Die Gilde der Kartenmacher (Die magischen Gilden, Band 2) - Abenteuer aus Tinte und Magie - Tamzin Merchant - E-Book

Die Gilde der Kartenmacher (Die magischen Gilden, Band 2) - Abenteuer aus Tinte und Magie E-Book

Тамзин Мерчант

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Beschreibung

Uralte Handwerkskunst und streng gehütete Geheimnisse! Wenn Cordelia bloß die mysteriöse Karte entschlüsseln könnte, die ihr Vater ihr hinterlassen hat! Bestimmt würde sie ihn dann endlich finden und allen beweisen können, dass er noch am Leben ist. Da stößt die junge Hutmacherin auf eine Bibliothek voller mächtiger Gegenstände und erfährt, dass ihr Vater Mitglied der geheimen Gilde der Kartenmacher war. Cordelia soll nun seine Nachfolge antreten, denn nicht nur die Bibliothek, sondern die gesamte magische Welt schwebt in großer Gefahr. Ist sie dieser Aufgabe gewachsen? Band 2 der magischen Gilden In dieser spannenden Abenteuerreihe voller Magie und Mode nimmt eine mutige Heldin ihr Schicksal selbst in die Hand und gibt niemals auf. In dem bezaubernden Setting im historischen London wird das Thema Fashion mit dem beliebten Do it yourself-Trend und geheimnisvoller Handwerkskunst kombiniert – wunderschöner Lesestoff mit vielen hochwertigen Schwarz-Weiß-Illustrationen für Kinder ab 10 Jahren. Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Kapitel 1 – Cordelia Hatmaker folgte …

Kapitel 2 – Wo treibst du …

Kapitel 3 – Von Ehrfurcht ergriffen …

Kapitel 4 – Vor Cordelia stand …

Kapitel 5 – Obwohl das Warenhaus …

Kapitel 6 – Die vier Handschuhmacher …

Kapitel 7 – Die Menge war …

Kapitel 8 – Die leere Schlinge …

Kapitel 9 – Cordelia schreckte aus …

Kapitel 10 – Ich habe gehört, …

Kapitel 11 – Witloffs Glasuhr schimmerte …

Kapitel 12 – Den ganzen Abend …

Kapitel 13 – Es war eine …

Kapitel 14 – Quecksilber und Scheiterhaufen!« …

Kapitel 15 – Mitten in der …

Kapitel 16 – Vom Deck in …

Kapitel 17 – Der Tunneleingang schrumpfte …

Kapitel 18 – Bevor der Fleet …

Kapitel 19 – Cordelia war wie …

Kapitel 20 – Zurück auf der …

Kapitel 21 – Das Schokoladenhaus Sargasso …

Kapitel 22 – Der Tower war …

Kapitel 23 – Mehrere Straßen vom …

Kapitel 24 – Cordelia führte Goose …

Kapitel 25 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 26 – Im allerletzten Moment …

Kapitel 27 – Das war eine …

Kapitel 28 – Ein Schatten legte …

Kapitel 29 – Der mit Seegras …

Kapitel 30 – Der dunkle Umriss …

Kapitel 31 – Der Wind trug …

Kapitel 32 – Großtante Petronella hatte …

Kapitel 33 – Etwas Düsteres kreiste …

Kapitel 34 – Unter ihnen verschwammen …

Kapitel 35 – Cordelia redete leise …

Kapitel 36 – Der flammengesichtige Kartenmacher …

Kapitel 37 – Es war ein …

Kapitel 38 – Es dauerte mehrere …

Kapitel 39 – Wie bereits zwei …

Kapitel 40 – Gilden, zur Einheit …

Kapitel 41 – Prospero Hatmaker war …

Kapitel 42 – Lüg mich nicht …

Kapitel 43 – Die Ranken rollten …

Kapitel 44 – Die Harpyie stieß …

Kapitel 45 – Mehrere Abende später …

Epilog

Glossar

Neue Karten, die vom Besitzer dieses Buches entdeckt wurden

Danksagung

Kapitel 1

Cordelia Hatmaker folgte einem Stern.

Der Nordstern hing über dem dunklen Gedränge des nächtlichen Londons – außer Reichweite, doch niemals außer Sicht. Nicht einmal die Rauchschwaden, die aus den Schloten der Stadt aufstiegen, konnten die Strahlkraft von Polaris dämpfen.

Cordelia fühlte sich, als versuchte sie, ein Lied mit den Händen einzufangen. Sie war dem Stern von ihrem Zuhause, dem Haus der Hutmacher in der Wimpole Street, bis zu den Kais nahe der Kirche St.Katherine’s gefolgt. Rings um sie herum knarrten und schaukelten seetüchtige Galeonen, deren Tauwerk sich wie schwarze Spitze gegen den Himmel abzeichnete.

Im dahinplätschernden Wasser der Themse schimmerte Polaris’ Spiegelbild wie eine Münze, die auf den Grund gefallen war. Auf der Karte, die Cordelia in den Händen hielt, zwinkerte ihr derselbe Stern in silberner Tinte zu.

Zwischen den drei Varianten des gleichen Gestirns erahnte Cordelia ein Geheimnis, von dem in einer Sprache geflüstert wurde, die sie nicht verstand.

»Wohin soll ich gehen?«, fragte sie in schlichtem Englisch.

Nicht zum ersten Mal stellte sie diese Frage und nicht zum ersten Mal funkelte der Polarstern zur Antwort nur geheimnisvoll vom Himmel.

Allerdings war es das erste Mal, dass aus der Dunkelheit eine raue, kehlige Stimme ertönte. »’nen hübschen Schatz ham Se da, Missy.«

Ein Schatten torkelte auf sie zu. Cordelia wich so hastig zurück, dass sie beinahe von der Ufermauer gestürzt wäre. Eine Hand schnellte vor und riss sie nach vorn. Plötzlich erschien nur wenige Zentimeter von ihrer Nase entfernt ein knurrender Mund.

»Her damit!«

Cordelia würgte, als ihr schaler Bieratem entgegenschlug. Vor ihr stand ein Matrose, der nach Alkohol stank und die gelben Zähne zu einem Grinsen bleckte. Er war so nah, dass seine Bartstoppeln Cordelia am Kinn kratzten.

»Iiih!« Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch er packte ihren Arm.

»Her damit«, nuschelte er noch einmal.

»Das ist nur ein Stück Papier!«, keuchte Cordelia und wedelte mit der Karte. »Nichts wert!«

Das war gelogen. Die Karte gehörte zu den wertvollsten Dingen in ihrem Besitz. Obwohl sie noch nicht herausgefunden hatte, was darauf verzeichnet war, wusste sie, dass Karten für gewöhnlich zu einem Schatz führten. In diesem Fall hoffte sie, besagter Schatz wäre ihr Vater. Kapitän Hatmaker hatte die Karte in einem Fernrohr versteckt, als sein Schiff am Untergehen war, und sie dem Schiffsjungen Jack Fortescue anvertraut – der, soweit man wusste, das Unglück als Einziger überlebt hatte.

Für dich. Von ihm, hatte der noch immer verstörte Jack geflüstert, als er Cordelia das Fernrohr übergeben hatte.

Die JOLLY BONNET war vor fast zwei Monaten gesunken und mit ihr war auch Cordelias Vater verschwunden. Der Großteil der Familie Hatmaker glaubte, er sei mit seinem Schiff untergegangen, doch Cordelia wollte das – konnte das – nicht glauben.

