Die Idealisten - Viet Thanh Nguyen - E-Book

Die Idealisten E-Book

Viet Thanh Nguyen

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Beschreibung

Paris, 1981: Die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht ist für viele vietnamesische Flüchtlinge der rettende Hafen nach einer langen Irrfahrt über die Weltmeere. Auch der namenlose Ich-Erzähler und sein bester Freund Bon haben es aus ihrer Heimat nach Europa geschafft. Auf der Suche nach einem Job geraten sie an die vietnamesische Drogenmafia. Als Dealer machen sie ein gutes Geschäft, und der Ich-Erzähler, ein ehemaliger kommunistischer Spion, profitiert von einem Wirtschaftssystem, das er eigentlich ablehnt. Im Konflikt mit sich selbst und ständig konfrontiert mit rassistischen Übergriffen, sucht er nach einem neuen Lebensentwurf. Dabei wird ihm der beste Freund zum größten Widersacher und der sichere Hafen Paris zur tückischen Falle.

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DASBUCH

»Ein Meisterwerk.« Marlon James

Paris zu Beginn der 1980er-Jahre. Die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ist für viele vietnamesische Flüchtlinge die rettende Zuflucht nach einer langen Irrfahrt über das Meer. Auch der namenlose Ich-Erzähler, ein ehemaliger kommunistischer Spion, und sein bester Freund Bon haben es nach einer traumatisierenden Inhaftierung aus ihrer Heimat nach Europa geschafft.

Auf der Suche nach einem Job kommen die beiden mit der vietnamesischen Drogenmafia in Kontakt und machen als Dealer vor allem in linksintellektuellen Kreisen ein gutes Geschäft. Aber dieses Leben stellt unseren Erzähler auf eine harte Probe, denn er profitiert von einem Wirtschaftssystem, das er eigentlich ablehnt. Im Konflikt mit sich selbst und konfrontiert mit einer zutiefst kolonialistisch geprägten Gesellschaft, sucht er nach einem Ausweg. Dabei wird ihm der beste Freund zum größten Widersacher – und Paris zur tückischen Falle.

Die Idealisten ist ein raffiniert und mitreißend erzählter Politthriller über Freundschaft und Verrat, Trauer und Trauma und das zutiefst menschliche Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung.

DERAUTOR

Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California. Sein Romandebüt Der Sympathisant (Blessing, 2017) wurde ein weltweiter Bestseller und erhielt 2016 den Pulitzerpreis sowie den Edgar Award. 2018 erschien Nguyens Erzählband Die Geflüchteten bei Blessing. Viet Thanh Nguyen lebt in Los Angeles.

VIET THANH NGUYEN

DIE IDEALISTEN

ROMAN

AUSDEMAMERIKANISCHEN

VONWOLFGANGMÜLLER

BLESSING

Das Buch erscheint unter dem Titel

THECOMMITTED

bei Grove Atlantic, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Abdruck des Fotos [>>] mit freundlicher Genehmigung von Vuong Huu Nhan,

Union Generale des Vietnamiens de France.

»Seasons in the Sun« – Written by Jacques Brel and Rod McKuen. Published by Edward B. Marks Music Company (BMI). All rights administered by Round Hill Carlin, LLC.

»Et Moi, Et Moi, Et Moi« – Words and Music by Jacques Dutronc and Jacques Lanzmann. Copyright © by Hal Leonard, LLC.

Copyright © 2021 by Viet Thanh Nguyen

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München

Umschlagabbildung: Shutterstock/Maryna Stamatova

ISBN 978-3-641-20718-2V001

www.blessing-verlag.de

Für Simone

Nichts ist wirklicher als nichts.

Rithy Panh mit Christophe Bataille,

Auslöschung: Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet

PROLOG

Wir

Wir waren die nicht Gewollten, die nicht Gebrauchten und die nicht Gesehenen, unsichtbar für alle außer uns selbst. Weniger als nichts, sahen wir auch nichts. Blind kauerten wir im dunklen Bauch unserer Arche. Einhundertfünfzig von uns schwitzend in einem Raum, der nicht für uns Säugetiere, sondern für die Fische des Meeres bestimmt war. Die Wellen schoben uns von einer Seite zur anderen. Wir sprachen in den Sprachen unserer Mütter, was für die einen hieß, dass sie beteten, für die anderen, dass sie fluchten. Als schließlich eine Veränderung der Wellenbewegung unser Schiff noch heftiger hin und her warf, flüsterte einer der wenigen Seeleute unter uns, Jetzt sind wir auf dem Meer. Nachdem wir stundenlang den Windungen von Flüssen, Mündungsarmen und Kanälen gefolgt waren, hatten wir unser Vaterland verlassen.

Der Steuermann öffnete die Luke und rief uns an Deck unserer Arche, welche die gefühllose Welt als einfaches Boot verunglimpfte. Unter dem schiefen Lächeln des Sichelmondes fanden wir uns allein auf der Oberfläche dieser Wasserwelt wieder. Einen Augenblick lang schwindelte uns vor Freude, bis uns die Wellen des Ozeans auf andere Weise schwindeln ließen. Über das gesamte Deck und jeder über den anderen stülpten wir unser Innerstes nach außen, und selbst als nichts mehr übrig war, versuchten wir weiter krampfhaft würgend zu kotzen. So verbrachten wir in der Meeresbrise zitternd unsere erste Nacht auf See.

Es dämmerte, und wir sahen in jeder Richtung nichts als den endlos zurückweichenden Horizont. Der Tag war heiß, ohne Schatten und ohne Unterbrechung, mit nur einem Mundvoll zu essen und einem Löffelvoll zu trinken, die Dauer unserer Reise unbekannt, die Vorräte begrenzt. Aber obwohl wir so wenig aßen, hinterließen wir doch unsere menschlichen Spuren, überall auf und unter Deck, und schwammen bis zum Abend in unserem eigenen Dreck. Als wir im Dämmerlicht ein Schiff am Horizont ausmachten, schrien wir uns die Hälse heiser. Aber das Schiff hielt Abstand.

Am dritten Tag sahen wir einen durch die endlose Meereswüste pflügenden Frachter, einen Dromedar, dessen Brücke über dem Heck aufragte, mit Seeleuten an Deck. Wir schrien, winkten, sprangen auf und ab. Aber der Frachter fuhr weiter, nur seine Kielwelle streifte uns. Am vierten und fünften Tag tauchten zwei weitere Frachtschiffe auf, jedes näher als das vorherige, jedes unter anderer Flagge. Die Seeleute zeigten auf uns, aber sosehr wir auch bettelten und flehten und unsere Kinder in die Höhe hielten, die Schiffe änderten weder ihre Geschwindigkeit noch ihren Kurs.

Am fünften Tag starb das erste der Kinder. Bevor wir den Leichnam der See übergaben, sprach der Priester ein Gebet. Am sechsten Tag starb ein Junge. Mancher betete noch inbrünstiger zu Gott, mancher begann, an seiner Existenz zu zweifeln, mancher Ungläubige begann, sich zu besinnen, und mancher Ungläubige glaubte nun noch weniger an Ihn. Der Vater von einem der toten Kinder schrie: Großer Gott, warum tust du uns das an?

Die Antwort kam uns allen schlagartig, die Antwort auf die ewige Menschheitsfrage des: Warum?

Sie war und ist ganz einfach: Warum nicht?

Als wir an Bord gingen, waren wir uns alle fremd, jetzt kannten wir uns inniger als Liebende – da wir uns in den eigenen Exkrementen wälzten, die Gesichter grün, die Haut voller Blasen vom Salz und zu gleicher Farbe verbrannt von der Sonne. Die meisten von uns hatten ihr Vaterland verlassen, weil die herrschenden Kommunisten uns als Marionetten, Pseudopazifisten oder bürgerliche Nationalisten, dekadente Reaktionäre oder Intellektuelle mit dem falschen Bewusstsein abstempelten – oder wir Verwandte von solchen waren. Es gab auch einen Wahrsager, einen Geomantiker, einen Mönch, den Priester und mindestens eine Prostituierte, deren chinesischer Nebenmann sie anspuckte. Warum ist diese Hure bei uns?

Sogar unter den nicht Gewollten gab es nicht Gewollte. Darüber konnten einige von uns nur lachen.

Die Prostituierte schaute uns finster an. Was wollt ihr eigentlich?

Wir, die nicht Gewollten, wollten so viel. Wir wollten Essen, Wasser und Sonnenschirme – obwohl, Regenschirme wären auch okay. Wir wollten saubere Sachen zum Anziehen, eine Badewanne und eine Toilette, und wenn auch nur die zum Hinhocken. An Land war Hinhocken sicherer und weniger peinlich, als sich an der Reling eines schlingernden Boots festzuklammern und sein Hinterteil über das Wasser zu halten. Wir wollten Regen, Wolken und Delfine. Wir wollten es an den heißen Tagen kühler und in den eiskalten Nächten wärmer. Wir wollten die ungefähre Ankunftszeit. Wir wollten bei der Ankunft nicht tot sein. Wir wollten erlöst werden von der unbarmherzigen Sonne, die uns grillte. Wir wollten Fernsehen, Filme, Musik, alles, womit man sich die Zeit vertreiben konnte. Wir wollten Liebe, Frieden und Gerechtigkeit, außer für unsere Feinde, die sollten in der Hölle schmoren, vorzugsweise bis in alle Ewigkeit. Wir wollten Unabhängigkeit und Freiheit, außer für die Kommunisten, die sollten in Umerziehungslager gesteckt werden, vorzugsweise lebenslang. Wir wollten gütige Führer, die das Volk repräsentierten, mit dem wir uns meinten und nicht sie, wer immer sie waren. Wir wollten in einer egalitären Gesellschaft leben, wenn wir uns allerdings darauf verständigen müssten, mehr als unser Nachbar zu besitzen, wäre uns das recht. Wir wollten eine Revolution, die die Revolution überwindet, die wir gerade durchlebt hatten. Kurz gesagt, wir wollten, dass es uns an nichts fehlt.

