Die Gentlemen vom Sebastian Club - Sophie Oliver - E-Book

Die Gentlemen vom Sebastian Club E-Book

Sophie Oliver

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  • Herausgeber: Dryas Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

London, 1895: Eine Mordserie erschüttert die Stadt. Die Opfer gehören verschiedenen Gesellschaftsschichten an und werden scheinbar zufällig ausgewählt. So zufällig, dass die Metropolitan Police nicht an einen Einzeltäter glaubt. Ein Fall für die Ermittler des Sebastian Club, eines vornehmen Londoner Herrenclubs, der sich zum Ziel gesetzt hat, Verbrechen aufzuklären, an denen Scotland Yard scheitert. Die Gentlemen entdecken ein Muster hinter den Gräueltaten: Um an ein wertvolles Juwel zu gelangen, setzt der Täter mittelalterliche Foltermethoden ein. Für die Detektive ist die Sache klar: Der Mörder muss schnellstens zur Strecke gebracht werden. Um jeden Preis. Auch mit Hilfe einer schlauen jungen Frau, die sich als Mann verkleidet, um ermitteln zu dürfen.

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Seitenzahl: 363

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Die Gentlemen vom Sebastian Club

Ein viktorianischer Krimi

Inhalt

Theodore

1. Mayfair

2. Belgravia

3. Im Club

4. Croydon

5. Belgravia

6. Mayfair

7. Im Club

Eldon

8. Im Club

9. Victoria Embankment

10. Im Club

11. Croydon

12. Marylebone

14. Victoria Embankment

15. Covent Garden

16. Clerkenwell

Reginald

17. Hyde Park

18. Knightsbridge

19. Im Club

20. Whitechapel

21. Im Club

22. Croydon

23. CityofLondon

24. Surrey

25. Hersham

26. Im Club

27. Whitechapel

28. Mayfair

29. Knightsbridge

30. Highgate

31. Hyde Park

32. Im Club

33. Belgravia

34. Hersham

35. Im Club

36. Victoria Embankment

Epilog

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Impressum

Lesetipp

England, Sommer 1895

THEODORE

Während tagsüber in London die Sommerschwüle den Smog bis in die kleinste Gasse drückte und die Luft stinken ließ wie einen stehenden Furz, der nicht verfliegen wollte, war davon auf dem Land wenig zu spüren. Zumindest nachts, sobald es auffrischte. Dafür drangen dann aus den Wäldern die lang gezogenen Rufe der Füchse wie heisere Schreie oder klagendes Kreischen, immer einsilbig und durchdringend. Allein schon deswegen vermisste er das Landleben nicht. Die Geräusche der Stadt waren weit weniger enervierend und stammten zumeist von Menschen, nicht von Getier. Während ein weiterer Fuchsschrei in der Ferne verhallte, atmete der Mann in Schwarz tief durch und ging zurück ins Haus. Genug frische Luft geschnappt, eine Aufgabe erwartete ihn.

Mit einer ruckartigen Bewegung zog er dem gefesselten Mann auf dem Stuhl den Leinenbeutel vom Kopf. Benommen blinzelte der eine Weile. Augenscheinlich hatte er Mühe, in der schummrigen, nur von einer einzelnen Kerze erhellten Umgebung etwas zu erkennen. Kurz fragte sich der Mann in Schwarz, ob der Schlag auf den Kopf vielleicht ein wenig zu viel des Guten für sein Gegenüber gewesen sein mochte. Immerhin erhoffte er sich noch Informationen von ihm. Aber aus Transportgründen hatte er ihn vorübergehend außer Gefecht setzen müssen. Der Gefangene war zwar schmächtig, zudem schon etwas in die Jahre gekommen, trotzdem wusste man nie, was die Verzweiflung einem für Kräfte verleihen konnte. Und bei allem, was der Mann tat, stand Risikovermeidung an oberster Stelle. So war er schon immer gewesen. Er analysierte seine Feinde, lernte alles über seine Gegner und ging beherrscht gegen sie vor.

»Wer sind Sie? Wo bin ich? Was wollen Sie von mir?«

Als die erste Salve der obligatorischen Fragen abgeschossen wurde, war der Mann in Schwarz beruhigt. Das Gehirn des Gefangenen schien zu funktionieren.

Er stellte sich so nah an die Kerze, dass das Licht auf seine Gestalt fiel. Wie erwartet, sorgte dies für schreckgeweitete Augen und Zerren an den Fesseln.

»Warum tragen Sie eine Teufelsmaske? Was haben Sie mit mir vor?« Die Stimme des Mannes klang panisch.

»Ich trage die Maske selbstverständlich, damit du mein Gesicht nicht siehst«, erklärte der Mann in Schwarz geduldig. Gerne hätte er hinzugefügt, dass er nicht einfach irgendein Exemplar ausgewählt hatte, sondern eines, das möglichst wenig Furcht einflößend wirkte: eine Halbmaske aus bedrucktem Papier, die sein Gesicht bis zur Oberlippe bedeckte und Mephisto mit roter Kappe, darunter hervorlugendem Rabenschnabel-Haaransatz und den beiden obligatorischen Hörnern auf dem Kopf darstellte. Vollkommen harmlos.

»Was mit dir geschieht, bestimmst du allein. Ich werde dir eine Frage stellen, deren Beantwortung über den weiteren Verlauf deines Aufenthalts hier entscheiden wird. Du hast es in der Hand.«

»Wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen?«

»Einigen wir uns darauf, dass ich frage und du antwortest.« Noch immer klang der Mann beruhigend. Leider übertrug sich dies nicht auf den Gefesselten. Der brüllte nach Hilfe, und zwar so laut, dass seine Stimme grell von den Wänden des Raums widerhallte und in den Ohren schmerzte. Unweigerlich drängte sich dem Mann in Schwarz der Vergleich mit den bellenden Füchsen auf, was an seinen Nerven zerrte. Mit einer behandschuhten Hand schlug er seinem Gegenüber hart ins Gesicht. Endlich herrschte wieder Ruhe.

»Theodore Hobbs«, fragte er ihn dann, »wo ist Kassiopeias Herz?«

Aus der Nase des Mannes floss ein kleines rotes Rinnsal in Richtung seiner Oberlippe. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er Mephisto an. »Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden.«

»Irrtum! Ich verstehe kein Wort! Keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Kassiopeias Herz? Nie gehört. Was soll das sein?«

Bedauernd schüttelte der Mann in Schwarz den Kopf. »Dann muss ich deiner Erinnerung wohl ein wenig auf die Sprünge helfen.«

Er griff in die mitgebrachte Ledertasche und zog einen Gegenstand daraus hervor, der aus zwei parallel angeordneten Metallstäben bestand, die über zwei senkrechte Gewinde miteinander verbunden waren.