Mehrere Tage hatte es gedauert, bis Cordelia in einem Versteck im Fernrohr gefunden hatte, was auf den ersten Blick ein leeres Blatt Papier zu sein schien. Erst nach einigen weiteren Tagen hatte sie herausgefunden, dass es sich dabei in Wahrheit um eine Karte handelte, gezeichnet mit einer Tinte, die nur im Sternenlicht sichtbar wurde. Diese Entdeckung hatte Cordelia in ihrer Überzeugung bestärkt: Ihr Vater war am Leben – und er brauchte ihre Hilfe.

Nur leider war diese Karte ein echtes Rätsel. Zunächst einmal warteten normale Karten mit hilfreichen Bezeichnungen auf. Diese Karte zeigte eine Art Rondell, von dem acht Straßen abzweigten, die wiederum umgeben waren von einem Irrgarten aus kleineren Wegen. Doch nichts von alldem war beschriftet. Themse war auf der gesamten Karte der einzige eingetragene Name, begleitet von kleinen Wellenlinien aus silberner Tinte, die den Fluss darstellen sollten. Und direkt daneben befand sich in der Ecke rechts unten ein X. In die Biegung der gegenüberliegenden Straße hatte jemand ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen, einem krausen Bart und einem runden Mund gemalt, dem Windböen entwichen: der Nordwind. Und neben ihm schimmerte Polaris, als oberste Spitze des Sternbilds Kleiner Bär.

Wenigstens wusste Cordelia, dass es sich bei dem Fluss um die Themse handelte. Dummerweise erstreckte sie sich über viele Kilometer, und obwohl Cordelia bei ihrer Suche methodisch vorgegangen war (bei der Westminster Bridge hatte sie angefangen und sich von dort aus langsam Richtung Osten vorgearbeitet, sodass sie den Nordstern immer im Blick behielt), hatte sie weder einen Hinweis auf das Rondell noch auf die Straßenkrümmung gefunden, in welcher der Nordwind blies. Richtung Westen floss die Themse bis nach Oxford. Nach Osten strömte sie bis ins Meer. Bei Cordelias aktuellem Tempo würde es Jahre dauern, den Ort zu finden, nach dem sie suchte.

Und damit nicht genug der Rätsel, stand am Rand der Karte außerdem in verschnörkelten Buchstaben ein von Hand geschriebenes Rätsel:

Zur Windrose, darunter fließt

Im Geheimen der Schnelle Fluss.

Dem Nordwind dreh den Rücken zu und folge ihm nach Süden,

Dort wirst du finden des verborgenen Schlundes Guss.

Dann war da noch die Zeile, die ihr Vater in seiner energischen Schrift auf die Rückseite geschrieben hatte:

Sieh zu den Sternen.

Seit sie die Karte entdeckt hatte, war Cordelia in jeder sternenklaren Nacht leise wie ein Schatten aus dem Haus geschlüpft, um auf der Jagd nach dem beschriebenen Ort durch London zu streifen.

Bisher hatte Cordelia Glück gehabt – bisher hatte sie Ärger stets vermeiden können. Dem spitzen Ende einer Klinge war sie nie begegnet.

Bis zur heutigen Nacht.

Der Blick des Seemanns glitt über die Karte. Da er zu viel Grog getrunken hatte, wirkte er selbst einigermaßen groggy.

»Papier?«, murmelte er. »Dasss bringt mir ken Geld ein.«

»Ganz genau«, sagte Cordelia in der Hoffnung, selbstbewusst zu klingen – und nicht, als hätten sich ihre Beine in Zitteralgenblätter verwandelt, die jeden Moment unter ihr einzuknicken drohten. »B-bitte lassen Sie mich gehen und ziehen Sie einfach weiter, Sir.«

»Aber wassn das da?« Durch zusammengekniffene Augen musterte der Matrose den Anhänger um ihren Hals. In seinen Blick trat ein gieriges Funkeln.

»Nein!«, keuchte Cordelia.

Der Anhänger war das zierliche Gehäuse einer Seeschnecke. In sein Inneres war ein Porträt von Cordelias Mutter gemalt – so klein wie eine Schneeflockenblüte, dennoch mit so vielen Details, dass man sogar die einzelnen Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen konnte. Cordelia war erst wenige Wochen alt gewesen, als ihre Mutter bei einem Unwetter auf See ums Leben gekommen war. Ihr Vater hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie ihrer Mutter sehr ähnelte, doch dieses Bild war der einzige Beweis dafür, dass es stimmte.

Abgesehen von der Karte, war der Anhänger bei Weitem das Wertvollste, das Cordelia je besessen hatte. Ihre Eltern waren im Abstand von mehreren Jahren beide auf dem Meer zurückgeblieben. Ihre Schiffe waren von der zermalmenden Umarmung zweier Stürme erfasst und zu Treibholz verarbeitet worden. Cordelia würde nicht zulassen, dass ein betrunkener Seemann ihr auch nur einen der Schätze raubte, die sie noch mit ihrer Mutter und ihrem Vater verbanden.

Wie zu Krallen krümmte sie ihre Finger und schlug nach dem Gesicht des Fremden. Einen wütenden Schmerzensschrei und einen heftigen Kampf später fand sich Cordelia über der Themse baumelnd wieder.

»Klappe, sonst schmeiß ich dich rein«, zischte der Seemann.

Nur sein Finger, den er in die Kette des Anhängers verhakt hatte, bewahrte Cordelia davor, ins schwarze Nass des Flusses zu stürzen. Mit den Zehen klammerte sie sich an die Kante des Kais.

»Bitte …« Sie bekam kaum noch Luft.

Der Matrose zog ein kurzes Messer. Es funkelte bösartig, als hätte es eine knifflige Frage zu stellen. Einen Augenblick meinte Cordelia, ihr Ende sei gekommen – dann begann der Mann, an der Kette zu säbeln.

Es dauerte nur Sekunden, bis sie riss. Geistesgegenwärtig griff Cordelia mit einer Hand nach dem Anhänger und mit der anderen nach dem Bart des Seebären. Erleichtert stellte sie fest, dass der Bart dem Gewicht einer Elfjährigen tatsächlich standhielt.

Der Mann brüllte verdutzt auf, als er von seinem eigenen Bart in die Tiefe gerissen wurde, während Cordelia sich zur Seite warf wie eine Waldarbeiterin, die einem umstürzenden Baum auswich.

Mit dem Oberkörper landete sie auf dem Kai, ihre Beine jedoch baumelten ohne jeden Halt.

»Das war knapp!«

Zwei Sekunden später …

PLATSCH!

In den Tauen über ihr wurde schallendes Gelächter laut, das wie das Geschrei eigenartiger Nachtvögel klang.

»Gut gemacht, Miss!«

»Der hatte ein Bad bitter nötig!«

Cordelia zog sich auf den Kai und spähte über die Kante zum Fluss hinab. Das Spiegelbild des Nordsterns dümpelte auf den Wellen. Dann verkündete eine Salve aus Flüchen, dass der Matrose wieder an die Wasseroberfläche gekommen war.

»Besser Sie haun ab – bevor der wieder an Land kommt!«, riet ihr eine vor Lachen japsende Stimme aus den Tauen.

Als Cordelia prüfend die Finger öffnete, blickten sie aus dem Schneckenhaus die Augen ihrer Mutter entschlossen an und sie atmete erleichtert auf.

Schneller als ein Lunarhase bei Vollmond floh sie von den Docks und hörte erst wieder auf zu rennen, als sie die London Bridge erreicht hatte.

