wir meinen Bruder dem Meer übergeben hatten, hockte der Fragepapagei auf meiner Schulter, und mir kam der Gedanke, dass ich ihn nur dann loswürde, wenn ich ihn sprechen ließe.

»Sag mir«, sagte der Fragepapagei, »warum bin ich am Leben und du bist tot?«

Mein Bruder betrachtete mich mit Augen, die nie austrocknen würden, egal wie lange er sie offen hielt. Mutter hatte unrecht. Er hatte sich verändert. Der Beweis dafür waren seine Augen, so lange konserviert vom Salzwasser, dass sie für immer geöffnet bleiben würden.

»Du bist auch tot«, sagte er. »Du weißt es nur nicht.«