Was wir auf jeden Fall nicht wollten, war ein Sturm, aber genau den bekamen wir am siebten Tag. Die Gläubigen riefen einmal mehr, Großer Gott, steh uns bei! Die Ungläubigen riefen, Großer Gott, du Schweinehund! Gläubige hin, Ungläubige her, vor dem Sturm gab es kein Entrinnen. Er verdunkelte den Horizont, schwoll an und kam immer näher. Der bis zur Raserei aufgepeitschte Wind türmte die Wellen auf, unsere Arche stieg immer schneller immer höher. Blitze erleuchteten die dunklen Furchen der Gewitterwolken. Donner verschluckte unser kollektives Stöhnen. Eine Regenflut ergoss sich über uns, und die Wellen hoben unser Schiff in immer größere Höhen. Die Gläubigen beteten, und die Ungläubigen fluchten, aber alle weinten. Dann erreichte unsere Arche ihren Gipfelpunkt und verharrte einen ewig währenden Augenblick auf dem schneegekrönten Wellenkamm über einem steilen Abhang aus Wasser. Wir schauten hinunter in das tiefe, weinfarbene Tal und waren uns zweier Dinge sicher. Erstens, dass wir mit absoluter Sicherheit sterben würden. Und zweitens, dass wir fast sicher leben würden.

Ja, dessen waren wir uns sicher. Wir – werden – leben!

Und dann stürzten wir schreiend in den Abgrund.

ERSTER TEIL

Ich

ERSTES KAPITEL

Vielleicht bin ich kein Spion oder Schläfer mehr, aber fast sicher bin ich ein Geist. Wie auch nicht, mit zwei Löchern im Kopf, aus denen die schwarze Tinte sickert, mit der ich diese Worte schreibe. Was für ein eigenartiger Zustand, tot zu sein und dennoch in meinem kleinen Zimmer im Paradies diese Zeilen zu verfassen. Das macht mich wohl zu einem Ghostwriter, und als solcher ist es mir ein Leichtes, wenn nicht Geisterhaftes, meine Feder in die Tinte zu tauchen, die aus meinen Zwillingslöchern fließt – das eine von mir selbst gebohrt, das andere von Bon, meinem besten Freund und Blutsbruder. Leg deine Waffe nieder, Bon. Du kannst mich nur einmal töten.

Oder vielleicht doch nicht. Ich bin auch nach wie vor ein Mann mit zwei Gesichtern und zwei Seelen, von denen eine vielleicht doch unversehrt geblieben ist. Mit zwei Seelen verfüge ich über die Fähigkeit, alles von zwei Seiten zu betrachten. Während ich mir einst geschmeichelt habe, dies als Talent zu betrachten, begreife ich es jetzt als Fluch. Was war ein Mann mit zwei Seelen außer ein Mutant? Vielleicht sogar ein Monster. Ja, ich gebe es zu. Ich bin nicht nur einer, sondern zwei. Nicht nur ich, sondern auch du. Nicht nur ich, sondern auch wir.

Du fragst mich, wie man uns nennen soll, nachdem wir so lange namenlos waren. Ehrliche Antworten gehörten nie zu meinen Angewohnheiten, und ich zögere auch jetzt. Ich bin ein Mann mit schlechten Angewohnheiten, und jedes Mal, wenn ich mit einer gebrochen habe, was nie bereitwillig geschah, bin ich immer winselnd und vertrauensselig zu ihr zurückgekehrt.

Diese Worte, zum Beispiel. Ich schreibe sie, und Schreiben ist die schlimmste Angewohnheit. Die meisten Menschen pressen aus ihrem Leben heraus, was sie können. Sie leiden für ihr Gehalt, saugen Vitamin D auf, wenn sie die Sonne genießen, stellen einem anderen Mitglied ihrer Spezies nach, um sich fortzupflanzen oder einfach nur zu vögeln, und verweigern jeden Gedanken an den Tod. Ich hingegen verbringe meine Zeit mit Feder und Papier in meinem Winkel im Paradies und werde immer weißer und schmaler, die Enttäuschung dampft aus meinem Kopf, und der Schweiß der Trauer klebt an meinem Körper.

Ich könnte dir den Namen sagen, der in meinem Pass steht, VODANH. Ich habe ihn angenommen in Erwartung der Ankunft hier in Paris oder der Stadt des Lichts, wie unsere französischen Herren uns lehrten, sie zu nennen. Wir, Bon und ich, kamen mit einem Nachtflug aus Jakarta. Wir verließen das Flugzeug mit einem Gefühl der Erleichterung, denn wir hatten Asyl erhalten, der Fiebertraum eines jeden Flüchtlings, besonders jener, die man nicht nur ein- oder zweimal, sondern schon dreimal zu Flüchtlingen gemacht hatte: 1954, neun Jahre nach meiner Geburt; 1975, als ich jung und halbwegs attraktiv war; und 1979, erst vor zwei Jahren. Stimmte, was die Amerikaner gerne sagten: Aller guten Dinge sind drei? Bon hatte geseufzt, als er sich die Schlafmaske der Fluggesellschaft über die Augen gezogen hatte. Hoffen wir einfach, dass Frankreich besser ist als Amerika.

Eine unbedachte Hoffnung, wenn man Länder nach seinen Grenzbeamten beurteilte. Der, der meinen Pass inspizierte, trug die ausdruckslose Maske aller Sicherheitsbeamten, während er mein Foto und dann mich studierte. Sein bleiches Gesicht schien nicht erfreut darüber, dass mir jemand Zutritt zu seinem geliebten Land gewährt hatte. Dem Mann fehlten sowohl Oberlippe wie auch Schnurrbart, um sein fehlendes Verständnis dahinter zu verbergen. Sie sind Vietnamese, sagte der weiße Mann. Dies waren die ersten überhaupt an mich gerichteten Worte, als ich das Heimatland meines Vaters zum ersten Mal besuchte.

Ja. Ich heiße Vo Danh. Neben meinem besten französischen Akzent schenkte ich dem Grenzpolizisten mein hündischstes Lächeln, so schmeichlerisch, dass es fast wehtat. Aber mein Vater ist Franzose. Vielleicht bin ich dann auch Franzose?

Sein bürokratisches Gehirn verarbeitete diese Aussage, und als er schließlich lächelte, dachte ich, Ah! Mein erster Witz auf Französisch! Aber was er sagte, war: Nein … Sie … sind … definitiv … kein … Franzose. Nicht … mit … einem … solchen … Namen. Dann stempelte er das Einreisedatum in meinen Pass, 18.07.81, schnippte ihn über den Schalter und schaute mir dabei schon über die Schulter zum nächsten Bittsteller.

Ich traf Bon auf der anderen Seite der Passkontrolle wieder. Schließlich hatten wir den Boden von La Gaule betreten, wie mich mein Vater in der Pfarrschule gelehrt hatte, Frankreich zu nennen. Da passte es, dass der Flughafen nach Charles de Gaulle benannt war, dem größten der großen Franzosen der jüngsten Vergangenheit. Der Held, der die Franzosen von den Nazis befreit hatte, während sie uns Vietnamesen gleichzeitig weiter knechteten. Ah, ein Widerspruch! Der immerwährende Körpergeruch der Menschheit. Niemand wurde verschont, nicht einmal die Amerikaner oder die Vietnamesen, die täglich badeten, oder die Franzosen, die nicht jeden Tag badeten. Egal, welche Nationalität, wir alle gewöhnen uns an das Aroma unserer eigenen Widersprüche.

Was ist los?, fragte er. Weinst du schon wieder?

Ich weine nicht, schluchzte ich. Ich bin nur so überwältigt, endlich zu Hause zu sein.

Inzwischen hatte Bon sich an meine unvorhersehbaren Tränenausbrüche gewöhnt. Er seufzte und nahm mich an der Hand. In der anderen Hand trug er sein einziges Gepäckstück, eine billige Leinenreisetasche, ein Geschenk der Vereinten Nationen. Die Tasche war nicht annähernd so elegant wie meine aus Leder, die mir mein alter Mentor Claude zum Abschluss am Occidental College in Südkalifornien überreicht hatte. Mein alter Herr hat mir genau die gleiche geschenkt, als ich von der Phillips Exeter Academy nach Yale ging, hatte Claude mir mit feuchten Augen erzählt. Obwohl er als CIA-Agent Verhöre und Attentate zu seinem Handwerk zählte, konnte er bei manchen Dingen wie zum Beispiel unserer Freundschaft und hochwertiger Herrenausstattung sentimental werden. Aus dem gleichen nostalgischen Grund hielt ich an meiner Ledertasche fest. Wie die von Bon war sie nicht sehr groß und trotzdem nicht voll. Wie die meisten Flüchtlinge besaßen wir kaum materielle Dinge, dafür waren unsere Taschen vollgestopft mit Träumen und Fantasien, Trauma und Schmerz, Trauer und Verlust, und natürlich mit Geistern. Da Geister nichts wogen, konnten wir unendlich viele davon mitschleppen.