Als Cordelia taumelnd anhielt, graute der Himmel im Osten bereits. Sobald sie sicher war, dass der Matrose ihr nicht auf den Fersen war, steckte sie das Gehäuse mit der kaputten Kette in eine ihrer Innentaschen. Anschließend stellte sie sicher, dass auch sonst niemand in der Nähe war, und breitete dann die Karte aus. Die Linien darauf schimmerten silbrig im letzten Licht, das die Sterne noch verströmten.

Cordelia betrachtete sie aufmerksam.

Wenn sie dieses Rätsel nur lösen könnte – bestimmt würde das ihre Suche erheblich erleichtern. Doch wie oft sie es auch durchlas, die Bedeutung wollte ihr nicht klar werden.

Zur Windrose, darunter fließt

Im Geheimen der Schnelle Fluss.

Dem Nordwind dreh den Rücken zu und folge ihm nach Süden,

Dort wirst du finden des verborgenen Schlundes Guss.

Sie vermutete, dass mit dem ersten Teil des Verses ein Gasthaus gemeint war. Allerdings schien es in ganz London keine Taverne, keine Kaffee- oder Teestube zu geben, die sich »Zur Windrose« nannte. Sie hatte eine Schenke unter die Lupe genommen, die »Zur Rosenkrone« hieß, hatte sich bei einem Etablissement voller kecker und johlender Damen namens »Zur Dornrose« umgesehen und war vom Fenster des Schokoladenhauses »Zur Rankenden Rose« fortgejagt worden. Doch einen Ort, der »Zur Windrose« hieß, hatte sie nicht gefunden.

»Und ein schneller Fluss, der ein Geheimnis ist?«, sagte sie zum tausendsten Mal in der Hoffnung, einen neuen Sinn darin zu entdecken.

Ratlos spähte Cordelia über das Steingeländer der London Bridge. Die Themse unter ihr zuckte im Vorüberziehen gemächlich mit den Schultern.

»Du bist jedenfalls kein schneller Fluss«, sagte sie zum Wasser. »Und ein Geheimnis bist du definitiv auch nicht. Ich kann dich auf der Karte deutlich sehen – tatsächlich bist du das Einzige, bei dem ich mir sicher bin.«

Und wie drehte man dem Nordwind den Rücken zu, um ihm nach Süden zu folgen? Wehte er Richtung Süden? Bis wohin? Sollte sie sich einen weiten Umhang umlegen, in dem sich der Wind verfangen und sie mit sich tragen konnte?

Sie drehte die Karte um und betrachtete stirnrunzelnd die Notiz ihres Vaters:

Sieh zu den Sternen.

Sie schaute zu, wie die Worte verblassten, während auch die Sterne über ihr verblassten. Eine weitere Nacht war vergangen und die Karte war noch immer so rätselhaft wie beim ersten Mal, als Cordelia sie entrollt hatte. Ihr Herz, in dem bei ihrem Aufbruch von zu Hause die Hoffnung nur so gelodert hatte, fühlte sich an wie ein verbranntes Streichholz.

Mit wunden Füßen und wundem Herzen schlurfte Cordelia durch die graue Dämmerung nach Hause.

Die Karte war wie eine Frage, die ihr Vater an sie richtete – und sie musste die Antwort finden.

Kapitel 2

Wo treibst du dich eigentlich nachts rum?«, erklang eine Stimme, heller als das Sonnenlicht.

Cordelia erwachte und fand über sich ein Paar brauner Augen, die sie anblinzelten. »Aaah!« Erschrocken setzte sie sich auf.

Sam Lightfinger hüpfte ans Fußende des Betts, musterte Cordelia und grinste verdächtig.

»Wie kommst du denn darauf, dass ich nachts weg bin?«, fragte Cordelia und zog sich die Decke bis ans Kinn, um zu verbergen, dass sie noch immer die Sachen vom Vortag trug.

»Also, erstens hast du noch die Sachen von gestern an«, sagte Sam. »Und zweitens hab ich gehört, wie du dich reingeschlichen hast, als die Sonne grad aufging – schon wieder.«

Cordelia war begeistert gewesen, als Tante Ariadne erlaubt hatte, dass Sam bei ihnen wohnte. Allerdings war es manchmal etwas unpraktisch, dass im Zimmer unter ihr nun jemand schlief, der so gute Ohren hatte. Egal, wie leise Cordelia auftrat, Sam entging ihr Kommen und Gehen nie. Bevor Sam ins Heim der Hutmacher gezogen war, hatte sie auf der Straße gelebt und sich allein durchschlagen müssen, nachdem ihr Bruder mit einem Gefängnisschiff fortgeschickt worden war. Cordelia und Sam waren dicke Freundinnen geworden und Cordelia teilte mit Sam nur zu gern all ihren Besitz. Woran sie Sam jedoch nicht Anteil haben lassen wollte, war die Wahrheit über ihre nächtliche Suche entlang der Themse …

»Das hast du sicherlich g-geträumt«, meinte sie, musste aber beim Wort »geträumt« auf einmal herzlich gähnen, wodurch ihre Antwort an Überzeugung einbüßte.

»Ich mein’s ernst, Cor«, sagte Sam. »Du bist nich ausgebufft genug. Da draußen gibt’s Leute, die könnten dir echt gefährlich werden.«

Schlagartig fiel Cordelia alles wieder ein: die Anlegestelle, der Seemann, die Kette!

Sie wühlte sich durch Decken und Klamotten, um an ihre Innentasche zu gelangen. Endlich zog sie die Kette hervor: Sie war in Sicherheit. Als Cordelia das Gesicht ihrer Mutter sah, das so winzig in ihrer Hand ruhte, schluchzte sie vor Erleichterung kurz auf.

»Was’n damit passiert?«, fragte Sam und nickte zu der kaputten Kette.

»Nichts.«

Doch Sam war schnell – und schnappte sich den Anhänger. »Mit ’nem Messer durchgeschnitten«, stellte sie ernst fest. »Nächstes Mal könnte so ’ne Klinge an deinem Hals enden.«

»Sag so was nicht!«, rief Cordelia. »Das ist ja schrecklich!«

»Stimmt«, sagte Sam. »Das is schrecklich. Du solltest ehrlich nich allein um die Häuser zieh’n.«

Sam reichte ihr die Kette zurück und schaute Cordelia lange und durchdringend an, während diese sich ohne Erfolg an einer Unschuldsmiene versuchte.

Schließlich grinste Sam. »Von mir aus. Sag’s mir eben nich. Aber wenn du morgens nich aus den Federn kommst, ess ich den Toast ganz allein auf!«

Sie rannte durch Cordelias Zimmer und verschwand durch die Falltür nach unten.

»Halt!« Cordelia sprang aus dem Bett. »Lass mir was übrig!«

Sie verstaute den Anhänger sicher unter ihrem Kissen, schlüpfte aus den Kleidern von gestern, schnappte sich frische und eilte Sam hinterher.

Als sie in der Küche ankam, war sie mehr oder weniger angezogen.

Cordelias Familie saß am großen runden Eichentisch und Sam langte bereits fleißig zu. Auf ihrem Teller türmte sich ein Stapel Toasts, der bis an ihre Nasenspitze reichte. Tante Ariadne aß gerade den Rest ihres Haferbreis auf und Großtante Petronella, die in ihrem großen Lehnstuhl am Feuer hockte, ließ einen dicken Hefekuchen anbrennen, den sie auf eine Toastgabel gespießt hatte. Sie aß wie ein Vogel – in winzigen Häppchen.

Als Cordelia ins Zimmer platzte, nahm Onkel Tiberius gerade seinen letzten Schluck Tee zu sich.

