Die Geschichte meines Lebens - Helen Keller - E-Book

Die Geschichte meines Lebens E-Book

Helen Keller

0,0

Beschreibung

Die Geschichte meines Lebens Helen Keller - Ein amerikanischer Klassiker, der von jeder Generation wiederentdeckt wurde, Die Geschichte meines Lebens ist Helen Kellers Bericht über ihren Triumph über Taubheit und Blindheit. Durch das Theaterstück und den Film The Miracle Worker populär gemacht, ist Kellers Geschichte zu einem Symbol der Hoffnung für Menschen auf der ganzen Welt geworden.Dieses Buch veröffentlicht, als Keller erst 22 Jahre alt war porträtiert das wilde Kind, das im dunklen und stillen Gefängnis seines eigenen Körpers eingesperrt ist. Mit außergewöhnlicher Unmittelbarkeit offenbart Keller ihre Frustrationen und Wut und nimmt den Leser mit auf die unvergessliche Reise ihrer Ausbildung und Durchbrüche in die Welt der Kommunikation. Von dem Moment an, in dem Keller das Wort Wasser erkennt, wenn ihr Lehrer die Buchstaben mit den Fingern buchstabiert, teilen wir ihren Triumph als dieses lebendige Wort hat meine Seele erweckt, ihr Licht, Hoffnung, Freude geschenkt, sie befreit! Als beispiellose Chronik des Mutes bleibt Die Geschichte meines Lebens auch mehr als ein Jahrhundert nach seiner ersten Veröffentlichung überraschend frisch und lebendig, ein zeitloses Zeugnis eines unbeugsamen Willens.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 497

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helen Keller
Die Geschichte meines Lebens

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

Doppelte Anführungszeichen wurden im Original in drei verschiedenen Varianten verwendet: „so“, »so« und “so”; je nach Zusammenhang. Diese Varianten wurden auch in der vorligenden elektronischen Version beibehalten. Fußnoten wurden an das Ende des jeweiligen Kapitels bzw. an das Ende des betreffenden Briefes von Helen Keller verschoben.

Zur Fußnote [11]:

Bei der hier zitierten Übersetzung eines Auszuges aus Goethes ‚Faust‘ handelt es sich sehr wahrscheinlich um die klassische Übertragung von Bayard Taylor (1870/71). Insbesondere bei den letzten beiden Versen scheint es sich um einen Druckfehler zu handeln (Im vorliegenden Buch: ‘The Woman Soul leads usupwar don, and’; in einem Vers). Diese Passage wurde an Taylors Übersetzung angeglichen:

‘The Woman-Soul leadeth us

Upward and on!’

Die Gegenüberstellungen von Briefen Helen Kellers mit einem Gedicht von Oliver Wendell Holmes[A] bzw. mit einem Märchen von Margaret T. Canby[B] wurden im Original in zwei Spalten gedruckt. Mit Rücksicht auf kleinere Bildschirmgrößen werden diese Vergleiche jeweils nacheinander dargestellt.

Zweite Reihe Band 6

Die Geschichte meines Lebens Von Helen Keller

Die Geschichte meines Lebens

Von Helen Keller

Mit einem Geleitwort von Felix Holländer

Autorisierte Übersetzung von Paul Seeliger

Verlagssignet

Achtundfünfzigste Auflage

Verlag von Robert Lutz in Stuttgart

1921

Widmung

(Verkl. Faksimile)

Widmung von Helen Keller

Eine neue Helen Keller-Stiftung für deutsche Blinde, Taube, Stumme.

Herrn Robert Lutz, Verlagsbuchhandlung,

Stuttgart.

Meinen Ihnen unterm 11. November 1916 gegegebenen Auftrag, alle meine Einkünfte (royalties) aus der deutschen Ausgabe meiner Schriften bis zum Ende des Jahres, in dem der Friedenszustand wiederhergestellt wird, den deutschen Kriegsblinden zuzuwenden, möchte ich erweitern. Ich bestimme daher, daß fortan alle die genannten Einkünfte von Ihnen oder Ihren Rechtsnachfolgern den deutschen Blinden, nächstdem auch den Tauben und Stummen zugewiesen werden sollen, in erster Linie solchen Deutschen, die durch den Krieg das Augenlicht, die Sprache oder das Gehör verloren haben. Ihnen und Ihren Rechtsnachfolgern steht es frei, welchen Einzelpersonen, Gesellschaften oder Organisationen Sie die Gelder überweisen wollen, sofern nur der Zweck meiner Stiftung erreicht wird.

Der Verzicht auf meine Einkünfte in dem ausgeführten Sinne ist zeitlich nicht begrenzt, sondern endgültig.

New York, den 10. Januar 1920.

(Gez.) Helen Keller.

Helen Kellers Bücher:

Die Geschichte meines Lebens. Mit Bildern. 55. Auflage. Optimismus, ein Glaubensbekenntnis. 42. Auflage. Meine Welt. 22. Auflage. Dunkelheit. 13. Auflage. Briefe meiner Werdezeit. 7. Auflage. Wie ich Sozialistin wurde. Neue Auflage in Vorbereitung.

(Verlag von Robert Lutz in Stuttgart).

Geleitwort

Die Lebensgeschichte Helen Kellers ist ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes. Es tut nicht not, ihr Charakterbild neben das Napoleons zu rücken, wie es ihr Landsmann Mark Twain getan hat, um der Bewunderung für ihre einzigartige Leistung Ausdruck zu geben. Sie ist neunzehn Monate alt, als sie infolge einer schweren Krankheit, in der die Aerzte sie bereits aufgegeben hatten, ihre Sprache, ihr Gehör und ihr Gesicht verliert. Bis zu ihrem siebenten Jahre lebt sie in einem tierähnlichen Zustande. Die ihr gebliebenen Sinne Geruch, Geschmack, Gefühl, geben ihr die Möglichkeit, sich bei ihren nächsten Angehörigen durch dunkle Zeichen und Gesten verständlich zu machen. Sie hängt entweder an dem Kleide der Mutter oder sie sitzt beständig auf dem Schoße der unglücklichen Frau, die den Jammer ihres Kindes gleich dem Gatten durch eine grenzenlose Liebe zu mildern sucht.

Wer kennt nicht jene rührende Angst junger Mütter vor der Geburt ihres ersten Kindes?... Immer wieder taucht im tiefsten Innern die Frage auf, wird das kleine Wesen auch mit heilen Gliedern zur Welt kommen — wird es sehen — wird es hören?

Helen Keller wurde als ein kräftiges Kind geboren, das vor Gesundheit strotzte, bevor das Unglück über sie hereinbrach. Was mag damals in der Seele ihrer Eltern vorgegangen sein, als sie nach dem Ausspruch der Aerzte der ganzen Schicksalsschwere sich bewußt wurden! Wer würde es nicht begreifen, wenn bei dem erschütternden Anblick ihres Kindes unaussprechbare Gebete in ihnen wuchsen, wenn der dunkle Wunsch in ihnen aufstieg, Gott möchte dieses arme Kind, dessen Gegenwart voll Gram war, und in dessen Zukunft nicht ein Schimmer Glücks dringen würde, zu sich nehmen. Und wenn Helen das ganze Haus tyrannisierte, unartikulierte Laute ausstieß und wie eine Wilde sich gebärdete, sobald man nicht ihren Willen tat — wer möchte sich dann wundern, wenn Vater und Mutter in dumpfer Resignation alles über sich ergehen ließen? Helen zählt sieben Jahre drei Monate, als in ihr Leben die große Wendung tritt.

In diesem Alter haben die Menschen mittels des Ohres und des Auges das Meiste von dem errafft, was den Inhalt ihres ganzen Lebens ausmacht. Denn was wir später durch Erziehung, Schule und Selbstbetätigung erreichen, ist im Verhältnis zu den Schätzen, die wir in diesen ersten Jahren unseres Daseins mühelos aufheben, winzig und unbeträchtlich. Die urangeborene Genialität des Menschen kommt in seinen Kinderjahren zu einem großartigen Ausdruck. In dieser unserer Kindheit leben wir in einem Zustand, für den die Bibel den Ausdruck paradiesisch gefunden hat. Selbst das ärmste Kind, dem häusliches Unglück seine Jugend stiehlt, hat noch teil an den Freuden, die ihm seine unbewußte Erkenntnis aufschließt. In der Stunde beginnt erst der Ernst und die Qual des Lebens, wo in unser bisher unbewußtes Lernen System kommt, wo fremde Menschen auf unsere Verstandeskräfte pochen, und wo wir unter ihrem Zwang und ihrer Leitung wissend werden.

Und auch hier erweist sich noch einmal das schier Wunderbare und Unfaßliche unserer geistigen Veranlagung. Wenn wir vorher im wörtlichsten Sinne des Wortes spielend das Sprechen lernten — so ergibt sich als zweites Phänomen unserer Entwicklung, daß wir auf Grund unserer Sprachkenntnis in einer Frist, die zu dem Resultat in gar keinem Verhältnis steht, die Fähigkeit des Lesens erlangen.

Beinahe achtlos und ohne Ehrfurcht geht der Mensch an solchen Wundern vorüber. Nur junge Mütter strahlen vor Glück und Stolz, wenn ihr Kind die ersten Worte hervorbringt, weil die in ihrem Instinkt die Größe des Augenblicks empfinden. Sie ahnen, daß die kleine Seele ihre zarten Schwingen hebt, daß dunkle Hüllen fallen — daß wie mit einem Schlage das geistige Wachstum deutlich erkennbar einsetzt. Von alledem war Helen Keller ausgeschlossen bis zu dem angegebenen Zeitpunkte, wo ihre Lehrerin Anne Mansfield Sullivan ihr väterliches Haus betrat. Die Nacht hatte ihre schwarzen Flügel um sie gebreitet — und es schien, als ob undurchdringliche Finsternis wie ein böser Zauber für immer auf ihrer Seele lasten sollte.

