Die Geschichte von der 1002. Nacht - Joseph Roth - E-Book + Hörbuch

Die Geschichte von der 1002. Nacht E-Book

Joseph Roth

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"Die Geschichte von der 1002. Nacht" erzählt, wie Mizzi Schinagl im Wien des 19. Jahrhunderts für eine Nacht die Geliebte des Schahs von Persien wird und dafür büßt.

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Joseph Roth

Die Geschichte von der 1002. Nacht

Roman

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Titelseite

Über Joseph Roth

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

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Über Joseph Roth

Joseph Roth wurde am 2. September 1894 als Sohn jüdischer Eltern in Brody (Ostgalizien) geboren, studierte Literaturwissenschaften in Wien und Lemberg und nahm als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Ab 1916 veröffentlichte er Erzählungen und Romane, lebte ab 1918 als Journalist in Wien, dann Berlin, und war von 1923–1932 Korrespondent der Frankfurter Zeitung. Anfang der 1930er Jahre erlangte er mit den Romanen Hiob und Radetzkymarsch Weltruhm. 1933 emigrierte Roth nach Frankreich. Er starb am 27. Mai 1939, verarmt und alkoholkrank, im Pariser Exil und im Alter von nur 45 Jahren.

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Über dieses Buch

»Die Geschichte von der 1002. Nacht« erzählt, wie Mizzi Schinagl im Wien des 19. Jahrhunderts für eine Nacht die Geliebte des Schahs von Persien wird und dafür büßt.

Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte von der 1002. Nacht

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

XXX. Kapitel

XXXI. Kapitel

XXXII. Kapitel

XXXIII. Kapitel

XXXIV. Kapitel

Die Geschichte von der 1002. Nacht

Roman 1939

I

Im Frühling des Jahres 18 .. begann der Schah-in-Schah, der heilige, erhabene und große Monarch, der unumschränkte Herrscher und Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fühlen, wie er es noch niemals gekannt hatte.

Die berühmtesten Arzte seines Reichs konnten seine Krankheit nicht erklären. Der Schah-in-Schah war aufs höchste beunruhigt. In einer schlaflosen Nacht ließ er den Obereunuchen Patominos kommen, der ein weiser war und der die Welt kannte, obwohl er den Hof nie verlassen hatte. Zu diesem sprach er so:

»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich fürchte, ich bin sehr krank. Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst du ihm, Patominos?«

»Nein, ich glaube ihm auch nicht!« sagte Patominos. »Glaubst du also auch, daß ich schwer krank bin?« fragte der Schah. »Schwer krank – nein – das glaube ich nicht!« erwiderte Patominos. »Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt, Herr, viele Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerichtet sind, nur die Krankheiten der körperlichen Organe zu beachten. Was aber nutzt dem Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine Seele Sehnsucht hat?«

»Woher weißt du, daß ich Sehnsucht habe?« »Ich erlaube mir, es zu ahnen.« »Und wonach sehne ich mich?«

»Das ist eine Sache«, erwiderte Patominos, »über die ich eine Weile nachdenken müßte.«

Der Eunuch Patominos tat so, als dächte er nach, dann sagte er: »Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Ländern, nach den Ländern Europas zum Beispiel.« »Eine lange Reise?«

»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als lange. Lange Reisen machen krank.« »Und wohin?«

»Herr«, sagte der Eunuch, »es gibt vielerlei Länder in Europa. Es hängt alles davon ab, was man eigentlich in diesen Ländern sucht.« »Und was glaubst du, daß ich suchen müßte, Patominos?« »Herr«, sagte der Eunuch, »ein so elender Mensch wie ich weiß nicht, was ein großer Herrscher suchen könnte.«

»Patominos«, sagte der Schah, »du weißt, daß ich schon wochenlang keine Frau mehr angerührt habe.«

»Ich weiß es, Herr«, erwiderte Patominos.

»Und du glaubst, Patominos, das sei gesund?«

»Herr«, sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner gebückten Stellung, »man muß sagen, daß Menschen meiner besonderen Art nicht viel von derlei Dingen verstehen.« »Ihr seid zu beneiden.«

»Ja«, erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fülligen Größe auf. »Die anderen Männer bedaure ich von ganzem Herzen.« »Warum bedauerst du uns, Patominos?« fragte der Fürst. »Aus vielen Gründen«, antwortete der Eunuch, »besonders aber deshalb, weil die Männer dem Gesetz der Abwechslung unterworfen sind. Es ist ein trügerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechslung.« »Wolltest du damit gesagt haben, daß ich dieser bestimmten Abwechslung halber irgendwohin fahren sollte?«

»Ja, Herr«, sagte Patominos, »um sich zu überzeugen, daß es keine gibt.«

»Und dies allein würde mich gesund machen?«

»Nicht die Uberzeugung, Herr«, sagte der Eunuch, »aber die Erlebnisse, die man braucht, um zu dieser Überzeugung zu gelangen!« »Wie kommst du zu diesen Erkenntnissen, Patominos?« »Dadurch, daß ich verschnitten bin, Herr!« erwiderte der Eunuch und verneigte sich wieder.

Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er schlug Wien vor. Der Herrscher erinnerte sich: »Mohammedaner waren dort schon vor vielen Jahren gewesen.«

»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. Auf dem Stephansturm stünde sonst heute nicht das Kreuz, sondern unser Halbmond!«

»Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mit dem Kaiser von Osterreich.« »Jawohl, Herr!«

»Wir fahren!« befahl der Schah. »Die Minister verständigen!« Und es geschah, wie er befohlen hatte.

