Die Gewissenlosen - Caryl Férey - E-Book

Die Gewissenlosen E-Book

Caryl Férey

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Beschreibung

Um ein unschuldiges Leben zu retten, muss er sein eigenes aufs Spiel setzen ...

Mc Cash ist kein Polizist mehr, doch er trägt immer noch die Wunden seiner rauen Vergangenheit – sowohl körperlich als auch seelisch. Als ein Arzt ihm sagt, dass er bald erblinden wird, gibt es für ihn keinen Ausweg. Er beschließt, sich das Leben zu nehmen. Doch bevor er auf den Abzug drücken kann, erhält er einen Brief: Er ist der Vater der achtjährigen Alice, deren Mutter gestorben ist, und für sie verantwortlich. Als er in dem Dorf ankommt, in dem seine Tochter lebt, erfährt er, dass ein Kind tot im Fluss aufgefunden wurde. Alice ist die einzige Zeugin – und schwebt in tödlicher Gefahr …

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Das Buch

Mc Cash ist kein Polizist mehr, doch er trägt immer noch die Wunden seiner rauen Vergangenheit – sowohl körperlich als auch seelisch. Als ein Arzt ihm sagt, dass er bald erblinden wird, gibt es für ihn keinen Ausweg. Er beschließt, sich das Leben zu nehmen. Doch bevor er auf den Abzug drücken kann, erhält er einen Brief: Er ist der Vater der achtjährigen Alice, deren Mutter gestorben ist, und für sie verantwortlich. Als er in dem Dorf ankommt, in dem seine Tochter lebt, erfährt er, dass ein Kind tot im Fluss aufgefunden wurde. Alice ist die einzige Zeugin – und schwebt in tödlicher Gefahr …

Der Autor

Caryl Férey, geboren 1967, lebt in Paris. Für seine preisgekrönten Romane ist er um die ganze Welt gereist – von Neuseeland bis nach Südafrika. Sein Thriller Zulu wurde mit zehn Literaturpreisen ausgezeichnet und 2014 mit Orlando Bloom und Forest Whitaker verfilmt.

Von Caryl Férey außerdem erschienen:

Jähzorn

CARYLFÉREY

DIEGEWISSENLOSEN

Roman

Aus dem Französischen von Michaela Meßner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die französische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »La jambe gauche de Joe Strummer« bei Gallimard, Paris. Für dieses Buch wurde der Autor mit einem Stipendium des Centre national du livre gefördert.
Copyright © der Originalausgabe by Gallimard 2007 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Limes Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: plainpicture/BY JB · Herstellung: sam Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-22906-1 V002
www.limes-verlag.de

»We are accidentsWaitingWaiting to happen.«T. YORKE

Meinem alten Bruder Jacques Bouscatié, und dem jungen JB, beide überzeugte Strummerianer.

Garageland

»DASMUSSDOCH höllisch wehtun, oder?«

»Machen Sie einfach Ihren Job«, erwiderte Mc Cash.

In dem Raum roch es irgendwie nach Euthanasie.

»Schmerzmanagement gehört auch zu meiner Arbeit«, konterte der Arzt.

Mc Cash saß da, die geballten Fäuste auf dem Behandlungstisch, und ließ den Facharzt sein totes Auge untersuchen. Bonnier war sein Name. Der Erste auf den Gelben Seiten.

Der Arzt nahm einen kleinen Haftsauger, presste ihn auf die Prothese und nahm sie dann heraus. Der Geruch hatte ihn schon vorgewarnt, und die leere Augenhöhle bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.

Mc Cash verzog keine Miene. Dr. Bonnier war der erste Mensch in dreißig Jahren, der sich seine leere Augenhöhle ansah. Ein Gewehrkolben hatte ihm ein Auge ausgeschlagen. Seit dem Unfall war die rechte Körperseite für Mc Cash so etwas wie ein toter Winkel, aus dem jeden Augenblick Gefahr drohen konnte. Damit niemand auf die Idee kam, sich auf diese Seite zu stellen, hatte der Ire sich zum Zeichen der Trauer eine schwarzlederne Augenklappe und eine Leichenbittermiene zugelegt.

Seine rechte Seite beschäftigte ihn geradezu zwanghaft.

Seine rechte Seite machte ihn aggressiv.