Wen soll man mehr bewundern, — das taubstumme und blinde Geschöpf, das durch eine Energie, die beispiellos ist, sich zu dem höchsten Wissen durchringt, oder ihre Lehrerin, deren Opfermut, Geduld und Güte Licht in das Dunkel dieses ausgestoßenen Menschen bringt? Beide betrachten ihre Begegnung als den unerhörten Glücksfall ihres Lebens. Und beider Existenz könnte den Ungläubigen gläubig machen und mit Gott aussöhnen. Jene Philosophen, die Beweise für das Dasein Gottes suchen, brauchten sich nur auf diese beiden Geschöpfe zu berufen, um ihre Arbeit als getan anzusehen.

Anne Sullivan unterrichtet Helen, als ob sie ein normales Kind wäre. Sie tritt ihr mit unerbittlicher Strenge entgegen, nachdem ihre Versuche, das unbändige Kind durch Güte zu erziehen, kläglich gescheitert sind. Sie nötigt die Eltern, Helen ein paar Wochen mit ihr ganz allein zu lassen, und diese Zeit benutzt sie, um dem verzogenen kleinen Mädchen durch ihre körperliche Ueberlegenheit fühlbar zu machen, daß ihr stärkerer Wille jeden Eigensinn zu brechen vermag. Erst als Helen diese Erkenntnis aufgezwungen und ins Blut gegangen ist, beginnt die geistige Arbeit.

Dies Buch ist ein Dokument dafür, was menschliche Energie zu leisten vermag. Man muß es Zeile für Zeile andächtig und in Ehrfurcht lesen, um das Wunderbare, das hier erreicht wurde, zu begreifen.

Der Apostel spricht: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte doch der Liebe nicht...“ Neben allen ihren geistigen Fähigkeiten hatte Anne Sullivan der Liebe. Wie trifft man besser ihren Wesenskern, als wenn man sie das Genie der Güte und der Liebe nennt? Bis zu ihrem vierzehnten Jahre war sie selbst blind gewesen. Aus dieser ihrer Leidenszeit hatte sie sich das große Gefühl des Erbarmens für ihre Lebensaufgabe geschöpft. Sie wurde ihrer Schülerin eine Gespielin, und im Spiele fand sie den Schlüssel, um Helen die Pforten der Erkenntnis zu öffnen, die ihr nach menschlicher Berechnung für immer verschlossen schienen. An den greif- und fühlbaren Dingen setzte ihr Lehrplan ein, um dann an jene Wahrnehmungen anzuknüpfen, die durch den Geruchssinn ermöglicht wurden.

Sie begann damit, ihrer Schülerin das Fingeralphabet beizubringen — und als dies gelungen war, buchstabierte sie ihr unaufhörlich neue Wörter in die Hand, unbekümmert darum, ob Helen sie verstand oder nicht. Sie wurde dabei von einer Voraussetzung geleitet, deren Richtigkeit sich auf das Glänzendste bestätigen sollte. Sie sagte sich, in dem Augenblicke, wo das geistige Dunkel von Helen genommen sein würde, müßte sie durch Erinnerung und Ideenassociation hinter den Sinn der Vokabeln gelangen, die ihr immer und immer wieder mechanisch in die Hand buchstabiert worden waren.

Erinnerung — durch diesen Begriff allein ist das Wunder aufzuklären, das sich an Helen Keller vollzog. Niemand kann dieses Erinnern besser und schöner formulieren, als Helen Keller es selbst in ihrer Lebensgeschichte getan hat: „Jedes Individuum,“ sagt sie, „besitzt eine unter der Schwelle des Bewußtseins verborgene Erinnerung an die grünende Erde und die murmelnden Gewässer, und weder Blindheit noch Taubheit kann es dieser von vergangenen Generationen her überkommenen Gabe berauben. Diese ererbte Fähigkeit ist eine Art sechsten Sinnes — ein Seelensinn, der zugleich sieht, hört, fühlt.“

Die größte Schwierigkeit aber, die sich Anne Sullivan bei ihrem schweren Lebens- und Erziehungswerk in den Weg stellte, war die: Wie sollte sie es anfangen, um ihrer Schülerin abstrakte Begriffe beizubringen? Auch hier erwies dich die schöpferische Genialität dieser Pädagogin. Es seien nur zwei Beispiele ihrer Methode angeführt: So oft sie Helen etwas Süßes zu essen gab, buchstabierte sie ihr das Wort »süß« in die Hand, — so oft ihre Schülerin auf der Zunge einen bitteren Geschmack haben mußte, das Wort »bitter«. Sie schloß ganz richtig, daß die Uebertragung des sinnlichen Eindruckes auf abstrakte Begriffe dich allmählich ganz von selbst ergeben müßte.

Es ist nicht der Zweck dieser einleitenden Zeilen, den ganzen Entwicklungsgang Helen Kellers zu erzählen. Man vermag ja das Unfaßliche nur zu fassen, wenn man ihre eigenen Schilderungen liest und die ergänzenden Briefe und Zusätze ihrer Lehrerin.

Sie lernt lesen und schreiben und wird in alle Disziplinen der Wissenschaft eingeweiht. Von Anne Sullivan auf Schritt und Tritt begleitet, besteht sie glänzend die notwendigen Examina, um die Universität besuchen zu können. Sie bildet ihren Tastsinn bis zu dem Grade aus, daß sie die Schönheit plastischer Kunstwerke zu ahnen vermag und das rührende Wort spricht: „Ich bin mitunter im Zweifel, ob die Hand nicht empfänglicher für die Schönheiten der Plastik ist, als das Auge. Ich sollte meinen, der wunderbare rhythmische Fluß der Linien ließe sich besser fühlen als sehen.“

Nur auf ein Stadium ihres seltsamen Entwicklungsganges möchte ich hier noch eingehen. Als zu ihr die Kunde dringt, daß eine taubstumme und blinde Norwegerin das Sprechen erlernt habe, faßt sie den festen Entschluß, sich ebenfalls die Sprache zu eigen zu machen, koste es noch so viel Mühe und Schweiß. Sie begibt sich mit ihrer unermüdlichen Lehrerin zu Sarah Fuller, der Leiterin der Horace-Mann-Schule, und nimmt am 26. März 1896 ihre erste Sprachstunde. Sie mußte ihre Hand über das Gesicht Sarah Fullers legen, um die Stellung der Zunge und der Lippen zu fühlen, wenn diese einen Ton hervorbrachten. Sobald ihr Eifer und Energie zu erlahmen drohten, dachte sie an die Freude, die ihre kleine Schwester und die Eltern empfinden müßten, wenn das Wagnis gelingen würde.

Was wie ein Märchen klingt, wird zur Wahrheit: Helen Keller lernt auf diese Weise das Sprechen. Und nun kann sie es kaum noch erwarten, zu den Ihrigen zurückzukehren. Ihr Herz will vor Ungeduld zerspringen. Es ist eine der erschütterndsten Stellen des bewegenden Buches, die ihre Heimkehr schildert. Es heißt da: „Fast ehe ich es ahnte, hielt der Zug auf dem Bahnhofe in Tuscumbia, und auf dem Perron stand die ganze Familie. Meine Augen füllen sich noch jetzt mit Tränen, wenn ich daran denke, wie mich meine Mutter sprachlos und zitternd vor Freude an ihr Herz drückte und auf jede Silbe, die ich sprach, atemlos lauschte, während die kleine Mildred meine freie Hand ergriff, sie küßte und umhertanzte, und mein Vater seinen Stolz und seine Liebe durch tiefes Schweigen bekundete. Es war, als sei Jesaias Prophezeiung an mir in Erfüllung gegangen: Die Berge und Hügel werden vor Dir Lieder anstimmen, und alle Bäume des Feldes werden vor Freude in ihre Hände klatschen.“

Die Lektüre von Helen Kellers Selbstbiographie gibt uns neue Aufschlüsse über die menschliche Natur. Sie ist eine Fundgrube für den Psychologen und sie bringt jedem Leser eine ungeahnte Bereicherung seines inneren Besitzes. Dennoch liegt es uns fern, Helen Keller als Genie anzupreisen. Ihre Urteile über Kunst, Literatur und Wissenschaft sind wohl die eines Menschen von außergewöhnlichem Intellekt und außergewöhnlicher Kultur — aber niemals verblüffen sie durch eine besondere Eigenart, niemals legen sie Zeugnis ab von einer überlegenen Persönlichkeit. Ein gebildeter Mensch, der aus allen Quellen des Wissens und der Kunst getrunken hat, spricht zu uns — nicht aber ein origineller Geist, der neue Werte prägt.

Trotzdem sind wir hingerissen von diesem Phänomen, das uns zum Glauben und zur Andacht zwingt.

Ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechtes ist dieses Buch. Und wenn Helen Keller selbst schwerlich den Anspruch erhebt, zu den führenden Geistern gerechnet zu werden — so ist doch ihr Dasein selbst ein Beweis für die Genialität des Menschen überhaupt. Es sollte die nachdenklich und ehrfürchtig stimmen, die das kostbarste Material, das Mutter Natur geschaffen hat, mißachten und mißhandeln.

Felix Holländer.

Zur gefl. Beachtung: Zum besseren Verständnis der Aufzeichnungen Helen Kellers wird es sich empfehlen, zuerst den Anhang einer kurzen Durchsicht zu unterziehen. — Die manchmal etwas ungewöhnliche Ausdrucksweise der Verfasserin wurde in der Uebersetzung beibehalten.