Im Waggon erster Klasse zuerst, später im rückwärtigen Teil des Schiffes, herrschend über den Frauen, saß der Obereunuch Kalo Patominos. Er blickte auf die rotglühende untergehende Sonne. Er breitete den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann, das Abendgebet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel. Das Meer war sanft wie ein Kind. Das Schiff schwamm sacht und lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein.

II

Ein paar Tage kreuzte das bräutliche Schiff des Schahs im blauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem großen Herrn zu sagen, daß man auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten müsse. Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sich um den Kurs des Schiffes nicht kümmerte, konnte er doch nicht umhin, zu bemerken, daß immer wieder das gleiche Stück der Küste auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmählich sonderbar, daß ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein so kleines Meer zu durchqueren. Er ließ den Großwesir kommen und deutete ihm an, daß er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Überfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewiß war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein wenig in der des Kapitäns. Überhaupt, sooft er an den Kapitän dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitän gar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war nämlich äußerst mißtrauisch. Selbst die Männer, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdächtigte er leicht und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? Ja, er war dermaßen mißtrauisch, daß er nicht einmal sein Mißtrauen zu erkennen zu geben wagte – in der kindischen und mächtigen Herrn oft eigenen Überzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Großwesir auch nur vorsichtig an, daß ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Großwesir aber, der wohl erkannte, daß der Schah sein Mißtrauen nicht ausdrücken wolle, gab keineswegs zu erkennen, daß er Mißtrauen spüre. »Herr«, sagte der Großwesir, »auch mir erscheint es unverständlich, daß wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu überqueren.« »Ja«, bestätigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung des Großwesirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht worden wäre, »ja, du hast recht: warum fahren wir so langsam?« »Man müßte, Herr, den Kapitän befragen!« sagte der Großwesir. Der Kapitän kam, und der Schah fragte: »Wann erreichen wir endlich die Küste?«

»Großmächtiger Herr«, erwiderte der Kapitän, »das Leben Eurer Majestät ist uns allen heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heiliger als unsere Mütter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente kündigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestät an Bord sind, müssen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres für unser Leben, für unser Land, für die Welt als das geheiligte Leben Eurer Majestät? – Und unsere Instrumente kündigen leider Sturm an, Majestät!«

Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff gewölbt, strahlend. Der Schah dachte, daß ihn der Kapitän belüge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: »Mir scheint, Kapitän, daß deine Instrumente gar nichts taugen!«

»Gewiß, Majestät«, antwortete der Kapitän, »auch Instrumente sind nicht immer zuverlässig!«

»Ebenso wie du, Kapitän«, sagte der Schah.

Auf einmal bemerkte er ein winziges, weißes Wölkchen am Rande des Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: es war kaum ein Wölkchen, es war ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wölkchen. Auch der Kapitän hatte es im gleichen Augenblick erspäht – und schon hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen und er und seine Lüge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente würden in den Augen des Herrn aller Gläubigen plötzlich gerechtfertigt sein. Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzig und hauchdünn das Wölkchen auch war, so verstärkte es doch den Zorn des Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, daß er Großwesir und Kapitän auf einer niederträchtigen Lüge ertappt hatte –– und jetzt kam die Natur selbst –– gebar ein Wölkchen (und wie leicht konnten riehtige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch den lügenden Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksamkeit beobachtete der Schah die unaufhörlich wechselnden Formen des Wölkleins. Bald lockerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bißchen. Dann aber ballte es sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus wie ein Schleier, in einen Knäuel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Länge. Dann schließlich wurde es dunkler und fester. Der Kapitän stand immer noch hinter dem Rücken des Schahs. Auch er betrachtete die wechselnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern mit tröstlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jäh und wütend wandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschien dem Kapitän wie eine Art gefährlicher violetter Hagelwolke. »Ihr täuscht euch alle«, begann der mächtige Herr ganz leise, mit einer Stimme, die, beinahe tonlos, aus unbekannten Gründen der Seele kam. »Ihr täuscht euch alle, wenn ihr glaubt, daß ich eure Manöver nicht durchschaue. Die Wahrheit sagst du mir nicht! Was erzählst du mir von deinen Instrumenten? Was für einen Sturm verkünden sie? Mein Auge ist noch lange so sicher wie deine Instrumente. Ringsum ist der Himmel klar und blau, selten noch habe ich einen so klaren und blauen Himmel gesehen. Mach deine Augen auf, Kapitän! Sag selbst, siehst du auch ein einziges, noch so geringes Wölkchen am Horizont?« Der Schrecken des Kapitäns war groß, aber gewaltiger noch war sein Erstaunen. Und noch größer als sein Schrecken und sein Staunen war seine Ratlosigkeit. War der Zorn des Herrn echt oder gespielt? Stellte ihn der Herr auf die Probe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in der Nähe des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten. Der und jener hatte dem Kapitän gelegentlich erzählt, daß der Schah manchmal den Erzürnten spielte, um den Grad der Aufrichtigkeit zu erkennen, dessen seine Diener fähig sein konnten. Unglücklicherweise dachte der arme Kapitän gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen durchaus nicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn, und er entschloß sich, aufrichtig zu sein. »Herr«, sagte er, »die Augen Eurer Majestät haben soeben die Wolke dort am Horizont gesehen.« Und er trieb, der unselige Kapitän, seine Kühnheit so weit, daß er sogar den Finger ausstreckte und nach dem Wölkchen wies, das inzwischen eine richtige schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicher Eile dem Schiffe näher trieb.

