Die geheimnisvolle Stadt im Schnee - Lotti Rost - E-Book

Die geheimnisvolle Stadt im Schnee E-Book

Lotti Rost

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Beschreibung

Der Professor kratzte sich etwas verlegen am Kopf. »Na ganz toll...«, murmelte er leise. Dann sah er zu Emily auf. »Emily Wright, nehme ich an?« »Öh... ja«, erwiderte Emily verdutzt. Hatte der Professor allen Ernstes vergessen, dass sie ein Praktikum bei ihm machen würde? Noch dazu ein Jahrespraktikum! Und besonders begeistert klang er auch nicht gerade. »Es tut mir leid, es gab viel zu tun in letzter Zeit. Ich hatte Pauls Anfrage völlig vergessen... na ja, bis gerade eben jedenfalls.« Professor Evans sah aus, als hätte man ihm statt einer Praktikantin einen Eimer rostiger Nägel aufgedrückt. ***************************************************************************************************************************************************** Das Praktikum an der Universität bei Professor Evans ist eine große Chance für Emily – und deshalb will sie sich trotz des eher schlechten Starts so richtig anstrengen! Aber natürlich muss sie ausgerechnet an einen Professor geraten, der sie nicht leiden kann, ein Fach unterrichtet, von dem sie nichts versteht und zudem noch extrem süchtig nach Kaffee ist. Wenigstens findet Emily in der neuen Stadt schnell Freunde. Und als sie merkt, dass es in Melton Hill ein großes Geheimnis zu entdecken gibt, stürzt sie sich kopfüber in das Abenteuer! Was ist vor acht Jahren geschehen und was hat Professor Evans mit all dem zu tun? Die Tragödie von damals droht sich zu wiederholen, doch dieses Mal mit Emily in der Hauptrolle...

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Für Herrn GräveWas für ein Glück ich hatte Sie als Grundschullehrer zu haben – danke, dass Sie mich ermutigt haben immer weiter zu schreiben.

»Du kannst mir doch sowieso nicht helfen. Was machst du noch hier?«»Ich kann Kaffee holen!«»Das kann ich selber.«»Ich bin Ihre moralische Unterstützung?«

ImpressumTexte: © Copyright by Lotti RostIllustrationen, Textsatz und Gestaltung: © Copyright by Maren HasenjägerVerlag:Lotti Rostc/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 Dresden Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Prolog

Der Regen hatte sie überrascht und völlig durchnässt. Ihre Kleidung klebte unangenehm auf ihrer Haut und trotz der schwülen Sommerhitze, die noch immer in der Luft lag, begann sie ganz leicht zu zittern.

Vor ihr ragte ein großer Gebäudekomplex aus dem Boden, der einen langen, bedrohlichen Schatten auf sie warf. Nervosität stieg in ihr auf. Hier war es also...

Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein. Die Luft roch nach frischer Erde.

»Du schaffst das. Du hast ja wohl schon Dinge getan, die viel verrückter waren... vor allem in letzter Zeit«, sprach sie sich selbst Mut zu.

Einen Moment lang betrachtete sie noch die sonnengelbe Fassade des Gebäudes, dann zwang sie sich den ersten Schritt zu tun.

Kapitel 1: Ein bisschen Chaos macht es doch erst interessant!

Der alte Bahnhofsvorsteher blickte kaum auf, als der letzte Zug an diesem Abend zischend auf dem Gleis einfuhr und zum Stehen kam. Er wusste bereits, dass niemand hier aussteigen würde und es waren auch keine Fahrgäste auf dem Bahnsteig, die einsteigen wollten. Er legte die Zeitung beiseite, in der er vorhin noch zum Zeitvertreib geblättert hatte und zog seine Mütze aus, die Teil seiner blauen Uniform war. Sofort spürte er einen feinen Lufthauch auf seinem kahlen Kopf.

Sobald dieser Zug den Bahnhof wieder verlassen haben würde, könnte er endlich Feierabend machen. Und dann waren es nur noch 427 Tage bis zu seiner Pensionierung.

Ein schriller Pfiff verhallte einsam auf dem menschenleeren Bahnhof und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Der Vorsteher erhob sich langsam von seinem Stuhl und zog seinen Mantel über. Hier in der Bahnhofsvorhalle wurde zwar geheizt, aber draußen war es bitterkalt. Durch die Glastüren konnte man sehen, dass draußen noch immer hoher Schnee lag. In der Abenddämmerung glitzerte er ganz besonders schön und tauchte den alten Bahnhof in eine friedliche Atmosphäre.

Der Vorsteher klemmte sich die Zeitung unter den Arm und holte einen großen Schlüsselbund aus seiner Manteltasche hervor, als er plötzlich ein Geräusch von draußen vernahm. Zunächst nur ganz leise kam es rasch näher... waren das etwa die Rollen eines Koffers?

Tatsächlich konnte er draußen auf dem Bahnsteig eine kleine, dunkle Gestalt erkennen, die einen pastellfarbenen Koffer auf zwei Rollen hinter sich her zog. Sie blieb vor dem altmodischen Holzschild am Eingang stehen, auf dem in goldenen Lettern der Name der Stadt - Melton Hill - prangte. Der Schnee verdeckte einen Teil der Schrift, doch die Gestalt nickte zufrieden und betrat die Bahnhofsvorhalle. Der kalte Windzug, den der Reisende durch die offene Türe mit hinein brachte, ließ den Bahnhofsvorsteher erschauern.

Jetzt erst erkannte er, dass die Gestalt ein junges Mädchen war, höchstens im Teenager-Alter. Sie war nicht besonders groß und trotz ihres dicken Wintermantels konnte man erkennen, dass sie eine sehr zierliche Figur hatte. Beiläufig wischte sie sich eine Strähne ihres lockigen, haselnussbraunen Haares aus dem Gesicht, das sie unter einer grauen Strickmütze versucht hatte zu bändigen. Es war ihr nicht wirklich gelungen – die Spitzen kringelten sich auf Kinnhöhe wieder hinaus und rahmten ihr Gesicht vollständig ein. Als sie den Vorsteher erblickte, schien sich ihr Blick zu erhellen und sie hob eine Hand zum Gruß.

»Guten Abend!«, rief sie mit einer fröhlichen Stimme, »vielleicht können Sie mir helfen, ich suche...«

Ihre Frage wurde von einem lauten Knall unterbrochen, als sie versehentlich den Griff ihres Koffers losließ und dieser mit Getöse zu Boden fiel. Der Nachhall in der leeren Bahnhofshalle ließ sie schuldbewusst zusammenzucken. Eilig hob sie ihren Koffer wieder auf, verhedderte sich dabei noch fast in ihrem türkisfarbenen Schal und verlor einen Zettel, den sie in der Hand gehalten hatte.

Als alles wieder aufgesammelt war, startete sie einen neuen Versuch.

»Entschuldigung... ich muss in die Universität von Melton Hill. Können Sie mir helfen?«

Eine Schneespur hinter sich herziehend kam sie ein Stück näher und der Vorsteher konnte erkennen, dass sich ihre Wangen rot gefärbt hatten.

»Du bist aber noch etwas zu jung, um zu studieren, oder?«, fragte der Vorsteher erstaunt. Vor und nach Beginn der Semester war er viele Studenten am Bahnhof gewohnt, doch ansonsten kamen sie selten hierher. Wenn sie sich zum Winter hin bei der Universität einschreiben lassen wollte, war diese junge Dame zu spät. Oder zu früh, um sich für den Sommer einzuschreiben. Doch sie schüttelte nur energisch den Kopf.

»Nein, ich bin nicht zum Studieren hier... sondern für ein Praktikum«, erklärte sie bestimmt.

»Ein Praktikum? An der Universität von Melton Hill? In deinem Alter?«

Eifriges Nicken.

»Ja, ich soll mich bei Professor Evans melden.«

Der Bahnhofsvorsteher starrte sie für einen Moment nur an, dann zog er skeptisch eine Augenbraue nach oben.

»Bei Professor Evans«, wiederholte er ungläubig und strich sich dabei über den Schnurrbart. Diese junge Dame unterlag ganz offensichtlich einem großen Fehler. »Professor Evans nimmt keine Praktikanten an.«

»Aber«, setzte das Mädchen an und legte die Stirn in Falten, »ich bin mir ganz sicher...«

Sie entfaltete den Zettel, den sie zuvor hatte fallen lassen. Der Vorsteher erkannte den Briefkopf der Universität und nahm ihr das Schreiben aus den Händen. Tatsächlich, da stand es:

Ein Jahrespraktikum bei Professor Evans von der Melton Hill Universität, ab dem morgigen Datum, durchgeführt von -

»Dann bist du also Emily Wright?«, las der Vorsteher von dem Brief ab.

Das Mädchen namens Emily nickte ein weiteres Mal und lächelte nun wieder. Sie wirkte noch so jung mit ihrer Stupsnase und den großen, blau-grauen Augen. Als sie den Brief wieder an sich nahm, kam sie gerade nahe genug heran, dass man unter ihrem linken Auge ein kleines Muttermal erkennen konnte.

»Ich wollte heute noch bei der Universität vorbei gehen und mich vorstellen...« Sie zögerte kurz. »Ich weiß nur nicht, ob der Professor um diese Zeit überhaupt noch dort ist?«

Der Vorsteher musste lachen.

»Den trifft man immer in der Universität an, keine Sorge.«

Emily war darüber anscheinend so erleichtert, dass sie den Sarkasmus in der Stimme des Vorstehers gar nicht wahrnahm.