»Hast du Schlummergras in deine Schlafmütze genäht, Dilly?«, neckte er sie. »In letzter Zeit bist du eine richtige Langschläferin!«

Cordelia lächelte unschuldig, während die Köchin ihr eine große Tasse Tee mit Milch und Honig eingoss.

»Denk an den Unterricht bei deiner Großtante heute Vormittag, Cordelia«, sagte Tante Ariadne. »Und dann brauchen wir dich auch bald im Atelier. Bevor der Laden öffnet, gibt es noch eine Menge zu tun.«

Cordelia nickte und nahm sich von den Eiern.

»Und vergiss nicht Sams Unterricht«, ergänzte Tante Ariadne. »Du bringst ihr die wichtigste Magie von allen bei.«

»Lesen und Schreiben is Magie?«, fragte Sam, den Mund voller Toast.

»Und ob! Lesen lernen ist wie zu lernen, wie man Feuer entfacht: Es wird deinen Weg durchs Leben erleuchten.« Tante Ariadne ließ Cordelia und Sam darüber nachdenken, während sie selbst gemeinsam mit Onkel Tiberius nach oben eilte, um mit der für heute geplanten Arbeit an den Hüten zu beginnen.

Sam schlang einen letzten Bissen Toast herunter, doch Cordelia fehlte der Appetit. Zwei Monate waren vergangen, seit Prospero bei dem Schiffsunglück verloren gegangen war. Ohne die fröhliche Sam wäre das Haus der Hutmacher erfüllt von düsteren Schatten. Sams Sonnenschein vertrieb die Dunkelheit.

Seit Sam bei den Hatmakers eingezogen war, weigerte sie sich gut gelaunt, Kleider zu tragen, hatte aber noch keine einzige Mahlzeit abgelehnt. Cordelia freute sich über das neue Grübchen, das immer dann auf Sams Wange erschien, wenn sie lächelte.

Cordelia hatte ihrer Familie nichts von der Sternenlichtkarte erzählt, die ihr Vater ihr geschickt hatte. Sie wollte ihnen keine falschen Hoffnungen machen, für den Fall, dass diese Karte nur in eine Sackgasse führen sollte. Die anderen hatten die Hoffnung längst aufgegeben und waren überzeugt, dass Prospero Hatmaker ertrunken sein musste. Nur Cordelia hing ihren Tagträumen nach, in denen sie ihren Vater fand und nach Hause brachte. Sie stellte sich vor, wie er durch die Haustür trat, sah in das glückliche Gesicht ihrer Tante, die Freudentränen ihres Onkels …

»Jones! In den Alchemiesalon!«, rief Großtante Petronella und schwenkte ihre Toastgabel wie ein Schwert. »Zeit für den Unterricht!«

Jones steckte den Kopf zum Küchenfenster herein. Er war der Kutscher der Hatmaker und außerdem (zumindest nannte Großtante Petronella ihn schelmisch so) »Träger der uralten Maid«. So lange Cordelia denken konnte, hatte Petronella ihren Lehnstuhl schon nicht mehr verlassen, sondern wurde immer nur von Jones von einem Zimmer ins andere getragen, wobei ihm oft weitere Mitglieder des Haushalts zur Hand gingen.

Heute nahmen Cordelia und Sam je einen Arm (des Lehnstuhls, nicht der Großtante), um Jones dabei zu helfen, sie die Wendeltreppe hinaufzuwuchten.

Der Alchemiesalon wurde von unzähligen winzigen Lichtern erleuchtet, als hätte jemand eine Handvoll Paradiessamen im Zimmer verstreut: Im breiten Fenster hing eine Sammlung von Kristallen, die über alles im Raum einen wie Diamanten funkelnden Teppich ausbreiteten.

»Ah! Hervorragend!«, krächzte Großtante Petronella, als ihr Stuhl neben dem flackernden zartlila Feuer abgestellt wurde. »Die Himmelsfeuerkristalle brechen das Sonnenlicht wirklich hübsch!«

Jones schlüpfte aus dem Zimmer, während Cordelia Sam anwies, sich mit Feder und Tinte an einen Tisch zu setzen. Sie schrieb das Alphabet auf ein weißes Blatt Papier, damit Sam es abschreiben konnte. Sam kniff ein Auge zusammen, klemmte die Zunge zwischen die Lippen und machte sich ans Werk.

»Das hilft beim Konzentrieren«, erklärte sie. »Nur leider wird meine Zunge dabei immer ’n bisschen kalt.«

Großtante Petronella griff nach einem großen Glas mit grauem Wasser, das auf ihrer Werkbank stand. Als sie es ins Licht hielt, nahm Cordelia darin kleine Wellen wahr, die wie Perlen schimmerten.

»Junge!«, rief Sam und schaute von dem Blatt hoch, auf das sie gerade ein ziemlich krummes f geschrieben hatte. »Was is’n das für glänzendes Zeug?«

»Freude«, krächzte Großtante Petronella. »Heute lernen wir, wie man aus diesem Regenwasser, das ich gestern gesammelt habe, die Essenz von Freude extrahiert. In jedem Wasser steckt Freude. Doch im Regen findet man eine ganz besondere Sorte. Ist der Regen mild, ist auch die Freude sanft, und regnet es stärker, wird die Freude übermütiger. Sie sammelt sich auch am Rand von Wolken, um Silberstreifen an den Horizont zu malen. Die Freude, die im Regen steckt, spürt man schon, wenn einem nur wenige Tropfen aufs Gesicht fallen.«

Sie stippte mit ihren krummen Fingern ins Glas und bespritzte Cordelia und Sam. Sam kicherte und Cordelia spürte, wie Fröhlichkeit sie durchzuckte, kaum dass das Wasser sie berührte. Ihre Großtante tupfte sich etwas von dem Regen hinter die Ohren, als wäre es Parfüm.

»Im Winter arbeiten wir mit Schneeflocken«, sagte Petronella. »Eine einzige Schneeflocke kann eine große Menge Wunder in sich tragen. Aber heute: Regen!«

Aufmerksam folgte Cordelia den Anweisungen ihrer Großtante, die von ihrem Stuhl aus mit der Toastgabel (an der sie sehr zu hängen schien) auf verschiedene Dinge zeigte, und baute das Destilliergerät auf, während Sam weiter Buchstaben übte.

Cordelia goss das Glas schimmernden Regens behutsam in eine große bauchige Flasche, die über einem kleinen Stapel Holz auf einem Dreifuß stand. Dann holte sie aus einem hohen Regal eine Schüssel und drehte eine gewundene Glasröhre in die Flaschenöffnung.

»Destillation ist eine Methode, um aus Wasser etwas Reines zu extrahieren«, erklärte Großtante Petronella. »Stell die Schüssel unter den Ausguss der Röhre, damit sie die Freude einfangen kann – gut so. Jetzt können wir das Feuer entfachen.« Sie wandte den Blick ihrer strahlenden Augen Sam zu. »Komm her, meine kleine Lightbringer, ich glaube, das solltest du übernehmen.«

Sam schaute auf und vergaß glatt, die Zunge wieder in den Mund zu stecken. »Ich heiße Lightfinger«, sagte sie unsicher. »Nicht Lightbringer.«

»Ach, tatsächlich?« Großtante Petronella fixierte Sam durchdringend. »Ich erinnere mich an eine Zeit, da gab es Lichtbringer und Flammenmacher und alle möglichen anderen Familien, die sich auf die Kunst des Lichtwebens verstanden. Aber das war natürlich vor dem Bann.«

Cordelia würde sich nie daran gewöhnen, dass ihre Großtante sich an Sachen »erinnerte«, die vor Hunderten von Jahren geschehen waren. Es war vor allem deshalb seltsam, weil sie behauptete, sich nicht daran erinnern zu können, wie alt sie eigentlich war. Wenn man Großtante Petronella Glauben schenken konnte, hatte sie irgendwann in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgehört zu zählen.