»Kapitän!« donnerte der Schah, »willst du mich lehren, den Himmel anzusehn? Nennst du jenes lichte Nebelchen dort eine Wolke? Spürst du nicht die Strahlen der Sonne?«

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas Unerwartetes. Die Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tiefe, regenträchtige blauschwarze Gewitterwolke geworden, hatte soeben die Sonne erreicht, und sie verfinsterte die Welt.

Der Kapitän streckte beide Arme aus, und über seine zitternden Lippen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollte er sagen: Herr, zu meinem Bedauern bin ich gezwungen, den Himmel sprechen zu lassen. Er schickt sich eben an, statt meiner Eurer Majestät zu antworten. Zwar hatte auch der Schah selbstverständlich gesehn, wie sich die Sonne verfinsterte. Noch wußte er nicht genau, ob er sich freuen sollte über die Ehrlichkeit seiner Diener, die ihm in der Tat genauen und wahrheitlichen Bericht über den nahenden Sturm gegeben hatten, oder ob er sich ärgern sollte darüber, daß er seinem eigenen Mißtrauen erlegen war. Er fühlte, daß er in Gefahr war, seine Verwirrung zu verraten. Dies durfte auf keinen Fall geschehen – und deshalb befahl er: »Zeig mir deine Instrumente, Kapitän!«

Während sie das Deck entlanggingen, der Schah voran, der Kapitän hinterdrein, verfinsterte sich der Himmel noch mehr, soweit man sehen konnte, mit Ausnahme eines schmalen blauen Streifens im Nordosten. Im Westen waren die Wolken ganz böse und violett, im Zenit des Himmels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichteten sie sich zu einer geradezu als gütig zu empfindenden Blässe. Der Kapitän, drei Schritte hinter dem Schah, geriet in eine wahrhaftige, ehrliche Furcht. Diesmal war es nicht wie vorher Angst vor dem Herrscher und vor der eigenen Lüge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt, und vor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte. Zum erstenmal hatte der Kapitän die Ehre, den Schah-in-Schah auf seinem Schiff zu beherbergen. Was wußte er von den Gesetzen der Diplomatie, der brave Kapitän? Seit zwanzig Jahren kreuzte er die Meere, immer auf diesem kaiserlichen Dampfer Achmed Akbar. Viele Stürme hatte er erlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen gefahren, und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst kennengelernt. Niemals seit seinem Regierungsantritt hatte dieser Schah das Bedürfnis empfunden, ein Meer zu überqueren. Ihn, den armen Kapitän, traf die gefährliche Auszeichnung, den mächtigen Herrn zum erstenmal über Wasser zu führen. »Wir dürfen nicht in der vorgeschriebenen Zeit Europas Küste erreichen«, hatte ihm der Großwesir gesagt. – »Seine Majestät haben einen höchst ungeduldigen Charakter und wollen ihre Wünsche erfüllt haben, kaum sind sie ausgesprochen. Aber es gibt, verstehn Sie, Kapitän, diplomatische Hindernisse. Wir müssen erst die Antwort Seiner Exzellenz unseres Botschafters abwarten. So lange müssen wir trachten, nahe der Küste herumzukreuzen. Wenn es Seiner Majestät einfallen sollte, Sie zu fragen, so sagen Sie, daß Sie Sturm befürchten.«

So hatte der Großwesir gesprochen. Und siehe da: der Sturm war wirklich im Anzug. Und die Instrumente hatten ihn doch gar nicht angekündigt. Einfach die Lüge hatte ihn angekündigt, einfach die Lüge! Gläubig war der Kapitän, und Allah fürchtete er. Sie kamen in die Kabine des Kapitäns. Es gab da wenig Instrumente, insbesondere aber keine, die etwas vom nahenden Sturm aussagen konnten. Es gab nur eine große Bussole, englisches Fabrikat, festgeschraubt auf einer runden Tischplatte. Der Schah beugte sich darüber. »Was ist das, Kapitän?« fragte er. »Majestät, eine Bussole!« sagte der Kapitän. »Aha«, sagte der Schah. »Andere Instrumente hast du nicht?« – »Hier nicht, Majestät, sie sind daneben, im Zimmer des Ingenieurs!«- »Also Sturm?« fragte der Schah. Er hatte keine Lust mehr, andere Instrumente zu sehn, und außerdem wünschte er sich ehrlich einen Sturm herbei. »Wann wird endlich dieser Sturm kommen?« fragte er gütig. »Ich schätze, nach Sonnenuntergang!« sagte der Kapitän.