Als wir am Gepäckkarussell vorbeigingen, waren wir die einzigen Passagiere ohne Koffer oder Rollkarren voller Gepäck und touristischer Erwartungen. Wir waren keine Touristen, Expatriates oder Rückkehrer, keine Diplomaten, Geschäftsleute oder sonst eine gediegene Gattung von Reisenden. Nein, wir waren Flüchtlinge, und unser Erlebnis in einer Zeitkapsel namens internationaler Linienjet reichte nicht aus, das Jahr in einem Umerziehungslager oder die zwei Jahre in einem Flüchtlingslager auf einer indonesischen Insel namens Galang auszulöschen. Nach dem Bambus und den Strohdächern, dem Schlamm und dem Kerzenlicht in den Lagern verwirrten uns der Edelstahl, das Glas, die Fliesen und das grelle Licht des Flughafens. Wir gingen langsam, suchten planlos nach dem Ausgang und stießen dabei mit anderen Passagieren zusammen. Schließlich fanden wir ihn, die Türen glitten zur Seite, und über uns erstreckte sich die gewaltige Decke des internationalen Ankunftsbereichs, wo eine Menge erwartungsvoller Gesichter uns inspizierte.

Eine Frau rief meinen Namen. Es war meine Tante oder, präziser, die Frau, die ich als meine Tante ausgab. Während meiner Jahre als kommunistischer Spion in den Vereinigten Staaten hatte ich zu einer zerlumpten südvietnamesischen Exilarmee gehört und ihr regelmäßig Briefe geschrieben. Darin hatte ich vordergründig über meine private Mühsal als Flüchtling berichtet, in Wahrheit jedoch verschlüsselt und mit unsichtbarer Tinte über die Intrigen einiger Elemente dieser Armee informiert, die hoffte, den Kommunisten die Herrschaft über unser Heimatland zu entreißen. Als Geheimcode hatten wir Richard Hedds Der Kommunismus in Asien und der orientalische Modus der Zerstörung benutzt, und es war ihre Aufgabe gewesen, die Botschaften an Man weiterzuleiten, meinen und Bons Blutsbruder. Ich begrüßte sie erleichtert, aber auch beklommen, denn sie wusste, was Bon nicht wusste und nie erfahren durfte, nämlich dass Man ein Spion war, wie ich einer gewesen war. Er war mein Führungsoffizier und später mein Peiniger in jenem Umerziehungslager. Passte das nicht zu mir, einem Mann mit zwei Seelen? Und wenn meine Tante auch nicht meine richtige Tante war, war das nicht perfekt für einen Mann mit zwei Gesichtern?

Sie war eigentlich Mans Tante, und sie sah genauso aus, wie sie sich in ihrem letzten Brief beschrieben hatte: groß, dünn, pechschwarze Haare. Da endete die Ähnlichkeit mit dem Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte: das einer Frau mittleren Alters, den Rücken dauerhaft gebeugt von ihrer Arbeit als Näherin, erniedrigt von ihrer Hingabe an die Revolution. Stattdessen ähnelte sie einer Zigarette, jedenfalls ihrer Körpergestalt nach zu urteilen und dem, was sie in einer Hand hielt. Sie verströmte Rauch und Selbstvertrauen. In ihren aggressiven High Heels war sie genauso groß wie ich, wirkte wegen des körperbetonten grauen Strickkleids – einer Uniform, die sie jeden Tag trug –, dem spitzen Haaransatz und schlank, wie sie war, jedoch größer. Obwohl ich wusste, dass sie schon in den Fünfzigern sein musste, wäre sie als Enddreißigerin durchgegangen. Sie war zu gleichen Teilen gesegnet mit französischem Stil und asiatischen Genen, was sie alterslos erscheinen ließ.

Mein Gott! Sie packte mich an den Schultern und machte Kussgeräusche, während ihre Wange erst die eine, dann die andere meiner Wangen berührte. Diese charmante französische Art der Begrüßung war mir in meiner Heimat weder von den Franzosen noch von meinem französischen Vater je zuteilgeworden. Ihr gehört beide neu eingekleidet. Und ihr müsst zum Friseur.

Ja, sie war ohne Zweifel französisch.

Ich stellte sie Bon auf Französisch vor, er antwortete jedoch auf Vietnamesisch. Wie ich hatte er eine Schulbildung auf einem Lycée genossen, aber er hasste die Franzosen und war nur mir zuliebe hier. Es stimmte, die Franzosen hatten ihm ein Stipendium gewährt, darüber hinaus hatte er jedoch keinerlei Vorteile durch sie gehabt – außer, dass er Straßen benutzen konnte, die sie konzipiert hatten, wofür man aber kaum dankbar sein konnte, da die Sklavenarbeiter, die sie gebaut hatten, Bauern wie Bons Familie gewesen waren. Während sie uns zu der Taxischlange führte, wechselte meine Tante in unsere Sprache und erkundigte sich in reinstem klassischstem Vietnamesisch, wie es von den Intellektuellen in Hanoi gesprochen wurde, nach den Strapazen unserer Reise. Bon blieb stumm. Sein eigener Dialekt vermischte den des ländlichen Nordens, woher unsere Familien stammten, und den des ländlichen Südens außerhalb von Saigon. Dort hatten sich seine Eltern 1954 nach unserem katholischen Exodus aus dem Norden niedergelassen, der ersten unserer drei Erfahrungen als Flüchtlinge. Entweder schwieg er aus Scham über seinen Dialekt, oder, was wahrscheinlicher war, weil er vor Wut kochte. Alles aus Hanoi könnte kommunistisch sein, und alles, was kommunistisch sein könnte, war ohne jeden Zweifel kommunistisch – zumindest für jemanden, der so manisch antikommunistisch war wie Bon. Er war nicht einmal dankbar für das einzige Geschenk, das ihm unsere kommunistischen Kidnapper jemals machten, die Lektion nämlich, dass alles, was einen nicht umbringt, stärker macht. Das konnte nur heißen, dass Bon und ich jetzt beide Superman waren.

Was arbeiten Sie?, fragte er sie schließlich, als wir links und rechts von ihr auf der Rückbank des Taxis saßen.

Meine Tante schaute mich äußerst vorwurfsvoll an. Wie ich sehe, hat mein Neffe Ihnen nichts von mir erzählt. Ich bin Lektorin.

Lektorin? Fast hätte ich das Wort laut wiederholt, schluckte es aber hinunter, schließlich musste ich ja wissen, was meine Tante tat. Auf der Suche nach einem Geldgeber für unseren Weggang aus dem Flüchtlingslager hatte ich ihr – diesmal unverschlüsselt – geschrieben, weil ich sonst niemanden kannte, der kein Amerikaner war. Sie würde wahrscheinlich Man über meine Ankunft unterrichten, was mir aber allemal lieber war als die Rückkehr nach Amerika, wo ich Verbrechen begangen hatte, für die ich zwar nie verurteilt worden, auf die ich aber nicht stolz war.

Sie nannte den Namen eines Verlags, den ich nicht kannte. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit Büchern. Hauptsächlich Romane und Philosophie.

Der Laut aus Bons Kehle deutete an, dass er nicht der Typ war, der las, ausgenommen das Feldhandbuch der Armee, Boulevardblätter und die Zettel, die ich an den Kühlschrank klebte. Er wäre besser mit meiner Tante klargekommen, wenn sie tatsächlich Näherin gewesen wäre. Ich war dankbar, dass ich Bon nichts über sie erzählt hatte.

Ich will alles wissen, was ihr durchgemacht habt, sagte meine Tante. Im Umerziehungslager und dann im Flüchtlingslager. Ihr seid die Ersten, denen ich begegne, die in einem Umerziehungslager waren.

Vielleicht nicht heute Abend, liebe Tante, erwiderte ich. Ich erzählte ihr nicht von dem Geständnis, das ich im Umerziehungslager unter Zwang geschrieben hatte und das jetzt zusammen mit einer zerfledderten, vergilbten Ausgabe von Hedds Buch im Geheimfach meiner Ledertasche versteckt war. Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, das Geständnis zu verstecken, denn der Letzte, der es lesen sollte, nämlich Bon, interessierte sich nicht im Geringsten dafür. Wie ich war er im Umerziehungslager viele Male gezwungen worden, sein eigenes Geständnis zu schreiben; aber anders als ich wusste er nicht, dass Man, sein Blutsbruder, der Lagerkommissar war. Wie sollte er auch, wenn der Kommissar doch kein Gesicht hatte? Allerdings war Bon davon überzeugt, dass ein unter Folter abgepresstes Geständnis nichts als Lüge war. Wie die meisten Menschen glaubte er, dass Lügen, egal wie oft man sie wiederholte, niemals zur Wahrheit wurden. Wie mein Vater, der Priester, gehörte ich zu denen, die genau das Gegenteil glaubten.