»Und wie komme ich am besten zur Uni?«

»Wenn du aus dem Bahnhof herausgehst, kannst du die Straßenbahn zum Marktplatz nehmen und dort in Richtung Universität umsteigen. Oder du gehst direkt zu Fuß zum Marktplatz, es dauert von hier aus nur etwa zehn Minuten«, erklärte der Vorsteher und deutete hinaus, »Und zur Universität sind es dann nur ein paar Stationen.«

»Dann gehe ich zu Fuß zum Marktplatz, vielen Dank!«

»Du musst hier vorne raus und immer nur der Straße folgen. Und wenn du bei der Universität bist, frag am besten gleich mal nach, ob denen vielleicht ein Fehler unterlaufen ist. Du bist bestimmt einem anderen Professor zugeteilt.«

Emily steckte den Brief in ihre Manteltasche und lachte.

»Ich bin mir sicher, dass das alles so richtig ist.«

Aber ihr Lachen klang nervös und verriet, dass sie nun doch verunsichert war. Trotzdem setzte sie sich in Bewegung und zog ihren Koffer in Richtung Ausgang hinter sich her.

»Jedenfalls noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe!«, rief sie noch über ihre Schulter.

Hätte sie es nicht so eilig gehabt, den Marktplatz zu erreichen, hätte sie den alten Vorsteher noch amüsiert in sich hineinlachen hören.

»Ein Praktikum bei Evans also....«

Trotz der dicken Schneeschicht war der Marktplatz von Melton Hill wesentlich belebter als der Bahnhof, wie Emily nur wenig später mit Erleichterung feststellte. Die Händler packten gerade ihre Auslagen in Kisten zusammen, während aus den Cafés Stimmengewirr und der Geruch von verschiedenen Kaffeesorten und Gebäck drang. Emily lief durch den knirschenden Schnee und zog ihren Koffer mit einiger Anstrengung bis zu der Straßenbahnhaltestelle hinter sich her. Dort warteten bereits ein paar Grüppchen von Leuten, die sich angeregt unterhielten. Nachdem, was Emily so in den Gesprächen aufschnappen konnte, mussten diese jungen Leute wohl allesamt Studenten sein. Möglichst unauffällig versuchte Emily sich unter sie zu mischen und wartete in der Menschentraube, bis die Straßenbahn kam. Und staunte dann nicht schlecht: Anscheinend waren die Winter in Melton Hill immer sehr schneereich, denn die Straßenbahn war vorne mit einer riesigen Schaufel ausgestattet, ganz wie bei einem Schneepflug.

Die Studenten gingen beiläufig einen Schritt zurück, als die Bahn einfuhr, um nicht den Schnee abzubekommen, der links und rechts durch die Luft wirbelte. Emily reagierte zu spät und spürte den eisigen Schnee auf ihrer Strumpfhose bis zu ihren Beinen durchsickern. Sie fluchte leise und bemühte sich dann hinter den Studenten noch schnell in die überfüllte Bahn einzusteigen. Als diese wieder anfuhr, konnte Emily sich gerade noch an einer der Metallstangen festklammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

In der Bahn war es warm und stickig und in dem Gedränge war es schwer, mit einem Koffer nicht im Weg zu stehen.

Emily riss sich ihre Mütze vom Kopf und wischte sich schnell ein paar Schweißtropfen von der Stirn.

Dabei bemerkte sie, wie eine der Studentinnen sie in aller Seelenruhe musterte. Als sich ihre Blicke schließlich trafen, schaute Emily nervös zu Boden. Doch sie schien das Interesse der jungen Frau schon geweckt zu haben, denn sofort hörte sie eine freundliche Stimme fragen:

»Na, du bist aber neu hier, was? Zumindest hab ich dich hier noch nie gesehen...«

Emily blickte auf. Die Studentin war schlank und einen guten Kopf größer als sie. Ihr langes blondes, fast schon weißes Haar bildete einen schönen Kontrast zu ihrer schwarzen Lederjacke. Sie sah Emily mit ihren runden, braunen Augen neugierig an.

»Ähm, ja, ich bin gerade erst angekommen«, sagte Emily und strich sich dabei nervös eine Strähne aus dem verschwitzten Gesicht.

Die Studentin drängelte sich näher zu ihr heran.

»Und was machst du hier so? Besuchst du jemanden?«, wollte sie wissen.

Emily war überrascht, dass sie einfach so von einer Fremden in einer überfüllten Straßenbahn angesprochen und ausgefragt wurde – aber die junge Studentin wirkte sehr nett und wenn Emily in Zukunft viel in der Universität war, würden sie sich vielleicht öfter begegnen.

»Ich bin für meinen Praktikumsplatz angereist«, erklärte sie und lächelte.

»'N Praktikum? Wo?«

»An der Universität«, erzähle Emily stolz. Jetzt würde sie bestimmt erfahren, was die junge Frau studierte.

Doch die reagierte etwas anders als erhofft.

»Im Ernst? An der Uni? Erzähl doch keinen Scheiß, du siehst aus wie 12!«

Die Studentin lachte und Emily spürte, wie ihr heiß wurde. Ja, sie kannte dieses Vorurteil. Sie wurde immer jünger geschätzt als sie war. Und das nervte sie extrem.

»Ich bin gerade sechzehn geworden«, sagte sie und überlegte einen Moment, ob sie dieser Person die Zunge rausstrecken sollte. Leider hätte das ihre Aussage nicht gerade unterstrichen.

»Sorry, das kam nur etwas unerwartet«, entschuldigte sich die Studentin, musste aber immer noch lachen, »Und was für'n Praktikum soll das sein?«

Emily wurde die Fragerei jetzt wirklich unangenehm und die Studentin kam ihr bei dem Gespräch auch immer näher...

»Ich bin Jahrespraktikantin bei Professor Evans«, erklärte Emily knapp und drehte sich ein Stück weg.

»Nie im Leben!«

Die Studentin sagte das sehr laut und Emily blickte wieder zu ihr hinüber. Ihr Gesicht verriet, wie skeptisch sie war.

»Nie im Leben bist du Praktikantin bei Evans«, wiederholte sie und sah noch immer so aus, als hätte man ihr erzählt, dass es die eierlegende Wollmilchsau wirklich gibt.

Emily schluckte. Hatte die Universität vielleicht doch einen Fehler gemacht? Wieso reagierten die Leute hier so seltsam, wenn sie den Namen des Professors aussprach? Und wie lange brauchte diese blöde Bahn eigentlich bis zur Uni? Da sie mit einer Hand den Koffer und mit der anderen sich selbst festhielt, konnte Emily keinen Blick auf den Brief der Universität werfen, der in ihrer Tasche war. Aber sie hatte dort schon mehrfach klar und deutlich den Namen Evans gelesen. Und schließlich hatten ihr die Millers doch auch geholfen, damit sie diesen Praktikumsplatz bekam... ein Irrtum war also ausgeschlossen.

Der Studentin schien aufzufallen, dass Emily nun vor sich hin grübelte und sie klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.

»Na ja, wenn du es sagst... aber frag lieber noch mal bei der Universität nach. Denn das Professorchen ist – untertrieben ausgedrückt – etwas... eigensinnig.«

»Aha....«

Diese Aussage beruhigte Emily nicht gerade. Und wieso benutzte diese Frau das Wort Professorchen? Dann kam ihr eine Idee.

»Bist du vielleicht eine Studentin des Professors?«

»Ich? Neee! Soweit kommt's noch!«

Die junge Frau redete wieder lauter als nötig und ihre Stimme dröhnte in Emilys Ohr, weil sie für diese Lautstärke viel zu nah bei ihr stand. Dann stockte Emily.

»Oh... ich dachte, du kennst den Professor, so wie du über ihn redest... aber vielleicht weißt du trotzdem, wo sein Büro in der Uni ist? Ich wollte mich heute noch bei ihm vorstellen.«

»Ich bin ja nicht mal eingeschrieben, Kleine, ich kenn' mich nicht aus. Aber du willst zur Uni?«

Also war sie doch keine Studentin... Emily nickte.

»Ja.«

»Jetzt?«

Emily wurde ungeduldig.

»Ja«, sagte sie mit Nachdruck.

Die vermeintliche Studentin deutete auf die entgegengesetzte Fahrtrichtung.

»Falsche Bahn«, erklärte sie dabei kurz und bündig.

Vor lauter Schreck ließ Emily ihren Koffer heute zum zweiten Mal fallen. Nur, dass er dieses Mal durch das Gedränge nicht zu Boden ging.

»Wie bitte? Dann ist keiner von den Leuten hier ein Student?«, fragte sie entsetzt, nachdem sie den Griff ihres Koffers wieder sicher festhielt.

»Klar sind das Studis«, sagte die junge Frau und drehte sich nach links und rechts um, »aber die fahren bestimmt alle gerade nach Hause. Haben wahrscheinlich noch vorher am Marktplatz was getrunken oder so...«

»Ich muss hier raus...«, murmelte Emily und versuchte zu erkennen, ob die nächste Haltestelle in der Nähe war. Wieso hatte sie denn nicht einmal kurz nachgedacht und überprüft, ob sie in die richtige Bahn gestiegen war? Es war doch schon Abend, natürlich fuhren die Studenten jetzt nicht zur Universität, sondern nach Hause!

Zum Glück wurde die Bahn gerade langsamer und kam nur Augenblicke später an einer Station zum Stehen.