Seine rechte Seite juckte ihn, als wäre er hirnamputiert. Als wäre seine ganze Identität auf ein einziges Stück Leder geschrumpft.

Der Augenarzt verzog das Gesicht, somit konnte er an seiner Miene das Ausmaß des Schadens ermessen.

»Kein hübscher Anblick«, sagte er und rümpfte die Nase. »Wann haben Sie Ihre Prothese denn das letzte Mal reinigen lassen?«

»Noch nie«, antwortete Mc Cash.

»Hat man Ihnen nicht gesagt, dass sie alle zwei Jahre desinfiziert werden muss?«

»Wahrscheinlich hatte ich zu viel um die Ohren.«

»Oh! Und seit wann tragen Sie die Prothese?«

»Seit 78.«

»Seit 78? Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, dass Sie schon seit über einem Vierteljahrhundert ein und dieselbe Prothese tragen und sie in der Zeit nie sauber gemacht haben?«

»Eine Mülltonne macht man doch auch nicht sauber«, erwiderte Mc Cash.

Bonnier zwirbelte seinen grau melierten Schnurrbart.

»Hierbei handelt es sich ja auch nicht um eine Mülltonne, sondern um ein Glasauge. Warum haben Sie sich denn nie darum gekümmert?«

»Hab ich doch schon gesagt: Ich hatte anderes zu tun.«

»Na hören Sie mal!«, rief er aus, »wenn alle Patienten so denken würden wie Sie, dann wären die meisten Ärzte schon in die Bestattungsbranche übergelaufen!«

»Ha, ha!«

Mc Cash, dem überhaupt nicht zum Lachen zumute war, hielt still, während der Arzt seine leere Augenhöhle auswischte. Es tat wirklich höllisch weh.

»Ich weiß nicht, was Sie beruflich machen, aber davon abgesehen, dass eine Prothese alle zwei Jahre gereinigt werden muss, sollte man sie auch alle fünf oder sechs Jahre austauschen … Das ist mehr als fahrlässig von Ihnen, Mr. Cash. Jetzt hat sich Ihre Augenhöhle natürlich entzündet.«

»Geht mir am Arsch vorbei.«

»Sind Sie immer so charmant?«

»Mit Ärzten eher selten.«

»Dabei wollen wir Ihnen nur helfen.«

»Ich will einfach keine Schmerzen mehr haben.«

Mc Cash biss die Zähne zusammen, während der Arzt eine recht eklige Kompresse aus seinem Auge zog. Das war für den Einäugigen nicht die erste Schmerzattacke; sie waren von unterschiedlicher Dauer – fünf Minuten die heftigsten, zehn Stunden die längsten. Bei letzteren schloss er sich in seinem Schmerz ein, ließ die Jalousien runter, als könnten noch andere Dämonen in seinen Schädel eindringen, und war alles vorbei, war er schlagkaputt, hatte nur noch Matsch im Kopf und fühlte sich schlimmer denn je zuvor.

Schließlich setzte der Spezialist Mc Cash das Glasauge wieder ein.

Im ersten Moment fühlte sich das irgendwie kühl an.

»So«, sagte Bonnier mit einem Seufzer, »hiermit hätten wir das schlimmste Übel behoben. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, dass Sie sich so schnell wie möglich eine neue Prothese machen lassen sollten. Ich gebe Ihnen eine Überweisung zu einem Augenprothetiker mit. Der wird für die neue Augenprothese einen Abdruck von Ihrer Augenhöhle machen. Das Ganze ist völlig schmerzlos«, fügte er hinzu, als ob das etwas ändern würde. »Lassen Sie sich von meiner Sekretärin die Adresse geben, ehe Sie gehen … Jetzt schauen wir uns mal das andere Auge an …«

Er vertiefte sich in die grüne Iris des Iren, der noch immer verkrampft am Behandlungstisch saß, richtete sich unverzüglich wieder auf und zwirbelte seinen Schnurrbart, als könnte das für die Diagnose hilfreich sein.