»Was haben Sie vor? Was ist das?«

»Wir kamen doch überein, dass ich die Fragen stelle, nicht du. Und dieses praktische Gerät wird mir dabei helfen. Es dient der Wahrheitsfindung – hat sich seit Jahrhunderten bestens bewährt.« Während er sprach, näherte sich Mephisto dem Gefesselten und schob das Teil über den Daumen von dessen linker Hand. Weil die Handgelenke auf der Armlehne festgezurrt waren, blieb jeglicher Widerstand zwecklos. Der Mann in Schwarz nestelte ein wenig herum, bis er mit dem Sitz der Querstangen zufrieden war, dann drehte er an den beiden Schraubenmuttern, die Branchen näherten sich einander, fassten den Finger des Gefangenen und quetschten sein Fleisch. Theodore Hobbs schrie auf.

»Eine Daumenschraube? Das ist eine Daumenschraube! Sind Sie irre? Wir sind doch nicht im Mittelalter!«

Ohne darauf einzugehen, lockerte Mephisto den Druck wieder. Er wollte fair bleiben und seinem Gast eine schmerzlose Entscheidungsfindung ermöglichen. Schließlich war man zivilisiert. »Also noch einmal: Wo ist Kassiopeias Herz?«

»Was soll das sein? Ich kenne keine Kassiopeia!«

»Ts, ts, ts. Sich dumm zu stellen ist in dieser Situation keine gute Strategie.«

Erneut zog er die Daumenschraube an, dieses Mal stärker, bis ein Knacken zu hören war, gefolgt von einem gellenden Aufschrei.

Da Theodore Hobbs über zehn Finger verfügte, der Mann in Schwarz ein geduldiger Pragmatiker war und zudem dringend eine Antwort auf seine Frage benötigte, dauerte das Verhör noch eine ganze Weile. Schließlich gab sich Mephisto geschlagen. Sein Gefangener hatte anscheinend tatsächlich keine Ahnung.

»Ich werde dich jetzt nach Hause bringen, Theodore.«

»Wirklich?« Obwohl die Stimme schmerzverzerrt klang, lag unverkennbar Hoffnung darin.

Der Mann in Schwarz löste die Fesseln, stützte den schwer verletzten Theodore Hobbs beim Gehen und half ihm draußen beim Einsteigen in die Kutsche.

»Natürlich. Ich werde dich persönlich in deiner Wohnung abliefern. Abbey Road Nummer drei, vierter Stock, nicht wahr?«

1. Mayfair

Der Blick vom Frühstücksraum des Sebastian Club ging hinunter auf die Berkeley Square Gardens, ein großzügig angelegtes Rechteck, in dem hochgewachsene Platanen Schatten spendeten. An einem unverhältnismäßig heißen Sommertag wie diesem war das ein Segen, eine friedliche Oase im rastlosen Treiben Londons. Freddie zählte mindestens acht Kinderwagen, die von adrett gekleideten Nannys durch die Anlage geschoben wurden. Üppig bepflanzte Blumenrabatten spiegelten den Reichtum des Stadtviertels wider. Hier, in Londons Herz, hielt sich nur auf, wer es sich leisten konnte. Ausschließlich die Kinder von reichen und hochwohlgeborenen Leuten wurden in dieser Gegend spazierengefahren. Die Eltern sahen ihre Sprösslinge für gewöhnlich etwa eine Stunde täglich, sofern Mutter und Vater sich die Zeit dafür nahmen. Ansonsten befanden sie sich rund um die Uhr in Gesellschaft ihrer Gouvernanten, die für sämtliche Erziehungsfragen verantwortlich waren. Bei den Kindermädchen wiederum herrschte ein ebenso striktes Klassensystem wie bei ihren Arbeitgebern. Eine Nanny in Diensten eines Earls würde sich im Park nur mit einer Kollegin austauschen, die für eine ebenso wichtige Familie tätig war. Daher bildeten sich täglich Grüppchen, gab es Außenseiter und auch Gouvernanten, die von allen misstrauisch beäugt oder gar beneidet wurden.

Von seinem Platz an einem Fenster im zweiten Stock des Sebastian Club konnte Freddie allerdings nur einen Teil des Gartens einsehen. Er vermutete, dass sich weitaus mehr Babys dort unten aufhielten als besagte acht.

»Ich hoffe, meine kleine Führung durch unsere Räume hat Ihnen zugesagt«, unterbrach Professor Brown Freddies Gedanken. »Lassen Sie uns nun in mein Büro gehen.«

Von dort hatte man zwar keine freie Sicht mehr auf die Berkeley Square Gardens, dafür aber auf die helle Steintreppe des Clubeingangs, die zum glänzend pechschwarz lackierten Portal mit seinem Messingtürklopfer in Form einer Löwenkralle hinaufführte. Jeder Neuankömmling ließ die schwere Tatze auf ihr Gegenstück, einen Messingball, krachen, woraufhin der Portier umgehend öffnete, um die Mitglieder einzulassen – und allen anderen den Zutritt zu verwehren.

Auch nicht schlecht, dachte Freddie.

Professor Brown konnte also von seinem Schreibtisch aus genau beobachten, wer den Club betrat oder verließ. Ein Umstand, den sich Freddie merken würde. Überhaupt fand er den Professor sehr aufmerksam, geradezu wissbegierig. Er schien ein interessanter Mann zu sein. Freddie schätzte ihn auf Anfang sechzig. Von seinem Onkel wusste er, dass Brown ein Professor der Anthropologie war. Früher hatte er einen Lehrstuhl an der Universität von Oxford gehabt, mittlerweile galt er offiziell als emeritiert. Inoffiziell freilich war er mit der Leitung des Sebastian Club wahrscheinlich beschäftigter als zu seinen Lehrzeiten. Immerhin musste er nicht nur nach außen hin den Eindruck erwecken, einen distinguierten Gentlemen’s Club zu verwalten, es gab intern auch noch die »Unterabteilung«, wie Onkel Philip es gerne bezeichnete.

Neben den normalen Mitgliedern beschäftigte der Club eine kleine Anzahl an Detektiven – diskret natürlich –, von denen Freddies Onkel einer war. Und heute war der große Tag, an dem auch Freddie Westbrook in den Kreis der Clubmitglieder – besser noch, der Ermittler – aufgenommen wurde. Ein Schauer wohliger Aufregung lief über seinen Rücken. Er genoss ihn, gab sich einen Moment lang dem triumphierenden Gefühl hin, etwas Großes erreicht zu haben.

Nachdem er sein glückseliges Grinsen wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich vom Fenster ab und nahm in einem Ledersessel Platz. Er ließ die Einrichtung des Büros auf sich wirken.

Geschmackvoll, repräsentativ, aber nicht protzig. Dunkles Holz, dunkles Leder und ein wenig gedecktes Grün in den Gardinen sowie im Teppich. Professor Brown goss einen Fingerbreit Whisky in drei Gläser, reichte Freddie eines davon, das zweite Lord Philip, das dritte behielt er für sich.