Emily zog mit aller Kraft ihren Koffer hinter sich her und drängelte sich an den anderen Leuten vorbei zur Türe. Mit einem Satz sprang sie ins Freie und versank sofort in knöcheltiefem Schnee.

»Viel Glück bei deinem Praktikum!«, rief ihr die junge Frau noch nach, »Ich bin übrigens Leo!«

Emily hob noch schnell die Hand, um ihr zu zeigen, dass sie sie gehört hatte. Gleichzeitig war sie damit beschäftigt, sich nach der Haltestelle für die entgegengesetzte Fahrtrichtung umzusehen. Die Namen irgendwelcher Leute aus dieser Stadt musste sie sich jetzt nicht unbedingt merken.

»Kurz vor halb acht!«, stöhnte Emily, als sie nach einer weiteren Bahnfahrt auf die Uhr an der Haltestelle der Universität blickte.

Wenn ich überhaupt noch das Glück habe, den Professor hier anzutreffen, will er so spät bestimmt gar nicht mehr mit mir reden..., überlegte sie enttäuscht.

Schnell setzte Emily ihren Koffer auf einer Bank ab, um ihr zerzaustes Haar wieder unter ihrer Mütze zu verstecken. Als sie sich dabei umdrehte, sah sie endlich das Universitätsgelände – und erstarrte für einen Moment.

»Wow, das ist ja schön!«, entfuhr es ihr leise.

Über dem Haupttor standen in kringeligen, goldenen Buchstaben die Worte:

Melton Hill Universität

Der Campus vor dem Hauptgebäude sah aus, als wäre ein riesiger, weißer Teppich ausgelegt worden. Im Sommer würde hier wahrscheinlich eine grüne Wiese sein, auf der die Studenten in ihren Freistunden herumsaßen. Dahinter konnte man einen Blick auf ein altes, steinernes Gebäude werfen. Mit seinen kleinen Türmchen und den Wasserspeiern erinnerte es eher an ein antikes Schloss als an eine Universität. Zugegeben, es war ein kleines Schloss und es ging eine faszinierende Atmosphäre von dieser Umgebung aus. 4. So ein altes Gebäude musste doch tonnenweise spannende Geschichten auf Lager haben, wenn die Mauern nur reden könnten.

Emily schmunzelte.

»Wäre ein gute Filmkulisse«, murmelte sie, »für Fantasyfilme oder so...«

In diesem Moment hörte sie, wie irgendwo in der Ferne eine Kirchturmuhr schlug. Sie zuckte zusammen und erwachte aus ihrer Träumerei.

»Oh Gott, ich Esel!«

Schnell lief Emily los, musste jedoch noch einmal zurück, um ihr vergessenes Gepäck einzusammeln und rannte dann weiter durch das Tor bis zum Eingang des Hauptgebäudes.

Kapitel 2: Zimmer Nummer 309

Vorsichtig tastete Emily nach der Türklinke des Haupteingangs. Es war mittlerweile schon ziemlich dunkel geworden und der Campus war nicht unbedingt gut beleuchtet. Sie schob die massive Eichentür mit den Eisenverzierungen auf und seufzte erleichtert. Immerhin war sie noch nicht abgeschlossen, also musste irgendwer ja noch hier sein.

Emilys Schritte warfen ein lautes Echo gegen die Wände, als sie das Gebäude betrat. Die Vorhalle war nicht besonders groß, aber sie schien endlos hoch zu sein. Das gedimmte Licht warf unheimliche Schatten auf die Wände. Die Ausstattung war sehr altmodisch und passte zum äußeren Eindruck des Gebäudes. Links und rechts vor Emily führten zwei steinerne Treppen mit einem uralt aussehenden Geländer in die oberen Stockwerke. Das war also das allererste Mal, dass sie eine Universität betrat... ihr Herz klopfte beim Gedanken daran, dass sie hier nun für ein ganzes Jahr arbeiten würde!

Emily reckte den Hals, um zu sehen, wie hoch die Treppen reichten. Gerade als sie sich fragte, in welches Stockwerk sie wohl müsste, hörte sie eine schnarrende Stimme hinter sich:

»Wen haben wir denn hier noch? Du bist etwas zu spät für die Vorlesungen!«

Aus einer Seitentür direkt neben dem Eingang blickte ein schmaler Kopf mit grauem Haar und Schnurrbart hervor, der Emily mit kleinen, aus den Höhlen hervortretenden Augen von oben bis unten argwöhnisch musterte.

»Und wohl auch etwas zu jung...«, fügte der Kopf knurrend hinzu.

Emily zerrte hastig den Brief aus ihrer Tasche. Sie versuchte gelassen zu klingen, aber der Mann hatte sie ganz schön erschreckt.

»Ich, ähm, ich suche das Büro von Professor Evans... ich wollte mich dort vorstellen.«

»Niemand kommt einfach so in das Büro des Professors. Wer glaubst du, wer du bist?«, fragte der schnurrbärtige Kopf und sah Emily noch eine Spur misstrauischer an.

»Ich bin Emily Wright, Sir.«

Nach dem Gesichtsausdruck des Mannes zu urteilen war er nicht ganz zufrieden mit Emilys Antwort. Endlich löste sich der Kopf aus der Seitentür und zum Vorschein kam ein alter, nicht besonders großer, aber etwas schmuddelig wirkender Mann in einem grauen Overall.

Emily überlegte schnell, ob er hier der Hausmeister sein könnte, doch ihre Gedanken wurden unterbrochen.

»Hm, Wright also? Und was willst du vom Professor?«, hakte der Mann weiter nach.

»Ich soll mich wegen meines Praktikums bei ihm mel-«

Emily hatte den Satz noch nicht beendet, da brach der vermeintliche Hausmeister schon in ein eher gruselig als heiter wirkendes Gelächter aus.

»Ein Praktikum? Bei Evans?«, bellte er offensichtlich hoch amüsiert.

Es reichte. Emily war komplett verwirrt. Was war denn nur mit dieser Stadt los?

Als der Mann sich wieder beruhigt hatte und Emilys fragendes Gesicht sah, riss er ihr den Brief mit dem Siegel der Universität aus der Hand. Nachdem er einen prüfenden Blick darauf geworfen hatte, startete Emily einen nächsten zaghaften Versuch.

»Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Professor Evans' Büro finden kann? Und ob er heute überhaupt noch hier anzutreffen ist?«

Der schnurrbärtige Mann blickte von dem Zettel auf und sah Emily mit denselben prüfenden Augen an wie eine Sekunde zuvor noch den Brief. Dann schlug er seltsamerweise einen schon viel freundlicheren Ton an.

»Professor Evans Büro liegt hier im Erdgeschoss, du musst unter der linken Treppe den Durchgang nehmen, der führt bis zu dem Zimmer mit der Nummer 309. Bis eben habe ich den Professor noch herumwerkeln hören, also müsste er da sein.«

Emily nickte.

»Zimmer 309, ja?«

»Ja ja, 309...«, grummelte der vermeintliche Hausmeister noch, dann verschwand er wieder in der kleinen Seitentür, aus der er gekommen war.

Emily ging unter der linken Treppe hindurch und betrat einen nur spärlich beleuchteten Korridor. Hätte der alte Kauz sie nicht darauf aufmerksam gemacht, hätte sie diesen Gang sicherlich übersehen.

»Wirklich, nur merkwürdige Gestalten in dieser Stadt, unglaublich...«, murmelte sie, während sie Tür für Tür auf ihre Nummer hin überprüfte.

»302... 303... wieso überhaupt nicht 002 und 003? Wir sind doch im Erdgeschoss...«, fragte sie sich dabei leise und starrte auf die kleinen Messingschilder an den Türen, als könnten diese ihr eine Antwort geben.

Endlich stand sie vor Zimmer Nummer 309. Emily atmete einmal tief durch.

»Du schaffst das!«, flüsterte sie sich selbst noch einmal ermutigend zu, dann klopfte sie zweimal gegen die massive Tür.

Kurze Stille.

Aber niemand antwortete.

Emily klopfte erneut und beschloss diesmal, wenn auch ein wenig zaghaft, zu rufen:

»Professor Evans?«

Erst herrschte wieder Stille, dann glaubte Emily das knarzende Geräusch eines Stuhls zu hören, der über den Boden geschoben wurde. Doch der Laut kam definitiv nicht aus dem Büro des Professors. Verwirrt sah sich Emily um, aber im Korridor war niemand außer ihr zu sehen. Vorsichtig legte sie ihr Ohr an die Tür und lauschte, konnte jedoch nichts hören. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen.

»Ich... ich komme jetzt rein...«, rief sie etwas heiser. Wieso war sie nur so aufgeregt?

Sie wand sich durch die halbgeöffnete Tür und betrat das Zimmer. Sofort klappte ihre Kinnlade herunter und Emilys Augen wurden größer, als sie ohnehin schon waren.

So ein Büro hatte sie noch nie gesehen. Ein Bücherregal reihte sich an das nächste, wobei aber nicht die Anzahl der Regale das Beeindruckende war (obwohl es schon recht viele waren), sondern ihre Höhe. Die Zimmerdecke war gut vier oder fünf Meter hoch und die Regale quetschten sich regelrecht darunter. Es gab zwei Leitern mit kleinen Rollen, mit denen man jedes Buch in jeder beliebigen Höhe erreichen konnte. Aber selbst diese riesigen Regale schienen nicht genug Platz zu bieten, denn auf dem Boden konnte man kaum einen Schritt tun, ohne auf eine der Lektüren zu treten. Den dunkelrot gemusterten Teppich erkannte sie erst beim zweiten Hinsehen. Ihr Blick schweifte langsam durch das Zimmer – außer ihr schien niemand sonst in dem Raum zu sein. Neben den Regalen gab es kaum Möbelstücke, nur ein ebenfalls mit Büchern und einem PC-Bildschirm bepackter, altmodischer Schreibtisch aus dunklem Holz mit dazugehörigem Stuhl stand unter dem großen Bogenfenster. ­Doch auch hier konnte sie niemanden entdecken.