»Der Bann?«, wiederholte Sam.

»Du meinst, als Heinrich der Achte sämtliches Handwerk verboten hat, außer die Arbeit der Gilden?«, vermutete Cordelia.

»Ja, der Königsbann«, antwortete ihre Großtante. »Früher einmal hat es Hunderte von Handwerksfamilien gegeben. Doch aus Furcht, andere könnten durch deren Magie mächtiger werden als er selbst, hat König Heinrich einen Befehl erlassen, der allen außer einer Handvoll von Gilden untersagte, weiterhin ihre Kunst auszuüben. Wer seinen Erlass missachtete, wanderte in den Kerker. Einige wurden sogar hingerichtet. Schreckliche Zeiten waren das. Ganze Familien sind untergetaucht und haben ihre Namen geändert, um zu verbergen, wer sie wirklich sind, aus Angst, die Männer des Königs würden kommen, um sie festzunehmen.

So vielen wie nur möglich haben wir dabei geholfen, durch geheime Tunnel unter der Stadt zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Jahrelang ging das so, auch noch eine Weile, nachdem Elisabeth die Erste an die Macht gekommen war. Handwerker aller Art verschwanden: Wetterbrauer, Besenbinder, Tanzspinner, Liedschmiede – alle fort. Manche lebten im Verborgenen, andere nahmen Schiffe in die Neue Welt.«

Diesen Teil der Geschichte hatte Cordelia noch nie gehört. Plötzlich war sie schrecklich stolz auf ihre Großtante, die anderen Handwerkern dabei geholfen hatte, der Tyrannei eines Königs zu entkommen. Wenn sie schon nicht hatte kämpfen können, hatte sie doch zumindest im Stillen aufbegehrt. Wenn einem ein Handwerk im Blut liegt, sollte es einem von niemandem verboten werden dürfen, nicht einmal, wenn derjenige eine Krone trägt!, dachte Cordelia.

»Natürlich gibt es noch immer einige Handwerker in anderen Ländern, wo die Herrscher diese Kunst nicht unterdrückt haben«, fuhr Großtante Petronella fort. »Die königlichen Perückenmacher in Frankreich zum Beispiel und die Glasbläser Venedigs. Die Papierschöpfer des Ostens erschaffen ganz besondere Magie und die Teppichknüpfer in Persien wirken mit ihren Fäden wahre Wunder. Doch in England sind nur noch die Ausstatter übrig, die für die Königliche Garderobe zuständig sind.«

»So viele gab es!« Cordelia machte ein finsteres Gesicht. »Von einigen habe ich noch nie gehört, den Liedschmieden zum Beispiel oder den Wetterbrauern! Warum durften sie nicht weitermachen?«

»Weil es – wie du schon gesagt hast, mein Schatz – so viele gab. König Heinrich fürchtete, ihre Macht irgendwann einmal nicht mehr kontrollieren zu können. Vor allem hatte er Angst, jemand könnte magische Artefakte herstellen und gegen ihn einsetzen. Jede magische Kreation, die in die Hände der Männer des Königs fiel, wurde verbrannt. Buckleberry Hall wurde geplündert, einschließlich der Teppiche! Doch so manches entkam den Flammen. Sogar heute noch kommt es gelegentlich vor, dass ein antiker Stuhl mit ungewöhnlichen Eigenschaften auftaucht – oder ein alter Besen mit einer verschrobenen Persönlichkeit, den einmal ein Besenbinder hergestellt hat.«

Cordelia spürte, wie ihre Augen rund wie Münzen wurden, während ihre Großtante weitererzählte.

»König Heinrich meinte, mit mehr als einer Handvoll Handwerksfamilien könne er nicht zurechtkommen. Er entschied, dass die Hersteller von Garderobe für ihn am nützlichsten seien, also waren wir die Einzigen, die ihre magische Kunst weiterhin ausüben durften.«

»Das warn die Hutmacher, Stiefelmacher, Uhrmacher … Handschuhmacher und Mantelmacher, stimmt’s?«, meldete Sam sich zu Wort.

»Ganz genau!« Cordelia lächelte. Die sechste Familie – die Stockmacher –, die vor dreißig Jahren in Ungnade gefallen und aus dem Gildenhaus der Ausstatter ausgeschlossen worden waren, erwähnte sie nicht. Die letzte Canemaker war derzeit im Tower gefangen und wartete dort auf ihren Prozess, weil sie versucht hatte, jenen Krieg anzuzetteln, den Cordelia im letzten Moment hatte verhindern können.

»Der König ließ für uns das Gildenhaus errichten und zwang uns, sehr strengen Regeln zu folgen: An die hundert Jahre lang durften die Ausstatter ausschließlich für die Monarchen arbeiten. Später erst, während der Regentschaft von Karl dem Zweiten, durften wir Geschäfte eröffnen. Leider kam es von da an zwischen den Familien zu einer gewissen Konkurrenz.«

Cordelia verzog das Gesicht. Zu behaupten, zwischen den Familien der Gilden herrsche Konkurrenz, war sehr freundlich ausgedrückt. Abgesehen von einem mächtigen Streit vor zwei Monaten hatten die meisten Ausstatter seit Jahrzehnten kein Wort mehr miteinander gewechselt.

»Jeder könnte ein Nachfahre einer der uralten Familien magischer Handwerker sein«, wandte Petronella sich an Sam. »Manchmal versteckt sich im Nachnamen ein Hinweis. Bisweilen sind nur ein paar wenige Buchstaben ausgetauscht worden.«

Sam starrte Großtante Petronella sprachlos an.

»Also, Sam!«, rief die alte Dame. »Was hältst du davon, uns etwas Licht zu bringen? Such dir ein Stück des gebrochenen Sonnenlichts aus, das über den Boden verteilt ist, und entzünde damit das Feuer.«

Sie hielt Sam eine bronzene Pinzette hin.

Sam zögerte. »Ich glaub nich, dass Sie richtigliegen, was meinen Namen angeht.«

»Lightbringer oder Lightfinger, diese Aufgabe bewältigst du allemal«, meinte Großtante Petronella forsch.

Eine sanfte Brise brachte die Kristalle im Fenster zum Schaukeln und Sams Blick wanderte zu den Diamanten aus Licht, die über den Boden tanzten.

»Aber is das … is das nich gegen das Gesetz?«, fragte Sam. »Sogar wenn ich eine … eine Lichtbringerin wäre, is es doch trotzdem verboten, oder? Die würden mich sofort in den Kerker schmeißen, wenn ich irgendwas Magisches mach.«

»Auf einmal nimmst du es mit dem Gesetz ja sehr genau!«, neckte Cordelia sie.

Sam wurde rot und murmelte: »Ich will den Hatmakers keine Schande mach’n.«

»Du würdest uns niemals Schande machen, Sam«, versicherte Cordelia ihr. »Durch dich ist hier alles sonniger geworden und alle sind besser gelaunt … Siehst du, uns hast du längst Licht ins Haus gebracht!« Sie stieß Sam aufmunternd in die Seite und Sam nahm die Pinzette in die Hand.

Vorsichtig, als hätte sie es mit etwas Lebendigem zu tun, hob Sam eine Scherbe Sonnenlicht vom Boden auf. Das kleine Stück vibrierte, als sie es behutsam durchs Zimmer trug. Dann legte sie den strahlenden Lichtdiamanten auf den Stapel Feuerholz, wartete kurz und deckte ihn anschließend mit einem winzigen, dünnen Zweig ab.