Inhalt.

Seite

Vorwort von Felix Holländer

VII

Erster Teil.Die Geschichte meines Lebens.

Erstes Kapitel.

Schwierige Aufgabe. — Familie. — Ivy Green. — Garten. — Geburt. — Taufe. — Erste Sprech- und Gehversuche. — Erkrankung. — Dauernder Verlust des Gesichts und Gehörs. — Verworrene Erinnerung an die ersten Gesichtseindrücke

3

Zweites Kapitel.

Die ersten Monate nach der Krankheit. — Verständigungsversuche durch Gebärdensprache. — Betätigung im Haushalt. — Teilnahme an der Geselligkeit des Hauses. — Erkenntnis der Unterscheidung von anderen. — Heftigkeit. — Eigenwilligkeit und Herrschsucht. — Früheste Erinnerungen. — Umzug. — Familienleben. — Tod des Vaters im Jahre 1896. — Eifersucht

8

Drittes Kapitel.

Wachsendes Verlangen nach Gedankenaustausch. — Laura Bridgman und Dr. Howe. — Reise nach Baltimore zu einem Augenarzte. — Besuch bei Alex. Graham Bell. — Herr Anagnos in Boston findet eine Lehrerin

17

Viertes Kapitel.

Ankunft Fräulein Sullivans in Tuscumbia am 3. März 1887. — Bange Erwartung. — Beginn der Erlernung des Fingeralphabets. — Szene am Brunnen. — Enthüllung des Geheimnisses der Sprache

20

Fünftes Kapitel.

Allmähliches Erwachen der Seele. — Unterricht im Freien. — Freude an der Natur. — Schrecken der Natur. — Gewitter. — Schönheit des Mimosenbaumes

24

Sechstes Kapitel.

Fortschritt in der Beherrschung der Sprache. — Wißbegierde. — Unterredung über Liebe. — Kennenlernen abstrakter Begriffe. — Dieselbe Unterrichtsmethode wie bei einem hörenden Kinde

28

Siebentes Kapitel.

Erster Leseunterricht. — Anfangs keine regelmäßigen Unterrichtstunden. — Erziehung zum Naturgenuß. — Wald, Garten. — Kellers Landungsplatz. — Geographie, Rechnen, Zoologie, Botanik. — Fossilien. — Leicht faßliche Unterrichtsmethode. — Herzliches Verhältnis zu Fräulein Sullivan

32

Achtes Kapitel.

Erstes Weihnachtsfest nach Fräulein Sullivans Ankunft. — Ratespiel. — Weihnachtsbescherung in der Schule zu Tuscumbia. — Freude über die Weihnachtsgeschenke

39

Neuntes Kapitel.

Reise nach Boston. — Zusammentreffen mit den blinden Kindern. — Bunker Hill. — Plymouth. — Pilgerfelsen. — Herr William Endicott

42

Zehntes Kapitel.

Ferienaufenthalt in Brewster. — Die See. — Erstes Seebad. — Eindruck der Brandung. — Der erste Taschenkrebs

46

Elftes Kapitel.

Rückkehr nach Tuscumbia. — Fern Quarry. — Jagden. — Pony »Black Beauty«. — In Lebensgefahr

49

Zwölftes Kapitel.

Besuch im Norden. — Wintervergnügungen

54

Dreizehntes Kapitel.

Rückblick auf die früheren Versuche, zu sprechen. — Ragnhild Kaata. — Unterricht in der Lautsprache bei Fräulein Fuller. — Freude über den Erfolg. — Ablesen von den Lippen mittels der Finger. — Gebrauch des Fingeralphabets

57

Vierzehntes Kapitel.

Die Frostkönig-Episode. — Betrachtungen über Schriftstellerei

62

Fünfzehntes Kapitel.

Erster Entwurf der »Lebensgeschichte«. — Zweifel und Unruhe. — Reise nach Washington zur Einführung des Präsidenten Cleveland, nach dem Niagarafall und der Weltausstellung in Chicago

72

Sechzehntes Kapitel.

Geschichtsstudium. — Studium der französischen Sprache, Lafontaine, Molière, Racine. — Vervollkommnung der Lautsprache. — Latein. — Lektüre von Cäsars »Gallischem Kriege«

77

Siebzehntes Kapitel.

Verhandlungen der Amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Taubstummen im Sprechen in Chautauqua (Sommer 1894). — Besuch der Wright-Humason-Schule in New York. — Arithmetik, physikalische Geographie, Französisch, Deutsch. — Lektüre von »Wilhelm Tell« und »Le médecin malgré lui«. — Zentralpark in New York. — Ausflüge in die Umgebung der Stadt

80

Achtzehntes Kapitel.

Besuch des Mädchengymnasiums in Cambridge zum Zweck der Vorbereitung für das Radcliffe College. — Wunsch, eine Universität zu besuchen. — Schwierigkeit, dem Unterricht zu folgen. — Befriedigende Fortschritte, namentlich im Deutschen: »Lied von der Glocke«, »Taucher«, »Dichtung und Wahrheit« u. s. w. Shakespeare, Burke, Macaulay. — Zusammensein mit sehenden und hörenden Altersgenossinnen. — Mildreds Aufnahme in die Schule. — Prüfungen

83

Neunzehntes Kapitel.

Beginn des zweiten Schuljahres. — Physik, Algebra, Geometrie, Astronomie, Griechisch, Latein. — Anfälle von Kleinmut. — Abgang vom Gymnasium und Weiterbildung durch Privatunterricht. — Rückkehr nach Boston (Oktober 1898). — Schlußprüfung für das Radcliffe College (Juni 1899)

90

Zwanzigstes Kapitel.

Eintritt in das Radcliffe College. — Anfängliche Begeisterung und teilweise Enttäuschung. — Uebelstände des Universitätsstudiums. — Erstes Studienjahr. — Französisch, Deutsch, englische Stillehre, englische Literatur. — Besuch der Vorlesungen. — Schreibmaschine. — Stunden des Unmuts. — Zweites Jahr: englische Stillehre, Bibel, politische Verhältnisse Amerikas und Europas, horazische Oden, lateinische Komödie, Nationalökonomie, Shakespeare, Geschichte der Philosophie. — Verknöcherung des Universitätswesens. — Pein der Prüfungen. — Enttäuschung

96

Einundzwanzigstes Kapitel.

Bücherstudium. — Rückblick. — Bibliothek in Boston. — Heißhunger auf Bücher. — »Little Lord Fauntleroy«. — Lafontaines Fabeln. — Begeisterung für das griechische Altertum. — Ilias. — Aeneis. — Bibel. — Shakespeare. Macbeth, König Lear. — Geschichte. — Deutsche Literatur. — Französische Literatur. — Mark Twain. — Scott

105

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Liebe zur Natur. — Körperliche Uebungen. — Rudern. — Segeln. — Halifax. — Regatta. — Sturm. — Aufenthalt in Wrentham. — Weltbegebenheiten. — Krieg mit Spanien. — Soziale Kämpfe. — Unterschied zwischen Stadt und Land. — Soziales Mitgefühl. — Spaziergänge. — Radfahren. — Liebe zu Hunden. — Dame- und Schachspiel. — Liebe zu Kindern. — Museen und Kunstsammlungen. — Theaterbesuch. — Zeitweiliges Gefühl der Vereinsamung

120

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Beglückendes Gefühl der Freundschaft. — Bischof Brooks. — Kein Verlangen nach dem Jenseits. — Henry Drummond. — Dr. Oliver Wendell Holmes. — Whittier. — Dr. Edward Everett Hale. — Dr. Alexander Graham Bell. — Charles Dudley Werner. — Mark Twain u. a. — Schlußwort

133

Zweiter Teil.Helen Kellers Briefe (1887–1901).(Auswahl.)

Erste Schreibversuche. — Zwei Briefe an die blinden Mädchen im Perkinsschen Institut. — Brief an Herrn Anagnos mit der Schilderung eines Picknicks im Walde. — Brief an Onkel Morrie über den Ausflug nach Plymouth. — Brief an Herrn Anagnos mit einigen französischen und griechischen Redensarten. — Brief an Tante Eveline Keller mit Uebersetzungen von griechischen, französischen, lateinischen und deutschen Redensarten und Wörtern. — Brief mit astronomischen Angaben. — Briefe an Herrn Anagnos über seine Reise nach Europa. — Brief mit Wiedergabe des Inhalts eines Andersenschen Märchens. — Brief an Fräulein Sullivan. — Brief an Whittier. — Brief an Dr. Holmes. — Brief an Fräulein Sarah Fuller. — Brief an den nachmaligen Bischof Brooks. — Brief über Tommy Stringer. — Brief über die Reise nach dem Niagarafall. — Brief über den Besuch der Weltausstellung in Chicago. — Brief über ein Zusammentreffen mit Mark Twain. — Brief über den Besuch des Bostoner Museums. — Brief über den Eindruck, den das Orgelspiel auf Helen Keller gemacht hat. — Stellen aus verschiedenen Briefen über Leidensgefährten. — Brief an Dr. Hale, geschrieben am Vorabend der Howefeier

147

Anhang.

Die Abfassung des Buches.

Schwierigkeit der Prüfung des mit der Schreibmaschine hergestellten Manuskriptes. — Braillekopie. — Revision mit Hilfe Fräulein Sullivans

179

Helen Kellers Persönlichkeit.