Bonnier schenkte ihm reinen Wein ein: Die Krankheit sei weiter fortgeschritten, Mc Cash habe bereits weitere drei Zehntel von den neun Zehnteln Sehkraft, die ihm noch verblieben waren, verloren, die Linse könne er vergessen, nebenbei gesagt tauge die auch nicht mehr viel (»Reinigen Sie die eigentlich auch manchmal?«), stattdessen solle er sich doch besser eine Brille anschaffen … Und zwar keine von den schicken kleinen aus edlem Wurzelnuss-Finish, diskrete Eleganz für Pariser Intellektuelle, nein: waschechte Butzenscheiben, das Krankenkassenmodell mit der Seriennummer hintendrauf!

»Aber wenn Sie so weitermachen«, lautete das Fazit des Augenarztes, »werden Sie schon bald erblinden, und zwar ganz …«

Mc Cash zuckte zusammen, sagte aber kein Wort. Er steckte die Augenklappe ein, rotzte seine Unterschrift auf den Scheck und warf den Wisch auf den Schreibtisch, bevor er den Raum ohne ein Dankeschön verließ. Zu einem Auf Wiedersehen konnte er sich gerade noch herablassen. Die Sekretärin vor dem Wartezimmer, die ihn freudig anstrahlte, würdigte er aber kaum eines Blickes: Sie war platt wie eine Flunder, und wie sie so strammstand, sah sie aus wie ein englischer Soldat vor seinem Wachhäuschen.

Mc Cash würde keinen Termin vereinbaren. Und auswechseln würde er auch nichts. Nicht die Prothese, und schon gar nicht die Kontaktlinse. Lieber wollte er auf der Stelle sterben: sich behandeln lassen – wozu denn das?! Um dann nackt zu sein, ohne seine Augenklappe, eine Brille quer überm Gesicht, wie einen Fernsehbildschirm?

Mc Cash ging zu Fuß nach Hause. Sein Herz ein Backstein, im freien Fall in einen tiefen Brunnen. Die verlockende Kraft des Abgrunds.

Career opportunities

WENNMANDIE Zeit, in der man lebt, verachtet, heißt das noch lange nicht, dass man die Einsamkeit liebt. Mc Cash lebte allein im letzten Stock eines Wohnblocks mit Blick auf die Bucht von Brest, wie ein Toter gefangen in seinem Kopf. Mit seinen mittlerweile einundfünfzig Jahren hatte er keinen Vornamen und keine Frau mehr. Angélique hatte sich verabschiedet wie die anderen auch. Durch die vielen Umzüge hatte Mc Cash seine Freunde verloren, all seine alten Kameraden mit den verlorenen Illusionen. Die IRA hatte offiziell die Waffen niedergelegt, die Kollegen gingen ihm gehörig auf den Sack, seine letzte Geliebte hatte ihm per SMS mitgeteilt, sie werde einen anderen heiraten, und Joe Strummer war soeben erst gestorben, hatte ihn zurückgelassen als Waisenkind einer Zeit, die sich, ganz wie seine Ex-Frau, jeden Tag ein Stückchen mehr verabschiedete.

Dabei hatte Mc Cash auf seine Art Format. Die Frauen waren verrückt nach seinem schönen Wolfsgesicht, verzehrten sich nach seinen großen Armen, viel zu groß für das bisschen Liebe, das sie zu verschenken hatten, nach seinem Winnetoulächeln, mit dem er ihnen in den Schluchten des Grand Canyon den Skalp zweier Liebesworte hinstreckte; sie sahen den wiegenden Gang, die Kraft eines erschöpften Titanen und die großen, erstaunlich sanften Hände – und schon warfen sie sich ihm zu Füßen und nannten ihn einen göttlichen Hurensohn.

Das alles hatte Angélique nicht davon abgehalten, sich aus dem Staub zu machen. Fünfzehn Jahre war das nun schon her. Noch dazu mit einem dahergelaufenen Dentisten, einem Zahnausreißer oder Verkäufer, was auch immer, eben mit einem, der ihr eine verheißungsvolle Zukunft bieten konnte. Denn seine Zukunft war aussichtslos.

Wie sein Auge.

Wie die Bucht von Brest, die sich, durch das Fenster seiner Wohnung betrachtet, im fernen Nebel verlor.

Mc Cash zündete sich eine Zigarette an, aber sie schmeckte auch nicht besser als die anderen. Unten sah man den Handelshafen mit den untätigen Kränen und den Dockarbeitern, die ihren Ausschluss aus der Gesellschaft in Bars begossen, in denen das Bier noch immer weniger als zwei Euro kostete. Hier brachte man sich billig um die Ecke. Das war der Vorteil eines Lebens in der Provinz.