Die Wohnung meiner Tante lag im elften Arrondissement, neben der Bastille, wo die Französische Revolution begonnen hatte. In der Dunkelheit fuhren wir an der Säule vorbei, die an die geschichtliche Bedeutung der Bastille erinnerte. Sollte ich einmal ein Kommunist und ein Revolutionär gewesen sein, dann war auch ich ein Nachfahre dieses Ereignisses, das der Aristokratie mit der Endgültigkeit einer Guillotine den Kopf abschlug. Nachdem wir die Schnellstraße verlassen hatten und nun durch die Stadt fuhren, fühlte ich mich erst wahrhaftig in Frankreich oder, noch besser, in Paris mit seinen schmalen Straßen und den einheitlich hohen Gebäuden mit ihren gleichförmigen Fassaden, nicht zu reden von den bezaubernden Schriftzügen an den Ladenzeilen, die man sofort wiedererkannte von Postkarten oder aus Filmen wie Irma la Douce, den ich gleich nach meiner Ankunft als Auslandsstudent in Los Angeles in einem amerikanischen Kino gesehen hatte. Wie ich schließlich herausfinden sollte, war an Paris alles bezaubernd, sogar die Prosituierten und die Sonntage, der frühe Morgen, die Zeit nach dem Mittagessen und der August, wenn alles geschlossen hatte.

In den kommenden Wochen würde ich dieses Wortes nie überdrüssig werden: »charmant«. Weder mein Heimatland noch Amerika ließe sich jemals als charmant beschreiben. Das Wort war zu maßvoll für ein Land und ein Volk, das so heiß und heißblütig war wie meines. Wir waren abweisend oder verführerisch, aber nie charmant. Und was Amerika angeht, muss man nur an Coca-Cola denken. Dieses Elixier, das ist wirklich etwas ganz Eigenes. Es verkörpert die süchtig machende, zahnzersetzende Süße eines Kapitalismus, der nicht gut für einen war, egal wie es auf der Zunge prickelte. Aber es ist nicht charmant, nicht so wie frisch gebrühter schwarzer Kaffee, serviert in einer fingerhutgroßen Tasse auf einem Miniaturteller mit einem Puppenlöffel und von einem Kellner, der sich des Werts seines Berufs so sicher ist wie ein Bankier oder Kunstsammler.

Die Amerikaner besaßen Hollywood mit seiner Lautheit und Großmäuligkeit, seinen voluminösen Büstenhaltern und Cowboyhüten, die Franzosen hingegen führten einen Charmefeldzug. Das offenbarte sich in den Kleinigkeiten, als hätte Yves Saint-Laurent ganz Frankreich entworfen – von der Art, wie unser Taxifahrer sein Barett trug, über den Namen der Straße, in der meine Tante wohnte, Rue Richard-Lenoir, über die abblätternde blaue Farbe an der Eisentür ihres Wohnhauses mit der Nummer 37 und dessen hallenden dunklen Eingangsbereich mit der defekten Deckenlampe bis hin zu den schmalen Holzstufen, die vier Stockwerke hoch zur Wohnung meiner Tante führten.

Der Umstand, dass davon außer dem Barett eigentlich nichts wirklich charmant war, zeigt, dass die Franzosen über einen höchst unfairen Vorteil bei ihrer Charmeoffensive verfügten, zumindest für Leute wie mich, die trotz größter Bemühungen fast vollkommen kolonisiert worden waren. Ich sage fast, weil ein kleiner reptilischer Teil meines Gehirns sich meldete – der wilde Eingeborene in mir. Sogar ich, der als derart Bezauberter die Treppe hinaufhechelte, konnte dem Charme lange genug widerstehen, um seinen Kern zu erkennen: die Verführungskraft der Unterwerfung. Es war dieses Gefühl, das mich fast in Verzückung geraten ließ über das wohlgeformte Baguette, das den Esstisch meiner Tante zierte. Oh, Baguette! Symbol Frankreichs und folglich Symbol französischer Kolonisierung! So sprach die eine Seite von mir. Aber gleichzeitig sagte die andere Seite, ah, Baguette! Symbol dafür, wie wir Vietnamesen uns die französische Kultur angeeignet haben! Denn wir backten gute Baguettes, und die Bánh mìs, die wir daraus kreierten, waren weitaus leckerer und fantasievoller als die Sandwiches, die die Franzosen daraus machten. Dieses dialektische Baguette mit Gurkensalat in einer Reisweinvinaigrette, einer Schüssel Hähnchencurry mit Kartoffeln und Karotten, einer Flasche Rotwein und abschließend einem Karamellflan in einer dunkelbraunen Lache karamellisierten Zuckers bildete das von meiner Tante vorbereitete Mahl. Wie sehr hatte ich mich nach diesen oder ähnlichen Gerichten gesehnt. Verlockende Essensfantasien hatten mich in den endlosen Monaten im Umerziehungslager begleitet, das irgendwo im inneren Kreis der Hölle angesiedelt war, und anschließend im Flüchtlingslager in den Randbezirken der Hölle, wo das Beste, was man über unser Essen sagen konnte, darin bestand, dass es zu wenig, und das Schlechteste, dass es verdorben war.

Vietnamesisch kochen hat mir mein Vater beigebracht, sagte meine Tante, als sie das Curry in unsere Schalen löffelte. Er war Soldat wie ihr zwei, aber ein vergessener.

Die bloße Erwähnung eines Vaters ließ mein Herz kurz stocken. Ich befand mich im Land meines Vaters, des Patriarchen, der mich von sich gewiesen hatte. Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn er mich als seinen Sohn und meine Mutter als seine Geliebte oder gar seine Frau anerkannt hätte? Ein Teil von mir sehnte sich nach seiner Liebe, der andere hasste sich dafür, dass ich außer Verachtung überhaupt etwas für ihn empfand.

Die Franzosen haben meinen Vater in den Ersten Weltkrieg eingezogen, erzählte meine Tante. Bon und ich saßen auf unseren Stuhlkanten und warteten darauf, dass sie den Löffel nahm oder sich über das Baguette hermachte und damit das Zeichen gab, das so provozierend vor uns liegende Mahl in Angriff zu nehmen. Er war achtzehn Jahre alt und wurde zusammen mit Zehntausenden anderen aus dem tropischen Indochina in die métropole gespült. Aber Paris hat er erst lange nach dem Krieg gesehen. Er ist nie nach Hause zurückgekehrt. Seine Asche habe ich in meinem Schlafzimmer. Die Urne steht auf meinem bureau.

Es gibt nichts Traurigeres als Exil, bemerkte der arme Bon. Die Finger seiner auf dem Tischtuch liegenden Hände zitterten. In fast seinem ganzen Leben hatte er nicht etwas auch nur annähernd Philosophisches von sich gegeben, doch sein eigenes Exil und der tragische Verlust von Frau und Sohn hatten ihn zunehmend grüblerisch gemacht. Bringen Sie die Asche nach Hause, fuhr er fort. Erst dann wird die Seele Ihres Vaters Frieden finden.

Man sollte meinen, derartige Gespräche hätten uns den Appetit verschlagen können, aber Bon und ich waren wild entschlossen, alles zu essen – außer den Überlebensrationen einer Nichtregierungsorganisation, deren Auftrag war, Flüchtlinge am Leben zu erhalten, aber mehr auch nicht. Außerdem teilten Franzosen und Vietnamesen eine Liebe zu Schwermut und Philosophie, die die manisch optimistischen Amerikaner nie verstehen würden. Der typische Amerikaner bevorzugte die Philosophie aus der Dose, die man in Ratgeberheften findet, während selbst der durchschnittliche Franzose und Vietnamese die Liebe zur Erkenntnis pflegte.

Also redeten und aßen wir, aber, ebenso wichtig, wir tranken und rauchten und ließen unseren Gedanken freien Lauf – und frönten damit gleich drei meiner schlechten Angewohnheiten, die mir das Umerziehungslager allesamt verweigert hatte. Um diesen Angewohnheiten vollständig Genüge zu tun, öffnete meine Tante nicht nur eine Flasche Rotwein nach der anderen, sondern auch eine marokkanische Dose auf dem Esstisch, die zwei Sorten Zigaretten enthielt, mit und ohne Haschisch. Sogar Haschisch klingt »charmant« oder zumindest exotisch im Vergleich zu der in Amerika bevorzugten Droge Marihuana, auch wenn beide aus der gleichen Pflanze hergestellt werden. Marihuana war das, was Hippies und Teenager rauchten, deren Symbol die rettungslos unmoderne Band namens Grateful Dead war, deren Mitglieder Yves Saint-Laurent hätte antreten und erschießen lassen, weil sie das Batik-T-Shirt populär gemacht hatten. Haschisch hingegen rief Bilder aus der Levante und dem Souk hervor, des Fremdartigen und Aufregenden, des Dekadenten und Aristokratischen. In Asien würde man Marihuana vielleicht probieren, aber im Orient rauchte man Haschisch.

Und dann, nachdem sogar Bon ein paar Züge von einer der wirkmächtigen Zigaretten genommen hatte, geschah es. Gesättigt, Körper und Geist entspannt, und wir fühlten uns in unserer blasierten Völleglückseligkeit mehr als nur einen Hauch französisch, da fiel Bon eines der gerahmten Bilder auf dem Kaminsims auf.

Ist das nicht – ruckartig stand er auf, stolperte, gewann sein Gleichgewicht wieder und ging dann über die Fransen des Perserteppichs zum Kamin. Das ist – er zeigte mit dem Finger auf das Gesicht – das ist er.

Als ich zu meiner Tante sagte, dass sie anscheinend einen gemeinsamen Bekannten hätten, erwiderte sie: Ich kann mir nicht vorstellen, wer das sein sollte.

Bon drehte sich vor dem Kaminsims um. Er war rot vor Zorn. Ich kann euch sagen, wer. Der Teufel.

Ich sprang auf. Wenn der Teufel hier war, dann wollte ich ihn kennenlernen! Bei genauerem Hinsehen jedoch … Das ist nicht der Teufel, erklärte ich, als ich mir das kolorierte Foto anschaute: ein Mann in besten Jahren, weißhaarig mit Ziegenbart, ein Heiligenschein aus weichem Licht um den Kopf. Das ist Ho Chi Minh.