Körperliche Erscheinung. — Lebhafte Gestikulation. — Personengedächtnis. — Vorliebe für Humor. — Hartnäckigkeit im Verfolgen ihrer Ziele. — Keckheit. — Ungeeignet für psychologische Experimente. — Liebe zur Geselligkeit. — Verständnis für Musik. — Interesse für die Tagesereignisse. — Ueberraschend vollständige Weltkenntnis. — Gefühlssinn nicht besonders fein entwickelt. — Verständnis für Plastik. — Wenig Orientierungssinn. — Benutzung der Schreibmaschine. — Fingeralpbabet. — Hochdruck und Braillesystem. — Geruchssinn. — »Sechster Sinn«. — Zeitsinn. — Eigenartige Uhren. — Gesunde Auffassung der Dinge. — Sittliche Reinheit. — Abneigung gegen Tragödien. — Warmes Empfinden und Aufrichtigkeit. — Mangel an Eitelkeit. — Beschäftigung mit Politik

182

Helen Kellers Bildungsgang.

Dr. Howe und Laura Bridgman. — Helen Keller kein Objekt für psychologische Beobachtungen. — Unwahre und übertragene Berichte über ihre Fortschritte. — Fräulein Sullivans Persönlichkeit. — Helens Entwickelung nach Fräulein Sullivans Berichten. — Psychologische und pädagogische Betrachtungen über Fräulein Sullivans Methode

199

Helen Kellers Sprache.

Fräulein Sullivans Bericht über Helens Unterricht in der Lautsprache. — Eigentümlichkeiten von Helens Aussprache. — Ansprache Helens in Mt. Airy bei Philadelphia

311

Helen Keller als Schriftstellerin.

Helen Kellers hervorragende stilistische Begabung und deren Pflege. — Gute Lektüre. — Unausgesetzte Kontrolle der Stilübungen Helens durch Fräulein Sullivan. — Fräulein Sullivans Darstellung der Episode mit dem »Frostkönig«. — Gegenüberstellung der beiden Fassungen des Märchens. — Fräulein Canbys Aeußerungen über den Zwischenfall. — Allgemeine Betrachtungen über den »Frostkönig«. — Kleinerer Aufsatz Helens über ihr Traumleben

321

Verzeichnis der Bilder.

Helen Keller als Studentin

(Titelbild)

Ivy Green

Seite

5

Helen Keller und Fräulein Sullivan

39

Fräulein Sullivan liest Helen Keller vor

84

Helen Keller, Fräulein Sullivan und Schauspieler Jefferson

132

Helen Keller »betrachtet« eine Nike-Statuette

170

Helen Keller »horcht« auf die Töne eines Klaviers

186

Helen Keller bei der Lektüre

192

Erster Teil Die Geschichte meines Lebens

Erstes Kapitel.

Schwierige Aufgabe. — Familie. — Ivy Green. — Garten. — Geburt. — Taufe. — Erste Sprech- und Gehversuche. — Erkrankung. — Dauernder Verlust des Gesichts und Gehörs. — Verworrene Erinnerung an die ersten Gesichtseindrücke.

Nur mit einem gewissen Zagen beginne ich die Geschichte meines Lebens zu schreiben. Ich empfinde eine Art abergläubischer Furcht davor, den Schleier zu lüften, der wie ein goldener Nebel über meiner Kindheit ausgebreitet liegt. Die Aufgabe, eine Selbstbiographie zu verfassen, gehört zu den schwierigsten, die man sich überhaupt stellen kann. Wenn ich versuche, meine ersten Eindrücke zu ordnen, so finde ich, daß Wahrheit und Dichtung, über die Jahre hinweg betrachtet, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen, sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Die reife Frau schildert die Erfahrungen des Kindes, wie sich diese in ihrer eigenen Phantasie darstellen. Ein paar Eindrücke aus meinen ersten Lebensjahren stehen lebendig vor meiner Seele, doch „alles andre deckt der Kerkerschatte“. Auch haben viele der Freuden und Leiden der Kindheit ihren Reiz und ihren Stachel verloren, und zahlreiche Ereignisse, die bei Beginn meiner Erziehung von entscheidender Bedeutung gewesen sind, habe ich in der Erregung über meine weiteren Fortschritte vergessen. Um daher den Leser nicht zu ermüden, will ich in einer Reihe von Skizzen nur die Episoden zu schildern versuchen, die mir am interessantesten und wichtigsten erscheinen.

Ich wurde am 27. Juni 1880 in Tuscumbia, einer kleinen Stadt im nördlichen Alabama, geboren.

Die Familie meines Vaters stammt von Kaspar Keller ab, einem geborenen Schweizer, der sich in Maryland niedergelassen hatte. Einer meiner Schweizer Vorfahren war der erste Lehrer für Taubstumme in Zürich und hat ein Buch über deren Erziehung geschrieben — gewiß ein seltsames Zusammentreffen, obgleich es wahr ist, daß es keinen König gibt, unter dessen Vorfahren sich nicht ein Sklave befunden hat, und keinen Sklaven, in dessen Adern nicht auch Königsblut rollt.

Mein Großvater, Kaspar Kellers Sohn, erhielt große Ländereien in Alabama zugewiesen und siedelte sich schließlich hier an. Ich habe mir erzählen lassen, daß er alljährlich einmal von Tuscumbia nach Philadelphia ritt, um die Bedürfnisse für seinen Grundbesitz einzukaufen, und meine Tante verwahrt noch viele von den Briefen an seine Familie, die anziehende und lebhafte Reiseschilderungen enthalten.

Meine Großmutter Keller war die Tochter Alexander Moores, eines Adjutanten Lafayettes, und Enkelin Alexander Spotswoods, eines früheren Kolonialgouverneurs von Virginia. Auch war sie im zweiten Gliede mit Robert E. Lee verwandt.

Mein Vater, Arthur H. Keller, war Hauptmann in der konföderierten Armee gewesen, und meine Mutter, Kate Adami, war seine zweite Gattin und viele Jahre jünger.

Bis zum Ausbruch meiner Krankheit, die mich für immer des Gesichts und Gehörs berauben sollte, lebte ich in einem kleinen Hause, das aus einem großen viereckigen Zimmer und einem kleineren bestand, in dem das Dienstmädchen schlief. Im Süden herrscht die Gewohnheit, in der Nähe des Wohnhauses ein kleineres Gebäude zu errichten, das dann bei Gelegenheit benützt wird. Ein solches Häuschen erbaute auch mein Vater nach dem Bürgerkriege und bezog es, nachdem er sich mit meiner Mutter verheiratet hatte. Es war über und über mit Wein, Kletterrosen und Geißblatt bedeckt. Vom Garten aus machte es ganz den Eindruck einer Laube. Der kleine Eingang lag hinter einer Hecke von gelben Rosen und Stechwinde verborgen, die beständig von Hummeln und Bienen umsummt wurde.

Ivy Green

Das Familienwohnhaus lag wenige Schritte von unserer kleinen Rosenlaube entfernt. Es wurde »Ivy Green« genannt, weil das Haus und Bäume und Zäune, welche es umgaben, von dem schönsten Efeu umrankt waren. Der dazugehörige altmodische Garten war das Paradies meiner Kindheit.

Schon vor der Ankunft meiner Lehrerin pflegte ich mich an den steifen viereckigen Buchsbaumhecken entlang zu tasten und fand, durch den Geruch geleitet, die ersten Veilchen und Lilien. Hierher flüchtete ich mich auch nach einem heftigen Ausbruch meines Temperaments und verbarg mein heißes Gesicht in den kühlen Blättern und Gräsern. Was für eine Freude war es, mich in diesem blumenübersäten Garten zu verlieren, selig von einem Fleck zum anderen zu wandern, bis ich endlich auf einen herrlichen Weinstock stieß, ihn an seinen Blättern und Blüten erkannte und wußte, es sei der Weinstock, der das verfallene Sommerhaus am anderen Ende des Gartens umrahmte! Dort wuchsen auch die kletternde Clematis, der niederhängende Jasmin und einige seltene, stark duftende Blumen, Schmetterlingslilien genannt, weil ihre zarten Blütenblätter Schmetterlingsflügeln gleichen. Aber die Rosen waren doch meine bevorzugten Lieblinge. Niemals habe ich in den Treibhäusern des Nordens solche wunderherrlichen Rosen angetroffen wie die Kletterrosen meines väterlichen Gartens, im Süden. Sie hingen in langen Gewinden um das Portal des kleinen Häuschens und erfüllten die ganze Luft mit ihrem Wohlgeruch, der nichts Irdisches an sich hatte, und in der Morgenfrühe fühlten sie sich, vom Tau gebadet, so frisch, so rein an, daß ich mich oft staunend fragte, ob sie nicht den Asphodelosblüten im Garten Gottes glichen.

Der Beginn meines Lebens war einfach und genau so wie der jedes anderen kleinen Lebens. Ich kam, sah, siegte, wie es das erste Kind einer Familie stets tut. Wie gewöhnlich kam es bei Gelegenheit der Wahl eines Namens für mich zu einer lebhaften Erörterung. Es war nicht leicht, für das erste Kind in der Familie einen passenden Namen zu finden, da jedermann seine Lieblingswünsche in dieser Beziehung hatte und mit Eifer vertrat. Mein Vater schlug den Namen Mildred Campbell vor, wie eine Ahne von ihm geheißen hatte, die er sehr verehrte, und lehnte es ab, weiter an der Diskussion teilzunehmen. Meine Mutter gab den Ausschlag, indem sie es als ihren Wunsch bezeichnete, ich möchte nach ihrer Mutter, deren Mädchenname Helen Everett war, genannt werden. Aber in seiner Aufregung vergaß mein Vater während der Fahrt nach der Kirche diesen Namen, was auch ganz erklärlich war, da er es ausdrücklich abgelehnt hatte, für ihn die Verantwortung zu tragen. Als der Geistliche ihn danach fragte, erinnerte er sich nur noch, daß man übereingekommen war, mich nach meiner Großmutter zu nennen, und gab ihren Namen als Helen Adams an.