Das Stück Sonnenlicht flackerte.

Cordelia hielt den Atem an.

Das Feuer entfachte sich. Innerhalb von Sekunden züngelten knisternde Flammen aus den aufgestapelten Scheiten hervor.

Großtante Petronellas Augen glänzten im Feuerschein.

Cordelia sprang auf. »Du hast es geschafft, Sam!«, japste sie und umarmte ihre Freundin. »Du hast es geschafft!«

Sam strahlte.

Es fühlte sich an wie der Beginn von etwas Neuem.

Kapitel 3

Von Ehrfurcht ergriffen sahen sie schweigend zu, wie die destillierte Freude Tropfen für Tropfen in die Schüssel fiel.

Beim letzten Tropfen schlief Petronella ein, was für gewöhnlich das Ende ihres Unterrichts bedeutete.

Cordelia deckte ihre Großtante mit einer Lullwolldecke zu und Sam brachte die konzentrierte Freude nach unten in die Hutwerkstatt.

»Oh, welch Jubel! Die Freude ist hier!«, rief Onkel Tiberius, als Cordelia und Sam das Atelier betraten.

Während Sam Onkel Tiberius dabei half, Aurorabeeren in Purer Freude zu zerdrücken, um daraus einen Farbstoff herzustellen, der changierte wie der Himmel bei Dämmerung, holte Cordelia ihre Hutnadel aus dem speziellen Nadelkissen auf der Werkbank. Die Nadel war aus filigranem Gold und mit einem Aquamarin besetzt, der schimmerte wie ein Meerestropfen. Als Tante Ariadne sie Cordelia geschenkt hatte, hatte sie behauptet, es sei eine ganz gewöhnliche Hutnadel, doch Cordelia war davon überzeugt, dass sie immer dann, wenn sie sich die Nadel ins Haar drehte, die ausgefallensten Ideen für ihre Hüte hatte.

Sobald das Schmuckstück festgesteckt war, begann Cordelia damit, ein Stück Mondstrahl zu einem Kreis zu formen.

»Wir brauchen mehr Sternenlicht«, verkündete Tante Ariadne, während sie aus einer Dampfwolke auftauchte, die von ihren Kesseln aufstieg. »Alle Welt scheint fest entschlossen zu sein, zum Ernte-Maskenball sämtliche anderen zu übertreffen.«

Der Ernte-Maskenball war eine große Feier, die jeden September bei Vollmond in den Gärten von Vauxhall abgehalten wurde. Es war die letzte Gelegenheit, sich vor dem Herbst noch einmal einfallsreich und außergewöhnlich herauszuputzen und von ganz London bewundert (oder gelegentlich auch ausgelacht) zu werden. Die Hatmakers waren schon eine ganze Weile schwer damit beschäftigt, für diesen Anlass wilde und skurrile Kopfbedeckungen anzufertigen. Daher kam auch die rege Nachfrage nach Sternenlicht für möglichst strahlende Hüte.

»Heute Nacht können wir frisches Sternenlicht sammeln«, schlug Cordelia vor. »Sam kann uns helfen. Ich glaube, sie würde gerne mehr über Lichtmagie erfahren.« Sie zwinkerte Sam zu, die sofort zu strahlen anfing.

»Sir Hugo war gestern da, um zu fragen, wie es mit seinem Kopfschmuck vorangeht«, berichtete Tante Ariadne, während sie für die Gesangshaube, an der sie zurzeit arbeitete, Zwitscherperlen auffädelte. Fröhlich trällernd rutschten die kleinen Schmuckstücke auf den Faden.

Sir Hugo Gushfort war Londons berühmtester Schauspieler. Seitdem Cordelia für ihn einen Hut angefertigt hatte, der ihn von seinem furchtbaren Lampenfieber kuriert hatte, ließ er seine Hüte nur noch von ihr kreieren. Für seinen Auftritt als Macbeth hatte sie ihm eine Schottenmütze aus Gallenziegenhaar hergestellt, für seinen Julius Caesar einen Kranz aus Sonnenlorbeerblättern und für seine heldenhafte Rolle in dem Bombenerfolg Held der Hohen See (geschrieben und in der Hauptrolle gespielt von: Sir Hugo) »den größten Dreispitz auf dieser Seite des Englischen Kanals« wie Die Backpfeife des Tages widerwillig berichtet hatte.

Nun hatte Sir Hugo bei Cordelia einen Kopfschmuck für den Ernteball in Auftrag gegeben. Man hatte ihn ausgewählt, während der Feierlichkeiten die Hauptrolle des Vollmonds zu übernehmen. Es war eine althergebrachte Tradition, dass ein als Vollmond verkleideter Schauspieler zur Erntefeier ein Lied und einen Tanz darbot.

»Ich werde den großartigsten Mond abgeben, den man je gesehen hat«, hatte Sir Hugo Cordelia anvertraut. »Ich hoffe, die Prinzessin wird beeindruckt sein. Vielleicht gerät sie sogar ins Schwärmen, wenn sie meinen prächtigen Vollmond sieht!«

Sir Hugo hoffte grundsätzlich, die Leute ins Schwärmen zu bringen, vor allem die Prinzessin.

Er hatte Cordelia eine detaillierte Liste von all den Dingen gegeben, die er an seinem Kopfschmuck haben wollte. Mehrere Tage lang hatte Cordelia damit verbracht, einen Helm aus Titanschilf zu flechten und mit Silberglaspulver zu überziehen. Heute wollte sie ein biegsames Stück Mondstrahl zu einem Kranz formen und morgen würde sie ihn mit zierlichen Strahlen verzieren, hergestellt aus dem Netz einer Glamourspinne und durchwirkt von winzigen Selenitkristallen.

Sie machte sich an die Arbeit. Es gab noch eine ganze Menge zu tun, bevor das Geschäft heute für seine Kundschaft öffnen würde.

Als die Glocke der St.Auspice Kirche Viertel vor zehn schlug, hatte sich vor dem Hutmacherladen bereits eine Schlange gebildet. So war es schon den ganzen Sommer über gewesen. Seit Cordelia und ihre Freunde den Friedenshut hergestellt hatten, der einen Krieg zwischen England und Frankreich verhindert hatte, kamen die Leute aus der ganzen Stadt (manche sogar von noch weiter her), weil sie unbedingt eine Kopfbedeckung haben wollten, die von den magischen Hutmachern aus der Wimpole Street gefertigt war.

Zwei Minuten vor zehn stand Tante Ariadne an der Tür bereit, um die Kundschaft zu begrüßen. Onkel Tiberius bezog neben dem Anprobestuhl Stellung. Cordelia stieg auf einen Hocker hinter dem Tresen und Sam stellte sich mit einem Stapel Hutschachteln neben sie.

Als es zur vollen Stunde schlug, öffnete Tante Ariadne die Ladentür. Eine Horde eifriger Kunden strömte herein.

Wenig später machte Onkel Tiberius es dem ersten Kunden auf dem Hut-Anprobestuhl bequem, Tante Ariadne nahm mit einem speziellen Gerät Maß vom Kopf einer Frau, um deren Dickkopf einzuschätzen, und Cordelia beriet einen Mann, der einen Hut wollte, der ihn auf dem Maskenball zu herausragend verschwurbelten Tänzen inspirieren würde.

Nach ein paar Minuten war Sam gefragt, die den ersten Kauf des Tages in eine Hutschachtel packen sollte, während Cordelia ihrem Kunden eine von einem Derwisch gewebte Pirouettenhaube, dekoriert mit Veitstanzsamen, berechnete.