Ich war einmal ein genauso engagierter Kommunist wie er gewesen und hatte meine Mission sogar in Amerika fortgesetzt, von wo ich die Revolution zu Hause unterstützt und mein Bestes gegeben hatte, um die Konterrevolution in Übersee zu zerschlagen. Das hatte ich vor fast jedem geheim gehalten, besonders vor Bon. Die Einzigen, die über meine Sympathien für den Kommunismus Bescheid wussten, waren meine Tante und ihr Neffe Man. Er, Bon und ich waren Blutsbrüder, die drei Musketiere, vielleicht aber auch, darüber möge die Geschichte urteilen, die drei Trottel. Man und ich waren Spione und arbeiteten im Verborgenen gegen die antikommunistische Sache, der Bon so ergeben war. Diese Täuschung brachte uns in alle möglichen schwierigen Situationen, und wenn wir uns wieder aus ihnen befreiten, kam gewöhnlich jemand zu Tode. Sogar jetzt noch hielt Bon Man für tot und mich für einen Antikommunisten, wie er selbst einer war, denn er hatte gesehen, wie mir die Kommunisten im Umerziehungslager tiefe Wunden geschlagen hatten, was sie seiner Meinung nach nur ihren Feinden antaten. Ich war kein Feind des Kommunismus, nur jemand mit der fast tödlichen Schwäche, Sympathien für die tatsächlichen Feinde des Kommunismus empfinden zu können, wozu auch Amerikaner gehörten. Das Umerziehungslager hatte mich gelehrt, dass glühende Kommunisten wie glühende Kapitalisten waren, nämlich unempfänglich für Zwischentöne. Sympathie für den Feind könnte demnach auch Sympathie für den Teufel sein, was gleichbedeutend war mit Verrat. Der tiefgläubige Katholik und flammende Antikommunist Bon glaubte das mit Sicherheit. Er hatte mehr Kommunisten getötet als jeder, den ich kannte. Und während ihm klar wurde, dass manche der von ihm Getöteten vielleicht nur irrtümlich für Kommunisten gehalten worden waren, vertraute er darauf, dass die Geschichte und Gott ihm verzeihen würden.

Jetzt zeigte er mit dem Finger auf meine Tante. Sie sind Kommunistin, oder? Instinktiv packte ich seine Hand. Ich wusste, wenn sein Zeigefinger jetzt an einem Abzug wäre, hätte meine Tante ruckzuck tot sein können. Bon schlug meine Hand weg, und meine Tante hob eine Augenbraue und zündete sich eine von den unversetzten Zigaretten an.

Ich bin eher Gesinnungsgenossin als Kommunistin, sagte sie. Ich bin demütig genug zu wissen, dass ich keine echte Revolutionärin bin. Nur eine Sympathisantin. Sie ging so nonchalant mit ihren politischen Überzeugungen um, wie es nur die Franzosen können, ein so cooles Volk, dass sie fast keine Verwendung für Klimaanlagen hatten, ohne die Amerikaner nicht auskommen konnten. Wie mein Vater bin ich mehr Trotzkist als Stalinist. Ich glaube an die Macht für das Volk und die internationale Revolution, nicht an eine Partei, die sich nur um das eigene Land kümmert. Ich glaube an die Menschenrechte und Gleichheit für alle, nicht an Kollektivismus und die Revolution des Proletariats.

Warum haben Sie dann ein Bild des Teufels in Ihrer Wohnung?

Weil er kein Teufel ist, sondern der Patriotischste aller Patrioten. In seiner Zeit in Paris hat er sich sogar selbst Nguyen, der Patriot, genannt. Er glaubte an die Unabhängigkeit unseres Heimatlandes, genau wie Sie und ich, genau wie es mein Vater getan hat. Sollten wir unsere Gemeinsamkeiten nicht wertschätzen?

Sie sprach ruhig und mit Verstand. Aber für Bon hätte sie ebenso gut in einer fremden Sprache reden können. Sie sind eine Kommunistin, erklärte Bon abschließend und wandte sich wieder mir zu. Er hatte den wilden, verzweifelten Blick eines verwundeten, in die Enge getriebenen Katers. Ich kann hier nicht bleiben.

Da wusste ich, dass das Leben meiner Tante nicht in Gefahr war. Gastfreundschaft mit Mord zu vergelten war in Bons strengem Ehrenkodex unmoralisch. Allerdings war es fast Mitternacht, und wir konnten nirgendwo anders hin.

Bleib heute Nacht hier, sagte ich. Morgen gehen wir zum Boss. Seine Adresse hatte ich in meiner Brieftasche. Ich hatte sie mir vor einem Jahr im Flüchtlingslager auf Galang notiert, bevor die Zauberer, die das Verlassen des Lagers ermöglichten, den Boss nach Paris teleportiert hatten. Die Erwähnung seines Namens beruhigte Bon, denn der Boss verdankte ihm sein Leben und hatte versprochen, sich um uns zu kümmern, sollten wir es je bis hierher schaffen.

Einverstanden. Das Haschisch, der Wein und die Erschöpfung hatten seine mörderischen Instinkte gedämpft. Er schaute wieder meine Tante an. In seinem Blick lag eine Art Bedauern, die äußerste Annäherung an echtes Bedauern, derer er überhaupt fähig war. Ist nichts Persönliches.

Politik, mein Lieber, ist immer persönlich, erwiderte sie. Deshalb ist sie tödlich.

Meine Tante zog sich in ihr Schlafzimmer zurück und ließ uns mit dem Sofa und einem Stapel Decken auf dem Perserteppich im Wohnzimmer allein.

Bon saß auf dem Sofa. Du hast mir nie erzählt, dass sie Kommunistin ist, sagte er mit blutunterlaufenen Augen.

Weil du sonst nie zugestimmt hättest, dass wir hier übernachten. Ich setzte mich neben ihn. Und Blut zählt mehr als Glaube, oder etwa nicht? Ich hob meine Hand, die mit der roten Narbe auf der Handfläche, dem Zeichen unserer Blutsbrüderschaft, die wir uns eines Nachts in einem Wäldchen auf dem Gelände unseres Lycée in Saigon geschworen hatten. Wir hatten unsere Handflächen aufgeritzt und sie fest aufeinandergelegt, sodass sich unser Blut für immer vermischte.

Jetzt, im Land unserer gallischen Vorfahren, ein oder zwei Jahrhunderte nach unserer Jugend – so fühlte es sich jedenfalls an nach allem, was wir zusammen durchlitten hatten –, hob Bon ebenfalls seine vernarbte Hand. Also, wer schläft auf dem Sofa?, fragte er.

Ich lag auf dem Boden und hörte Bon leise die Gebete sprechen, die er jeden Abend an Gott richtete und an Linh und Duc, seine tote Frau und seinen toten Sohn. Sie waren auf dem Rollfeld des Saigoner Flughafens umgekommen, als wir zu dem letzten Flugzeug liefen, das die Stadt im April 1975 verließ, was unsere zweite Flüchtlingserfahrung war. Eine einzige gleichgültige, im Chaos von einem unbekannten Schützen abgefeuerte Kugel durchbohrte beide. Manchmal hörte er die Rufe ihrer traurigen Geister, die ihn mitunter anflehten, doch zu ihnen zu kommen, und ihn ein andermal drängten, am Leben zu bleiben. Aber seine Hände, so geübt im Töten anderer, richteten sich nicht gegen ihn selbst, denn Selbstmord war eine Sünde gegen Gott. Einem anderen das Leben zu nehmen war dagegen manchmal statthaft, denn oftmals brauchte Gott die Gläubigen als sein Werkzeug der Gerechtigkeit. So jedenfalls hat Bon es mir erklärt. Als gläubiger Katholik und besonnener Killer war er im Reinen mit sich. Was mich mehr beunruhigte als Bons innere Widersprüche und auch mehr als meine sicher vorhandenen eigenen, war, dass diese möglicherweise eines Tages aufeinanderprallen würden. An diesem Tag, wenn Bon von meinem Geheimnis erfuhr, würde er ohne Rücksicht auf unser gemeinsames Blut Gerechtigkeit an mir üben.

Bevor wir am nächsten Morgen gingen, überreichten wir meiner Tante ein Geschenk aus Indonesien, eine Packung Kopi Luwak, eine von vieren, die in Bons Reisetasche lagen. Auf die Idee hatte uns ein Handlanger vom Boss gebracht, der uns einen Tag vor dem Aufbruch aus dem Lager drei Packungen davon als Geschenk für seinen Patron mitgab. Der Boss liebt diesen Kaffee, hatte der Handlanger erklärt, der mit seinen zitternden Nasenflügeln, dem zotteligen Schnurrbart und den schwarzen Pupillen der wieselartigen Kreatur auf der Packung ähnelte. Jedenfalls kam mir das damals so vor. Der Boss hat extra danach gefragt, sagte der Handlanger. Am Flughafen kratzten Bon und ich unser Geld zusammen und erwarben die vierte Packung Kopi Luwak von der gleichen Marke, die wir dann unserer Tante schenkten. Als ich ihr erklärte, dass der Luwak, der Fleckenmusang, rohe Kaffeebohnen fraß und wieder ausschied, nachdem der Verdauungsapparat dieser Schleichkatze sie, wie es hieß, auf eine kulinarische Art fermentiert hatte, brach sie in Gelächter aus, was mich ziemlich verletzte. Kopi Luwak war sehr teuer, besonders für Flüchtlinge wie uns, und wenn es irgendetwas gab, für das die Franzosen eigentlich schwärmen müssten, dann gefilterten Katzenkaffee. Angesichts ihrer kulinarischen Eigenart, Hirn, Innereien, Schnecken und Ähnliches zu essen, waren die Franzosen in ihrer heldenhaften Entschlossenheit, jede Art von Tier und jedes Teil vom Tier zu verzehren, damit ehrenhalber Asiaten.