Emilys Augen wanderten zur Decke. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass es tatsächlich jemanden gab, der alle diese Bücher innerhalb eines Lebens lesen konnte.

»Muss wohl ein ganz schöner Bücherwurm sein, dieser Profess-Ah!«

Emily stieß mitten in ihrem vor sich hin gemurmelten Satz einen Schrei aus. Hinter ihr, in der Mitte des Raumes, war gerade ein Mann aufgetaucht und sah sie mit fragendem Blick an.

»Sind Sie aus meinem Kurs?«, fragte er mit dunkler Stimme und kratzte sich nachdenklich an seinem stoppeligen Kinn.

»Ah, nein, ich... ähm... ich suche Professor Evans, ich wollte mich bei ihm vorstellen, wegen... also ich soll hier wegen eines Praktikums...«

Emily war vollkommen durch den Wind. Sie hatte seit ihrer Ankunft schon so viele Schreckensmomente erlebt, aber das hier war mit Abstand der schlimmste. Wie konnte dieser Kerl sich nur so geräuschlos in das Zimmer geschlichen haben?

»Praktikum?« Der hochgewachsene und sehr schmal gebaute Mann legte seine Stirn in Falten. »Ich weiß nichts von einem Praktikum...«

Emily hatte sich wieder ein wenig gefangen und wagte eine vorsichtige Frage:

»Sind Sie Professor Evans?«

»Schon, aber ich erinnere mich nicht, eine Praktikantin eingestellt zu haben.... und noch zudem eine so junge...«

Emily verspürte ein Stechen in der Magengegend.

Und einen leichten Anflug von Panik. Sie hatte doch keinen Fehler gemacht? Und dann schon wieder eine Bemerkung über ihr Alter. So jung war sie ja nun auch nicht!

Wenigstens wurde sie nun etwas mutiger.

»Mr. Miller hat das Praktikum für mich arrangiert. Er sagte, Sie würden -«

Auf einmal schien dem Professor etwas eingefallen zu sein, denn seine Augen blitzen auf und er machte mit seinen langen Beinen einen Satz zum Schreibtisch. Nachdem er eine Weile dort gewühlt und dabei das eine oder andere Buch auf den Boden gepfeffert hatte, hielt er triumphierend einen Brief hoch. Er entfaltete ihn eiligst und überflog den Inhalt. Emily konnte durch das dünne Papier hindurch erkennen, dass es sich um denselben Brief handelte, den sie in der Hand hielt.

Der Professor kratzte sich etwas verlegen am Kopf.

»Na ganz toll...«, murmelte er leise. Dann sah er zu Emily auf. »Emily Wright, nehme ich an?«

»Öh... ja«, erwiderte Emily verdutzt.

Hatte der Professor allen Ernstes vergessen, dass sie ein Praktikum bei ihm machen würde? Noch dazu ein Jahrespraktikum! Und besonders begeistert klang er auch nicht gerade.

»Es tut mir leid, es gab viel zu tun in letzter Zeit. Ich hatte Pauls Anfrage völlig vergessen... na ja, bis gerade eben jedenfalls.«

Professor Evans sah aus, als hätte man ihm statt einer Praktikantin einen Eimer rostiger Nägel aufgedrückt. Erst jetzt fiel Emily auf, dass er viel jünger war, als sie gedacht hatte. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie erwartet hatte... vielleicht war sie dem Vorurteil erlegen, dass ein Professor immer steinalt sein müsste. Aber Evans, auch wenn es schwer zu schätzen war, war wohl so um die Vierzig? (Auch wenn das in Emilys Augen immer noch alt war.)

Aus seinem schmalen, kantigen Gesicht mit der langen Nase blickte ein Paar dunkler Augen müde auf Emily herab. Das kurze, braune Haar stand störrisch in alle Richtungen ab, als wäre er gerade erst aus dem Bett gehüpft. Die Ärmel des weißen Hemdes hatte Evans bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, der schwarze Schlips fiel lose um seinen Hals. Emily mit ihren exakt 155 Zentimetern reichte ihm nur knapp bis zur Brust und musste den Kopf in den Nacken legen, um seinen Blick zu erwidern.

Sie deutete auf den Brief, den der Professor noch immer in der Hand hielt.

»Mr. Miller hat das alles für mich eingefädelt, er hat sich sehr darum bemüht, dass ich endlich einen Praktikumsplatz finde. Er hatte auch mit Ihnen telefoniert, nicht wahr?«

»Ja... Woher kennst du Paul – also Mr. Miller?«, wollte Evans wissen, während er den Brief wieder in den Wirren seines Schreibtisches verschwinden ließ und nun offensichtlich nach etwas Anderem zu suchen begann.

»Ich bin mit seiner Tochter Julie in dieselbe Klasse gegangen. Er und seine Frau kümmern sich immer sehr lieb um mich.«

Der Professor drehte sich verdutzt zu ihr herum.

»Pauls Tochter ist schon in deinem Alter? Meine Güte, ich habe ihn wirklich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.... ah, da habe ich ihn hingestellt!«

Er griff nach einem kleinen Aktenkoffer, der neben einer der Leitern stand und hob einen braunen Wintermantel vom Boden auf. Dann betrachtete er Emily ein wenig nachdenklich.

»Tja, ich hab Paul versprochen, dass du dein Praktikum hier machen kannst, ich weiß nur noch nicht so ganz genau, was wir jetzt mit dir anstellen.... am besten wäre, du kämst morgen früh zur Vorlesung. Hat dich schon jemand hier im Hauptgebäude herumgeführt?«

Emily schüttelte den Kopf.

»Gut, dann treffen wir uns morgen wieder hier... um viertel vor acht, das sollte reichen. Kennst du dich ein bisschen mit Chemie oder anderen Naturwissenschaften aus?«

Emily blickte ein wenig verlegen auf ihre Fußspitzen.

»Ehrlich gesagt... Chemie war nicht unbedingt mein bestes Fach...«

Der Professor zog seinen Mantel über und klopfte Emily aufmunternd auf die Schulter, wobei er sie gleichzeitig in Richtung Tür schob.

»Na, macht nichts, du hast ein Jahr Zeit, dich in das Thema einzulesen und hier gibt es genug Bücher dafür.« Mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Wie du vorhin schon so treffend bemerkt hast, bin ich ein ziemlicher Bücherwurm.«

Emily rutschte das Herz in die Hose und sie merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Die ganze Zeit über hatte sie sich im Hinterkopf gefragt, ob der Professor diese lose Bemerkung von ihr wohl noch gehört hatte oder nicht...

...anscheinend hatte er.

Emilys Gesichtsfarbe glich noch immer der einer Tomate, als sie mit dem Professor den Korridor zum Haupteingang zurückging. Er lief vor ihr her ohne ein Wort zu sagen und Emily folgte ihm stumm, aus Angst, sich noch einmal zu blamieren. Bis sie die Eingangshalle erreichten, war das einzige Geräusch, das zu hören war, das Rollen von Emilys Koffer.

Vor den beiden großen Steintreppen blieb Evans abrupt stehen und drehte sich zu Emily um.

»Ich muss noch zu unserem Hausmeister«, erklärte er mit einem Kopfnicken zu der Tür neben dem Eingang.

Also war der alte Mann mit dem Schnurrbart tatsächlich ein Hausmeister, dachte Emily.

Evans kramte einen Schlüsselbund aus seiner Manteltasche.

»In der Pension wird man dich auch bestimmt schon erwarten, du solltest langsam los.«

»Sie haben Recht, ich hätte schon vor zwei Stunden dort sein sollen, mein Zug hatte Verspätung... dann bis morgen?«, fragte Emily zaghaft.

»Wir sehen uns morgen früh.«

Emily nickte noch einmal und ging durch den Haupteingang nach draußen. Sofort peitschte ihr ein eisiger Wind entgegen. Gerade als die Türe hinter ihr ins Schloss fiel, wurde ihr klar, was der Professor gesagt hatte.

»Woher wissen Sie, dass ich in einer Pension-«, begann sie, doch durch die schwere Türe konnte sie wohl niemand mehr hören.

Emily ließ die Schultern sinken und begann ihren Marsch in Richtung Bahnhaltestelle.

»Was für ein Tag...«, seufzte sie und lauschte dem knirschenden Schnee unter ihren Füßen.

»Mr. Miller hatte mir ja gesagt, dass das Praktikum etwas seltsam werden könnte, aber so was...«

Während sie auf die nächste Bahn wartete, kramte sie aus ihrer Manteltasche einen Notizzettel und studierte genau die Wegbeschreibung, die darauf gekritzelt war. Sie wollte schließlich nicht noch einmal in die falsche Bahn steigen...

Aber ihre Gedanken schweiften ständig ab. Diese merkwürdige Stadt und ihre noch viel merkwürdigeren Bewohner beschäftigten Emily so sehr, dass sie die Bahn erst bemerkte, als sie direkt vor ihrer Nase hielt. Noch einmal durchnässte eine Ladung Schnee ihre Strumpfhose.