Schon als ich noch im langen Kleidchen auf dem Arme getragen wurde, soll ich häufig einen heftigen, eigenwilligen Charakter gezeigt haben. Alles, was ich andere tun sah, wollte auch ich durchaus tun. Im Alter von sechs Monaten konnte ich How d’ ye[1] piepsen, und eines Tages zog ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich, als ich ganz deutlich Tea, tea, tea! sagte. Selbst nach meiner Krankheit erinnerte ich mich noch an eins der Worte, das ich in jenen ersten sechs Monaten gelernt hatte. Es war das Wort water, und ich fuhr fort, einen Laut für dieses Wort hervorzubringen, selbst nachdem ich die ganze übrige Sprache verloren hatte. Ich hörte erst auf, den Laut wah-wah auszustoßen, als ich das Wort zu buchstabieren gelernt hatte.

Im Alter von einem Jahre konnte ich gehen. Meine Mutter hatte mich gerade aus der Badewanne gehoben und hielt mich auf ihrem Schoße, als ich plötzlich durch die hin- und herhuschenden Schatten, die das Laub der Bäume auf die von der Sonne beschienene glatte Diele warf, gefesselt wurde. Ich schlüpfte von dem Schoße meiner Mutter herab und lief auf diese Schatten zu. Als der erste Antrieb vorüber war, fiel ich hin und schrie nach meiner Mutter, damit sie mich wieder auf den Arm nehme.

Diese glücklichen Tage dauerten nicht lange. Ein kurzer Frühling voll jubelnden Vogelgesanges, ein Sommer, reich an Früchten und Rosen, ein in roten und goldenen Farben glühender Herbst kamen und gingen und legten ihre Gaben dem munteren, entzückten Kinde zu Füßen. Dann, in dem darauffolgenden traurigen Februar, kam die Krankheit, die mir Auge und Ohr schloß und mich in die Unbewußtheit eines neugeborenen Kindes zurückversetzte. Es war eine akute Unterleibs- und Gehirnentzündung. Der Arzt hatte mich schon aufgegeben. Eines Morgens verließ mich jedoch das Fieber auf ebenso plötzliche und geheimnisvolle Weise, wie es ausgebrochen war. Es herrschte an jenem Morgen große Freude in der Familie, allein niemand, selbst der Arzt nicht, hatte eine Ahnung davon, daß ich niemals wieder sehen oder hören sollte.

Ich glaube, ich habe noch verworrene Erinnerungen an diese Krankheit. Namentlich entsinne ich mich der Zärtlichkeit, mit der mich meine Mutter in meinen wachen, qualvollen Stunden überhäufte, und der entsetzlichen Angst, mit der ich nach einem unruhigen Halbschlummer erwachte und meine, ach so heißen und trockenen Augen nach der Wand kehrte, hinweg von dem einst so geliebten Tageslicht, das von Tag zu Tage trüber und matter zu mir drang. Aber abgesehen von diesen verschwommenen Erinnerungen, wenn sie überhaupt noch Erinnerungen genannt werden können, erscheint mir alles völlig traumhaft wie ein Alp. Nach und nach gewöhnte ich mich an die mich umgebende Stille und Dunkelheit und vergaß, daß ich jemals ein anderes Los gehabt hatte, bis sie kam — meine Lehrerin —, die meinen Geist befreite. Aber während der ersten neunzehn Monate meines Lebens hatte ich einen Schimmer von breiten, grünen Feldern, einem strahlenden Himmel, Bäumen und Blumen erhascht, den die nachfolgende Dunkelheit nicht ganz verlöschen konnte. Haben wir einmal gesehen, so „ist der Tag unser, und was der Tag gezeigt hat“.

Zweites Kapitel.

Die ersten Monate nach der Krankheit. — Verständigungsversuche durch Gebärdensprache. — Betätigung im Haushalt. — Teilnahme an der Geselligkeit des Hauses. — Erkenntnis der Unterscheidung von anderen. — Heftigkeit. — Eigenwilligkeit und Herrschsucht. — Früheste Erinnerungen. — Umzug. — Familienleben. — Tod des Vaters im Jahre 1896. — Eifersucht.

Ich kann mich nicht entsinnen, was sich während der ersten Monate nach meiner Krankheit mit mir zutrug. Ich weiß nur, daß ich auf dem Schoße meiner Mutter saß oder mich an ihr Kleid anklammerte, wenn sie umherging und den Haushalt besorgte. Meine Hände befühlten alles und verfolgten jede Bewegung, sodaß ich auf diese Weise mancherlei kennen lernte. Bald fühlte ich das Bedürfnis, mich mit meiner Umgebung zu verständigen, und begann, einfache Zeichen zu machen. Ein Kopfschütteln bedeutete »nein«, ein Nicken »ja«, ein Heranziehen »komm« und ein Fortstoßen »geh«. Wollte ich Brot haben, so ahmte ich die Bewegungen des Schneidens und Butterstreichens nach. Wünschte ich, daß meine Mutter zu Mittag Eiscreme zubereite, so machte ich eine Bewegung, die dem Drehen der Eismaschine entsprach, und schauerte zusammen, als ob ich fröre. Auch meiner Mutter gelang es großenteils, sich mir verständlich zu machen. Ich wußte stets, wann ich ihr etwas bringen sollte, und lief dann die Treppe hinauf oder an einen anderen Ort, den sie mir bezeichnet hatte. In der Tat verdanke ich ihrer liebevollen Klugheit alles, was meine lange Nacht erhellte und erheiterte.

Ich begriff einen großen Teil von dem, was um mich herum vorging. Mit fünf Jahren lernte ich die reine Wäsche, wenn sie aus dem Waschhaus kam, zusammenlegen und wegräumen, und unterschied die meinige von der übrigen. Ich erkannte aus der Art und Weise, wie meine Mutter und meine Tante gekleidet waren, wann sie ausgehen wollten, und bettelte regelmäßig, mitgehen zu dürfen.

Ich wurde stets geholt, wenn Besuch da war, und wenn die Gäste Abschied nahmen, winkte ich ihnen mit der Hand zu, wie ich glaube, mit einer unbestimmten Erinnerung an die Bedeutung dieser Bewegung. Eines Tages sprachen einige Herren bei meiner Mutter vor, und ich fühlte das Schließen der Haustür und andere Geräusche, die ihre Ankunft ankündigten. In plötzlichem Entschlusse lief ich die Treppe hinauf, ehe mich jemand zurückhalten konnte, um mich nach meinen Begriffen für die Gesellschaft herauszuputzen. Ich stellte mich vor den Spiegel, wie ich es bei anderen wahrgenommen hatte, feuchtete mein Haar mit Oel an und bedeckte mein Gesicht dick mit Puder. Dann legte ich einen Schleier auf meinen Kopf, der mein Gesicht bedeckte und mir in Falten bis auf die Schultern fiel, und band eine riesige Schleife um meine schmale Taille, sodaß sie hinter mir herflatterte und mir beinahe bis zum Saume meines Kleides reichte. In diesem Aufzug erschien ich, um zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen.

Ich entsinne mich nicht genau, wann ich zuerst erkannte, daß ich mich von anderen unterschied; ich weiß jedoch, daß es vor der Ankunft meiner Lehrerin der Fall war. Ich hatte bemerkt, daß meine Mutter und meine Bekannten keine Zeichen machten wie ich es tat, wenn sie etwas getan haben wollten, sondern mittelst ihres Mundes sprachen. Bisweilen stand ich zwischen zwei Personen, die sich miteinander unterhielten, und berührte ihre Lippen. Ich konnte dies nicht begreifen und war ganz verwirrt. Ich bewegte meine Lippen und gestikulierte heftig — natürlich ohne Erfolg. Dies machte mich zuweilen so wütend, daß ich mit den Füßen stampfte und schrie, bis ich erschöpft war.

Ich glaube, ich wußte, wann ich unartig war, denn ich wußte, daß es Ella, meiner Wärterin weh tat, wenn ich mit den Füßen nach ihr stieß, und wenn meine Heftigkeit vorüber war, empfand ich etwas wie Reue. Aber ich kann mich keines Falles erinnern, in dem dieses Gefühl mich vor der Wiederholung meiner Ungezogenheit bewahrt hätte, wenn ich nicht gleich bekam, was ich wünschte.

Zu jener Zeit waren ein kleines farbiges Mädchen, Martha Washington, die Tochter unserer Köchin, und ein alter Jagdhund meine beständigen Gefährten. Martha Washington verstand meine Zeichen, und ich hatte selten Schwierigkeiten, ihr begreiflich zu machen, was ich wünschte. Es machte mir Vergnügen, sie zu beherrschen, und sie unterwarf sich in der Regel meiner Tyrannei lieber, als daß sie es auf einen Faustkampf hätte ankommen lassen. Ich war stark, energisch und um die Folgen meiner Handlungsweise unbekümmert. Ich kannte meine Sinnesart am besten und folgte stets nur meinem eigenen Kopfe, selbst wenn ich einen Kampf auf Tod und Leben darum bestehen mußte. Einen großen Teil unserer Zeit brachten wir in der Küche zu, wo wir Klöße kneteten, Eiscreme machen halfen, Kaffee mahlten, uns um die Cakesdose zankten und die Hühner und Puten fütterten, die sich an der Küchentreppe in großer Menge einfanden. Viele von diesen waren so zahm, daß sie mir aus der Hand fraßen und sich von mir streicheln ließen. Ein riesiger Truthahn schnappte mir eines Tages eine Tomate aus der Hand und rannte mit ihr davon. Vielleicht ermutigt durch den Erfolg des Meister Truthahns, rissen wir einen Kuchen, den die Köchin soeben kandiert hatte, vom Herde herunter und aßen ihn mit Stumpf und Stiel auf. Ich war hinterher ganz krank, und ich möchte nur wissen, ob es dem Puter ebenso ergangen ist.