Der Schah ging, hinter ihm der Kapitän. Als sie auf das Verdeck traten, war der Tag bereits fast so finster wie eine richtige Nacht. Der Offizier vom Dienst kam eilig heran, er lief, er galoppierte. Er meldete dem Kapitän irgend etwas, in Ausdrücken, die der Schah noch niemals gehört hatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die beiden zu kümmern. Er trat an die Reling und betrachtete mit aufrichtigem Vergnügen den wütenden Gischt der anstürmenden, zurückweichenden und immer wieder anstürmenden Wogen. Das Schiff begann zu schwanken. Die Welt begann zu schwanken. Die Wogen waren grüne, schwarze, blaue und graue Zungen mit schneeweißen Rändern. Ein gewaltiges Unbehagen ergriff plötzlich den Schah. Ein unbekanntes Ungeheuer wühlte und wand sich in seinen Eingeweiden. Einmal, er erinnerte sich, er war noch ein Knabe gewesen und krank, sehr krank, hatte er ein ähnliches Übel verspürt.

Den Kapitän ergriff eine doppelte Aufregung: Erstens war sein Herr unpäßlich; und zweitens näherte sich eben jener Sturm, den er so leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitän wußte nicht mehr, um was er sich eifriger kümmern müsse: um den Sturm oder das Unbehagen des Herrn.

Er entschloß sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzuwenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen hatte, sofort möglichst dicht an die Küste zurückzukehren. Ausgestreckt, in mehrere Decken gehüllt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den er so haßte und der, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt über dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverständlich war: er flößte dem Schah Baldrian ein. Die ersten, schweren Regentropfen fielen auf den weichen Samt des Zelts, das man dem Schah gebaut hatte. Der Wind ließ leise die Ringe erklirren, die des Zeltes Wände mit den drei metallenen Stäben verbanden. Der Schah fühlte sich wohler. Er wußte, daß es draußen blitzte, und den Donner hörte er mit wonnigem Behagen. Seine Übelkeiten verschwanden, kein Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei Seemeilen von der Küste. Nur das Meer klatschte in regelmäßiger Wut gegen die Flanken.

Dieser Sturm war dem Großwesir als eine besondere Gnade des Himmels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretäre Konstantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten kehrten sie am nächsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zurück. Der Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschafters: in Wien erwarte man die Majestät. Alles wäre zum Empfang bereit …

Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung. Auch der Kapitän leuchtete. Auch der Großwesir leuchtete. Mit Volldampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen.

III

Seine Kaiser- und Königliche Apostolische Majestät empfing die Kunde von dem Besuch des Schahs gegen acht Uhr morgens. Es waren gerade knapp zweihundert Jahre vergangen, seitdem der grausamste aller Mohammedaner gegen Wien herangerückt war. Damals hatte ein wahres Wunder Osterreich gerettet. Weit schrecklicher noch als einst die Türken bedrohten jetzt die Preußen das alte Osterreich – und obwohl sie fast ungläubiger waren als die Mohammedaner – denn sie waren ja Protestanten –, tat Gott gegen sie keine Wunder. Es gab keinen Grund mehr, die Söhne Mohammeds mehr zu fürchten als die Protestanten. Jetzt brach eine andere, schrecklichere Epoche an, die Zeit der Preußen, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bismarcks. Auf ihren schwarzweißen Fahnen – beides Farben der strengen Trauer – war zwar kein Halbmond zu sehn, sondern ein Kreuz; aber es war eben ein eisernes Kreuz. Auch ihre christlichen Symbole noch waren tödliche Waffen.

All dies dachte der Kaiser von Osterreich, als man ihm von dem bevorstehenden Besuch des Schahs berichtete. Ahnliches dachten auch die Minister des Kaisers. Man raunte in Wien, man munkelte in den Kanzleien, vor den Türen, hinter den Türen, in den Kabinetten, in den Korridoren, in den Redaktionsstuben, in den Cafehäusern und sogar in den Chambres separees. Allenthalben bereitete man sich auf den Besuch des Schahs vor.

Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah im Wiener Franz-Josephs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompanien und zweihundert Wachleute zu Fuß und zu Pferde die Straßen ab. Die fürsorgliche Gastfreundschaft Seiner Kaiser- und Königlichen Apostolischen Majestät hatte dafür gesorgt, daß alle Wagen des Zuges, der den persischen Herrscher nach Wien brachte, weiß gestrichen waren, in einem bräutlichen Weiß, wie das Schiff, das der Schah in Konstantinopel bestiegen hatte. Auf dem Perron stand eine Kompanie des Regiments der Hoch- und Deutschmeister. Der Kapellmeister Josef Nechwal befahl die persische Nationalhymne. Tschinellen und Kesselpauke und die sogenannten Tschandressen machten mehr Lärm, als die persische Nationalhymne unbedingt erfordert hätte. Die Kesselpauke, aufgebürdet auf dem sonst so geduldigen und musikalischen Maulesel, wollte auch nicht zurückbleiben; und der Maulesel bebte von Zeit zu Zeit, er revoltierte gleichsam; aber weder der Pauker merkte es noch der Kapellmeister Josef Nechwal. Der dachte an die Orden im Schaufenster Tillers.

Der Kaiser fühlte sich unbehaglich in der fremden Uniform. Es war überdies heiß: einer jener frühreifen Maitage, die den Hochsommer vorwegzunehmen scheinen. Das Glasdach über dem Perron glühte. Die Hymne gefiel dem Kaiser durchaus nicht. Mit deutlichem Respekt hörte er sie an – mit ostentativem Respekt…

Als der Schah ausstieg, umarmte ihn der Kaiser flüchtig. Der Schah schritt die Ehrenkompanie ab. Der Kapellmeister kommandierte das »Gott erhalte«. Die Perser erstarrten.