Der arme Bauer!, sagte sie und rümpfte die Nase. So sein Geld zu verdienen. Doch sofort wurde sie sich ihres Fauxpas bewusst und bügelte ihn eilig wieder aus. Ich bin mir sicher, er ist köstlich. Morgen früh werde ich uns eine Tasse machen – zumindest für dich und mich.

Sie nickte mir zu, da Bon am nächsten Morgen schon beim Boss sein würde. Nüchtern und im Licht des Morgens erwähnte Bon den Teufel, der sie entzweit hatte, mit keinem Wort, ein Zeichen, dass die Stadt des Lichts ihn vielleicht schon ein klein wenig erleuchtet hatte. Auch meine Tante sagte nichts, sondern erklärte uns den Weg zur eine Straße entfernten Metrostation Voltaire, von wo wir ins dreizehnten Arrondissement fuhren. Das war das asiatische Viertel oder Kleinasien, über das wir im Flüchtlingslager viele Gerüchte und Geschichten gehört hatten.

Hör auf zu flennen, sagte Bon. Mein Gott, du bist emotioneller als eine Frau.

Ich konnte nichts dagegen machen. Diese Gesichter! Die Menschen um uns herum erinnerten mich an zu Hause. Es waren ziemlich viele, aber bei Weitem nicht so viele wie in den Chinatowns von San Francisco oder Los Angeles, wo fast jeder aus Asien stammte. Aber wie ich schon bald feststellen sollte, machten schon eine Handvoll nicht weißer Menschen die Franzosen nervös. Kleinasien hatte eine zwar beträchtliche, aber nicht überwältigende Anzahl an asiatischen Gesichtern zu bieten, die meisten hässlich oder unscheinbar, nichtsdestoweniger hatten sie aber eine beruhigende Wirkung auf mich. Der Durchschnittsmensch jeder Rasse war nicht gut aussehend, aber während die Hässlichkeit anderer Vorurteile nur noch bekräftigte, hatte die Schlichtheit der eigenen Leute immer etwas Tröstliches.

Ich wischte mir die Tränen ab, um mir unsere Sitten und Gebräuche, die vielleicht fehl am Platz waren, bei denen uns aber dennoch wärmer ums Herz wurde, besser anschauen zu können. Ich spreche von dem schlurfenden Gang, den Asiaten größeren Schritten vorzogen, und davon, dass die Männer gewöhnlich vor ihren leidgeprüften, mit Einkaufstaschen beladenen Frauen gingen, und davon, dass eines dieser Muster an Ritterlichkeit seine Nase putzte, indem es mit einem Finger ein Nasenloch zudrückte und dessen Inhalt kraftvoll durch das andere hinausblies, wobei das Geschoss meine Füße nur um Zentimeter verfehlte. Ekelerregend, schon möglich, aber vom Regen leicht fortzuspülen, was mehr ist, als man von einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch sagen kann.

Unser Ziel war ein Import-Export-Geschäft, das seine Dienste auf Französisch, Chinesisch und Vietnamesisch anpries. Dazu gehörte die Versendung von Päckchen, Briefen und Telegrammen, also die Zustellung von Hoffnung an ein hungerndes Land. Der hinter seinem Schalter auf einem Hocker sitzende Angestellte schaute uns an und begrüßte uns mit einem Grunzen. Ich sagte ihm, dass ich den Boss sprechen wolle.

Er ist nicht da, erklärte der Angestellte, genau wie es uns der Handlanger vorausgesagt hatte.

Wir sind aus Galang, sagte Bon. Er erwartet uns.

Der Angestellte grunzte wieder, rutschte mit hämorrhoidaler Vorsicht von seinem Hocker und verschwand in einem Gang. Eine Minute später tauchte er wieder auf. Er erwartet euch.

Hinter dem Schalter, einen Gang entlang und durch eine Tür befand sich das Büro vom Boss. Es roch nach Lavendelraumspray, der Boden war mit Linoleum ausgelegt, die Wände zierten Pin-up-Kalender mit anziehenden Hongkong-Models in überschwänglichen Posen und eine Holzuhr von der Art, wie ich sie schon in Los Angeles gesehen hatte, in dem Restaurant von meinem alten Kommandeur der Spezialeinheit, dem General, jenem Mann, den ich verraten hatte und der dafür mich verraten hatte. Zugegeben, ich hatte mich in seine Tochter verliebt, aber wer hätte sich nicht in Lana verliebt? Ich sehnte mich immer noch nach ihr, so wie wir Flüchtlinge uns nach unserem Heimatland sehnten, in dessen Form die Uhr geschnitzt war. Unser Heimatland hatte sich inzwischen so unwiderruflich verändert wie der Boss. Als er hinter seinem Metallschreibtisch aufstand, hätten wir ihn fast nicht wiedererkannt. Im Flüchtlingslager war er so ausgezehrt und abgerissen gewesen wie jeder andere, das Haar verfilzt, das einzige Hemd unter den Achseln und zwischen den Schulterblättern braun verfärbt, das einzige Schuhwerk ein Paar dünne Flipflops.

Jetzt trug er Slipper, Bügelfaltenhose und Polohemd, das lässige Outfit des urbanen, westlichen Zweigs des Homo sapiens. Seine gepflegten Haare waren so akkurat gescheitelt, dass man einen Stift in die Furche hätte legen können. In unserem Heimatland hatte er beträchtliche Anteile im Geschäft mit Reis, Softdrinks und Petrochemie gehalten, nicht zu reden von gewissen Schwarzmarktgütern. Nach der Revolution hatten ihn die Kommunisten von seinem exzessiven Reichtum befreit, allerdings hatten die übereifrigen Schönheitschirurgen dem Fettsack zu viel abgesaugt. Dem Tod durch Verhungern nahe, war er hierhergeflohen und hatte nur ein Jahr benötigt, um sich erneut als Geschäftsmann zu etablieren und die gut gepolsterte Erscheinung eines wohlhabenden Menschen anzunehmen.

Gut, sagte er. Ihr bringt die Ware.

Wir nahmen unser maskulines Ritual der sozialen Körperpflege auf. Erst umarmten wir uns und klopften uns auf den Rücken, dann nahmen Bon und ich die Position der sozial niedriger stehenden Affenartigen ein und boten dem Alphatier unseren Tribut in Form der drei Packungen Kopi Luwak dar. Anschließend folgte der angenehme Teil, zu dem französische Zigaretten und Rémy Martin VSOP in Kognakschwenkern gehörte, die sich in unsere Hände schmiegten wie höchst wohlgeformte Brüste. In den letzten Jahren hatte ich nichts Kultivierteres getrunken als schwarz gebrannten Reiswhiskey, von dem ein Mann erblinden konnte. Die Wiedervereinigung meiner Zunge mit einer ihrer wahrhaftigsten Labsale, Kognak, trieb mir die Tränen in die Augen. Der Boss sagte nichts. Wie Bon hatte er mich im Flüchtlingslager viele Male weinen sehen. Andere hatten unter Malaria gelitten, mich dagegen hatten unvermittelte Weinkrämpfe geschüttelt, ein Fieber, von dem ich immer noch nicht vollständig genesen war.

Als meine Zunge sich von der Berührung mit dem sinnlich kupfernen Körper des Kognaks erholt hatte, schniefte ich und sagte, dass ich ihn nie für den Liebhaber eines Kaffees gehalten hätte, der mit von einem Fleckenmusang ausgeschiedenen Bohnen gebrüht war. Er bedachte mich mit seinem besten falschen Lächeln, nahm einen Brieföffner und schlitzte eine der Packungen auf. Dann schüttelte er eine braune Bohne in seine Handfläche, die im Licht der Schreibtischlampe glänzte.

Ich trinke keinen Kaffee, sagte er. Tee ja, aber Kaffee ist mir zu stark.

Wir betrachteten die arme Bohne, auf deren Bauch die Spitze des Brieföffners drückte. Der Boss rollte die Bohne mit den Fingern hin und her, hielt sie schließlich mit Daumen und Zeigefinger fest und kratzte sanft mit der Klinge daran. Das Braune blätterte ab und entblößte einen weißen Kern.

Das ist bloß Pflanzenfarbe, sagte er. Völlig ungefährlich, sogar wenn man es schnupft.

Er öffnete die zweite Packung, schüttelte eine weitere Bohne heraus, kratzte etwas von der braunen Farbe ab und brachte wieder das Weiße darunter zum Vorschein.

Ich muss die Ware prüfen, sagte er. Den Handlangern kann man nicht immer trauen. Ist eigentlich die Faustregel: Handlangern kann man nie trauen.

Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs und nahm so beiläufig einen Hammer heraus, als befänden sich Hämmer immer in Schubladen, und klopfte damit sanft auf die Bohne, bis sie zu feinem Pulver zerfiel. Er tupfte mit einem Finger in das weiße, leicht braunstichige Pulver und leckte es ab. Beim Anblick seiner rosafarbenen Zunge zuckte mein großer Zeh.