Während der Fahrt versuchte sie, sich Mut zu zusprechen.

»Okay, vielleicht braucht der Professor eigentlich keine Praktikantin, aber ich brauche dieses Praktikum dringend... und wenn ich nur Kaffee koche, das ist mir egal. Hauptsache, ich habe eine Aufgabe... ich gebe einfach mein bestes... und ansonsten kann ich immer noch Bücher lesen, bis mir die Augen aus dem Kopf fallen...«

Als ein anderer Fahrgast Emily verwirrt ansah, hörte sie auf, leise vor sich hin zu murmeln.

Fünf Haltestellen weiter sprang Emily aus der Bahn und bog in die nächste Straße ein. Hier war es sehr ruhig und in den kahlen Bäumen hingen Lichterketten, die alles in ein warmes Licht tauchten. Es dauerte nicht lange, bis sie die Pension fand. Das Haus war schon älter und hier und da blätterte ein wenig von der blauen Farbe ab. Aus den Fenstern im Erdgeschoss drang Licht, doch durch die geblümten Gardinen konnte man nicht erkennen, wie es im Inneren aussah. Direkt neben dem Haus stand ein großer Baum, dessen Äste im Wind zitterten. Neben dem niedrigen Gartenzaun war ein kleines Schild angebracht. In knallroten Buchstaben stand da:

Pension zum frostigen Pinguin

Emily musste kichern. Was war das für ein Name für eine Pension? Sie öffnete das niedrige Gartentor und betrat einen kleinen Vorgarten, in dem bereits einige Fußspuren im Schnee zu sehen waren. Sie erklomm die drei Stufen bis zur Haustüre und betätigte die Klingel. Im gleichen Moment bemerkte sie, wie lautlos ein paar zarte Schneeflocken vom Himmel zu rieseln begannen.

Kapitel 3: Ungewöhnliche Haustiere machen ein Heim zu etwas Besonderem

Kaum hörte Emily auf der anderen Seite der Türe das laute Ding Dong der Klingel, ertönte ein leises Getrappel, das schnell näher kam. Dann hörte man eine Frauenstimme rufen:

»Ich komme!«

Es folgten eilige Schritte und schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit.

»Nein, nein, Penelope, warte!«, ertönte die Stimme ein weiteres Mal.

Im selben Moment flitzte eine kleine, schwarz-weiße Gestalt aus der Haustüre an Emily vorbei und in den Vorgarten. Erschrocken machte Emily einen Satz zur Seite. Direkt neben ihr ließ sich gerade ein lebensechter Königspinguin bäuchlings in den Schnee fallen und klapperte dabei mit seinem Schnabel.

»Wie kann das -«, entfuhr es Emily.

»Oh je, dabei waren wir doch vorhin erst stundenlang spazieren...«

Erst jetzt bemerkte Emily die ältere Dame, die im Türrahmen stand und dem Pinguin schmunzelnd dabei zusah, wie er sich durch den Schnee im Vorgarten robbte. Dann lächelte sie Emily freundlich zu.

»Ah, du bist bestimmt Emily, nicht wahr?«

»Ja, ich... ich bin Emily Wright, ich habe hier ein Zimmer reserviert... ist das wirklich ein echter Pinguin?«, unterbrach Emily sich schließlich selbst. Dabei warf sie verwirrte Blicke zwischen dem Pinguin und der älteren Dame hin und her.

»Wir haben schon auf dich gewartet!«, erwiderte die Dame und ignorierte ihre Frage dabei. »Komm doch erst einmal ins Warme!«

Sie trat beiseite und Emily musterte sie ein wenig genauer.

Die ältere Dame war nur wenig größer, aber deutlich runder als Emily. Sie hatte ein freundliches Gesicht, in dem sich kleine Grübchen abzeichneten, wenn sie lächelte. Durch ihr braunes, kurzes Haar zogen sich schon einige graue Strähnen. Sie trug ein geblümtes Wollkleid und eine Schürze mit Rüschen. Um ihre blauen Augen waren schon viele kleine Falten zu sehen, doch ihr freundliches Auftreten ließ sie jünger erscheinen.

Sie nahm Emily den Koffer ab und zog sie zu sich ins Haus.

»Ich bin Ann Hughes, mir gehört die Pension. Du kannst mich ruhig Annie nennen, das tun alle hier. Paul hat mir gesagt, dass du heute ankommen würdest.«

Emily nickte und starrte wieder wie gebannt auf den Pinguin, der noch immer im Schnee tobte.

»Und das ist Penelope, unser Hauspinguin. Mein Mann – Gott hab ihn selig – hat sie vor einigen Jahren mitgebracht. Sie hatte sich auf das Schiff verirrt, auf dem er erster Maat war.«

Annie stellte Emilys Koffer im Flur ab und rief in den Vorgarten: »Nun ist es aber mal gut, Penny, komm wieder ins Haus!«

Der Pinguin hielt kurz inne, dann wälzte er sich noch einmal genüsslich im Schnee.

»Penelope...«

Nachdem die Pensionsbesitzerin ihrer Stimme einen drohenden Unterton verliehen hatte, schüttelte sich der Pinguin schnell und watschelte wieder zurück zu den Stufen vor der Haustür, die er mit zwei kleinen Hüpfern erklomm. Annie schloss die Tür und griff nach einem Handtuch, mit dem sie Penelope trocken rubbelte.

»Ein etwas ungewöhnliches Haustier, ich weiß... aber sie ist sehr lieb und nun schon so lange bei uns...«

Der Pinguin watschelte gemütlich zu einem Hundekorb hinüber, der im Flur stand und ließ dabei einen gurrenden Laut aus seiner Kehle erklingen.

»Ein echter Pinguin... Wahnsinn...«, murmelte Emily.

»Komm her, ich nehme dir deinen Mantel ab.«

Annies Lächeln nach zu urteilen war sie schon ein wenig amüsiert über Emilys Erstaunen.

Während Annie den Mantel an der Garderobe neben der Haustür aufhing, sah sich Emily um. Das Haus war schon etwas älter, aber sehr gemütlich. Überall konnte sie schöne antike Holzmöbel und Blumenmuster entdecken. Der Fußboden war mit vielen bunten Teppichen ausgelegt, aber hier und da schauten die Dielenbretter darunter hervor. Neben der Garderobe führte eine Holztreppe hinauf in den ersten Stock. An den Wänden hingen alte Bilder und Fotos, auf einigen davon war Annie selbst zu sehen. Plötzlich erreichte ein köstlicher Essensduft Emilys Nase und sie bemerkte, wie hungrig sie eigentlich war.

Als ob sie es ihr angesehen hätte, sagte Annie: »Es ist eigentlich auch schon längst Essenszeit... ich zeige dir gerne später noch die ganze Pension, aber zuerst einmal sollten wir die anderen Bewohner rufen und gemeinsam zu Abend essen... das ist hier unser tägliches Ritual.«

Sie stellte sich an den Fuß der Treppe und rief mit lauter Stimme hinauf.

»ESSEN IST FERTIG!«

Emily zuckte kurz zusammen, sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Pensionsbesitzerin so eine Stimmgewalt besaß.

Penelope in ihrem Körbchen hingegen schien das gewohnt zu sein, denn sie schlief seelenruhig weiter. Wie gerne Emily sie einmal streicheln würde!

»Was machen Sie denn im Sommer mit dem Pinguin? Wird das nicht zu heiß ohne Schnee?«, wollte Emily wissen.

Annie erwiderte nichts, aber als Emily von dem Pinguin zu ihr aufblickte, bemerkte sie, dass die Pensionsbesitzerin sie mit einem höchst seltsamen und schwer zu deutenden Blick ansah.

»Im Sommer? Aber meine Liebe«, sagte sie dann langsam, »hat dir denn niemand etwas gesagt?«

Emily überkam ein ungutes Gefühl.

»Was gesagt?«

In diesem Moment hörte man Gepolter auf der Treppe, gefolgt von lautem Geschrei.

»Annie, ich sterbe vor Hunger! Ich bin die Erste, klar? Die größte Portion kannste direkt mir-«

Eine junge Frau blieb abrupt am Fuß der Treppe stehen und starrte Emily an.

Emily erkannte das Gesicht sofort wieder.

»DU!«

»Neeee, oder? Du?«

Die beiden zeigten erstaunt mit den Fingern aufeinander.

Annie sah neugierig zwischen ihnen hin und her.

»Leonie, ihr kennt euch bereits?«, wollte sie wissen.

Leo, die Emily nur kurz zuvor in der Straßenbahn kennengelernt hatte, nickte eifrig.

»Abgefahrener Zufall! Und hast du den Prof noch getroffen?«, erkundigte sie sich bei Emily.

»Ja, aber er ist wirklich etwas... komisch?«, überlegte Emily laut. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie Leo ausgerechnet in der Pension wieder begegnet war. Sie trug nun nicht mehr ihre Lederjacke, sondern einen rot-karierten Flanell-Pyjama und ihr hellblondes Haar wirkte ein wenig ­zerzaust. Doch ihre Art zu sprechen war unverkennbar.

In diesem Moment erklang erneutes Gepolter auf der Treppe und drei weitere Personen erschienen am Fuß der Treppe. Sie begrüßten Emily überschwänglich.