»Lassen Sie uns anstoßen. Auf Ihren Clubbeitritt. Als Herrenclub mit strengem Codex und einer hohen Messlatte, was potenzielle Bewerber betrifft, haben wir nur wenige Gentlemen in Ihrem Alter. Diejenigen, die es in den Sebastian Club geschafft haben, sind daher etwas Besonderes. So wie Sie. Es ist uns eine große Freude, Sie als Mitglied gewonnen zu haben. Besonders nach dem, was uns Ihr Onkel über Ihre herausragenden Fähigkeiten erzählte.«

Freddie nippte an seinem Glas, warf einen kurzen Blick auf Lord Philip, der ihm mit seinen tiefblauen, ein wenig eng beieinanderstehenden Augen aufmunternd zuzwinkerte. Um seinen scharf geschnittenen Mund lag ein feines Lächeln. »Ich nehme an, Sie sprechen vom Greenwood-Fall«, sagte Freddie an Professor Brown gewandt. »Mein Onkel nahm ein hohes Risiko auf sich, mich an den Ermittlungen mitwirken zu lassen. Dafür bin ich ihm dankbar. Er und ich haben uns sehr gut ergänzt. Sein Verdienst war genauso groß wie der meine.«

Professor Brown lächelte. »Bescheidenheit ist die Zier eines wahren Gentleman.«

Lord Philip zog eine Taschenuhr aus der dafür vorgesehenen Tasche seiner Anzugweste, klappte sie auf und studierte sie eingehend. Nachdem er sie wieder geschlossen und verstaut hatte, leerte er sein Glas in einem Zug und sagte: »Ich will nicht unhöflich erscheinen, Professor, aber lassen Sie uns zur Sache kommen. Die Formalitäten sind erledigt und uns allen ist bekannt, weshalb die Aufnahme meines Neffen so rasch abgewickelt wurde. Am besten, Sie schildern Freddie die Fakten, dann können wir uns direkt an die Arbeit machen.«

»Gewiss, gewiss.« Professor Brown schien sich nicht an der direkten Art von Lord Philip Dabinott zu stören.

»Wie Sie bereits wissen, Mister Westbrook«, begann er seine Ausführungen, »handelt es sich bei unserem Club nicht einfach um einen gewöhnlichen Gentlemen’s Club. Wir haben es uns vielmehr zur Aufgabe gemacht, unserem Namensgeber gerecht zu werden. Der heilige Sebastian gilt unter anderem als Schutzpatron der Sterbenden. Und einige unserer Mitglieder sorgen dafür, dass den Toten Gerechtigkeit widerfährt. Das bedeutet, wir klären Mordfälle auf, deren erfolgreiche Bearbeitung die Fähigkeiten von Scotland Yard übersteigen.«

»Und was hält unsere Exekutive davon?«, konnte sich Freddie nicht verkneifen zu fragen.

Professor Brown strich mit einer Hand über seinen kurz gestutzten weißen Bart und überlegte. Dabei zog er seine buschigen schwarzen Augenbrauen, in denen sich, im Unterschied zu Bart und üppigem Haupthaar, kein einziges weißes Härchen befand, zusammen. »Das ist uns, ehrlich gesagt, ziemlich einerlei. Zumal unsere Clubmitglieder so einflussreiche Personen der Gesellschaft sind, dass wir unsere Ermittlungen mit und ohne Zustimmung der Beamten durchführen können. Gerade bei unserem aktuellen Fall ist es zum Beispiel so, dass der zuständige Kommissar völlig im Dunklen tappt. Er geht von mehreren Tätern aus, behandelt die Fälle als nicht zusammenhängend. Dabei steckt hinter allen eindeutig ein und derselbe Mörder. Aber machen Sie sich selbst ein Bild, Mister Westbrook:

In den letzten Wochen wurden drei Männer ermordet. Einer davon ist ein Lehrer aus Croydon, der zweite ein stadtbekannter Zuhälter aus Whitechapel und der dritte Lord Reginald Pierce, der ein Stadthaus hier in Mayfair besaß. Bei den Getöteten fanden sich Spuren von, sagen wir, intensiven Verhörtechniken.«

»Sie wurden gefoltert?«

»Nun ja, zumindest wurden ihnen vor ihrem Tod Verletzungen zugefügt, die das nahelegen.«

»Wie wurden sie getötet?«

»Den Lehrer hat man aus dem Fenster seiner Wohnung hinunter auf die Straße gestoßen. Der Zuhälter wurde erstochen. Und Lord Pierce erschlagen. Er wurde übel zugerichtet.«

»Die Gewalt steigerte sich von Mord zu Mord«, konstatierte Lord Philip. Er schlug die langen Beine übereinander und zupfte das Hosenbein seines Maßanzugs zurecht. »Aber warum gehen Sie davon aus, dass ein und derselbe Täter am Werk war?«

»Wegen der Verhörtechnik. Allen drei Opfern wurden vor ihrem Tod dieselben, sehr speziellen Verletzungen zugefügt. Sie alle tragen die Handschrift eines einzigen Mörders. Somit hätten wir eine Serie.«

»Vermutlich steht zu befürchten, dass diese fortgesetzt wird«, meinte Freddie. »Es sei denn, der Täter hat bereits bekommen, wonach er suchte.«

Professor Brown schüttelte den Kopf. »Dagegen sprechen die schrecklichen Verletzungen, die Lord Pierce zugefügt wurden. Das zeugt von Frustration. Unser Täter wird immer aggressiver. Deshalb müssen wir ihn schnellstmöglich dingfest machen.«

»Und mein Onkel und ich sollen das für Sie erledigen. Deshalb wurde ich in den Sebastian Club aufgenommen.«

Professor Brown öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und nahm einen Stapel Akten heraus, die er Lord Philip reichte. »So ist es. Dies sind Kopien der entsprechenden Fallakten von Scotland Yard.«

Freddies fragendem Blick begegnete er mit einem Schulterzucken. »Der Sebastian Club hat weitreichende Beziehungen, wie ich schon sagte. Studieren Sie diese Unterlagen in Ruhe, und anschließend treffen wir uns wieder hier. Sagen wir morgen Abend zum Dinner? Dann werde ich Ihnen die beiden anderen Mitglieder unseres Ermittlerkreises vorstellen.« Professor Browns Stimme hatte einen warmen, tiefen Klang und den Akzent eines gebildeten Akademikers. Es war angenehm, ihm zu lauschen. Beinahe bedauerte Freddie es, dass er nach seiner kurzen Skizzierung der Fakten nun am Ende seiner Ausführungen angelangt war.

2. Belgravia

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, verließen Freddie und sein Onkel den Sebastian Club und hielten eine Droschke an. Der Kutscher musste wenden, um den Weg nach Belgravia einzuschlagen, wo das Stadthaus der Dabinotts stand. Dabei passierten sie den Parkeingang aus nächster Nähe.