Das Perlhuhn pflegt sein Nest an abgelegenen Stellen zu bauen, und es machte mir großes Vergnügen, in dem hohen Grase nach den Eiern zu suchen. Ich konnte es Martha Washington nicht sagen, wann ich auf die Eierjagd gehen wollte, aber ich legte meine Hände zusammen und drückte sie auf die Erde; dies sollte etwas Rundes im Grase bedeuten, und Martha verstand mich stets. Wenn wir das Glück hatten, ein Nest zu finden, so gestattete ich ihr nie, die Eier nach Hause zu tragen, indem ich ihr durch eifriges Gestikulieren klarzumachen suchte, sie könne fallen und die Eier zerschlagen.

Die Scheunen, in denen das Getreide aufbewahrt wurde, der Stall, in dem die Pferde standen, und der Hof, in dem die Kühe des Morgens und des Abends gemolken wurden, übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Martha und mich aus. Die Melkmägde ließen mich die Kühe befühlen, während sie gemolken wurden, und ich wurde dabei für meine Neugierde oft tüchtig von den Tieren mit dem Schweife geschlagen.

Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest gewährten mir stets großes Vergnügen. Natürlich wußte ich nicht, was rings um mich her vorging, aber ich freute mich über den Wohlgeruch, der das Haus erfüllte, und die Leckerbissen, die Martha Washington und ich bekamen, nur damit wir uns still verhalten sollten. Dies letztere war uns zwar nicht ganz recht, aber wir ließen uns dadurch in unserem Vergnügen nicht im mindesten stören. Wir durften Gewürz mahlen, Rosinen aussuchen und die Rührlöffel ablecken. Ich hängte meinen Strumpf auf,[2] weil die anderen es taten, konnte mich aber nicht entsinnen, daß mich die Zeremonie sonderlich interessierte; auch weckte mich die Neugierde, was ich wohl geschenkt erhalten würde, nicht vor Tagesanbruch auf.

Martha Washington zeigte eine ebenso große Neigung zum Unfugstiften wie ich. An einem heißen Julinachmittag saßen zwei kleine Mädchen auf den Verandastufen. Das eine war schwarz wie Ebenholz und hatte das struppige Haar in kleine mit Schnürsenkeln umwickelte Löckchen abgeteilt, die wie Korkzieher um ihren ganzen Kopf herumstanden. Das andere Mädchen war weiß und hatte lange goldene Locken. Das eine Kind war sechs Jahre alt, das andere zwei bis drei Jahre älter. Das jüngere war blind — ich war es —, das ältere war Martha Washington. Wir waren mit dem Ausschneiden von Papierpuppen beschäftigt, wurden aber dieses Spieles bald überdrüssig, und nachdem ich meine Schuhbänder sowie alle Blätter des Geißblattstrauches, die ich erreichen konnte, abgeschnitten hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Marthas Korkzieher. Sie sträubte sich zwar anfangs, gab aber schließlich nach. Dann ergriff sie, wahrscheinlich in der Meinung, es sei ganz in der Ordnung, wenn sie gleiches mit gleichem vergelte, die Schere und schnitt mir eine meiner Locken ab; sie würde mir alle abgeschnitten haben, wenn meine Mutter nicht zur rechten Zeit dazugekommen wäre.

Belle, unser Hund, mein zweiter Spielgefährte, war alt und faul und zog es vor, lieber am offenen Feuer zu schlafen als mit mir umherzutollen. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, ihr meine Zeichensprache beizubringen, aber sie war stumpfsinnig und unaufmerksam. Sie stand bisweilen still, zitterte vor Aufregung und wurde dann ganz starr, wie es Hunde tun, wenn sie vor einem Vogel stehen. Ich wußte damals nicht, was dies bedeuten sollte, merkte aber, daß Belle das nicht tat, was ich haben wollte. Das ärgerte mich, und die Lektion endete regelmäßig damit, daß ich ihr einige Rippenstöße versetzte. Belle stand auf, dehnte sich faul, schnaufte ein paarmal verdrießlich, ging auf die andere Seite des Kamins und legte sich wieder hin, während ich mich müde und enttäuscht auf die Suche nach Martha machte.

Viele Ereignisse aus diesen ersten Jahren haften in meinem Gedächtnis, vereinzelt, aber klar und bestimmt, und lassen die Stille, die Zwecklosigkeit, die Lichtlosigkeit meines Daseins nur um so greller hervortreten.

Eines Tages hatte ich mir meine Schürze naß gemacht, und ich breitete sie zum Trocknen vor dem Feuer aus, das in dem Kamine des Wohnzimmers flackerte. Die Schürze trocknete nach meiner Ansicht nicht rasch genug, ich trat daher näher und breitete sie direkt über der heißen Asche aus. Das Feuer züngelte empor und erfaßte meine Kleider, sodaß ich im Nu in hellen Flammen stand. Ich erhob ein schreckliches Angstgeschrei, das meine alte Wärterin Viney zur Rettung herbeirief. Sie warf ein Tuch über mich, daß ich fast erstickte, löschte aber damit das Feuer. Außer an Händen und Haar hatte ich keinen ernstlichen Brandschaden davongetragen.

Um diese Zeit entdeckte ich, wozu man einen Schlüssel gebrauchen könnte. Eines Morgens schloß ich meine Mutter in der Speisekammer ein, in der sie drei volle Stunden bleiben mußte, da die Dienstboten in einem abseits gelegenen Teil des Hauses beschäftigt waren. Sie pochte fortwährend an die Tür, während ich draußen auf der Vortreppe saß und wie ein Kobold lachte, als ich das Geräusch des Pochens fühlte. Dieser unartige Streich überzeugte meine Eltern von der Notwendigkeit, mir sobald wie möglich Unterricht geben zu lassen. Kurz nachdem meine Lehrerin, Fräulein Sullivan, zu mir gekommen war, suchte ich eine Gelegenheit, sie in ihrem Zimmer einzuschließen. Ich ging die Treppe hinauf, um Fräulein Sullivan auf Geheiß meiner Mutter etwas zu bringen; kaum aber hatte ich meinen Auftrag ausgerichtet, als ich wie ein Blitz wieder zur Tür hinaus war, sie zuschloß und den Schlüssel unter dem Kleiderschrank im Korridor versteckte. Ich konnte nicht dahin gebracht werden, anzugeben, wo der Schlüssel war. Mein Vater mußte eine Leiter holen und Fräulein Sullivan zum Fenster heraustragen — zu meinem großen Gaudium. Erst nach Monaten brachte ich den Schlüssel zum Vorschein.

Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, verzogen wir aus dem kleinen, weinumrankten Hause nach einem größeren neuen. Die Familie bestand aus meinem Vater, meiner Mutter, zwei älteren Stiefbrüdern und mir; später kam dann noch eine kleine Schwester, Mildred, hinzu. Meine früheste bestimmte Erinnerung an meinen Vater ist die, wie ich eines Tages über große Stöße von Zeitungen hinweg zu ihm klettere und ihn allein finde, während er ein Blatt Papier vor sein Gesicht hält. Ich brannte vor Neugierde, was er da wohl täte. Ich machte ihm alles nach und setzte sogar seine Brille auf, in der Hoffnung, sie werde mir helfen, das Geheimnis herauszubringen. Aber ich fand lange Jahre hindurch nicht des Rätsels Lösung. Dann erfuhr ich, was jene Papiere bedeuteten und daß mein Vater Herausgeber einer Zeitung war.

Mein Vater war äußerst liebevoll und nachsichtig, dabei ebenso häuslich, da er uns selten allein ließ, außer zur Jagdzeit. Er war ein großer Jäger vor dem Herrn, wie mir erzählt wurde, und ein berühmter Schütze. Nächst seiner Familie liebte er seine Hunde und sein Gewehr. Seine Gastfreiheit war groß und artete beinahe zu einem Fehler aus, denn er kam selten nach Hause, ohne einen Gast mitzubringen. Besonders aber war er auf seinen großen Garten stolz, in dem er, wie es hieß, die schönsten Wassermelonen und Erdbeeren der ganzen Umgegend zog, und mir brachte er stets die ersten reifen Weintrauben und köstlichsten Beeren. Ich erinnere mich noch an seine liebkosende Berührung, als er mich von Baum zu Baum, von Weinstock zu Weinstock leitete, und seiner Freude an allem, was mir Vergnügen machte.

Er war ein prächtiger Erzähler; als ich die Herrschaft über die Sprache gewonnen hatte, pflegte er mir seine hübschesten Anekdoten ungeschickt in die Hand zu buchstabieren, und nichts machte ihm mehr Vergnügen, als wenn ich sie bei einer passenden Gelegenheit wiederholte.

Ich war im Norden und erfreute mich eben der letzten schönen Sommertage des Jahres 1896, als ich die Kunde von meines Vaters Tod vernahm. Er war nur kurze Zeit krank gewesen, hatte aber schwer leiden müssen; dann war alles vorüber. Es war mein erster großer Schmerz — meine erste persönliche Bekanntschaft mit dem Tode. —

In welcher Weise soll ich über meine Mutter schreiben? Sie steht mir so nahe, daß es beinahe unzart erscheinen würde, wollte ich hier über sie sprechen.