»Hey, die Neue! Hallo!«

»Du musst Emily sein, herzlich willkommen bei uns!«

»Oooh, du bist ja noch ganz jung! Hast du gut hergefunden?«

Emily versuchte angesichts der Aufmerksamkeit um ihre Person ruhig zu bleiben und lächelte.

Annie begann, sie alle in Richtung Küche zu scheuchen.

»Wir bereden alles in Ruhe beim Essen. Emily hatte bestimmt einen anstrengenden Tag und ist hungrig.«

Oh ja, und ob Emily hungrig war!

Die Küche mit dem großen Esstisch war genauso eingerichtet wie der Rest des Hauses. Die Möbel waren massiv und aus Holz, überall waren Blumenmuster zu finden und es lagen mindestens drei unterschiedliche Teppiche auf dem Boden. Auf dem großen, altmodischen Herd standen mehrere Töpfe, aus denen es blubberte.

Annies Hausmannskost schmeckte wirklich köstlich und Emily fühlte sich mit vollem Magen gleich viel wohler. Beim Abendessen hatten die Pensionsbewohner auch genug Zeit, sie auszufragen und sich selbst vorzustellen. Leonie und Emily kannten sich zwar schon aus der Straßenbahn, aber vielmehr als den Namen des jeweils anderen wussten sie nicht voneinander. Allerdings schien Leo immer so gesprächig zu sein wie bei ihrem ersten Zusammentreffen, denn sie holte die versäumte Vorstellung schnell nach.

»Hättest du mir gleich gesagt, dass du Emily heißt, hätt' ich ja auch gewusst, dass du das Mädel bist, das hier heute einzieht«, sagte sie und musste dann grinsen. »Bist ja losgeflitzt wie eine Rakete, nachdem ich dir gesagt hab, dass du in der falschen Bahn bist, was?«

»Ja!« Emily musste kurz lachen, »Danke noch mal, dass du mir Bescheid gesagt hast, Leonie, sonst wäre ich noch ewig in die falsche Richtu-«

»Oh Gott, nenn mich bloß nicht Leonie, du klingst wie meine Mama oder Annie...«, stöhnte Leo.

Die anderen lachten lautstark und einer der anderen Bewohner klopfte Annie freundlich auf die Schulter.

»Oh – okay! Also Leo, du hast gesagt, du bist keine Studentin...«

»Ne, ich arbeite in dem Café am Marktplatz. Hatte gerade Feierabend, als du mich getroffen hast.« Leo nahm einen großen Bissen von ihrem Essen, dann sprach sie unvermindert mit vollem Mund und weit weniger verständlich weiter: »Isch nisch gra' d' beschte Schob, aba 's isch' okay...«

Emily nickte. Rechts neben ihr meldete sich Eve zu Wort, eine junge Frau mit dunkelbraunen Haaren, die zu einem kinnlangen Bob geschnitten waren.

»Annie, wird Emily das leere Zimmer neben Rupert und mir bekommen?«

Annie lächelte.

»Ja, ich habe heute Nachmittag schon alles hergerichtet, während du arbeiten warst.«

Rupert, ein junger Mann mit kurzen, blonden Locken, grinste zu Emily hinüber.

»Wenn ich die Musik zu laut aufdrehe, kannst du gerne gegen die Wand klopfen.«

Eve drehte sich mit einem genervten Blick zu ihm herum.

»Das wäre vielleicht auch mal eine gute Gelegenheit dir abzugewöhnen, die Musik bis zum Anschlag aufzudrehen.«

»Du tust ja gerade so, als wäre ich der einzige von uns beiden, der nervig und laut ist«, maulte Rupert, »dabei schreist du doch morgens immer das ganze Haus zusammen, wenn du in deinem riesigen Kleiderschrank nichts Passendes zum Anziehen findest...«

Während Eve sofort zum Gegenschlag ausholte, stieß Leo Emily in die Rippen und murmelte:

»Einfach ignorieren, das ist immer so bei den beiden...«

Emily war es natürlich unangenehm, dass Eve und Rupert sich direkt neben ihr stritten, doch die beiden schien es gar nicht zu stören, dass jeder am Tisch alles mitanhören konnte.

Schließlich schlug Annie einmal mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte mit lauter Stimme:

»Ruhe! Sonst gibt es keinen Nachtisch!«

Sofort verstummte das Pärchen und Emily war erstaunt, dass die so liebevoll wirkende Pensionsbesitzerin anscheinend so viel Autorität besaß.

Seth, der junge, hochgewachsene Mann, der neben Leo saß, räusperte sich kurz, dann bemühte er sich das Thema zu wechseln.

»Und, Emily? Wie wirst du dein Jahr hier in Melton Hill verbringen?«

»Ich werde ein Praktikum an der Universität machen«, erzählte Emily.

»Bei Evans!«, platzte es aus Leo heraus.

Wieder wurde es still in der Küche.

»Im Ernst?«, wollte Seth dann wissen.

Seine Augen, die fast so dunkel wie sein langes Haar waren, sahen Emily voller Erstaunen an.

»Ich habe ihn schon ein paar Mal an der Uni gesehen...«

Seth war Student in Melton Hill, das hatte Emily schon erfahren. Ihr war auch schon aufgefallen, dass er und Eve im Gegensatz zu den meisten Bewohnern der Stadt, die Emily bisher gesehen hatte, eine dunklere Hautfarbe hatte.

»Ich kenne auch ein paar Leute, die schon Kurse bei ihm hatten«, fuhr Seth fort, »Er ist wohl ziemlich genial, aber auch ein... also...«

»Ein Freak«, beendete Eve den Satz und die anderen nickten zustimmend. Außer Annie.

»Eve...«, sagte sie mit einem warnenden Unterton.

»Aber es stimmt doch! Jeder sagt das über ihn!«, protestierte Eve.

Emily fühlte sich ein wenig unwohl dabei, doch sie musste den anderen Recht geben.

»Nun ja... er ist schon etwas seltsam... sein Büro war ganz schön... chaotisch...«

»Oho? Du warst in seinem Büro? Das Heiligtum!« Seth lachte. »Ich habe mal gehört, da lässt er eigentlich niemanden rein.«

»Ich hatte auch nicht unbedingt das Gefühl erwünscht zu sein...«, murmelte Emily.

»Er wird schon seine Gründe dafür haben«, sagte Annie und begann das Geschirr abzuräumen. »Ich bin mir sicher, Emily wird gut mit ihm auskommen.«

Sie lächelte Emily an, doch ihre Augen wirkten traurig.

»Das hoffe ich«, erwiderte Emily, doch sie war sich wirklich nicht sicher.

Leo fuhr ihr mit einer Hand kurz durch die Locken.

»Klar wird sie das. Der Prof is' halt 'n verrückter Vogel, aber du machst das schon, Mimi!«

»Mimi?«, wiederholte Emily leise.

»Leo gibt gerne jedem einen Spitznamen, Gegenwehr zwecklos«, erklärte Rupert.

»Klappe, Wuschelkopf!«

Leo lachte lauthals, während Annie den Nachtisch auf den Tisch stellte.

Emily stimmte in das Lachen mit ein. Das tat gut nach diesem langen Tag voller Überraschungen.

Nach dem Essen zeigten die Pensionsbewohner Emily das Haus. Außer Annie, die im Erdgeschoss schlief, hatten alle ihre Zimmer im ersten Stock.

»Und am Ende des Ganges ist das Bad«, erklärte Eve gerade, »Im Erdgeschoss ist aber noch eins.«

Emily sah zu den Treppen im zweiten Stock hinauf.

»Und wer wohnt da?«

»Niemand mehr«, sagte Seth. »Wir sind die einzigen Bewohner hier.«

»Da oben steht schon seit Ewigkeiten alles leer«, meinte Leo. »Früher haben hier mal mehr Leute gewohnt.«

Emily nickte.

»Und hier ist Emilys Zimmer.« Annie kam gerade die Treppe hinauf und schloss die Tür auf, die mit einer kleinen, goldenen »Vier« versehen war.

Emily mochte ihr Zimmer auf Anhieb. Sie stellte ihren Koffer neben dem Bett ab und sah sich um. Zwar war auch hier nichts vor Annies Vorliebe für Blumenmuster verschont geblieben, aber sie hatte alles, was sie brauchte. Und es sah unheimlich gemütlich aus. Vor dem Schreibtisch stand ein bequemer, brauner Lederstuhl und daneben eine große Kommode. Das Bett war über und über mit flauschigen Kissen ausgestattet und die dicken Wolldecken luden direkt zum Schlafen ein. Erst jetzt bemerkte Emily, dass sie sich vor lauter Müdigkeit am liebsten sofort ihren Pyjama anziehen und sich in dieses Bett legen wollte. Annie hatte es ihr wohl an der Nasenspitze abgelesen und schob die anderen Bewohner sanft aus dem Zimmer.

»Wir lassen dich jetzt alleine, Emily. Morgen ist dein erster Tag an der Universität und der wird bestimmt anstrengend. Schlaf gut und wenn du etwas brauchst, frag einfach einen von uns.«

»Vielen Dank, Annie.«

Emily gähnte.

»Nacht, Mimi schlaf gut!«, hörte sie Leo noch sagen, als Annie die Tür schloss.

In die Wolldecken eingewickelt wie eine dicke Raupe ließ Emily ihren ersten Tag in Melton Hill noch einmal Revue passieren. Sie hatte heute so viele neue Leute kennen gelernt... sehr seltsame Leute, das stand außer Frage, aber auch sehr liebe.