Man stieg in die Kutschen, man fuhr ab. Hinter den blauen Mauern der Soldaten schrien die Leute: »Hoch, hoch, hoch!« Die Rosse der berittenen Polizisten wurden böse, und gegen den Willen der Reiter schlugen sie aus und verletzten zweiundzwanzig Neugierige. Der Polizeibericht im »Fremdenblatt« sprach von »drei Ohnmachtsfällen«.

IV

Diese drei Ohnmachtsfälle störten die Freude der Wiener Bevölkerung an dem großen Schah der Perser keineswegs. Alle Menschen, die seiner Ankunft zugesehen hatten und gesund geblieben waren, auch die der Ohnmacht, kehrten beglückt nach Hause zurück; genauso beglückt, als wenn ihnen persönlich eine Freude beschert worden wäre. Auch die Bahnarbeiter und die Gepäckträger waren glücklich und schwitzten sehr. Denn der große Schah von Persien war mit zahlreichen und schweren Koffern angekommen. Sie füllten nicht weniger als vier normale Lastwaggons, die man aber in Triest vergessen hatte an den bräutlich weißen Hofzug seiner Majestät anzuhängen. Der Adjutant des Hofzeremonienmeisters, Kirilida Pajidzani, lief den Perron auf und ab. Hinter ihm rannte der Stationsvorstand Gustl Burger einher. Im Amtszimmer des Stationsvorstands steppte unermüdlich der Morseapparat. Der arme Stationsvorstand Burger verstand keinen Ton von dem Französisch, das der Adjutant des persischen Hofzeremonienmeisters daherredete. Der einzige Mensch, der in dieser verzweifelten Situation hätte helfen können, stand beneidenswert gelangweilt vor dem Büfett im Restaurationssaal erster Klasse. Es war der Rittmeister Baron Taittinger, von den Neuner-Dragonern, auf unbestimmte Frist von seinem Regiment detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur sogenannten »speziellen Verwendung«. Der Baron lehnte am Büfett, mit dem Rücken zum Fenster, wandte sich aber von Zeit zu Zeit um und betrachtete mit grausigem Behagen den lächerlichen Stationschef und seinen persischen Kameraden, den Kirilida Pajidzani. Taittinger nannte ihn schon im stillen für sich den »Janitscharen«. Die Uhr über dem Büfett zeigte schon die dritte Nachmittagsstunde. Um halb fünf war Taittinger mit der Frau Kronbach verabredet, bei Hornbichl. Ihr Mann war Seidenfabrikant, Kommerzialrat, sie wohnte in Döbling. Frau Kronbach war seine Leidenschaft, so bildete er sich ein. Er hatte sich einmal gesagt, sie wäre seine Leidenschaft, er hatte sie zu seiner Leidenschaft ernannt, und er bewies es sich selbst, indem er ihr treu blieb. Sie war – um es gleich zu sagen – nicht seine erste, sondern seine zweite Leidenschaft.

Er lehnte also, der Rittmeister Taittinger, am Büfett. Er sah von Zeit zu Zeit durch das Fenster, dann wieder auf die Uhr über dem blonden Fräulein, das ihn bediente und das er für einen der Apparate hielt, die zur Erledigung des Eisenbahndienstes unentbehrlich sind. Er freute sich, daß draußen die beiden so aufgeregt umherliefen, der »Janitschare« und der Stationsvorstand. Er mußte leider warten, bis die Koffer des Schahs von Persien kommen würden, und Frau Kronbach mußte auch warten; dies war schlimm. Aber man konnte nichts machen.

Endlich, es war schon halb vier, der Rittmeister begann gerade, am vierten Hennessy zu nippen, fuhr mit gewaltigem Brausen, als wäre er ein echter Expreß, ein Extrazug ein, der lediglich aus vier Waggons bestand. Sie enthielten das Gepäck des Schahs von Persien. Erst in diesem Augenblick stürzte Taittinger auf den Perron. Er hielt den Stationsvorstand an und sagte: »Sie müssen schnell machen! Schon ein Skandal, daß die Herrschaften so lang warten müssen! Seine Majestät sind vor anderthalb Stunden gekommen! Seine Majestät warten aufgeregt. Blamage! Was für eine Blamage, Herr Stationsvorstand!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Baron an seinen persischen Kameraden Kirilida Pajidzani und sagte in jenem fließenden Französisch, das eigentlich wie ein kaiser-königliches Französisch klang und lediglich aus Vokabeln zu bestehen schien: »Wie pünktlich! Wie pünktlich! Unsere Eisenbahn ist doch die pünktlichste der Welt!« – Bahnarbeiter und Gepäckträger eilten herbei. Der Stationsvorstand selbst kommandierte sie; dieweil der Rittmeister seinem persischen Kameraden erstaunliche, echt orientalische Wunder in Wiener Nachtlokalen anpries.