Lange Zeit betrachtete ich meine kleine Schwester als Eindringling. Ich wußte, ich hatte aufgehört, meiner Mutter einziger Liebling zu sein, und der Gedanke daran erfüllte mich mit Eifersucht. Sie saß beständig auf dem Schoße meiner Mutter, wo mein gewöhnlicher Platz gewesen war, und schien all ihre Sorge und Zeit in Anspruch zu nehmen. Eines Tages trug sich etwas zu, was meiner Meinung nach zu der Beleidigung offenen Schimpf gesellte.

Zu jener Zeit besaß ich eine viel gehätschelte, viel mißhandelte Puppe, der ich später den Namen Nancy gab. Ach, sie war das wehrlose Opfer meiner maßlosen Zornes- und Zärtlichkeitsausbrüche, sodaß sie am Ende schrecklich anzusehen war. Ich hatte Puppen, die sprechen und schreien, ihre Augen öffnen und schließen konnten, aber ich liebte keine von ihnen so, wie ich die arme Nancy liebte. Sie hatte eine Wiege, und ich schaukelte sie darin oft eine Stunde und länger. Ich bewachte Puppe und Wiege mit der eifersüchtigsten Sorgfalt, aber eines Tages entdeckte ich, daß meine kleine Schwester friedlich in der Wiege schlummerte. Bei dieser Anmaßung von seiten jemandes, mit dem mich noch kein Band der Liebe verknüpfte, wurde ich wütend. Ich stürzte auf die Wiege zu und warf sie um, und das Kind hätte tot sein können, hätte meine Mutter es nicht im Falle aufgefangen. Ein solcher Ausbruch kommt daher, daß, wenn wir in dem Tale doppelter Einsamkeit wandeln, wir wenig von den zärtlichen Empfindungen wissen, die aus liebevollen Worten und Handlungen sowie aus dem Zusammensein mit anderen emporsprießen. Später jedoch, als ich zum Bewußtsein meines Menschentums erwacht war, schlossen wir, Mildred und ich, uns auf das engste aneinander an und waren glückselig, wenn wir Hand in Hand miteinander gehen konnten, wohin wir gerade Lust hatten, obgleich sie meine Zeichensprache und ich ihr kindliches Geplauder nicht verstehen konnte.

[2] In England und Frankreich hängen die Kinder zu Weihnachten ihre Strümpfe und Schuhe am Fenster oder Kamin auf und erwarten, daß der heilige Nikolaus sie mit Geschenken fülle.

Drittes Kapitel.

Wachsendes Verlangen nach Gedankenaustausch. — Laura Bridgman und Dr. Howe. — Reise nach Baltimore zu einem Augenarzte. — Besuch bei Alex. Graham Bell. — Herr Anagnos in Boston findet eine Lehrerin.

Inzwischen wuchs mein Verlangen, meinen Gedanken genügenden Ausdruck zu geben, von Tag zu Tag. Die wenigen Zeichen, deren ich mich bedienen konnte, wurden immer unzureichender, und das Fehlschlagen meiner Versuche, mich verständlicher zu machen, war stets von einem Ausbruche der Leidenschaft begleitet. Es war mir, als hielten mich unsichtbare Hände, und ich machte verzweifelte Anstrengungen, mich zu befreien. Ich kämpfte — nicht als ob dieser Kampf mir etwas genützt hätte, sondern weil der Geist des Widerstandes in mir lebendig war; ich brach auch in der Regel weinend und in völliger physischer Erschöpfung zusammen. War meine Mutter zufällig in der Nähe, so flüchtete ich mich in ihre Arme, zu elend, um mich auch nur der Ursache des Sturmes entsinnen zu können. Nach einiger Zeit wurde das Bedürfnis nach Verständigungsmitteln so dringend, daß diese leidenschaftlichen Auftritte alltäglich, bisweilen sogar allstündlich erfolgten.

Meine Eltern waren tief bekümmert und völlig ratlos. Wir wohnten weitab von jeder Blinden- oder Taubstummenschule, und es schien ausgeschlossen, daß jemand nach einem so abgelegenen Orte wie Tuscumbia kommen sollte, um ein Kind zu unterrichten, das sowohl blind wie taubstumm war. In der Tat zweifelten meine Verwandten und Bekannten mitunter an der Möglichkeit eines Unterrichts für mich. Meiner Mutter einziger Hoffnungsstrahl entsprang der Lektüre von Dickens’ »Amerikanischen Skizzen«. Sie hatte seinen Bericht über Laura Bridgman gelesen und entsann sich undeutlich, daß diese taubstumm und blind gewesen war und doch eine Erziehung erhalten hatte. Aber sie erinnerte sich in hoffnungslosem Schmerze auch daran, daß Dr. Howe, der Mittel und Wege entdeckt hatte, blinde Taubstumme zu unterrichten, seit mehreren Jahren tot war. Seine Methoden waren vermutlich mit ihm gestorben, und wenn dies nicht der Fall war, wie war es möglich, daß ein kleines Mädchen in einem weltabgelegenen Städtchen Alabamas einen Nutzen von ihnen haben konnte?

Als ich etwa sechs Jahre alt war, hörte mein Vater von einem berühmten Augenarzt in Baltimore, der in vielen anscheinend hoffnungslosen Fällen noch Erfolge erzielt hatte. Meine Eltern entschlossen sich sofort dazu, mit mir nach Baltimore zu reisen, um zu sehen, ob sich etwas für meine Augen tun ließe.

Die Reise, auf die ich mich noch gut entsinnen kann, machte mir viel Vergnügen. Ich befreundete mich während der Eisenbahnfahrt mit vielen Leuten. Eine Dame schenkte mir eine Schachtel mit Muscheln. Mein Vater durchbohrte sie, sodaß ich sie aufreihen konnte, und lange Zeit war ich glücklich und zufrieden über diese Beschäftigung. Auch der Schaffner war freundlich zu mir. Oft, wenn er seine Runde machte, klammerte ich mich an seine Rockschöße, während er die Fahrkarten einsammelte und durchlochte. Seine Zange, mit der er mich spielen ließ, war ein wunderbarer Zeitvertreib. Zusammengekauert in einer Ecke des Wagens vergnügte ich mich stundenlang damit, kleine Löcher in Pappe zu knipsen.

Meine Tante machte mir eine große Puppe aus Taschentüchern. Es war das komischste, formloseste Ding, diese improvisierte Puppe, ohne Nase, Mund, Augen oder Ohren, kurz es war nichts da, was selbst die Phantasie eines Kindes in ein Gesicht hätte umschaffen können. Seltsamerweise störte mich das Fehlen der Augen mehr als alle übrigen Mängel. Ich suchte dies allen Anwesenden beharrlich klarzumachen, aber niemand schien imstande zu sein, die Puppe mit Augen zu versehen. Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und die Aufgabe war gelöst. Ich sprang von meinem Sitze auf und suchte so lange, bis ich den Mantel meiner Tante fand, der mit großen Knöpfen besetzt war. Ich riß zwei Knöpfe ab und bedeutete ihr, sie möchte mir diese an meine Puppe nähen. Sie legte mit einer fragenden Gebärde meine Hand an ihre Augen, und ich nickte energisch. Die Knöpfe wurden an der richtigen Stelle angenäht, und ich konnte mich vor Freude nicht lassen, verlor jedoch augenblicklich alles Interesse an der Puppe. Während der ganzen Reise hatte ich keinen einzigen meiner gewöhnlichen Anfälle, denn es waren zu vielerlei Dinge da, die meinen Geist und meine Finger beschäftigten.

Als wir in Baltimore anlangten, empfing uns Dr. Chisholm mit großer Liebenswürdigkeit; er konnte aber nichts tun. Doch erklärte er, ich könne Unterricht erhalten, und wies meinen Vater an Dr. Alexander Graham Bell in Washington, der in der Lage sein würde, ihm nähere Auskunft über Schulen und Lehrer für blinde oder taubstumme Kinder zu erteilen. Dem Rate des Arztes zufolge reisten wir sofort nach Washington weiter, um Dr. Bell aufzusuchen, mein Vater mit Trauer und Zweifel im Herzen, während ich keine Ahnung von seinem Schmerz hatte und an der Aufregung des Reisens von Stadt zu Stadt Vergnügen fand. In meinem kindlichen Sinne empfand ich sofort das liebevolle, gütige Wesen, mit dem sich Dr. Bell so vieler Herzen gewann, wie er durch seine staunenswerten Erfolge aller Welt Bewunderung einflößte. Er hielt mich auf seinen Knien, während ich mit seiner Uhr spielte, die er für mich schlagen ließ. Er verstand meine Zeichen, und ich wußte dies und gewann ihn sofort lieb. Aber ich ließ es mir nicht träumen, daß diese Unterredung das Tor sein sollte, durch das ich schließlich aus der Finsternis zum Licht, aus der Vereinzelung zur Freundschaft, zur Gemeinschaft mit anderen, zur Erkenntnis, zur Liebe gelangte.

Dr. Bell riet meinem Vater, an Herrn Anagnos, den Direktor des Perkinsschen Instituts in Boston, zu schreiben, desselben, in dem Dr. Howe so segensreich für die Blinden gewirkt hatte, und bei ihm anzufragen, ob er einen Lehrer hätte, der imstande wäre, meine Erziehung in die Hand zu nehmen. Dies tat mein Vater sofort, und nach einigen Wochen traf ein liebenswürdiger Brief von Herrn Anagnos ein, mit der tröstlichen Zusicherung, daß eine Lehrerin gefunden sei. Dies war im Sommer 1886. Aber Fräulein Sullivan langte erst im folgenden März an.

So ward ich aus Aegyptenland geführt und stand vor dem Sinai; eine göttliche Macht berührte meinen Geist und machte ihn sehen, sodaß ich vieles Wunderbare wahrnehmen konnte. Und von dem heiligen Berge her hörte ich eine Stimme, die sprach: Wissen ist Liebe und Licht und Sehen.