Der beste Test ist schnupfen. Aber dafür habe ich meine Leute. Oder wollt ihr mal? Na?

Wir schüttelten beide den Kopf. Er bedachte uns mit einer weiteren Kopie eines Lächelns. Brave Jungs. Das ist eine großartige Arznei, aber die Heilung davon will sich keiner antun.

Dann schlitzte er das dritte Päckchen auf, schüttelte wieder eine Bohne heraus, legte sie auf den Schreibtisch und klopfte mit dem Hammer darauf – einmal, zweimal, dreimal. Die Bohne zerfiel nicht. Er runzelte die Stirn und klopfte noch einmal darauf, jetzt ein bisschen fester. Dann zertrümmerte er die Bohne mit einem Schlag, dass die Schreibtischlampe einen überraschten Satz machte. Als er den Kopf des Hammers von der Tischplatte hob, sahen wir nicht weißes Pulver, sondern einen Fleck aus Splittern, der durch und durch braun war.

Scheiße, murmelte Bon.

Nein, sagte der Boss, Kaffee. Er legte den Hammer sanft auf den Tisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Mundwinkel verzogen sich um einen Hauch, wie bei einem belustigten Buchprüfer, der gerade den verhängnisvollen Fehler eines Betrügers aufgedeckt hat. Die Zeit musste stehengeblieben sein, denn ich konnte sehen, dass sich die Zeiger der Uhr, seitdem wir das Büro vom Boss betreten hatten, keinen Millimeter bewegt hatten. Tja, Jungs, schätze, wir haben hier ein Problem.

Und mit »wir« meinte er natürlich »ihr« beziehungsweise »uns«.

Niemand kannte den Namen vom Boss, und wenn, dann wagte er ihn nicht laut auszusprechen. In seinem Pass stand ein Name, aber niemand wusste, ob das der richtige war, den Pass gesehen hatten nur die Behörden. Wahrscheinlich kannten sein Vater und seine Mutter den Namen, aber er war Waise, und vielleicht hatten sie ihm noch keinen gegeben, als sie ihn ins Waisenhaus gaben. Eine Waise glich einem Bastard, und deshalb empfand ich ein gewisses Maß an Sympathie für den Boss, der mit zwölf aus dem Waisenhaus abgehauen war, weil er die katholischen Unterweisungen nicht länger ertragen wollte, den immer gleichen Haferbrei mit ein paar Fetzen getrocknetem Schweinefleisch, die Misshandlung durch andere Waisenkinder, weil er Chinese war, die nicht enden wollende Zurückweisung, weil niemand ihn adoptieren wollte. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Kindern hatte er nicht den Wunsch, selber welche zu haben. Der Boss hatte keinen Bedarf an einem Vermächtnis außer jenem, das er für sich selbst schuf, das Einzige, das zu besitzen sich lohnte. Er konzentrierte sich auf die beiden Männer vor ihm – von denen einer ich war – und entschied, dass sie keine Bedrohung für sein Vermächtnis darstellten. Sie waren nicht dumm genug, um ihre profitable Beziehung mit ihm für ein halbes Kilo Arznei von der feinsten Sorte zu riskieren.

Ich sag euch was. Kommt morgen mit der anderen Packung Kopi Luwak wieder. Kein Problem, oder?

Wie aus einem Mund sagten wir Nein. Leute, die ihn kannten, sagten vermutlich immer Ja, wenn es das war, was er wollte, oder Nein, wenn es das war, was er wollte. Bei Leuten, die ihn nicht kannten, war es dann seine Aufgabe, sie wissen zu lassen, wer er war und wie sie ihm antworten sollten. Wir beide kannten ihn und verstanden, dass, wenn er uns kein halbes Kilo anvertrauen konnte, uns gar nichts anvertrauen konnte. Er lächelte. Sicher ein Versehen, sagte er. Tut mir leid, dass ich euch Ungelegenheiten bereite. Du sagst, deine Tante mag Haschisch? Ich besorge ihr welches. Geht auf mich. Gratis.

Dann schrieb er zwei Adressen auf einen Zettel und gab ihn Bon. Hier, stell deine Sachen im Quartier ab, und geh zu diesem Restaurant. Zu spät zum ersten Job macht sich nicht gut.

Er wischte das weiße Pulver und den braunen Kaffee vom Kopf des Hammers, behielt ihn aber noch eine Weile in der Hand und bewunderte sein Gewicht, seine Ausgewogenheit, seine Anmut. Gleich nach seiner Ankunft hatte er ihn zusammen mit einer Schachtel Nägel in einem Pariser Baumarkt gekauft. Wohin er auch ging, kaufte er sich gerne als Erstes einen Hammer, falls er nicht schon einen hatte. Ein Hammer war ein einfaches Werkzeug, aber außer seinem Verstand das Einzige, was er je gebraucht hatte, um die Welt zu verändern.

Wir tranken unseren Kognak aus, gaben ihm die Hand und ließen ihn mit seiner Flasche Rémy Martin, der Schachtel Zigaretten, dem schmutzigen Aschenbecher, drei leeren Kognakschwenkern, den Kaffeebohnen und dem Hammer allein.

ZWEITES KAPITEL

Ich fürchtete den Boss aus gutem Grund, Bon dagegen fürchtete ich ein kleines bisschen weniger. Rückblickend war das ein Fehler, wenn man bedenkt, dass Bon mir in den Kopf geschossen hat. Ich kannte ihn seit über zwanzig Jahren, seit wir uns auf dem Lycée kennengelernt hatten. Er hatte zu viel Gewalt und Tod gesehen und auch selbst für beides gesorgt, um sogar vor jemandem wie dem Boss Angst zu haben. Fast sein ganzes Leben lang hatte sich Bon auf eine Art und Weise, die für jeden außer ihm selbst höchst ungesund war, mit der Bedeutung des Todes befasst. Sollte das Ziel und Zweck der Philosophie sein, dann war Bon ein ausgezeichneter Philosoph. Seit seiner Kindheit hatte er mit dem Tod zu tun gehabt, seit jenem Augenblick, als ein Kader der Vietcong den anklagenden Finger eines Revolvers an den Hinterkopf seines Vaters gehalten, eine Kugel in dessen gebrechliche Hülle geschossen und freigelegt hatte, was ein Sohn nie sehen sollte. Die Szene hatte in Bon ein mörderisches Verlangen entfacht, das erst das Umerziehungslager eindämmte. Dort weckte ihn der Tod jeden Morgen und hielt ihm die Scherbe eines zerbrochenen Spiegels so nah vors Gesicht, dass der Nebel des Atems sein Bild verschleierte.

In den Jahren vor dem Umerziehungslager hatte Bon das Jagen und Töten nicht das Geringste ausgemacht. Jetzt war ihm das Stellenangebot, das ihm der Boss im Flüchtlingslager gemacht hatte, wichtiger. Nachdem er ihn bei seiner Überlebensarbeit beobachtet hatte, hatte der Boss gesagt: Einen Mann wie dich, der die Dinge handhabt wie du, den könnte ich gebrauchen.

Unschuldigen tue ich nichts, sagte Bon.

Sie musterten den Mann, der zusammengekrümmt vor ihren Füßen lag, bewusstlos oder schon tot, die Bestandteile seines Gesichts von Bon auf kubistische Art neu arrangiert. Der Boss zuckte mit den Achseln und war einverstanden, da der Eintrittspreis in sein Gewerbe einen Verlust an Unschuld beinhaltete. Bei Bons anderer Bedingung, nämlich auch mir einen Job zu geben, zögerte er allerdings.

Leute wie diesen verrückten Bastard beschäftige ich nicht, sagte er schließlich. Er sah, dass bei mir eine Schraube locker war, die zuverlässige Schraube, die seit Jahren meine beiden Seelen zusammenhielt. Manchmal bemerkte ich gar nicht, dass ich zwei Seelen hatte, weil dies mein natürlicher Zustand war, auch wenn er unnatürlich war. Meine Jahre als Spion, Schläfer und Maulwurf hatten mich einem so großen Stress ausgesetzt, dass das Gewinde der Schraube jetzt ausgeleiert war. Solange sie fest angezogen gewesen war, hatten meine zwei Seelen einigermaßen gut zusammengearbeitet. Jetzt drehte meine Schraube durch – der allgemeine Zustand der Menschheit – und saß nicht mehr fest.

Entweder wir beide oder keiner, sagte Bon.

Das ist das Problem mit der Loyalität. Der Boss seufzte. Sie ist großartig, bis sie einem auf die Nerven geht.

Draußen vor dem Import-Export-Geschäft vom Boss sahen wir uns einem Dilemma gegenüber. Der Boss wollte, dass wir uns sofort an die Arbeit machten. Der Boss wollte aber auch seine Packung Kopi Luwak zurück, die jetzt meine Tante hatte und die sie jeden Augenblick öffnen könnte. Was war zu tun?

Sie hat gesagt, sie würde morgen einen Kaffee machen, sagte ich. Anscheinend war sie aber gar nicht so scharf darauf. Es ist also unwahrscheinlich, dass sie sich vorher einen macht.

Also dann, sagte Bon und schaute hoch zur Sonne, um festzustellen, wie spät es war. Seine Uhr hatte ihm einer der Wärter im Umerziehungslager abgenommen, weil … weil … egal, es gab keine Rechtfertigung dafür. Wir erledigen das jetzt so schnell wie möglich.