Mc Cash war in Brest gelandet, als wäre es der Schlusspunkt einer aberwitzigen Flucht ans Meer, hin zu einem unerreichbaren Wilden Westen. Nach Paris und Créteil schließlich Rennes und jetzt das Ende der Welt, das Finstère, denn es bestand vor allem aus der Rue de Siam, der Nachbarschaft im Viertel Recouvrance und ein paar gemeinsamen Bierchen mit Bloas, dem Maler, einem der seltenen Fänge seiner nächtlichen Kneipentouren. Bis zur Halbinsel Crozon-Morgat war es keine Stunde mit dem Auto, einmal war Mc Cash hingefahren, aber seither nie mehr – die ganze Schönheit dort machte ihn depressiv.

Der Ire saß auf dem Sofa im Salon und starrte in den schwarzen Lauf des .38er, der zwischen Kippen und unverpackten Kondomen auf dem Tisch lag. Bald würde er blind sein; noch ein paar Monate, hatte der Arzt gesagt … Er, der Entscheidungen immer erst dann traf, wenn es keinen Ausweg mehr gab, stand jetzt wieder mit dem Rücken zur Wand, ein Gefangener seiner eigenen Vernichtungspolitik.

Vom Genießen als Überlebensmotto war ihm letztendlich nur der Nihilismus geblieben. Ein leichter Druck auf den Abzug, eine letzte Anstrengung, mehr nicht, und schon wäre alles vorbei. Was würde er hinterlassen? Eine Frau, die ihn verlassen hatte, eine Welt voller Autoverkäufer, voller Verbrecher mit weißem Kragen, denen im schlimmsten Fall eine Bewährungsstrafe drohte, lauter politische Karrieren, die den Befehlen der reaktionären Gegenoffensive gehorchten, außerdem zahlreiche vergessene Frauen und seine alten Rockplatten …

Der Seewind rüttelte an den verdreckten Fenstern der Wohnung. Mc Cash nahm die geladene Dienstwaffe in die Hand und richtete sie, ohne weiter nachzudenken, auf sein totes Auge. Alles kam wieder in ihm hoch: Belfast 1978, das Solidaritätskonzert für die Opfer des Bloody Sunday, bei dem die britische Armee das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatte, die Band The Clash, die das Feuer seiner Jugend entfachte, Mc Cash, der dabei nachhalf, dass die Flammen auf die Verwaltungsgebäude übergriffen, Strummer, der die Bretter auf der Bühne massakrierte, indem er mit seinem linken Bein wie eine Furie auf den Boden stampfte, als wollte er die Erde aufwecken und mit ihr die Männer, die darauf standen, die Schlägereien nach White Riot, die Intervention der Besatzungsarmee, die wilden Verfolgungsjagden in den Straßen, der verrauchte Pub, in den er mit klopfendem Herzen geflüchtet war, die Rothaarige mit den goldenen Augen, die ihn dorthin gelockt hatte, zwei oder drei Kontaktleute, die er in der dichten Menge wiedererkannt hatte, das Gelächter, mit dem man versucht hatte, die Angst zu überspielen, und schon ging der Abend mit ein paar Whiskys auf das Wohl des guten alten Joe weiter, »seinen Freund, seinen Bruder«, die Rockerseele einer Epoche, in der die Utopie sich nicht darauf beschränkte, die nächste Umweltkatastrophe oder Wirtschaftskrise zu überleben. So viele Bierchen wurden auf das Wohl der irischen Republik gekippt, und plötzlich hört man Türen knallen, Soldaten inspizieren den Ort, alle sind wie vor den Kopf geschlagen, haben Angst. Man hört Geschrei, Gläser zerbrechen, einige versuchen zu entkommen, einige leisten Widerstand, einige, wie er selbst, werfen sich ins Getümmel. Es hagelt Schläge, ein behelmter Blondschopf liegt zu seinen Füßen, mit blutenden Fäusten versucht er den strategischen Rückzug zum Ausgang anzutreten, dann aus dem Nichts der Schlag mit dem Gewehrblatt, der ihm die Retina zu Brei schlägt und ihn bewusstlos zurücklässt, mit gebrochenem Augenbrauenbogen, das Auge nur noch gehalten von blutigen Tränen … Die Operation, der Prozess, seine Ausweisung nach der Ermordung von Lord Mountbatten, die Ankunft in Frankreich, das Jurastudium, das er beginnt, um andere politische Flüchtlinge verteidigen zu können, die Agonie des Bobby Sand unter dem ungerührten Blick der Eisernen Lady, und dann diese Doktorandin mit den gletscherblauen Augen, deren Blick ihm durch und durch geht, Angélique, für die er alles zu tun bereit ist, angefangen damit, sich bei der Polizei einstellen zu lassen …