»Danke, Miss Hatmaker«, sprudelte es aus ihm heraus, als Cordelia die orange Haube in weiches Papier wickelte und Sam überreichte, die sie behutsam in eine karierte Schachtel legte. »Mein Großcousin väterlicherseits hatte eine Tante, von der alle behaupten, sie stammte von den Tanzspinnern ab. Sie tollte übers Parkett und webte allerlei Magie. Ihre Tänze waren vor allem für ihre friedensstiftende Wirkung berühmt.«

»Wirklich?« Cordelia lächelte.

»Ja, in der Tat!«, bekräftigte der Mann. »Und, so zwischen uns, Miss Hatmaker, angeblich tanze ich eine besonders beschwichtigende Polka.«

Den ganzen Sommer schon hatten die Kunden ihr aufgeregt Erzählungen über die magischen Talente ihrer Familien anvertraut. Die Geschichte des verzauberten Friedenshuts, der einen Krieg verhindert hatte, hatte das Interesse an Magie im ganzen Land wieder entfacht. Cordelia hatte ähnlich begeisterte Menschenmengen vor den Geschäften der anderen Gilden gesehen, obwohl der größte Andrang bei den Hutmachern herrschte.

Sam band ein zitronengelbes Band um die Hutschachtel und reichte sie dem Herrn, der sie stolz aus dem Laden trug und auf seinem Weg die Straße hinunter mehrere Pirouetten drehte.

An diesem Vormittag kamen Dutzende von Kunden ins Geschäft, die nach Kopfbedeckungen in allen Farben und Macharten verlangten. Die Hatmakers verkauften bereits fertiggestellte Hüte aus den Regalen, besetzt mit prächtigen Federn oder bauschiger Spitze, und nahmen Aufträge für aufwendigere Exemplare an, die für den Ernte-Maskenball in ein paar Tagen fertig sein sollten.

Unter den Kunden war auch eine junge Dame in einem Kleid mit einem enormen Reifrock, die sich in den Laden drängelte. »Ich möchte als königliche Galeone zum Maskenball gehen«, blaffte sie Cordelia an, wobei sie einen anderen Kunden grob zur Seite stieß. »Sie wissen schon, wie in Held der Hohen See.«

Cordelia gab sich Mühe, nicht mit den Augen zu rollen, während Sam breit grinste.

Held der Hohen See war für einige merkwürdige Hutbestellungen verantwortlich. Sir Hugos sensationelles Theaterstück war eine stark abgewandelte Variante der Ereignisse, die sich während der Friedensverhandlungen zwischen England und Frankreich auf der königlichen Galeone abgespielt hatten. In dem Stück schwang sich Sir Hugo heldenhaft durch das Tauwerk, beförderte den bösen Lord Witloff mit einem Tritt ins Meer, bevor er mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen auf einer fliegenden Kanonenkugel ritt und schließlich die absolut verzückte Prinzessin küsste. In Wahrheit war es Cordelia gewesen, die sich durch die Taue geschwungen hatte, um Lord Witloff zu überwältigen, wohingegen Sir Hugo mit heruntergelassener Hose bereits gegen Anfang der Geschehnisse gefangen genommen worden war. Und niemandem war es geglückt, die Prinzessin zu küssen, obwohl der französische König es mehrfach versucht hatte. Cordelia machte es nichts aus, dass es Sir Hugo für sein Theaterstück mit der Wahrheit nicht so genau genommen hatte – sie hatte großen Spaß daran gehabt, seinen fantastischen Heldentaten bei der Galaaufführung im Theatre Royal Beifall zu spenden. Dennoch war sie die andauernden Anfragen für Dreispitze, die ihren Träger mit übernatürlicher Ritterlichkeit erfüllten, allmählich leid.

Die Kundin mit dem Reifrock schien jedoch etwas anderes im Sinn zu haben. »Ich möchte Admiral Ransom beeindrucken«, verkündete sie.

»Und Sie meinen, ein Schiff auf dem Kopf zu tragen, würde ihn beeindrucken?«, fragte Cordelia vorsichtig.

»O ja! Ich habe vor, während des Maskenspiels einen so überwältigenden Eindruck bei ihm zu hinterlassen, dass wir schon in der darauffolgenden Woche unsere Verlobung bekannt geben werden«, sprudelte es aus der jungen Dame heraus. »Rechtzeitig, um Archibald eifersüchtig zu machen und seinen Geburtstag zu ruinieren.«

»Unsere Kreationen vollbringen vieles«, sagte Tante Ariadne, die auf dem Weg zu einem Herrn, der Hilfe mit einem Polter-Dreispitz brauchte, am Tresen vorbeikam. »Doch einen Heiratsantrag können wir nicht garantieren. Das wäre moralisch fragwürdig, um es milde auszudrücken.«

Kaum dass Tante Ariadne fort war, beugte sich die Kundin über den Tresen und flüsterte Cordelia zu: »Warum können Sie keinen Heiratsantrag garantieren?«

»Unsere Hüte sind ein bisschen wie Bücher«, fing Cordelia an. »In den Seiten steckt Magie, aber es sind die Leser, die diese Magie zum Leben erwecken. Ohne Leser ist die Magie zwar da, kann aber nicht wirken. Genau wie bei einem Hut. Ergibt das Sinn?«

Die junge Dame schien nicht zu begreifen, was Cordelia ihr sagen wollte.

»Die Wirkung ist etwas subtiler, als jemanden einfach zu etwas zu zwingen«, versuchte Cordelia es noch einmal. »Sie wollen aus diesem Admiral ja keine Marionette machen, oder?«

»Oooh, das wäre perfekt! Ich will einen Hut, der das kann!«, erwiderte die junge Dame aufgeregt.

Voller Begeisterung beschrieb sie Admiral Ransom und sein zutiefst beeindruckendes Schiff, und obwohl Cordelia an mehreren Teilen des Plans, ihn zu bezirzen, ihre Zweifel hatte, war sie neugierig, wie die junge Dame wohl unter vollen Segeln aussehen würde.

»Werden die Kanonen auf meinem Schiff auch feuern können?«, fragte die Kundin. »Das würde mir seine Aufmerksamkeit auf jeden Fall garantieren.«

»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, versicherte Cordelia. »Dürfte ich Ihren Namen notieren?«

»Miss Janet Crust.«

Cordelia lächelte. »Ihr Hut wird am Freitag zum Auslaufen bereit sein, Miss Crust.«

Zufrieden stolzierte Miss Crust aus dem Laden.

Cordelia wandte sich dem nächsten Kunden zu und danach dem darauf folgenden. Der Rest des Vormittags bestand nur noch aus Bestellungen von mit Bissigen Fuchsien geschmückten Konfidenzkappen, Erhabenheitshauben aus Wolkensamt und Konversationszylindern, gewebt aus den Tasthaaren von Quasselfledermäusen.

Eigentlich hätten sich Cordelias Gedanken allein um Hüte drehen sollen. Doch wann immer sie eine Gelegenheit erhaschten, wanderten sie zurück zur Karte ihres Vaters und dem darauf festgehaltenen Rätsel. Während Cordelia vorschlug, die Krempe eines Dichtkunst-Dreispitz mit Fabulablüten zu schmücken, überlegte sie, welche Stelle das X wohl markierte. Gab es doch ein Gasthaus, das Zur Windrose hieß, und sie hatte es nur übersehen? Und wie um alles in der Welt konnte man nach Süden gelangen, indem man sich in den Nordwind stellte?