Viertes Kapitel.

Ankunft Fräulein Sullivans in Tuscumbia am 3. März 1887. — Bange Erwartung. — Beginn der Erlernung des Fingeralphabets. — Szene am Brunnen. — Enthüllung des Geheimnisses der Sprache.

Der wichtigste Tag, dessen ich mich Zeit meines ganzen Lebens entsinnen kann, ist der, an dem meine Lehrerin, Fräulein Anne Mansfield Sullivan, zu mir kam. Ich kann kaum Worte finden, um den unermeßlichen Gegensatz in meinem Leben vor und nach ihrer Ankunft zu schildern. Es war der 3. März 1887, drei Monate vor meinem siebenten Geburtstage.

Am Nachmittage jenes folgenreichen Tages stand ich in dumpfer Erwartung an der Haustür. Da ich infolge der Zeichen meiner Mutter und des Hin- und Herlaufens im Hause eine unbestimmte Ahnung von dem Bevorstehen eines außergewöhnlichen Ereignisses hatte, ging ich vor die Tür und wartete auf der Treppe. Die Nachmittagssonne drang durch das dichte Geißblattgebüsch, das die Tür umrahmte, und fiel auf mein emporgerichtetes Gesicht. Meine Finger spielten fast unbewußt mit den wohlbekannten Blättern und Blüten, die eben hervorgekommen waren, um den holden südlichen Lenz zu begrüßen. Ich wußte nicht, was für Wunder und Ueberraschungen die Zukunft für mich in ihrem Schoße barg. Zorn und Verbitterung waren seit Wochen unausgesetzt auf mich eingestürmt. Dieser verzweifelte Kampf hatte eine tiefe Ermattung bei mir zurückgelassen.

Lieber Leser, hast du dich je bei einer Seefahrt in dichtem Nebel befunden, der dich wie eine greifbare weiße Finsternis einzuschließen schien, während das große Schiff seinen Kurs längs der Küste mit Hilfe von Senkblei und Lotleine zagend und ängstlich verfolgte, und du mit klopfendem Herzen irgend ein Ereignis erwartetest? Jenem Schiffe glich ich vor Beginn meiner Erziehung, nur fehlten mir Kompaß und Lotleine, und ich hatte keine Ahnung davon, wie nahe der Hafen war. Licht! gebt mir Licht! lautete der wortlose Aufschrei meiner Seele, und das Licht der Liebe erhellte bereits in dieser Stunde meinen Pfad.

Ich fühlte sich nähernde Schritte. Ich streckte meine Hand aus, wie ich glaubte, meiner Mutter entgegen. Irgend jemand ergriff sie, ich ward von der emporgehoben und fest in die Arme geschlossen, die gekommen war, den Schleier, der mir die Welt verbarg, zu lüften und, was mehr als dies bedeutete, mich zu lieben.

Am Morgen nach ihrer Ankunft führte mich meine Lehrerin in ihr Zimmer und gab mir eine Puppe. Die kleinen blinden Mädchen aus dem Perkinsschen Institute hatten sie mir geschickt, und Laura Bridgman hatte sie angezogen; dies erfuhr ich jedoch erst später. Als ich ein Weilchen mit ihr gespielt hatte, buchstabierte Fräulein Sullivan langsam das Wort d–o–l–l in meine Hand. Dieses Fingerspiel interessierte mich sofort, und ich begann es nachzumachen. Als es mir endlich gelungen war, die Buchstaben genau nachzuahmen, errötete ich vor kindlicher Freude und kindlichem Stolz. Ich lief die Treppe hinunter zu meiner Mutter, streckte meine Hand aus und machte ihr die eben erlernten Buchstaben vor. Ich wußte damals noch nicht, daß ich ein Wort buchstabierte, ja nicht einmal, daß es überhaupt Wörter gab; ich bewegte einfach meine Finger in affenartiger Nachahmung. Während der folgenden Tage lernte ich auf diese verständnislose Art eine große Menge Wörter buchstabieren, unter ihnen pin, hat, cup und ein paar Verben wie sit, stand und walk. Aber meine Lehrerin weilte schon mehrere Wochen bei mir, ehe ich begriff, daß jedes Ding seine Bezeichnung habe.

Als ich eines Tages mit meiner neuen Puppe spielte, legte mir Fräulein Sullivan auch meine große zerlumpte Puppe auf dem Schoß, buchstabierte d–o–l–l und suchte mir verständlich zu machen, daß sich d–o–l–l auf beide Puppen beziehe. Vorher hatten wir ein Renkontre über die Wörter m–u–g und w–a–t–e–r gehabt. Fräulein Sullivan hatte mir einzuprägen versucht, daß m–u–gmug und daß w–a–t–e–rwater sei, aber ich blieb beharrlich dabei, beides zu verwechseln. Verzweifelt hatte sie das Thema einstweilen fallen gelassen, aber nur, um es bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen. Bei ihren wiederholten Versuchen wurde ich ungeduldig, ergriff die neue Puppe und schleuderte sie zu Boden. Ich empfand eine lebhafte Schadenfreude, als ich die Bruchstücke der zertrümmerten Puppe zu meinen Füßen liegen fühlte. Weder Schmerz noch Reue folgten diesem Ausbruch von Leidenschaft. Ich hatte die Puppe nicht geliebt. In der stillen, dunklen Welt, in der ich lebte, war für starke Zuneigung oder Zärtlichkeit kein Raum. Ich fühlte, wie meine Lehrerin die Bruchstücke auf die eine Seite des Kamins fegte, und empfand eine Art von Genugtuung darüber, daß die Ursache meines Unbehagens beseitigt war. Fräulein Sullivan brachte mir meinen Hut, und ich wußte, daß es jetzt in den warmen Sonnenschein hinausging. Dieser Gedanke, wenn eine nicht in Worte gefaßte Empfindung ein Gedanke genannt werden kann, ließ mich vor Freude springen und hüpfen.

Wir schlugen den Weg zum Brunnen ein, geleitet durch den Duft des ihn umrankenden Geißblattstrauches. Es pumpte jemand Wasser, und meine Lehrerin hielt mir die Hand unter das Rohr. Während der kühle Strom über die eine meiner Hände sprudelte, buchstabierte sie mir in die andere das Wort water, zuerst langsam, dann schnell. Ich stand still, mit gespannter Aufmerksamkeit die Bewegung ihrer Finger verfolgend. Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß water jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete ihr Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln! Zwar waren ihr immer noch Schranken gesetzt, aber Schranken, die mit der Zeit hinweggeräumt werden konnten.[3]

Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern. Dies kam daher, daß ich alles mit dem seltsamen neuen Gesicht, das ich erhalten hatte, betrachtete. Beim Betreten des Zimmers erinnerte ich mich der Puppe, die ich zertrümmert hatte. Ich tastete mich bis zum Kamin, hob die Stücke auf und suchte sie vergeblich wieder zusammenzufügen. Dann füllten sich meine Augen mit Tränen; ich erkannte, was ich getan hatte, und zum erstenmal in meinem Leben empfand ich Reue und Schmerz.

Ich lernte an diesem Tage eine große Menge neuer Wörter. Ich erinnere mich nicht mehr an alle, aber ich weiß, daß mother, father, sister, teacher unter ihnen waren — Wörter, die die Welt für mich erblühen machten „wie Aarons Stab, mit Blumen.“ Es dürfte schwer gewesen sein, ein glücklicheres Kind als mich zu finden, als ich am Schluß dieses ereignisvollen Tages in meinem Bettchen lag und der Freuden gedachte, die mir heut zuteil geworden waren, und zum ersten Male sehnte ich mich nach dem anbrechenden Morgen.

[3] Vgl. Fräulein Sullivans Brief S. 224 ff.

Fünftes Kapitel.

Allmähliches Erwachen der Seele. — Unterricht im Freien. — Freude an der Natur. — Schrecken der Natur. — Gewitter. — Schönheit des Mimosenbaumes.

Ich entsinne mich vieler Ereignisse des Sommers 1887, der auf das Erwachen meiner Seele folgte. Fortwährend tastete ich mit meinen Händen umher und lernte die Bezeichnung für jeden Gegenstand, den ich berührte, kennen, und je mehr ich mit den Dingen bekannt wurde und ihre Bezeichnungen und ihre Zwecke kennen lernte, desto freudiger und stärker wurde das Bewußtsein meiner Verwandtschaft mit der übrigen Welt.

Als die Zeit der Maßliebchen und Butterblumen gekommen war, führte mich Fräulein Sullivan an ihrer Hand durch die Felder zu den Ufern des Tennesseestromes, und hier, auf dem warmen Grase sitzend, erhielt ich meinen ersten Unterricht über die Wohltaten der Natur. Ich lernte, wie die Sonne und der Regen jeden Baum, der „lustig anzusehen und gut zu essen“ war, aus dem Boden emporwachsen ließen, wie die Vögel ihre Nester bauen und von Land zu Land fliegen, wie das Eichhorn, der Hirsch, der Löwe und jedes andere Geschöpf Nahrung und Obdach finden. Je mehr meine Kenntnisse zunahmen, desto stärker wurde mein Entzücken über die Welt, in der ich lebte. Lange bevor ich ein Exempel rechnen oder die Gestalt der Erde beschreiben konnte, hatte mich Fräulein Sullivan gelehrt, in den duftenden Wäldern, in jedem Grashalm, wie in den Linien und Grübchen der Hand meiner kleinen Schwester Schönheit zu entdecken. Sie verknüpfte meine ersten Gedanken mit der Natur und brachte mir zum Bewußtsein, daß „Vögel, Blumen und ich glückliche, gleichberechtigte Gefährten seien“.