Ein starker Luftzug vom Meer brachte das Küchenfenster zum Klappern. Als wollte sie in den Aufruhr einstimmen, schrillte die Klingel an der Eingangstür.

Mc Cash fluchte in seiner Muttersprache – gewöhnlich verirrte sich niemand in seine Höhle – und stand auf, mit der frisch geweckten Lust, die ganze Welt dem Erdboden gleichzumachen.

Als die Klingel beharrlich weiterschrillte, riss er buchstäblich die Eingangstür heraus, sodass sie gegen die Wand krachte.

Der Postbote wich unwillkürlich zurück. Vor ihm stand ein einsachtundachtzig Meter großer Einäugiger, der ihn mit einem Revolver in der Hand blutrünstig anstarrte.

»Ich … Ich hab da ein Einschreiben für Sie«, stammelte er.

Dabei sah er fast so bescheuert drein wie der Schnulzensänger Michel Sardou.

*

MCCASHHATTE sie nur noch ungefähr im Gedächtnis: Carole hieß sie mit Vornamen.

Ansonsten erinnerte er sich nur an eine Reihe wirrer Nächte, an zirkusreife Verrenkungen im Bett, die nicht ohne Lust, aber ohne Liebe waren, und bei denen der Adrenalinspiegel so schnell wieder in den Keller ging, wie er zu Beginn in die Höhe geschossen war, offen für alles.

Carole war damals Barmädchen in einer der zahlreichen Kneipen im Stadtzentrum von Rennes. Sie trafen sich nach Geschäftsschluss, um der grauen Realität ein wenig Leben einzuhauchen, und vergaßen einander einvernehmlich, sobald der Orgasmus und das Morgengrauen gekommen waren. Mc Cash war damals vierzig und setzte seine Polizeikarriere nach seiner Scheidung mit beharrlicher Gründlichkeit in den Sand. Ihre Liebesaffäre währte, bis sie einander überdrüssig waren – das Barmädchen verschwand, ohne weitere Spuren zu hinterlassen, abgesehen von dem Abdruck ihres Hinterns auf diversen Kühlerhauben. Doch jetzt, zehn Jahre später, kehrte Carole zurück, und zwar in Form eines Briefes, dem Tor der Vergessenen, einem Einschreiben ohne Rückschein …

Warum heute? Warum gerade in diesem Augenblick? Mc Cash hatte den Brief ein zweites Mal gelesen:

Hallo Inspektor,

Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern: Rennes, Carole, das Barmädchen aus dem Chien Jaune. Wir haben ein paarmal miteinander geschlafen, 1997. Und dann haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich hab damals ein Kind bekommen, ein Mädchen. Es ist von Dir und heißt Alice.

Die Kleine hätte einen Vater wie Dich gut gebrauchen können, aber Du warst ja zu nichts bereit – das ist so Deine Art, wenn ich mich recht entsinne … Ich habe Alice erzählt, Du seist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, kurz nach ihrer Geburt, als wir schon getrennt waren. Ich bin mir sicher, dass Du das verstehst, Du hättest an meiner Stelle genauso gehandelt.

Nur ist es jetzt so: Ich bin krank. Und wenn man dem Krebsspezialisten, der mich behandelt, Glauben schenken darf, habe ich nur noch ein paar Wochen zu leben. Dieser Brief ist also mein Testament. Was Du von mir hältst, ist mir egal, aber um Alice mache ich mir schreckliche Sorgen … Zurzeit habe ich sie in einer Pflegefamilie untergebracht, doch das ist nur vorübergehend, die einzige Lösung wäre ein Heim. Die Vorstellung, sie dieser grausamen Welt auszusetzen, ist mir unerträglich. Alice hat nur noch Dich. Sie ist neun Jahre alt und sieht Dir ähnlich. Auf ihre Art ist sie ein recht außergewöhnliches Mädchen.