Bei dem Gedanken an Professor Evans beschlich Emily allerdings kein gutes Gefühl....die meisten Menschen reagierten so seltsam auf seinen Namen...

»Ganz ruhig, Emily, das wird schon...«, flüsterte sie sich selbst zu.

Für den morgigen Tag nahm sie sich fest vor positiv an alles heranzugehen. Und unbedingt einmal mit Penelope zu spielen!

Kapitel 4: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Praktikantin und einer Assistentin?

Als Emily am nächsten Morgen aufwachte, musste sie für einen kurzen Moment überlegen, wo sie sich gerade befand. Dann fiel ihr mit einem Schlag wieder alles ein und sie sprang aus dem Bett. Sie zog die Vorhänge beiseite und stellte mit Erstaunen fest, dass sich über Nacht eine neue Schneeschicht über die Stadt gelegt hatte.

Die Kälte ließ ihr einen Schauer über den Rücken fahren und Emily suchte in ihrem Koffer nach ihrem Bademantel.

»Bei uns liegt nie so viel Schnee... zumindest nicht im November...«, murmelte sie dabei vor sich hin. Mit dem lose übergeworfenen Bademantel öffnete sie ihre Tür und sofort schlug ihr ein wunderbarer Duft entgegen.

»Oh mein Gott, sind das Waffeln?«

Es waren Waffeln. Es stellte sich heraus, dass Annie nicht nur gerne Abendessen, sondern auch ein üppiges Frühstück für die Pensionsbewohner zubereitete.

Während Leo und Emily eine Waffel nach der nächsten verputzten, sah Seth ihnen ungläubig zu.

»Ich kann nicht fassen, wie viel in euch reinpasst... Und du hast gestern noch gejammert, dass du zugenommen hast, Leo.«

»Ist mir heute egal!«, konterte Leo, »Und je mehr ich esse, umso mehr gibts an mir zu lieben!«

Emily musste lachen und verschluckte sich dabei fast.

Annie legte eine weitere Waffel auf ihren Teller und musste schmunzeln.

»Ihr könnt alle noch etwas auf den Rippen vertragen...«

Auch wenn die Pensionsbewohner etwas älter als sie selber waren, konnte Emily kaum glauben, wie viel Glück sie hatte. Sie fühlte sich so herzlich aufgenommen in dieser kleinen Familie! So wohl hatte sie sich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt.

Als Seth schließlich aufstand, bot er Emily an, mit ihr zusammen zur Universität zu fahren.

»Hey, dann fährst du wenigstens nicht wieder mit der falschen Straßenbahn!«, johlte Leo.

Emily ignorierte sie und nickte Seth zu.

»Ich ziehe mich schnell an, dann können wir los!«

Als sie gerade die Treppen zu ihrem Zimmer hochgehen wollte, sah sie Penelope schlafend in ihrem Körbchen im Flur liegen. Ganz langsam ging Emily näher an sie heran und tätschelte ihr vorsichtig den Kopf. Die Pinguindame öffnete nur einmal kurz die Augen und schlief dann weiter.

»So weich...«, raunte Emily staunend. Am liebsten hätte sie hier noch einige Zeit gesessen, aber an ihrem ersten Tag sollte sie pünktlich sein.

Als sich Emily wenig später an der Haustür von Annie verabschiedete, beugte sich die Pensionsbesitzerin zu ihr vor. Während sie Emily den Schal neu band, flüsterte sie ihr zu:

»Sei bitte nett zu Professor Evans. Er mag etwas merkwürdig erscheinen, aber er ist eigentlich ein guter Kerl.«

»Ich werde mich schon irgendwie mit ihm verstehen«, versprach Emily.

Dann lief sie hinter Seth her, der schon ein Stück zur Bahnhaltestelle vorausgegangen war.

Annie winkte ihr zum Abschied zu, doch genau in diesem Moment hatte sich die Pinguindame wieder an ihr vorbeigeschoben und in den Schnee geworfen.

»Penelope, also wirklich! Das gibt nur wieder eine Sauerei im Flur!«

Am Tag machte die Stadt einen vollkommen anderen Eindruck als noch am Abend zuvor. Auf den Straßen glitzerte überall Schnee in der Morgensonne und die Einwohner liefen geschäftig umher, um ihre Besorgungen zu erledigen oder zur Arbeit zu gelangen.

Dieses Mal ging Emily rechtzeitig zur Seite, als die Straßenbahn einfuhr, so dass ihre Jeans vom Schnee verschont blieb. Während der Fahrt starrte sie die ganze Zeit aus dem Fenster und versuchte jedes Haus, jeden Menschen und jede Straße in sich aufzusaugen. Der Anblick der zugeschneiten Stadt faszinierte sie. An der Haltestelle der Universität musste Emily feststellen, dass das Gebäude jetzt noch viel imposanter wirkte als bei ihrem ersten Besuch. Auf dem gesamten Campus liefen Studenten umher und unterhielten sich lautstark miteinander. Vor der riesigen Eingangstür gab es einen regelrechten Stau und Emily musste sich an Seths Jacke festhalten, um ihn nicht zu verlieren.

In der großen Vorhalle war die Geräuschkulisse noch lauter und Seth musste fast schreien, um Emily viel Glück zu wünschen. Dann ging er die Treppen zu seinem Vorlesungssaal hinauf. An ihren ersten richtigen Tag in einer Universität waren das eine Menge neuer Eindrücke und Emily fühlte sich unter den Studierenden ein wenig fehl am Platz. Sie wusste, es gab Vorlesungen, Seminare, Abschlussprüfungen, Pflichtfächer und Credit Points... Emily hatte sich zu Hause viel über Universitäten informiert und Studienführer gelesen, aber hier zu sein und alles hautnah mitzuerleben würde auf jeden Fall ganz anders sein.

Als sie sich an den vielen Menschen vorbei gequetscht hatte, eilte Emily in den langen Gang, den sie noch vom Vorabend kannte. Hier war es wieder etwas leerer und ruhiger, aber dieses Mal waren die Türen von zwei anderen Büros nur angelehnt und man konnte Stimmen dahinter vernehmen.

Obwohl sie ihre Umgebung noch einige Male bestaunte und dabei jedes Mal langsamer wurde, stand Emily pünktlich um viertel vor acht vor dem Büro des Professors.

Vorsichtig klopfte sie an die hölzerne Tür von Zimmer Nummer 309 und wartete.

Und wartete.

Keine Antwort.

»Er wird mich doch nicht wieder vergessen haben?«, fragte sich Emily leise.

Zögerlich öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hinein. Sie war sich zwar nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber diesen Anblick sicherlich nicht.

Der Professor war zwar in seinem Büro, allerdings lag er rücklings auf dem Boden, die Füße auf seinen Stuhl gelegt, auf dem Gesicht ein Buch und in der Hand einen Kaffeebecher.

Emily wusste nicht, ob sie diese seltsame Haltung lustig oder einfach nur unsinnig finden sollte. Langsam ging sie auf den am Boden liegenden Professor zu, bis ihre Füße neben seinem Kopf standen.

»Professor?«, flüsterte sie vorsichtig.

Keine Reaktion. Für einen Moment überkam Emily Panik, dass sie gerade eine Leiche gefunden haben könnte. Doch dann hörte sie, dass der Professors unter dem Buch gleichmäßig und leise atmete, also musste er tatsächlich noch schlafen.

Der Becher, den er festhielt, war noch etwa bis zur Hälfte mit Kaffee gefüllt. Um zu vermeiden, dass er ihn beim Aufwachen umwerfen würde, wollte Emily ihm den Becher aus der Hand nehmen. Sie beugte sich herunter und griff danach, doch im selben Moment hörte sie eine Stimme unter dem Buch murmeln:

»Das trinke ich noch.«

Emily erschrak kurz. Dann nahm sie den Becher trotzdem hoch und steckte den kleinen Finger hinein.

»Der Kaffee ist eiskalt, der schmeckt bestimmt nicht mehr...«

Sie stellte die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Dann ging sie neben dem Professor in die Hocke und hob vorsichtig das Buch auf seinem Gesicht an. Evans sah weniger müde als halbtot aus und sein unrasiertes Kinn machte diesen Eindruck nicht unbedingt besser.

»Haben Sie etwa hier übernachtet?«, wollte Emily ein wenig besorgt wissen.

Der Professor erhob sich mit einem Ruck, wobei das Buch in seinen Schoß fiel. Gleichzeitig nahm er seine Füße von dem Stuhl und schob ihn dabei mit einem lauten Knarzen von sich weg.

»Es gab eben noch viel zu tun letzte Nacht... äh... Evelyn?«, sagte er etwas unsicher. Dann fuhr er sich durch das zerzauste Haar.

»Emily...«, korrigierte sie ihn leise. »Macht sich Ihre Frau denn keine Sorgen, wenn Sie einfach über Nacht wegbleiben?«, erkundigte sie sich dann.

Der Professor kratzte sich über sein stoppeliges Gesicht.

»Vermutlich würde sie das tun, wenn ich eine hätte. Und jetzt mein Kaffee, bitte.«

Er streckte die Hand nach seinem Becher aus.

»Ist das Ihr Ernst? Das können Sie doch nicht mehr trinken!«, protestierte Emily, holte ihm aber die Tasse.

»Hier geht es nicht um den Geschmack, sondern um das Koffein. Und das brauche ich dringend für meine Vorlesung.«

Der Professor leerte den Becher in einem Zug, verzog danach kurz das Gesicht und stellte ihn mitten auf dem Fußboden ab.