Der Perser hörte zu, lächelnd, mit dem gütigen Lächeln, das gleichgültige Männer von Welt immer anlegen, wenn es sich darum handelt, Nachsicht zu verbergen. An diesem gütigen Lächeln erkannte der Baron auf einmal, mit wem er es zu tun hatte. Dieser »Janitschare« war ja gar keiner. Er verströmte die alte liebe, gutvertraute Luft der weltmännischen Lüge; und der Baron fühlte sich sofort bei ihm heimisch. Der Baron nannte den Perser schon im stillen »charmant« – das höchste Lob, das er zu vergeben hatte. Es gab für ihn nämlich nur drei Klassen von Menschen: an der Spitze standen die »Charmanten«; dann kamen die »Gleichgültigen«; die dritte und letzte Klasse bestand aus »Langweiligen«. Kirilida Pajidzani – das stand fest – gehörte zu den »Charmanten«. Und plötzlich konnte der Baron auch den schwierigen Namen so fließend aussprechen, als hätte er seit seiner Kindheit persische Spielgenossen gehabt. »Herr Kirilida Pajidzani«, sagte der Rittmeister, »es tut mir leid, daß Sie so lange aufgehalten worden sind. Diese Eisenbahnen! Diese Eisenbahnen! Glauben Sie mir! Wir werden schon den Verantwortlichen finden!«

Um dem Perser zu zeigen, daß er keine leeren Worte mache, ging er auf den Stationsvorstand zu und sagte mit erhobener Stimme: »Sauerei das, Herr Stationsvorstand entschuldigen schon das harte Wort!« -»Herr Rittmeister«, erwiderte der Vorstand, »das ist richtig eine Sauerei, eine Triester Sauerei nämlich.« – »Triest oder nicht, is’ ganz wurscht«, sagte der Rittmeister noch etwas lauter. »Hauptsach’ is’, daß Seine Majestät vor zwei Stunden angekommen sind, und die Koffer sind immer noch nicht an Ort und Stelle!« Der Stationsvorstand Burger, der allmählich anfing, seine Versetzung zu befürchten, zwang sich zu einer anmutigen und unbesorgten Freundlichkeit. Schnell fiel ihm das einzig passende Wort ein, und er sagte: »Die allerhöchsten Koffer sind ja endlich da, Herr Baron!« – »Da, da«, höhnte der Rittmeister, »aber eben nicht an Ort und Stelle!«

Noch eine halbe Stunde dauerte es, bevor die zweiundzwanzig wuchtigen Koffer seiner persischen Majestät verladen waren. Dann erst konnte der Baron den Bahnhof verlassen. Glücklicherweise wartete noch der Wagen, den man dem Adjutanten des Großwesirs zur Verfügung gestellt hatte. Mit einer vortrefflich gespielten Schüchternheit sprach Taittinger zu Kirilida Pajidzani: »Wenn ich bitten darf, ich möchte mich gerne anschließen, ich muß bis zu einem bestimmten Punkt ––«

Der Perser ließ ihn gar nicht weiterlügen, sondern sagte sofort: »Ich wollte Sie selbst um die Ehre bitten, Sie genau an den Punkt begleiten zu dürfen, an den Sie Ihr Dienst befiehlt!«

Sie stiegen ein. Und die Koffer rollten voran, auf drei Lastwagen, mit schweren Pingauer Schimmeln bespannt. Unterwegs erhob sich der Rittmeister, tippte dem livrierten Kutscher auf die Schulter und sagte: »Halten S’ erst bei Hornbichl!«

Der Kutscher hob zum Zeichen des Einverständnisses die Peitsche. Sie nickte Ja! in der Luft und gab noch einen leisen Knall. Erleichtert und heiter ließ sich Taittinger wieder in die Polster fallen, neben den »charmanten« persischen Kameraden.

Bei Hornbichl blieb der Wagen stehn. Der Baron ging in den Garten, hinter die Hecke rechts in den »Liebeswinkel«, wie er seit zehn Jahren schon diesen Tisch zu nennen gewohnt war. Die Frau des Kommerzialrats Kronbach wartete seit einer Viertelstunde. Zum erstenmal sah sie ihren Geliebten in der Parade-Uniform – ihre Beziehungen waren noch nicht älter als vier Monate. Der Helm mit der goldenen Rippe blendete sie, und sie vergaß alle Vorwürfe, die sie sich in den fünfzehn Minuten sorgsam zurechtgelegt hatte. »Endlich, endlich!« hauchte sie.

V

In den nächsten Tagen verließ der Rittmeister Taittinger den charmanten Kirilida überhaupt nicht mehr. Es erwies sich in diesen Stunden, daß der charmante Kirilida alles wußte, mehr als der Großwesir. Alles konnte man mit ihm besprechen. Man erfuhr zum Beispiel, daß der Großwesir dem Trunk gar nicht 111 dem Maße abgeneigt war, wie man es hätte glauben müssen. Im Gegenteil: der Großwesir neigte dazu, unaufhörlich gegen die Gesetze des Korans zu verstoßen. Innerhalb von zwei Nachmittagen wußte der Rittmeister Taittinger bei weitem mehr und Wichtigeres, als der Professor Friedländer, der bekannte Orientalist, den man als Fachberater dem Festkomitee beigegeben hatte, in seinem langen Leben erfahren konnte. Der Professor Friedländer trank nämlich nicht. Und das kam davon, wenn man nicht trinkt, dachte der Baron Taittinger.