»Diese Nanny«, bemerkte Freddie, »auf der ersten Bank links, gleich neben dem Weg, saß schon vor zwei Stunden dort, als wir ankamen. Sie scheint den Clubeingang gut im Blick zu haben. Falls wirklich ein Baby in ihrem Kinderwagen liegt, was ich bezweifle, da er in der prallen Sonne steht, dürfte es mittlerweile gegrillt sein. Oder zumindest lautstark brüllen. Ich höre aber nichts. Darüber hinaus würde es mich wundern, wenn sich ein Kindermädchen einen derartig exklusiven Hut leisten könnte. Die junge Dame trägt nämlich ein Modell von Aldous Kingsley, und das ist der teuerste Hutmacher in Piccadilly. Wenn du mich fragst, beobachtet sie das Kommen und Gehen auf der anderen Straßenseite.«

Zweifelsohne war es ein Geniestreich von Lord Philip gewesen, Freddie als Ermittler zu gewinnen. Seinen wachen Augen entging nichts. Und seine Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und richtig zu kombinieren, war überragend. Während die Kutsche sie zum Wilton Crescent brachte, musterte Lord Philip seinen Neffen. Der Tagesanzug, den er für Freddie hatte anfertigen lassen, stand diesem gut zu Gesicht. Das leichte Tuch war ideal für Freddies lange, schmale Figur. Und das gedeckte Grau schmeichelte seinem Teint und den familientypischen taubenblauen Augen. Für seine zwanzig Jahre wirkte er noch reichlich jungenhaft, das wusste er selbst. Kein Bartwuchs, nicht einmal Flaum bedeckte seine Wangen, dafür waren die Wimpern erstaunlich lang.

Ein schelmisches Lächeln glitt über Lord Philips Züge.

»Was ist?«, fragte Freddie ihn argwöhnisch. »Sehe ich so lächerlich aus in diesem Aufzug?«

»Mitnichten! Du siehst aus wie ein hochwohlgeborener junger Herr. Genauso, wie wir es beabsichtigten. Aber ich wette, du kannst es kaum erwarten, dich zu Hause umzuziehen, nicht wahr?«

»Falsch. Ich liebe meinen neuen Anzug und hoffe, ihn noch viele Male tragen zu dürfen. Wahrscheinlich werde ich noch einen zweiten und dritten brauchen. Mindestens. Das Einzige, was mich bei der Hitze wahnsinnig macht, ist dieser Kopfputz.«

Deshalb lief Freddie daheim sofort nach oben und riss sich die Kurzhaarperücke herunter. Nur mühsam gebändigte weizenblonde Locken quollen hervor, sprangen über Freddies Schultern und machten aus dem jungen Gentleman eine junge Lady.

Mit Bedauern schlüpfte diese aus dem Anzug und ergab sich widerstrebend den Zwängen ihres Korsetts. Es war bitter, den Genuss des freien Atmens wieder aufgeben zu müssen.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie in Rock und Bluse nach unten, wo ihr Onkel schon in seinem Büro auf sie wartete. Vor sich hatte er die Fallakten liegen. Er nahm die oberste und reichte sie Freddie, zusammen mit einem Apfel aus der Obstschale, die immer auf seinem Schreibtisch stand. Freddie zog sich damit in einen Sessel vor dem Bücherregal zurück, während Lord Philip damit begann, die zweite Akte zu lesen. Sie liebte das Büro ihres Onkels und genoss es jedes Mal, sich darin aufhalten zu dürfen. Es war kein übermäßig großer Raum, gerade richtig, um einen eleganten Regency-Schreibtisch aus Mahagoniholz, zahlreiche Bücherregale und eine Sitzgruppe vor dem Kamin zu beherbergen. Zwei Flügeltüren gingen hinaus auf den Garten. Nun standen sie offen, um ein wenig Luft hereinzulassen.

Eine Weile war nur das Rascheln, erzeugt durch das Umblättern der Seiten, zu hören sowie das Geräusch, das auch die wohlerzogenste Dame macht, wenn sie in einen Apfel beißt.

»Glaubst du, er hat etwas gemerkt?«, fragte Freddie schließlich.

»Wen meinst du? Professor Brown? Auf keinen Fall! Er ist immerhin nicht der Jüngste und seine Augengläser sind reichlich dick. Bestimmt sieht er nicht mehr allzu gut. Außerdem war deine Verkleidung perfekt. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich dich selbst für einen jungen Mann gehalten. Wir haben alles bestens vorbereitet, inszeniert und zur Genüge hier in unseren vier Wänden geübt. Immerhin wissen wir beide, was vom Gelingen dieser Scharade abhängt. Wir müssen einem Mörder das Handwerk legen, Frederique, so schnell es geht! Wie gut, dass du schon immer eine überraschend tiefe Stimme hattest. Klingt zwar wenig damenhaft, kommt uns aber jetzt sehr gelegen.«

»Es gibt Personen, die finden meine Stimme angenehm!«, protestierte sie.

»Gewiss, gewiss.«

»Sollte jemals herauskommen, dass Lord Philip Dabinott eine Frau in den hochehrenwerten Sebastian Club eingeschleust hat, wäre das ein handfester Skandal«, gab Freddie zu bedenken. »Aber ich vermute, der Zweck heiligt die Mittel.«

Lord Philip nickte. »Genau. Deshalb machen wir uns nun ans Werk, damit wir wenigstens Erfolge vorweisen können, sollte deine Tarnung auffliegen …«

3. Im Club

»Ich wusste nicht, dass Sie einen erwachsenen Neffen haben«, sagte Doktor Wallace Pebsworth zu Lord Philip, ohne von seinem Steak aufzusehen, das er mit dem Messer malträtierte. Es war bereits seine zweite Portion.

Freddie bezweifelte, dass das in Bratensoße ertränkte, blutige Stück Fleisch nebst gebuttertem Trüffelpüree und glasierten Karotten irgendetwas Positives für Pebsworths ausladende Mitte tun würde. Aber das müsste der gute Doktor selbst am besten wissen. Zugegebenermaßen war das Essen im Sebastian Club vorzüglich. Freddie selbst hatte Wachteln an Rotweinsud genossen und freute sich nun auf das Dessert – welches sie ohne Reue schlemmen konnte, schließlich quetschte kein Korsett ihre Körpermitte.

»Freddie ist der Sohn meiner verstorbenen Schwester«, hörte sie Lord Philip erklären. »Und er ist nur zwei Jahre jünger als ich.«

»Zwölf Jahre, Onkel Pip«, warf Freddie automatisch ein, wie immer. Lord Philip liebte es, bei seinem Alter zu schwindeln.

»Dann eben zwölf«, gab der widerstrebend zu. »Und du sollst mich nicht ›Onkel Pip‹ nennen, das weißt du doch. Das klingt, als wäre ich ein Tattergreis mit Puschen und Schlafmütze.«

Der junge Herr, der neben Doktor Pebsworth saß und die Runde mit aufmerksamen, hellen Augen betrachtete, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er schien selbst nur unwesentlich älter zu sein als Freddie. Freilich handelte es sich hierbei um einen richtigen Mann und keinen verkleideten. Fast ein wenig neidisch bemerkte sie die dunkelblonden Bartstoppeln, die sich auf seinem Kinn zeigten. »Five o‘clock shadow« nannte Onkel Philip das. Er hatte ihr davon abgeraten, sich einen Bartschatten zu schminken, zu hoch wäre das Risiko, er könnte angemalt aussehen.

Der junge Mann war ihr als Crispin Fox vorgestellt worden, ein Anwalt, hochbegabt und zusammen mit Doktor Pebsworth die Nummer drei und vier in ihrem illustren Ermittlerquartett. Wenn man Professor Brown nicht dazuzählte. Aber Freddie vermutete, dass er sowieso eher im Hintergrund die Fäden zog und Aufgaben verteilte.