Die Unterkunft war nur einen kurzen Fußweg entfernt und führte durch eine Gegend, deren fade Architektur ohne jeden Charme war. Anders als das Paris von Maurice Chevalier und Catherine Deneuve mangelte es dem Großteil des dreizehnten Arrondissements an Charme, wobei allerdings unklar war, ob die Behörden Asiaten erlaubten, wegen ihrer Hässlichkeit in dieses Viertel zu ziehen, oder ob die Anwesenheit von Asiaten diese Reizlosigkeit verstärkte. Wie dem auch sei, Bon war zufrieden, als die lustlose Concierge mit der erschlafften Dauerwelle ihm seine Schlafstelle in einem der Stockbetten zeigte, die Bon an die Militärbaracken erinnerte, die er mit wahrer Inbrunst geliebt hatte. Gleiches galt für die nach scharfem Männerschweiß riechende Luft, die Begriffe wie Ehre und Kameraderie in ihm wachriefen. Alles andere jedoch wies auf Zivilisten als Bewohner hin: die schändlich zerknüllten Decken auf den Matratzen, die ausgefransten Schilfrohrmatten auf dem Parkettboden und der Klapptisch mit dem Reiskocher und der fettverschmierten, elektrischen Doppelkochplatte, die als Küche dienten.

Die sind alle in der Arbeit, sagte die Concierge. Das ist Ihr Bett.

Und die Miete?

Das übernimmt der Boss. Gutes Geschäft, was?

Ein gutes Geschäft für Bon hieß ein noch besseres Geschäft für den Boss. Da er außer der Wohnung meiner Tante nichts in der Hinterhand hatte, ließ Bon seine Tasche auf die Matratze fallen. Ich nehme es.

Das war, wie das Umerziehungslager ihn gelehrt hatte, sein unverwechselbares Talent. Er wurde mit allem fertig.

Unsere nächste Station war das Delights of Asia in der Rue de Belleville, wo Bon als Koch arbeiten würde. Koch?, hatte Bon gesagt. Ich kann nicht kochen. Mach dir keinen Kopf deswegen, hatte der Boss entgegnet. Der Laden ist nicht für sein Essen bekannt.

In diesem nicht für sein Essen bekannten Restaurant puckerten auf den weißen Bodenfliesen Krampfadern braunen Fetts, die gelben Wände waren verschmiert mit, so hoffte ich zumindest, klebrigen Fingerabdrücken, und wann immer die Küchentüren aufschwangen, konnte man das Geschrei und Geplapper der griesgrämigen Kellner und fluchenden Köche hören. Neben der Registrierkasse befand sich ein Kassettenrekorder, der schrille chinesische und vietnamesische Opern spielte. Hinter der Kasse stand der Oberkellner und Musikkurator, Le Cao Boi, der vom Aussehen bis hin zu den Manieren das typische romantische Bild des vietnamesischen Manns verkörperte: teils Poet, teils Playboy, teils Gangster.

Köstlich, wie sich ihre Körper verkrampfen, wenn ich die Play-Taste drücke, sagte er lachend und schaute zu dem einzigen Gast, der aufstand und seinen Teller stehen ließ, auf dem es von Würmern wimmelte, die sich bei genauerem Hinsehen als fettige, gallertartige Nudeln entpuppten. Le Cao Boi warf die Kassette aus und legte eine andere ein. Led Zeppelin, »Stairway to Heaven«, sagte er. Schon besser. Also! Der Boss hat mir alles über euch zwei schlimmen Finger erzählt.

Le Cao Boi war der Feldmarschall vom Boss. Er stellte uns die Angestellten des Restaurants vor: die beiden Kellner, die drei Köche, den Hilfskellner und den Hausmeister oder, wie Le Cao Boi sie nannte, die Sieben Zwerge. Anders als die Sieben Zwerge aus Schneewittchen waren sie nicht niedlich und nicht mal zwergenhaft, sondern bloß fies, roh und klein. Ich machte die Bemerkung, dass mir sieben Mann in einem leeren Lokal mittags an einem Wochenendtag ziemlich übertrieben vorkämen. Le Cao Boi grinste. Und da fragst du dich, warum der Boss mir noch zwei mehr schickt, richtig?

Selbst für einen Touristen oder Fremden war unverkennbar, dass sich das Restaurant nicht wegen seiner kulinarischen Verdienste hielt. Vielmehr diente es als Vorposten für die Ambitionen vom Boss, aus dem Getto von Kleinasien in die Innenstadt zu expandieren, diesem trotz dunkler Schatten weißen Herzen von Paris. Der Vorposten diente als Fassade für Le Cao Boi und die Sieben Zwerge, die außer klein auch böse und mit beiden Händen gleichermaßen geschickt waren. Ihre bevorzugten Waffen waren Hackmesser, höchst funktional sowohl in der Küche wie auch im Außeneinsatz, bei welchem jeder von ihnen zwei der großen Werkzeuge in maßgefertigten Lederhalftern unter den Achseln trug.

Sie sind böse, weil sie klein sind, sagte Le Cao Boi. Und aus dem gleichen Grund auch schwer zu treffen. Wenn jemand zum Schlag ausholt und dahin zielt, wo er den Kopf vermutet, schlägt er bloß Luftlöcher. Und wenn sie alle sieben auf einmal über einen herfallen, dann hat man ein Problem, aber genauso machen sie ihren Job. Einer hackt dir die Männlichkeit ab, ein anderer schlitzt dir die Kniescheibe auf, ein Dritter schneidet dir die Achillessehne durch, alles gleichzeitig. Er blies eine Wolke Rauch aus. Aber mit Nuancen haben sie es nicht so. »Nuance« gehört nicht zu ihrem Vokabular. Verdammt, »Vokabular« gehört nicht zu ihrem Vokabular. Dafür bist du jetzt da.

Le Cao Boi rückte seine Fliegersonnenbrille zurecht, die er nie abnahm, nicht mal bei der Liebe, jedenfalls sagte man das, vor allem sagte er das selbst. Er war stolz auf den Markenstatus seiner echt amerikanischen Ray Ban, die, wie er gern betonte, keine billige Imitation war. Le Cao Boi war modebewusst, von den Designersocken bis zu den Haaren, die er so stromlinienförmig pomadisierte, dass keine Strähne sich je bewegte, egal ob er Gedichte deklamierte (seine eigenen), Liebe machte (schwungvoll) oder seine bevorzugte Waffe schwang, einen Baseballschläger, den ihm ein amerikanischer Cousin geschenkt hatte. Le Cao Boi hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass es ihn als Flüchtling nach Frankreich und nicht nach Amerika verschlagen hatte, in das Land, nach dem er sich in seiner Jugend in Cholon verzehrt hatte. Er war wie der Boss ethnischer Chinese, Sohn eines Gangsters aus Cholon und Enkel eines Händlers aus Guangdong, der sich um die Jahrhundertwende in Saigon niedergelassen hatte. Der Großvater hatte Seide und Opium verkauft, der Vater nur Opium, und der Enkel verkaufte nichts außer seinen gewalttätigen Dienstleistungen, ein beträchtlicher Niedergang, über den er in seinen Gedichten oft nachgrübelte, die aber so unsagbar schlecht waren, dass keines davon hier zitiert werden kann.

Betrachte mich einfach als einen Baudelaire mit Baseballschläger, sagte er und zeigte uns seinen wertvollen Louisville Slugger. Was für ein Name, fügte er hinzu und rollte den Schläger über den Tresen, wo die deprimierte Registrierkasse stand, deren einziger Lebenszweck – dass ihre Tasten gedrückt wurden – sich kaum jemals erfüllte. Also, wie sollen wir dich nennen? Du bist ein Killer, das ist offensichtlich. Dein Gesicht möchte ich lieber nicht sehen, wenn ich die Tür aufmache. Aber du! Le Cao Boi wandte seinen nachdenklichen Blick mir zu. Der Boss sagte, du hättest schon einen Namen. Und, kennst du den?

Er bedachte mich mit einem selbstgefälligen Grinsen. Hallo, verrückter Bastard, sagte Le Cao Boi. Ich hab schon viel von dir gehört.

Früher hätte ich das übel genommen. Aber nach allem, was ich durchgemacht und gesehen hatte, war ich vielleicht wirklich ein verrückter Bastard. Vielleicht war das nur ein anderer Name für einen Mann mit zwei Gesichtern und zwei Seelen. Wenn ja, dann wusste ich wenigstens, wer ich war, und das war mehr, als man von den meisten sagen konnte. Die beiden Bilder von mir, die in seinen Brillengläsern schwebten, erinnerten mich daran, dass ich nicht einer, sondern zwei war, nicht nur ich oder moi, sondern zuweilen auch wir oder uns. Wir könnten zwei Menschen in einem Körper gewesen sein, zwei Seelen in einer Hülle, aber wenn es eine Schwäche war, in sich geteilt zu sein, so war es auch eine Stärke, sein eigener Zwilling zu sein. Wir waren nicht etwas Halbes. Wie meine Mutter mir wieder und wieder gesagt hatte: Du bist das Doppelte von allem!

Okay, genug gequatscht, entschied Le Cao Boi. Ich hasse Small Talk. An die Arbeit.

Hey, Chef, sagte einer der Zwerge, der aus dem hinteren Teil des Restaurants auftauchte. Er hatte schlaffe Augenlider. Grumpy hat’s schon wieder gemacht.

Du ma!, sagte Le Cao Boi. Und? Warum unternimmst du nichts dagegen?

Du ma!, gab Sleepy zurück und zeigte auf mich. Was ist mit dem Frischling?