Ach, der Professor Friedländer selbst wußte kaum noch, wo er seine Wissenschaft hintun sollte. Es fehlte nur noch wenig, und er hätte angefangen, an der Richtigkeit seines Memorandums zu zweifeln, dem doch ganz exakte, über jeden Zweifel erhabene Forschungen zugrunde gelegt waren. So erfuhr der Professor von Baron Taittinger jetzt erst, nach zwanzig Jahren Orientalistik, daß manche Mohammedaner trinken, sogar der Großwesir selbst. Sein Adjutant, der Herr Kirilida, mit dem Friedländer einmal zusammenkam, in der Gesellschaft Taittingers, hatte keine Ahnung von der persischen Literatur. Sogar vom Obereunuchen behauptete der Baron Taittinger, daß er sich heimlich von den Lakaien des Schlosses normale Bierkrügl vom Wiesenthaler vis-a-vis kommen lasse und daß er sie trinke wie etwa ein normaler christlicher Schneider. Verwirrender noch als die Erzählungen Taittingers aber waren die Artikel unbefugter Journalisten. Sie enthielten haarsträubende Unwahrheiten über das Leben in Persien und die persische Geschichte. Vergeblich bemühte sich der Professor Friedländer, den diversen Chefredakteuren durch briefliche Dementis die Wahrheit mitzuteilen. Die Folge seiner Interventionen war nur die, daß die Journalisten in sein Seminar sowie auch in seine Wohnung kamen, um Interviews über Persien zu bekommen. Die Journalisten kamen sogar in seine Vorlesungen.

Die Militärparade in Kagran störte leider ein heftiger Regen. Unter einem zugigen Zelt, dessen drei scharlachrote Leinwände denervierend klapperten, sich blähten und die Regentropfen durchsickern ließen, hielt es der Schah nicht länger als eine Viertelstunde aus. Er war kein begeisterter Anhänger militärischer Spektakel. Während er mit zerstreuten Blicken dem großartigen Galopp der Ulanen zusah, der wie eine Art gezähmten Sturms über das feuchte Grün der Wiesen dahinraste, fühlte er die unerbittlichen Wassertropfen in aufregend regelmäßigen Abständen auf seine hohe braune Pelzmütze fallen und auf den scharlachroten Kragen seiner nachtschwarzen Pelerine. Er fürchtete außerdem für seine Gesundheit. Den europäischen Ärzten traute er noch weniger als seinem jüdischen Ibrahim. Eingesperrt und umzingelt war er von fremden Generälen, die den Regen nicht scheuten, Wind und Wetter gewohnt sein mochten. Die Kavalleristen schwenkten die Säbel. Die Militärmusik schmetterte aus nassen Trompeten, donnerte auf durchnäßten Kalbfellen. Jetzt sollte noch die Infanterie kommen, hierauf die Artillerie. Nein! Er hatte genug. Er erhob sich, gleichzeitig mit ihm der Großwesir, dessen Adjutant, die ganze Suite. Der Schah verließ das Zelt, der Regen strömte, er allein bückte sich unter den nassen Schlägen, alle anderen, die er im stillen verfluchte, folgten ihm aufrecht, als gingen sie unter klarem Sonnenschein daher. Er wandte sich in die Richtung, wo er den rettenden Wagen vermutete. Mit dem sicheren Instinkt eines Gefährdeten fand er auch alsbald die Stelle, wo die Wagen warteten. Ohne sich umzusehn, stieg er ein. Alle anderen Herren ebenfalls. Auf der Tribüne übrig blieben zwei Generäle, die, vertieft in das militärische Spektakel, die Soldaten dem Schah vorzogen. Es war eine verregnete Parade. Dennoch bekamen an diesem Tage die Soldaten der Wiener Garnison Schweinebraten, Salzkartoffeln, Erbsen und Pilsner und pro Mann je ein Päckchen ungarischer Zigaretten, genannt »Schmalspurige«.

Auch am nächsten Tag regnete es, aber das hatte keine Bedeutung mehr. Denn das Schauspiel fand in der Spanischen Reitschule statt. Da man einen Tag vorher bemerkt zu haben glaubte, daß der exotische Souverän die kalte Luft nicht leiden konnte, hatte man die Loge in der Reitschule mit dicken, wirklichen persischen Teppichen gepolstert, Schirasgeweben, uralten Stoffen aus den Gemächern der Burg, dicken Kissen aus rotem Samt, und auch die Fugen an den Türen hatte man mit dünnen Lederleisten vernagelt, damit es nicht ziehe. Es herrschte nahezu eine unerträgliche Schwüle im Raum, obwohl er so weit war. Der Schah warf seine Pelerine ab. Die schwere Pelzmütze lastete fürchterlich auf seinem Kopf. Mit dem rosa seidenen Taschentuch wischte er sich von Zeit zu Zeit den Schweiß von der Stirn. Die Herren in seiner Begleitung taten das gleiche, teils, um zu zeigen, daß es auch ihnen heiß war, teils, weil ihnen wirklich heiß war. Diesmal aber verließ der Schah von Persien nicht seine Loge. Zweitausendachthundert Pferde zählte sein eigener Stall in Teheran. Ausgewählter noch und weitaus kostbarer waren sie als die Frauen seines Harems. Dort, in den Stallungen des Schahs, gab es arabische Hengste, deren Rücken leuchteten wie braunes Gold; Schimmel aus der berühmten Zucht von Jephtahan, deren Haare weich und sanft waren wie Daunen und Flaum; ägyptische Stuten, Geschenke aus dem Gehöft des mächtigen Imam Arasbi Sur; kaukasische Steppenpferde, Geschenke des Zaren aller Russen; schwere pommersche Braune, für schweres Geld gekauft beim geizigen König von Preußen; halbwilde Tiere noch, frisch geliefert aus der ungarischen Pußta, unzugänglich jeder menschlichen Hand, jedem menschlichen Zuspruch, und widerspenstig abschüttelnd die besten persischen Reiter.