Sie musste zugeben, dass das Dinner im Sebastian Club ihr regelrecht Freude bereitete, so ernst der eigentliche Anlass auch sein mochte. Die Herren saßen zusammen mit Professor Brown an einem Tisch im Round-Séparée, abseits des großen Speisezimmers, umrundet von den Porträts berühmter Clubmitglieder. Weil der kleine Raum in einen Erker eingebaut war, hatte er eine halbrunde Form, die sich nur auf einer Seite hin für breite, zweiflügelige Holztüren abflachte. Durch diese hatten Angestellte Servierwagen mit den Speisen hereingeschoben, bei denen kräftig zugelangt wurde, hauptsächlich dank Doktor Pebsworths Einsatz.

Für Freddie fühlte es sich grandios an, auf Augenhöhe mit gebildeten Menschen zu sprechen, über Dinge, die mehr waren als unwichtiges Geplauder oder oberflächliche Nichtigkeiten. Was sie sich zu sagen hatten, was sie hier diskutierten, würde einen Mörder zur Strecke bringen. Die Funktion von Doktor Pebsworth als Arzt leuchtete ihr dabei ein, er würde für den Fall von Nutzen sein. Aber was Crispin Fox’ besondere Begabung war, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen.

Anstatt sich nach dem Essen ins Raucherzimmer zu begeben, blieben sie auf ihren Plätzen sitzen, während das Geschirr abgeräumt wurde. Wenig später wurde ein Barwagen gebracht, auf dem sich auch Aschenbecher nebst Rauchwerk befanden. Nachdem Pebsworth den Tabak gelobt hatte, steckte sich Freddie eine der ägyptischen Zigaretten an – was ihr einen strafenden Blick ihres Onkels einhandelte. Aber sie hatte vor, alle Privilegien auszukosten, die ihre temporäre Männlichkeit mit sich brachte. Dafür hielt sie sich beim Whisky zurück, nippte lediglich an der goldenen Flüssigkeit und beschloss, sich den Inhalt des Glases den restlichen Abend über einzuteilen und dafür mehr vom Mokka nachzubestellen, um einen klaren Kopf zu behalten.

»Ich schlage vor, wir bleiben hier«, leitete Professor Brown zum eigentlichen Thema über. »Hier spricht es sich intimer. Im Raucherzimmer sind überall Augen und Ohren. Doktor Pebsworth, darf ich Sie bitten anzufangen?«

»Gerne.« Mit kurzen, dicken Fingern drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und setzte sich gerade hin. Dies entlockte seinem Stuhl ein gequältes Knarzen. Freddie bemerkte, dass die samtenen Polster so prall mit Rosshaar gestopft waren, dass sie kaum darin einsank, aber Pebsworths Gewicht schien doch substanziell zu sein. Wie alle Anwesenden ignorierte sie das Geräusch galant.

»Laut Berichten des Leichenbeschauers von Scotland Yard starb das erste Opfer, ein gewisser Theodore Hobbs, neunundfünfzig Jahre alt und von Beruf Lehrer, an Verletzungen, die von einem Sturz aus großer Höhe herrühren. Seine Wirbelsäule, seine Beine und sein linker Arm waren gebrochen, zudem die Rückseite seines Schädels zertrümmert. Opfer Nummer zwei, Eldon Guthrie, ein sogenannter Geschäftsmann, wurde durch einen Stich ins Herz getötet. Davor wurden ihm aber bereits weitere Stichwunden in Bauch, Oberschenkel und Schulter zugefügt, und zwar mit einer sehr dünnen, zweischneidigen Klinge. Dabei fällt mir auf Anhieb ein Stilett ein. Und schließlich Lord Reginald Pierce – Todesursache: Einwirkung von stumpfer Gewalt. Er wurde erschlagen. Die meisten Verletzungen befanden sich im Gesicht und am Oberkörper. Tödlich war wahrscheinlich ein Schlag, der die Halswirbel von der Schädelbasis abtrennte. Genickbruch.«

Freddie war froh, nur die Hälfte ihres Desserts gegessen zu haben, denn Doktor Pebsworth breitete nun Fotografien auf dem Tisch aus, welche die einzelnen Opfer zeigten und offensichtlich vom Leichenbeschauer oder der Polizei angefertigt worden waren.

»Können Sie Näheres zu den Folterverletzungen ausführen, die alle Opfer gemeinsam haben?«, fragte Lord Philip. Ihm schienen die Bilder weit weniger auszumachen als Freddie, denn er schob sich genüsslich eines der Petit Fours in den Mund, die auf einer dreistöckigen Etagere in der Mitte des Tisches thronten.

Doktor Pebsworth legte weitere Fotos nebeneinander, welche allesamt die Hände der Toten zeigten.

»Sehen Sie hier? Diese Flecken, Schwellungen, die geplatzte Haut? Allen drei Männern wurden vor ihrem Tod Verletzungen an den Fingern zugefügt. Quetschungen, teilweise sogar Knochenbrüche. Ich fürchte, man hat ihnen zur Unterstützung einer Befragung die sprichwörtlichen Daumenschrauben angelegt.«

»Wie unangenehm!«

Freddie hätte beinahe laut aufgelacht aufgrund dieser Bemerkung ihres Onkels. Anscheinend fiel außer ihr niemandem die Komik von Lord Philips beherrschtem Kommentar auf. Ein untertriebeneres Wort als »unangenehm« angesichts der grausigen Bilder konnte man kaum wählen! Allein beim Gedanken an die Qualen, welche die Opfer während ihrer Tortur ausgestanden haben mussten, befiel Freddie eine Gänsehaut.

»Er hat sie nicht am selben Ort getötet, an dem er sie folterte«, stellte sie fest. Die anderen blickten sie überrascht an, auf eine Erklärung wartend.

»Nehmen wir zum Beispiel das erste Opfer, Theodore Hobbs. In seiner Akte steht, er lebte in Croydon, in der Abbey Road Ecke Latimer Road, in einem mehrstöckigen Mietshaus, aus dessen Fenster er gestoßen wurde. Also in einer dicht besiedelten Gegend. Nun stellen Sie sich die Schreie vor, die er ausgestoßen haben muss, während seine Finger in einer Zwinge gequetscht wurden, bis sie platzten. Es sieht auf diesem Bild hier auch so aus, als ob der Knochen des Daumens gebrochen wäre. Das lässt niemand schweigend über sich ergehen. Geknebelt wurde er aber nicht, Spuren davon müsste man nämlich sonst um seinen Mund herum finden. Hätte Mister Hobbs diese Art von Folter in seiner Wohnung erfahren, wäre er sicherlich von den Nachbarn und wahrscheinlich sogar noch von Leuten auf der Straße gehört worden. Allerdings gaben alle Zeugen an, Hobbs wäre ohne einen Laut gefallen – aus einem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock.«