»Okay, wie spät haben wir?«

Emily sah auf ihre Armbanduhr.

»Zehn vor acht.«

»Gut, dann auf zur Vorlesung. Lauf mir einfach nach.«

Mit diesen Worten richtete sich Professor Evans auf und versuchte sein Hemd zu glätten und seine Krawatte zu binden. Anschließend torkelte er einmal im Kreis, weil er sein Jackett suchte, hob es vom Boden auf und machte dann einen Satz zu seinem Schreibtisch. Nachdem er anscheinend vollkommen wahllos einige Bücher in seiner Tasche verstaut hatte, ging er eiligen Schrittes durch die Tür. Emily, die jedem seiner Schritte hinterher gegangen war (einschließlich des Schlenkers im Kreis), folgte ihm, so schnell es ihre viel kürzeren Beine zuließen.

Im Flur trafen sie auf eine ältere Dame, anscheinend auch eine Lehrkraft der Universität, denn sie kam gerade aus Zimmer Nummer 301 und hielt einen dampfenden Kaffeebecher in ihrer Hand.

»Spät dran?«, fragte sie mit einem Lächeln in Richtung des Professors.

»Der komplette Inhalt meiner Brieftasche für deinen Kaffee«, begrüßte Evans sie.

Die Frau lachte amüsiert und drückte dem Professor den Becher im Vorbeigehen in die Hand.

Als sie Emily erblickte, musterte sie sie überrascht. Außer einem kurzen Winken hatte Emily allerdings keine Zeit sich vorzustellen, wenn sie Evans nicht aus den Augen verlieren wollte.

Der Alltag in einer Universität war völlig neu für Emily und Evans warf sie regelrecht ins kalte Wasser. Sie liefen an Klassenräumen vorbei – oder Hörsälen, wie man sie hier nannte – und das Gebäudeinnere kam ihr wie ein Labyrinth vor. Als sie völlig abgehetzt hinter dem Professor den Hörsaal im zweiten Stock des Universitätsgebäudes betrat, war der Raum schon mit Studenten gefüllt. Emily schluckte einmal schwer und versuchte, nicht nervös zu werden. Natürlich hatte sie noch nie einer Vorlesung beigewohnt. Einige der Studenten musterten sie misstrauisch, andere belustigt.

Emily blieb in der Nähe der Tür stehen, bis Evans zu ihr kam und sie ein wenig weiter in den Raum hineinschob. Unter den neugierigen Blicken der Studenten ging Emily an den zahllosen Sitzreihen vorbei, bis sie schließlich in der letzten angekommen war. Hier hatte sie vielleicht ein wenig Ruhe und niemand würde sich zu ihr umdrehen...

Sie setzte sich auf einen Stuhl ganz am Rand und holte ihren Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche. Das machte man doch so in einer Vorlesung, oder? Notizen schreiben? Musste sie sich auch melden, wenn sie zur Toilette wollte?

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Professor Evans mit seiner Vorlesung begann ohne ein weiteres Wort an seine Studenten zu verlieren.

Emily verstand nichts.

Gar nichts.

Ihre Lieblingsfächer in der Schule waren Kunst und Geschichte gewesen, aber Chemie...

Doch sie war trotzdem bemüht zuzuhören und sich einige Sachen zu notieren, die sie später nachschlagen wollte. Sie würde dieses Praktikum so gut nutzen wie es nur irgend ging!

Ihre Aufmerksamkeit wurde gestört, als die Tür plötzlich aufging und ein weiterer Student in den Raum kam. Niemand schenkte ihm Beachtung, als er langsam seinen Weg zu den hinteren Sitzreihen im Hörsaal antrat. Anscheinend bekam man keinen Ärger, wenn man zu spät kam, ganz anders als in der Schule...

Der Student setzte sich schließlich genau vor Emily, drehte sich zur ihr um und zwinkerte ihr dann zu.

Sie sah ihn überrascht an.

»Was geht, Kleines?«, fragte der Student sie mit einem süffisanten Grinsen.

Er sah ziemlich gut aus und schien das auch zu wissen. Neben seinem blonden, kunstvoll geformten Haar hatte er sich auch ansonsten perfekt zurechtgemacht – was sicherlich der Grund für seine Verspätung war.

»Ähm...«, erwiderte Emily unsicher. Was sollte man auch auf so eine Begrüßung antworten?

»Riley Thompson«, ertönte da Evans' Stimme aus dem vorderen Teil des Hörsaals, »Ich weiß, Sie suchen sich gerne jedes Semester ein neues Mädchen aus dem Kurs aus, das Sie anbaggern können, aber ich wäre Ihnen doch sehr verbunden, wenn Sie die Finger von meiner Assistentin lassen würden – die übrigens noch minderjährig ist.«

Der hübsche Student, der offensichtlich Riley hieß, sah Emily erstaunt an und zog eine Augenbraue hoch.

»Assistentin?«

»Praktikantin!«, korrigierte Emily schnell. Sie bemerkte, wie sich ihre Wangen rot färbten...

Die Blicke jedes einzelnen Studenten im Raum waren gerade auf sie gerichtet und Emily sah eine Menge hochgezogener Augenbrauen.

Evans schien nicht zu bemerken, was er mit seiner Aussage verursacht hatte. Er fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum, während er mit der anderen ein Buch aus seiner Tasche kramte.

»Assistentin, Praktikantin, Dienstbotin, als was auch immer du fungieren willst.«

Emily seufzte und ließ den Kopf auf den Tisch fallen. Das würde ein langer Tag werden.

Am Ende der Vorlesung war die Tafel von oben bis unten mit Formeln beschrieben. Emily hatte noch nicht einmal die Hälfte davon in ihr Notizbuch übertragen, geschweige denn, dass sie irgendetwas davon verstand. Der Student namens Riley sah ihr grinsend zu.

»Warum schreibst du dir das auf? Du musst doch eh keine Prüfung ablegen«, bemerkte er flüsternd.

»Aber ich will das lernen... oder wenigstens ein bisschen davon...«, erklärte Emily und starrte auf ihre Notizen. Wen wollte sie hier belügen? Niemals würde sie all das verstehen...

»Evans ist abartig intelligent, niemand kann seinem Unterricht hundertprozentig folgen«, gab Riley zurück.

Emily sah sich in dem Hörsaal um. Trotz Rileys Aussage schienen die Studenten jedem Wort des Professors wie gebannt zu lauschen.

Evans hatte gerade die letzte freie Ecke an der Tafel beschrieben und drehte sich zu seinen Zuhörern.

»Und wehe, diese Formel vergisst jemals wieder einer von euch. Ich werde bei den Prüfungen anwesend sein und jeden mit einem bitterbösen Blick strafen, der das hier -« er deutete auf die gesamte Tafel, »nicht kann. Und jetzt raus hier, ich hab für heute genug von euch!«

Das ließen sich die Studenten nicht zweimal sagen, griffen nach ihren Taschen und Mänteln und stürmten plappernd nach draußen in den Korridor.

»Na, dann bis demnächst!« Riley zwinkerte ihr lächelnd zu. Dann lief er hinter den anderen her in Richtung Ausgang.

Emily blieb auf ihrem Platz sitzen, bis sich der Raum geleert hatte. Sie hatte noch eine letzte Formel abgeschrieben und dann beschlossen, dass es keinen Sinn mehr hatte. Ob der Professor ihr wohl Nachhilfe in Chemie geben könnte? Die erste Vorlesung ihres Lebens hatte sie irgendwie erschöpft und etwas mutlos zurückgelassen.

Evans packte derweil in aller Ruhe die Bücher in seine Tasche zurück. Dann ging er in Richtung Tür.

»Professor!«, rief Emily ihm hastig hinterher.

Evans blieb abrupt stehen und sah sie verwundert an. Dann kratzte er sich etwas verlegen am Kopf.

»Ach ja, du bist ja auch noch hier«, murmelte er vor sich hin.

Hatte er sie gerade vergessen?! Langsam war das nicht mehr lustig!

Emily stand auf und packte ihre Sachen zusammen. Als sie den Hörsaal bis zu dem Professor heruntergelaufen war, stellte sie sich vor ihn. Er hatte sie wirklich vergessen! Genau wie bei ihrer ersten Begegnung... und wie heute Morgen...

Evans musste den Ausdruck auf ihrem Gesicht richtig interpretiert haben. Denn er schob sie schnell aus dem Raum und sagte:

»Ach, komm, sei nicht böse, ich hatte heute noch nicht genug Kaffee.«

Emily blickte auf den leeren Kaffeebecher im Papierkorb.

»Sie müssen aufhören mich zu vergessen«, verlangte sie dann ein wenig schmollend.

Sie war gleichzeitig erstaunt, dass sie sich traute, das so direkt zu sagen.

»Wenn wir jetzt Kaffee holen, klar«, versprach Evans.

»Okay...«

»Na dann los, los, zur Cafeteria!«, drängelte der Professor und lief die Treppen zum Erdgeschoss hinunter.

Noch ein neuer Weg, den sich Emily einprägen musste in diesem riesigen Gebäude. Sie hatte Mühe Evans zu folgen.

»Ein Kaffee-Junkie!«, flüsterte Emily, während sie dem Professor in der Cafeteria gegenüber saß.

Sie sah ihm mit großen Augen dabei zu, wie er gerade seinen vierten Kaffee austrank und dabei in einer Zeitung blätterte.

»Das habe ich gehört«, murmelte Evans in seinen Becher.