Daher erschrak sie nicht schlecht, als ihr nächster Kunde sie aus ihren Gedanken riss, indem er leise raunte: »Der Nordwind weht.«

Kapitel 4

Vor Cordelia stand ein Mann, dessen Gesicht sie an einen Vogel erinnerte. Aufmerksam, aber auch nervös blickte er sich um und seine ganze Erscheinung wirkte irgendwie zerzaust.

»W-was haben Sie gesagt?«, stammelte Cordelia.

Der Mann legte zaudernd eine Schlafmütze auf den Tresen, bevor er einen Blick über die Schulter warf, als hätte er Angst, beobachtet zu werden.

»Sagen Sie, Miss Hatmaker«, sprach er, diesmal lauter, »Ihrer professionellen Meinung nach: Würde diese Mütze einen schlaflosen Mann zum Einschlafen bringen?«

Cordelias Herz pochte auf einmal mit fünffacher Geschwindigkeit gegen ihre Rippen. »Ja«, antwortete sie, ebenso laut wie er. »Im Futterstoff sind Blüten vom Faulen Mohn eingenäht.«

Sie sah sich im Geschäft um. Tante Ariadne und Onkel Tiberius waren mit Anproben beschäftigt. Sam war losgegangen, um aus dem Atelier weitere Bänder zu holen. Mehrere Kunden sahen sich Hüte an – doch niemand schien für den Herrn mit der Schlafmütze eine unmittelbare Bedrohung darzustellen.

»Hier, wenn Sie genauer hinsehen, können Sie erkennen, dass die Nähte mit Noctusknoten versehen sind«, erklärte Cordelia. Ihr Gegenüber und sie beugten sich beide dicht über die Mütze, als würden sie die feine Handarbeit in Augenschein nehmen.

»Was meinen Sie mit ›Der Nordwind weht‹?«, fragte Cordelia leise. »Hat das etwas zu tun mit …?«

»Ihr Vater«, flüsterte der Mann drängend. »Ist er hier?«

Cordelia schluckte schwer, brachte aber dennoch eine Antwort zustande: »Das Schiff meines Vaters, die JOLLY BONNET, ist vor zwei Monaten gesunken.«

Der Mann sah Cordelia durchdringend an. »Wir wissen beide, dass es mehr als ein Schiffsunglück brauchen würde, um Prospero Hatmaker untergehen zu lassen«, raunte er.

Cordelia spürte, wie ihre Brust anschwoll wie ein Segel, das sich mit Wind füllte. Seit dem Verschwinden ihres Vaters war dies das erste Mal, dass außer ihr noch jemand die Vermutung äußerte, er könnte noch am Leben sein.

»Ohne ihn gibt es keine Hoffnung darauf, Witloff zu besiegen!«, sagte der Mann.

»Witloff? Aber er sitzt im Kerker. Nicht lange und man wird ihn hinr–«

»Überbringen Sie Prospero die Botschaft«, fiel der Mann ihr ins Wort. »Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, dass der Nordwind weht.«

»Wie meinen –?«, setzte Cordelia an, doch plötzlich erklang die Türglocke. Der Mann stieß ein erschrockenes Krächzen aus, drehte sich um und hechtete zum Ausgang, wobei er gegen einen Hutständer voller Läutender Dreispitze stieß.

»Warten Sie!«, rief Cordelia ihm hinterher.

Wenn er über den Nordwind Bescheid wusste, vielleicht könnte er ihr dabei helfen, aus der Karte schlau zu werden? Sie rannte durch den Laden, wurde aber von den Dreispitzen aufgehalten, die umkippten und mit einem Lärm wie von tausend berstenden Eiszapfen zu Boden stürzten.

»Bei Medusas Schlangen!«, rief Onkel Tiberius über den Radau hinweg.

Als Cordelia sich aus dem Haufen Dreispitze befreit hatte, brannte Tante Ariadnes finsterer Blick auf ihr. Verlegen wischte Cordelia ein Schlängelband von ihrer Schulter und sagte kleinlaut: »Der Kunde hat seine Mütze vergessen.«

»Ah-ha!« Onkel Tiberius lachte gezwungen. »Also das nenne ich Einsatz, Cordelia!« Er begleitete seinen Kunden zurück zum Hut-Anprobestuhl.

Cordelia rappelte sich auf und linste aus dem Fenster, ohne auf die neugierigen Blicke der Kunden zu achten. Die Straße lag verlassen da – der Vogel-Mann war nirgends zu sehen.

Plötzlich spürte sie eine feste Hand auf ihrer Schulter.

»Räum das auf«, sagte Tante Ariadne. »Und beeil dich – da ist eine Kundin, um die du dich kümmern musst.«

Es kostete Cordelia all ihre Selbstbeherrschung, nicht aus dem Laden zu rasen und auf eigene Faust ganz London nach dem geheimnisvollen Fremden zu durchkämmen. Dennoch, als sie die Dreispitze zurück auf den Hutständer hängte, fühlte sie sich so leicht wie seit Wochen nicht mehr.

Er weiß, dass mein Vater lebt! Zumindest glaubt er daran …

Die Kundin, die auf sie wartete, war eine Dame, die vom Kopf bis zu den Stiefeln in Schwarz gekleidet war. Ein schwerer Schleier verdeckte ihr Gesicht.

»Ich hätte gerne etwas, das mir dabei hilft, nicht aufzufallen«, sagte sie, wobei ihre Stimme vom Schleier gedämpft wurde.

Für gewöhnlich wollten die Leute eine Kopfbedeckung, durch die sie auffielen, nicht umgekehrt. Doch Cordelia hatte Wichtigeres im Kopf, als sich über diesen merkwürdigen Kundenwunsch zu wundern.

Lord Witloff hat die JOLLY BONNET auf die Felsen vor Rivermouth gelockt und behauptet, er hätte gesehen, wie mein Vater ertrunken ist.

Cordelia holte eine schlichte Haube aus Lethargiestroh.

Alle halten ihn für tot.

Mitten im Laden blieb sie stehen, als sie an die dunklen Tage denken musste, in denen selbst sie geglaubt hatte, sie würde ihren Vater niemals wiedersehen.

Doch dann hat Vaters Schicksalstaube Agatha die Schneckenhornkette mit dem Bild meiner Mutter gebracht – die hat er immer getragen, um sich an sie zu erinnern. Das kann nur bedeuten, dass er noch lebt.

Gedankenverloren steckte Cordelia einige graue Schirmvogelfedern an die Krempe der Haube, während die Kundin hinter ihrem Schleier schweigend zusah.

Und nun kommt dieser komische Mann hierher und will meinen Vater sprechen, obwohl ganz London meint, er sei gestorben – noch dazu flüstert er einen Teil des Rätsels, das ich lösen muss!

Das alles war extrem verwirrend. Kopfschüttelnd wickelte Cordelia ein Unscheinbarband um die Haube, das die Federn fixierte.

Mein Vater soll der Einzige sein, der Witloff besiegen kann. Dabei ist Witloff doch längst besiegt …

»Bitte schön: eine Kopfbedeckung, die Sie bedeckt hält.« Cordelia reichte sie der Dame. »Wenn Sie diese Unscheinbarhaube aufsetzen, wirken Sie so nichtssagend, dass es extrem schwer ist, Sie überhaupt zu bemerken.«

»Perfekt, Miss Hatmaker.«

Und warum schien der Fremde … Angst zu haben?

Während Tante Ariadne nach dem Mittagessen im oberen Stockwerk Hutblöcke sortierte, hielt Onkel Tiberius Cordelia und Sam die Küchentür auf.