Crispin Fox nickte zustimmend. »Natürlich! Das ist richtig! Bei Eldon Guthrie muss es sich ähnlich verhalten haben. Sehen Sie sich seine Fotografie an: ein stattlicher Mann, obwohl er nicht mehr der Jüngste war! Unser Mörder musste ihn fesseln – und zwar ordentlich. An den Handgelenken erkennt man, wie das verwendete Seil die Haut einschnürte, er scheint kräftig daran gezerrt zu haben. Laut Polizeibericht war er ein stadtbekannter Zuhälter, ständig von mehreren Leibwächtern umgeben, weil er sich viel zu viele Feinde gemacht hatte. Wie konnte er überwältigt, entführt, gefoltert und dann in sein Etablissement in Whitechapel zurückgebracht werden, wo man ihn schließlich tötete, ohne dass irgendjemand dies bemerkte?«

Lord Philip griff nach der Fallakte und blätterte darin. Nachdem er gefunden hatte, wonach er suchte, klappte er sie wieder zu und sah in die Runde. »Laut dem Bericht des Gerichtsmediziners starb Guthrie um zwei Uhr morgens. Gefunden wurde er aber erst um halb sieben, in seinem Büro im ersten Stock seines Bordells. Von einem Dienstmädchen, das den Kamin anheizen wollte. Sehen Sie sich an, wie er zugerichtet wurde!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Hand auf das Bild der Leiche von Eldon Guthrie. »Seine Finger sehen noch schlimmer aus als die von Hobbs, und ich vermute, dass ihm die tödliche Wunde als letzte zugefügt wurde.«

»Wie man weiß, sind Stiche in den Bauchraum oder die Schulter besonders schmerzhaft. Es könnte durchaus sein, dass diese ein beabsichtigter Teil der Folter waren. Und wenigstens zwei seiner Verletzungen wären mit hohem Blutverlust einhergegangen«, mischte sich Doktor Pebsworth ein, nahm die Fotografie von Guthries Büro und hielt sie hoch, »wovon auf dieser Aufnahme jedoch nichts zu erkennen ist. Der Boden in seinem Büro ist zwar schmutzig, aber nicht blutbesudelt.«

Auch bei Mordopfer Nummer drei gab es ähnliche Ungereimtheiten. Lord Reginald Pierce, ein hochgewachsener, schlanker, aber muskulöser Mann von neunundfünfzig Jahren, war am schlimmsten misshandelt worden. Sein Gesicht war von Schlägen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, Schwellungen und Platzwunden taten ihr Übriges. Alle seine Finger hatten unter der Daumenzwinge gelitten und waren zerquetscht. Der Genickbruch hatte ihn von unvorstellbarem Leiden erlöst.

»Man fand ihn in seinem Stadthaus in Mayfair. Wo genau?«, fragte Crispin.

»Im Weinkeller.«

»Wenn er so verunstaltet war«, Crispin griff nach der Tatortfotografie, warf aber nur einen kurzen Blick darauf, bevor er sie schaudernd wieder ablegte, »wie konnte man sich dann sicher sein, dass der Tote tatsächlich Pierce war und nicht zum Beispiel irgendein Einbrecher?«

»Er wurde anhand seiner Kleidung und des Siegelrings der Familie Pierce identifiziert, den er an den Resten seines kleinen Fingers trug. Von seiner Frau und von deren Gesellschafterin.« Freddie hatte sich die Fakten gut gemerkt. »Also gilt hier dasselbe wie für die anderen: Der Fundort ist nicht der Tatort.«

Lord Philip schüttelte fassungslos den Kopf. »Er war ein Bekannter meines Vaters«, murmelte er. »Als ich noch ein Kind war, besuchte er uns gelegentlich auf unserem Landsitz. Ich kann mich daran erinnern, dass er ein sehr eleganter Mann war, dunkelhaarig, mit einer sonoren Stimme. Niemand hat es verdient, so zu sterben.« Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und es sah so aus, als würde er in seinem Stuhl ein wenig in sich zusammensinken. Dieser empathische Moment dauerte nur kurz, dann saß er erneut kerzengerade und die emotionskontrollierte sprichwörtliche »stiff upper lip« des englischen Gentleman wieder an ihrem Platz. Für einen Moment studierte Freddie sein Gesicht. Die schmale Nase, das aus der Stirn gekämmte hellbraune Haar und seine hohen Wangenknochen verliehen Philips Aussehen eine klassische Strenge, die jedoch wie weggewischt war, sobald er lächelte. Dann leuchtete sein Antlitz regelrecht auf und er sah schlagartig viel jünger aus als seine zweiunddreißig Jahre, beinahe jungenhaft. Sie schätzte es, dass ihr Onkel sich jeden Tag glatt rasierte. Die modernen Backenbärte oder Schnauzer in jeglicher Breite, Form und Dicke fand Freddie unattraktiv. Nun war Lord Philips Gesicht neutral, ebenso wie sein Tonfall, als er erklärte: »Umso wichtiger, dass wir unsere Kräfte bündeln, um eine schnelle Lösung dieser Fälle herbeizuführen. Was schlagen Sie vor, Professor Brown?«

»Nun ja, wenn alle einverstanden sind, halte ich es für das Beste, wenn Mister Fox sich eingehender mit den Daumenschrauben beschäftigt. Diese Apparatur ist ja nicht gerade alltäglich in Gebrauch, vielleicht kann man den Täterkreis dadurch eingrenzen. Sie, verehrter Doktor, könnten unserem jungen Freund mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich denke dabei an die Art der Verletzungen und ob sie Rückschlüsse auf die Konstruktion des Folterinstruments zulassen.« Zuletzt wies Brown auf Freddie und Lord Philip. »Und Sie, meine Herren, würde ich bitten, sich die Tatorte noch einmal genau anzusehen, die Zeugen aufzusuchen und dergleichen. Es ist zwar hilfreich, die Aufnahmen von Scotland Yard zu analysieren, aber es geht nichts über eine fundierte Vor-Ort-Untersuchung.«

Nachdem das letzte Whiskyglas geleert war, vereinbarten die Ermittler, sich untereinander abzusprechen, wann das nächste Treffen anberaumt werden sollte, und bis dahin schnellstmöglich neue Erkenntnisse zu erlangen.

Als Freddie an der Seite ihres Onkels den Sebastian Club schließlich verließ, war es weit nach Mitternacht. Sie fühlte sich nicht müde, sondern beschwingt nach dem vielen Reden und Denken. Noch nie zuvor war sie derart lang aus gewesen. Es war herrlich, welche Freiheiten Männer hatten, sie konnten kommen und gehen, wann immer sie wollten, nachts durch London streifen, Abenteuer erleben und sich um Dinge kümmern, die etwas in der Welt bewirkten.

In der lauen Sommernacht wehte von den Berkeley Square Gardens Blumenduft herüber, was Freddie ein wenig wunderte, weil die Kelche der zahlreichen Blüten seit Sonnenuntergang geschlossen waren. Sie hatte kaum Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn die Kutsche hielt neben ihnen und Lord Philip half ihr galant hinein, wie er es für seine Nichte natürlich tun würde – nicht jedoch für einen jungen Neffen.