Ich vertraue sie Dir an. Kümmere Dich um sie. Bei Maître Pinson, dem Notar in Montauban, liegt Post für Dich, in der ich Deine Vaterschaft erkläre, zusammen mit einer Akte, die eine DNA-Analyse ermöglicht. Die Analysen werden ausreichen, um das Sorgerecht zu legalisieren.

Lass sie nicht im Stich. Ich flehe Dich an.

CAROLE

P. S. Alice ist gerade in die erste Klasse gekommen. Sie wohnt jetzt bei M. und Mme de Plabennec, ihrer Pflegefamilie in Montfort-sur-Meu, einer Kleinstadt bei Rennes. Sie sind nicht sehr reich, aber sie haben das Herz am rechten Fleck. Daher glaube ich, es geht ihr gar nicht so schlecht bei ihnen … Ich lege Dir ein Foto bei, es wurde letzten Sommer in Hoëdic aufgenommen …

Dieses Miststück!

Mc Cash hatte Angélique, seiner eigenen Frau, ihren Kinderwunsch nicht erfüllt und immer behauptet, er wolle keine Kinder, und jetzt hatte er eines mit dieser dahergelaufenen Schlampe, nur weil sie miteinander gepimpert hatten! Es stimmte zwar, dass er mit jeder ins Bett stieg, aber Carole hatte ihn heimtückisch hintergangen, und zwar nach Strich und Faden!

Mc Cash zerknüllte den Brief, knautschte ihn mit seinen übergroßen Händen, quetschte ihn mit aller Kraft zu einem Knäuel, anschließend schmetterte er den Wisch in den Papierkorb.

Der Gedanke an schwarze Revolverläufe war restlos aus seinem Kopf verschwunden, stattdessen wankte er jetzt, weil er so wütend und verwirrt war. Dass sie ihm das angetan hatte, einem Mann, der drauf und dran war, bei lebendigem Leibe zu verfaulen!

Als sie wusste, dass der Tod ihr gewiss war, hatte Carole ihn um Hilfe gebeten, ausgerechnet ihn, den schrägsten Vogel unter ihren Liebhabern, den, der für diesen Job am allerwenigsten geeignet war, und jetzt sollte er ihre Tochter retten!

»Ihre Tochter, wohlgemerkt«, brummte er, mehr tot als lebendig.

Er sank wieder aufs Sofa zurück, hing einen Moment seinen Gedanken nach, die schwarz waren und heiß wie der Teer in seiner Lunge … Durch das große Fenster im Wohnzimmer sah man die Bucht von Brest in der nebeldampfenden Gischt liegen.

Vor lauter Wut stand er auf, fischte den Brief wieder aus dem Müll und entfaltete ihn.

Er war vor drei Monaten geschrieben worden. Mittlerweile dürfte sie gestorben sein … Da bemerkte er das Foto in dem Umschlag. Es hatte etwas gelitten durch das Zerknüllen und den feuchten Kaffeefilter, aber in der Mitte erkannte man ein Mädchen im Badeanzug, das auf einem Felsen stand und in die Kamera lächelte …

*

»WASISTDENN in Sie gefahren, Mc Cash?«

»Nichts. Ich hab einfach die Schnauze voll.«

Die Oberkommissarin sah dem Leutnant fest in sein einziges Auge, doch außer den Smaragdkörnchen, die darin schwammen, sah sie nichts als Leere.

»So kurz vor der Rente die Kündigung einzureichen«, sprach sie weiter, »das ist einfach völlig bescheuert!«

»Besser spät als nie.«

Mc Cash, der keine Lust mehr hatte, sich zu rechtfertigen, lächelte, als sei das die alltäglichste Sache der Welt.