Aber was waren alle diese Tiere, verglichen mit den Lipizzanern der kaiser- und königlichen Spanischen Reitschule. Die Militärkapelle, aufgebaut auf der Estrade gegenüber der kaiserlichen Loge, spielte nach der persischen Hymne das »Gott erhalte«. Ein Reiter in persischer Tracht, wie sie der Schah nur auf den Porträts seiner Ahnen gesehen hatte und niemals in Persien, eine hohe Lammfellmütze auf dem Kopf, durch die sich goldene, geflochtene, dicke Schnüre zogen, einen blauen, golddurchstickten kurzen Mantel quer über eine Schulter gehängt, in hohen, rohledernen roten Stiefeln mit goldenen Sporen, ein krummes Türkenschwert an der Seite, ritt zuerst in die Arena. Den Schimmel, auf dem er saß, zierte ein blutrotes Gehänge. Ein Herold, in weißer Seide, in weißen Eskarpins, in roten Sandalen, ging ihm voran. Alsbald begann der Schimmel, zu einer persischen Melodie, die aber dem Schah unbekannt-bekannt vorkam, sie stammte vom Kapellmeister Nechwal, wahrhaft geistreiche Bewegungen zu vollführen. In den Schenkeln, in den Hufen, im Kopf, im Hinterteil: überall wohnte die Grazie. Kein Wort, kein Laut! Keine Rede von einem Kommando! Befahl der Reiter dem Schimmel, befahl der Schimmel dem Reiter? Lautlos war es ringsum. Alle Menschen hielten den Atem an. Obwohl sie so nahe der Arena saßen, daß sie beinahe Tier und Reiter hätten greifen können, blickten sie auf das Schauspiel durch Lorgnons und Operngucker. Nicht nahe genug konnte es sein. Der Schimmel spitzte die Ohren: Es war, als delektierte er sich an der Stille. Sein großes, dunkles, feuchtes, kluges Auge musterte von Zeit zu Zeit die Herren und Damen im Ring, vertraut und stolz und prüfend –– und keineswegs Beifall erwartend wie ein Schimmel im Zirkus. Einmal nur hob er den Blick zu der Loge Seiner Majestät, des Herrn von Persien, als wollte er flüchtig zur Kenntnis nehmen, für wen er hierher beordert sei. In stolzem Gleichmut hob er den rechten Vorderfuß, leicht nur, als grüßte er einen Gleichgestellten. Hierauf drehte er sich einmal um sich selbst, weil es die Musik so zu erfordern schien. Hierauf trat er sacht mit den Hufen den roten Teppich, setzte plötzlich beim Klang der Tschinellen zu einem verblüffenden, aber edlen und noch im gespielten Übermut maßvollen Sprung an, blieb plötzlich stehen, wartete eine Sekunde lang auf den süßen Ton der Flöte, um dann, da sie endlich kam, ihr zu gehorchen und in einem zarten, geradezu samtenen Trab in lediglich angedeutetem Zickzack den Launen des Orients gleichsam nachzugeben. Eine kurze Weile schwieg die Musik. Und in dieser Zeit der Stille hörte man nichts mehr als den sachten, zärtlichen Aufschlag der Hufe auf den Teppich. Im großen Harem des persischen Schahs hatte – soweit er sich erinnern konnte – noch keine einzige seiner Frauen so viel Anmut, Würde, Grazie, Schönheit bewiesen wie dieser Lipizzaner Schimmel aus dem Gestüt seiner Kaiser- und Königlichen Apostolischen Majestät.

Ungeduldig nur wartete der Schah den Rest des Programms ab: die stille Eleganz der anderen Tiere, die ihm hierauf vorgeführt wurden; ihre graziöse Klugheit; ihre schlanken, wunderbaren, zur Hingabe, Brüderlichkeit, Liebe lockenden Leiber; ihre kräftige Milde und ihre süße Kraft: Der Schah dachte nur an den Schimmel. Er sagte dem Großwesir: »Kauf den Schimmel!« Der Großwesir eilte nach den Stallungen. Der Stallmeister Türling aber sagte mit der Würde eines kaiser- und königlichen Ministers: »Exzellenz, wir verkaufen nichts. Wir schenken nur – wenn Seine Majestät unser Kaiser es erlaubt.« Seine Majestät zu fragen, getraute sich keiner.

VI

Man erhob sich. In einer Viertelstunde begann der Ball. Im Redoutensaal warteten, in zwei Reihen aufgestellt, die Damen und Herren auf die Ankunft der Monarchen. Hie und da drang ein verschämtes Hüsteln aus der Brust eines älteren Herrn. Es war ein Hüsteln, das sich seiner selbst schämte, mehr noch als die Hustenden, die seidene Taschentücher vor die Münder hielten. Hie und da flüsterte eine Dame der andern etwas zu. Es war eigentlich kein Flüstern, es war gerade noch ein Hauchen, und dennoch klang es in dieser Stille beinahe wie ein Zischen.