»Gut, dass die anderen schon weg sind«, flüsterte Freddie ihm zu, während sie einstieg, »und das nicht gesehen haben. Deine gute Erziehung wird dir noch einmal zum Verhängnis werden, lieber Onkel.«

4. Croydon

Croydon war eine große Stadt am südlichen Rand der Metropole, die sich London vor einigen Jahren offiziell einverleibt hatte. Seitdem hieß sie, als eines von vielen Stadtvierteln, »The London Borough of Croydon«. Die neue Eisenbahn hatte unzählige Menschen nach Croydon gelockt, so viele, dass die Bevölkerungszahlen dort regelrecht explodiert waren. In der Old Town quollen die Häuser über mit Arbeitern und deren Familien, die in den feuchten, überfüllten Wohnungen ein trübes Dasein fristeten. Ungeziefer breitete sich rasant aus, mit ihm Krankheiten und Not. Freddie hatte noch nie derartiges Elend gesehen, geschweige denn den Gestank der Gosse gerochen. Als Kind war sie ein einziges Mal in diese Gegend gekommen, genauer gesagt nach Addington Palace, der Sommerresidenz des Erzbischofs von Canterbury, welche außerhalb Croydons lag. Das herrschaftliche Anwesen mit seinem geometrischen Aufbau aus hellem Stein hatte allerdings nichts gemeinsam mit den Armenvierteln, durch die Freddie und Lord Philip kutschiert wurden. Trotzdem musste sie in diesem Moment an jenen sonnigen Tag denken, an dem Erzbischof Tait ihr sein Beileid zum Tod ihrer Eltern ausgesprochen hatte. Sie war erst sechs Jahre alt gewesen, trotzdem erinnerte sie sich noch genau an die streng gescheitelten, zurückgekämmten Haare des älteren Herrn, an seine niedrige Stirn, die sich über traurige Augen wölbte. Jene schwermütig dreinblickenden Augen hatten sich in Freddies Gedächtnis gebrannt. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würde er ihren Schmerz verstehen, während er ihr die Hand schüttelte, als wüsste er, was es bedeutete, wenn einem das Liebste entrissen wurde. Später hatte sie erfahren, dass Bischof Tait im Zeitraum von ein paar Wochen fünf seiner Kinder durch Scharlach verloren hatte. Er fühlte in der Tat dieselbe Trauer wie Freddie. Als Lord Philip ihr später von Taits Tod berichtet hatte, war sie ehrlich betroffen gewesen. Der Gedanke, dass er nun wieder mit seinen Liebsten vereint war, hatte sie ein wenig getröstet.

Doch jetzt galt es, sich auf die Situation vor Ort zu konzentrieren und nicht die Geister der Vergangenheit aufzuwecken. Entschlossen öffnete sie die Tür der Droschke, die eben angehalten hatte. Sie bemühte sich redlich, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als sie beim Aussteigen über ein öliges Rinnsal trat, in dem eine tote Ratte schwamm. Dabei hatte Theodore Hobbs, das erste Opfer, nicht einmal im ärmsten Teil der Old Town gelebt. Als Lehrer hatte er sich eine bescheidene Wohnung in einem Mietshaus leisten können, das ein wenig entfernt von der High Street lag. Noch dazu befand sie sich in einem der oberen Stockwerke, wohin der faulige Geruch nach Abwässern nicht mehr ganz so beißend aufstieg. Auf der Treppe zum Eingang saß ein mageres, kleines Mädchen in einem schmutzigen Kittel. Sie spielte mit ein paar leeren Büchsen. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, und als sie hustete, wurde Freddie klar, dass dieses Kind nicht alt werden würde. Am liebsten hätte sie es aufgehoben, mit nach Hause genommen, gebadet und ihm zu essen gegeben. Dann sah sie sich um, die Straße hinauf. Vor jedem Haus spielten unterernährte Kinder, alle sahen krank aus und ein jedes blickte ihr nach, als sie zusammen mit ihrem Onkel das Haus Nummer drei an der Abbey Road betrat. Es kam sicher nicht oft vor, dass sich zwei reiche Gentlemen mit polierten Schuhen hierher verirrten – und wenn doch, dann führten sie bestimmt nie etwas Gutes im Schilde.

Die Treppe in den vierten Stock hinauf knarzte bei jedem Schritt. Freddie bemühte sich, den schimmligen Wänden nicht zu nahe zu kommen. Je weiter sie nach oben stiegen, desto ordentlicher sah es aus. Auf Theodore Hobbs’ Etage saß der Schimmel nur noch in den Ecken eines schummrigen Flurs, und eine abblätternde Tapete mit Stockflecken ließ vermuten, dass das Haus einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Hier wirkte der Boden auch leidlich gefegt. Mit einem spitzen Instrument öffnete Lord Philip die Wohnungstür so selbstverständlich, als würde es sich dabei um einen Schlüssel handeln. Freddie sah ihm interessiert zu und war ebenso erstaunt wie ihr Onkel, als sie schließlich in dem kleinen Raum standen, in dem das erste Opfer sein Leben zugebracht hatte.

»Jemand hat sauber gemacht!«, rief Freddie aus.

»Das hatte ich befürchtet. Die Polizei hat die Wohnung freigegeben, und anscheinend hat der Hausbesitzer alles schon für den nächsten Bewohner vorbereitet. Er will wohl weder Zeit noch Geld verlieren.« Lord Philip drehte sich einmal im Kreis, besah sich das schmale Holzbett, das Küchenbuffet und den Tisch mit seinen zwei Stühlen daneben. Dann trat er an das einzige Fenster des Raums, öffnete es und blickte auf die Straße hinunter.

»Ziemlich hoch. Unser Mörder konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hobbs den Sturz nicht überleben würde. Allerdings bedurfte es einer gewissen Kraft, den Mann durch dieses kleine Fenster zu befördern. Selbst für den Fall, dass er bewusstlos war.«

»Er konnte ihn nicht einfach nur schubsen«, stimmte Freddie ihm zu. »Dafür liegt der Sims zu hoch. Er musste ihn heben, zumindest kippen. Ich könnte das nicht. Damit scheidet eine Frau als Täterin schon mal aus.«

»Nur was die Ausübung angeht. Aber alle Morde könnten von einer Frau in Auftrag gegeben worden sein. Deshalb würde ich deine Geschlechtsgenossinnen nicht allzu früh freisprechen, liebe Nichte«, meinte Lord Philip mit einem Augenzwinkern.

Aus der darunterliegenden Wohnung war bellendes Husten zu hören.

»Nicht sehr gut isoliert«, stellte Freddie fest. »Und das Treppenhaus ist eng und steil, mit knarzenden Stufen. Wie unauffällig, denkst du, kann man nachts einen verletzten Mann gegen seinen Willen bis in die vierte Etage schleppen?«

Anstatt zu antworten, lief Lord Philip an Freddie vorbei, polterte, gefolgt von ihr, ein Stockwerk tiefer und klopfte an die Tür der Wohnung, aus der das Husten zu hören gewesen war. Nach einer Weile näherten sich schleppende Schritte. Eine alte Frau öffnete einen Spaltbreit und blickte misstrauisch auf die beiden Herren. Krauses graues Haar stand wie die Samen einer Pusteblume um ihr Gesicht, so fein und spärlich, dass zwischen den einzelnen Strähnen die rosa Kopfhaut zu erkennen war.

»Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Madam, bezüglich des Ablebens von Mister Hobbs.«

Bei dem Wort »Madam« riss die Frau ihre wässrigen Augen auf, bei der Erwähnung von Mister Hobbs kniff sie sie wieder zusammen.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie misstrauisch.

»Mitnichten! Mein Name ist Lord Philip Dabinott, dies ist Mister Westbrook. Wir sind private Ermittler. Und Ihr werter Name ist …?«

»Ottilie Brunswick.«

»Wenn Sie uns ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken, Madam Brunswick, würden wir Sie natürlich gebührend entschädigen.« Er zog einen Beutel mit Münzen aus seiner Jackentasche und hielt ihn an den Türspalt. »Wäre diese Summe für einige Auskünfte angemessen?«

Die Finger der Frau schnappten sich den Beutel, sie schloss die Tür und Freddie befürchtete schon, dass dies das Ende ihrer Ermittlungen in der Abbey Road sei. Aber nach einer Minute öffnete sich die Tür wieder – vielleicht hatte sie die Münzen durchgezählt und auf ihre Echtheit geprüft – und sie wurden hereingebeten.

Der Schnitt der Wohnung war mit der darüberliegenden identisch, lediglich ein Zimmer diente der Alten als Schlaf- und Wohnraum. Es roch nach ungewaschener Kleidung und säuerlichem Schweiß. Mit einem Ächzen setzte sich die Frau auf den Rand ihres Bettes, bot Freddie und Lord Philip aber keinen Stuhl an, worüber zumindest Freddie angesichts des schmuddeligen Mobiliars nicht unglücklich war. Um ihre Nase nicht länger als nötig zu quälen, kam sie sofort auf den Punkt. »Fiel Ihnen in der Nacht, als Mister Hobbs starb, irgendetwas Ungewöhnliches auf? Kam er später nach Hause als sonst? Hatte er einen Gast? Konnten Sie ihn hören, wie er die Treppe hochstieg?«

Die Frau wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel über ihre rot geäderten Augen, bevor sie antwortete. »Sie sind ein schlaues Bürschlein, Mister. So genau wie Sie hat die Polizei nicht nachgefragt. Der Schulmeister kam tatsächlich später nach Hause als gewöhnlich. Ein richtiger Eigenbrötler war er, ging eigentlich kaum aus, und wenn doch, dann war er niemals betrunken oder laut. Scheint ein ziemlich langweiliger Philister gewesen zu sein. Aber in jener Nacht hatte er ordentlich einen sitzen, konnte nicht mal mehr alleine laufen.«

»Ach ja?« Lord Philip horchte auf.

»Sein Freund musste ihn stützen. Er schleppte ihn regelrecht nach oben. Haben mächtig Lärm dabei gemacht, die beiden. Ich öffnete kurz meine Tür, als sie hier vorbeikamen, weil ich nicht wusste, was los war.«

»Konnten Sie erkennen, wie der zweite Mann aussah?« Freddie bemühte sich, ihre Stimme nicht aufgeregt klingen zu lassen.

Aber Ottilie Brunswick schüttelte den Kopf. »Meine Augen sind nicht mehr die besten. Alles, was weiter als drei Fuß von mir entfernt ist, sehe ich nur noch verschwommen. Außerdem trug Mister Hobbs’ Begleiter einen langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und einen Hut. Von seinem Gesicht hätte ich sowieso nichts erkennen können. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass er sehr groß war.«

»Wann kam er denn wieder herunter?«, wollte Freddie wissen. »Direkt nachdem er Mister Hobbs abgeliefert hatte, oder blieb er noch eine Weile?«

Verdutzt legte Ottilie Brunswick den Kopf schief. Sie hustete ein paar Mal, wie um Zeit zu gewinnen, bevor sie antwortete. »Sehen Sie, jetzt haben Sie mich. Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen, nachdem es im Treppenhaus still wurde. Jedenfalls habe ich niemanden gehen gehört. Kann natürlich auch sein, dass der Gentleman so anständig war und sich leise davonmachte, um nicht noch mehr Leute im Haus aufzuwecken. Ich wurde erst wieder von dem Geschrei unten auf der Straße wach, als man den armen Mister Hobbs fand. Bin natürlich sofort rausgelaufen. Nichts für schwache Nerven, sage ich Ihnen, wie der aussah. Blut überall, wissen Sie.«

Die Frau palaverte noch ein Weilchen weiter, und Freddie kam es so vor, als wollte sie damit möglichen Fragen aus dem Weg gehen.

Lord Philip beendete das Gespräch mit ein paar weiteren Münzen, und sowohl er als auch Freddie atmeten hörbar auf, als sie wieder in der Kutsche saßen und die Themse in Richtung Norden überquerten.

Es war eine Wohltat, zurück in die gepflegteren Viertel der Stadt zu fahren, in denen sich die Armut nicht allzu aufdringlich zeigte. Verständlicherweise spürte Freddie nicht die geringste Lust, jemals wieder nach Croydon zurückzukehren, aber bei den ersten Zweifeln, die ihr Onkel gerade äußerte, konnte es durchaus möglich sein, dass ein weiterer Besuch bei der alten Mrs Brunswick unvermeidbar war.

»Langer Mantel, hochgeschlagener Kragen und Hut – allgemeiner geht es kaum! Was für ein Mantel, welche Farbe, welcher Hut, meine Güte! Ist dir aufgefallen, wie ausweichend die Frau wurde, als es um eine Beschreibung von Hobbs’ Begleiter ging? Von wegen schlechtes Augenlicht! Uns beide hat sie jedenfalls von oben bis unten gemustert, kein Detail entging ihr.«

»Du denkst, sie hat gelogen?«

»Das denke ich in der Tat! Ich glaube, sie hat das Gesicht unseres Unbekannten sehr wohl gesehen.«

»Aber es war dunkel, das Treppenhaus nur spärlich erleuchtet.«

Lord Philip zuckte die Schultern. »Hast du gemerkt, wie sie die Frage nicht beantworten wollte, wann der Mann das Haus wieder verließ? Niemand, nicht einmal ein kleines Kind, kann diese Stufen geräuschlos bewältigen. Sie knarzen gewaltig! Ich denke, dass es der neugierigen Alten nicht verborgen blieb, wann Mister Hobbs’ Begleiter wieder ging, und dass sie vielleicht sogar ihre Tür noch mal einen Spalt öffnete, um ihn sich anzusehen.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Nichts. Abwarten. Wir haben unsere Namen genannt und zu verstehen gegeben, dass wir gut für Informationen zahlen. Wie vielen Menschen wird es unserer Mrs Brunswick auch nur um Geld gehen. Lassen wir das Süppchen ein wenig köcheln.«

5. Belgravia

Zurück in Lord Philips Stadthaus war Freddie ausnahmsweise erleichtert, aus ihrem Jungherren-Kostüm schlüpfen zu können. Es hatte unbestreitbare Vorteile, wenn man behütet im Wohlstand der Upperclass lebte, das spürte sie nicht zum ersten Mal.

Weil ich die andere Seite gesehen habe, dachte sie, während das Dienstmädchen ihr Korsett schnürte, und ganz gewiss nie wieder vergessen werde.