»Jetzt stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind«, regte seine Vorgesetzte sich auf. »Warten Sie wenigstens die vier restlichen Jahre noch ab.«

»Keine Zeit mehr.«

»Haben Sie es eilig?«

»Ja.«

»Das ist doch kein Grund, einfach so das Handtuch zu werfen«, regte seine Vorgesetzte sich auf. »Sie könnten in den Vorruhestand gehen, haben Sie daran schon mal gedacht?«

»Das Denken habe ich schon vor einer ganzen Weile aufgegeben.«

»Zu Unrecht: Es hilft.«

»Pfff.«

Der Ire rückte die Augenbinde zurecht, die ihm quer übers Gesicht lief, und wischte die Träne fort, die ihm aus der Prothese lief. Eine gelbliche Träne. Das Säubern durch den Augenarzt hatte auch nicht viel gebracht …

»Sie sind schon ein arger Dickschädel!«, sagte sie, an ihrem Schreibtisch sitzend. »Sagen Sie mir lieber, was mit Ihnen los ist.«

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Das würde Ihnen guttun.«

»Aber Ihnen nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass Sie mich nicht retten können.«

Enttäuscht verzog die Frau das Gesicht.

»Steht es so schlimm um Sie?«

»Noch schlimmer«, spottete Mc Cash.

»Na dann«, seufzte sie, »würde ich nicht gern mit Ihnen tauschen.«

»Ich auch nicht.«

Sein Lächeln widerte sie an.

Die Kommissarin konnte Mc Cash gut leiden, obwohl er sich eigentlich immer zu sehr gehen ließ. Ein Sturkopf, wie es heute kaum noch welche gab, aber ein Polizist von unbestreitbarer Effizienz. Wenn er nur die Hände vom Cannabis lassen und keine Abstecher mehr in die Bars am Hafen unternehmen würde, wo es sogar den Hafenarbeitern die Sprache verschlug, sobald er sich blicken ließ … Verdorben war er, aber unglaublich verführerisch …

»Hören Sie doch auf mit dem Theater, Mc Cash. Was ist los? Hat eine Frau Ihnen den Kopf verdreht?«

»Oha!«

»Was dann?«, fragte sie gereizt.

»Hören Sie, ich bin hier, weil ich Ihnen meine Kündigung geben wollte, nicht, um mich aufs Sofa zu legen«, sagte er und betrachtete ihre hübschen Sommersprossen. »Es sei denn, Sie legen sich dazu …«

Es war dem Iren nie gelungen, mit seiner Vorgesetzten zu schlafen. Am Ende ärgerte ihn das. Und sie auch.

»Scheren Sie sich zum Teufel«, sagte sie.

Mc Cash lachte hämisch, doch dieses Epitaph aus ihrem Mund hinterließ einen erdigen Nachgeschmack.

Police on my back

EINPÄCKCHENAFRIKANISCHES Gras, ein Kulturbeutel, Kaugummi mit Chlorophyllgeschmack, drei Schachteln Morphinsulfat, zwei Bleistifte, ein paar alte Platten, ein aus dem Kommissariat entwendeter, unregistrierter Revolver Kaliber .38 Spezial, ein paar Klamotten – Mc Cashs ganzes Leben passte in eine Tasche.

Durch das Fenster im Wohnzimmer sah man, wie die teerschwarze Bucht die Kräne im Hafen und die gespenstisch kleinen Arbeiter verschluckte. Mc Cash ließ alles stehen und liegen, schloss die Wohnungstür mit einem Knall und ging hinunter zur Concierge im Erdgeschoss.

»Sie wollen verreisen?«

»Nein, ich ziehe aus. Hier, die Schlüssel. Und sagen Sie den Arschlöchern von der Hausverwaltung, sie könnten mich mal mit ihren Kündigungsfristen.«

Er überquerte den nassen Parkplatz, warf die halbleere Tasche auf den Rücksitz des BMW und verließ Brest genauso wie die anderen Städte auch: ohne große Hoffnung, aber auch ohne großes Bedauern.

Seine Illusionen hatten sich vom Acker gemacht, ohne Ziel. Das gelobte Nichts – ab jetzt bitte ohne ihn. Bei der Geschwindigkeit, mit der sein Sehvermögen schwand, blieben ihm nur noch ein paar Monate. Vielleicht würde sein Todeskampf dem von Carole ähneln, aber er würde niemandem mehr einen Brief schreiben können: Seine alte Mutter war zwei Monate nach seinem Vater aus dem Leben geschieden, und der Rest der Familie war – wenn nicht bereits verstorben – alkoholabhängig oder katholisch, manchmal auch beides zusammen. Er konnte auf niemanden bauen, das war so gewiss wie die Tatsache, dass auch niemand jemals auf ihn bauen könnte.

Mc Cash fuhr auf der Vierspurigen von Morlaix, einen Joint zwischen den Lippen, und folgte den Lichtbahnen der Autos, die vor ihm durch den Regen flitzten.

What the hell is wrong with you

Go to do things you are supposed to do

What’s my name?

What’s my name!

Strummer schrie sich aus dem CD-Spieler seines BMW, der auch so langsam in die Jahre kam, vergeblich die Seele aus dem Leib. Der Ire klebte auf der zähen Melasse der Zentral-Bretagne fest und schlug kaum den Takt mit. Als das Cannabis zu wirken begann, stellte er sich vor, wie er Angélique einen testamentarischen Brief hinterließ, einen Brief, in dem er ihr sagte, wie leid es ihm tue, nicht noch einmal mit ihr schlafen zu können, einen anderen, in dem er ihr schrieb, wie froh er sei, dass er weit weg von ihr ins Gras beißen würde usw. Gleich neben der Brücke von Morlaix aß er eine Crêpe mit Schinken, Käse und Ei und sah den Zügen gelassen beim Vorbeifahren zu.

Einen Fabrik-Calvados später stieg er wieder in seine altersschwache Karre.

Eine Lichtung schnitt das Grau in zwei Teile. Einen Schlussstrich ziehen. Wie einfach die Dinge letzten Endes waren und wie kompliziert die Beweggründe … Als ein Lastwagen ihn überholte und bei diesem Manöver einen ganzen Schwall schmutziger Brühe auf die Scheibenwischer kotzte, fiel Mc Cash überhaupt erst auf, dass er auf der rechten Spur herumzuckelte. Er war gerade an Saint-Brieuc vorbeigefahren. Dann sah er rechts die Ausfahrt: Montfort-sur-Meu … Was für ein Name!

*

LECOSECWAR das ehemals moderne Gebäude, das als Sporthalle diente. Die Gesamtschule lag auf der anderen Straßenseite, hinter hohen Tannenhecken, welche die um diese Jahreszeit verwaist daliegenden Tennisplätze vor dem Wind schützten.

Mc Cash hatte sich diesen Umstand zunutze gemacht und sich zwischen die Nadelbäume gezwängt. Es war Samstagnachmittag: Wenn er die Zweige beiseiteschob, konnte er die Schüler aus der Schule kommen sehen. Sie kamen in Wellen aus dem Gebäude, trugen alle, oder fast alle, einen Trainingsanzug und strotzten nur so vor Hormonen, was die meisten zu Volldeppen mutieren ließ. Mc Cash hockte zwischen den Nadelbäumen und beobachtete sie, das Foto des Mädchens in der Hand – das, auf dem sie im Badeanzug posierte – , und fragte sich, ob er sie unter dieser Schar aufgedrehter Schüler wiedererkennen würde.

Eine Horde größerer Jungs, lauter ausgemachte Hohlköpfe, liefen über den Gehsteig, grölten lauthals und rissen einander die Mützen vom Kopf, während die Mädchen in einer dichten Traube an ihnen vorbeiliefen, vermeintlich taub gegenüber ihren Affenpossen. Aus der Fahrradgarage hörte man das Auspuffknallen der Motorroller, einige legten einen Hinterradstart hin, dabei verlor einer der Jungs die Kontrolle über sein Gefährt und wäre um ein Haar über das Gesicht seines Kumpels gefahren, was eine Lachsalve auslöste … Als er sie endlich entdeckte, ging ein kaum spürbarer Nieselregen nieder. Sie war höchstens einen Meter vierzig groß, trug einen blassblauen Anorak und einen Ranzen auf dem Rücken. Im Vergleich zu den hochgeschossenen Kerlen, die vor dem Gitterzaun entlangparadierten, wirkte sie winzig, aber ihr Haar war genau wie auf dem Foto, hellbraun, es fiel ihr bis auf die Schultern, sie war zierlich, hatte zwei Augen – und damit keinerlei Ähnlichkeit mit ihm selbst.

Er bewegte sich in der Hocke einen Schritt auf sie zu, dann wich er zurück, weil die Aufsicht kam. Eine andere Schülerin begrüßte sie und rief sie beim Namen. »Alice« … Es gab sie also wirklich.