Die Glücksagentur - Lorraine Fouchet - E-Book
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Die Glücksagentur E-Book

Lorraine Fouchet

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Beschreibung

Juliette ist 29 und Journalistin. Und sie hat die Nase voll: der Chef, der Job, das Liebesleben - alles andere als erfreulich. Sie wirft alles hin, um in Südfrankreich im Dorf ihrer Kindheit einen beruflichen Neustart zu wagen. Ein charmantes, aber heruntergekommenes Schulgebäude wird mit fantasievoller Tatkraft zum Domizil ihrer Agentur für alle, die mit einer räumlichen Veränderung ihrem weiteren Lebensglück auf die Sprünge helfen wollen. Die Agentur findet bald großen Anklang - und Juliette sich selbst und die Liebe.

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465

Über das Buch

Juliette ist 29 und Journalistin. Und sie hat die Nase voll: der Chef, der Job, das Liebesleben – alles andere als erfreulich. Sie wirft alles hin, um in Südfrankreich im Dorf ihrer Kindheit einen beruflichen Neustart zu wagen. Ein charmantes, aber heruntergekommenes Schulgebäude wird mit fantasievoller Tatkraft zum Domizil ihrer Agentur für alle, die mit einer räumlichen Veränderung ihrem weiteren Lebensglück auf die Sprünge helfen wollen. Die Agentur findet bald großen Anklang – und Juliette sich selbst und die Liebe.

Über die Autorin

Lorraine Fouchet ist eigentlich Ärztin und erfüllte mit dieser Berufswahl den Traum ihres Vaters, der starb als sie siebzehn war. Mittlerweile hat sie sich ihren eigenen Traum erfüllt und schreibt seit 1977 mit großem Erfolg Romane.

LORRAINE FOUCHET

DieGlücksagentur

ROMAN

Aus dem Französischenvon Alix und Christiane Landgrebe

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 2003 by Editions Robert Laffont, Paris

Titel der französischen Originalausgabe: »L’agence«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2005 und 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © shutterstock / Volha Stasevich; aoya; Good Mood; Minoli; MarinaDa; vicspacewalker; Rostislav Glinsky; Ms Moloko; Joy Brown; Herbert Kratky; Gabriele Maltinti

Umschlaggestaltung: Manuela Städele

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-4486-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

Ohne anzuklopfen, betrat Juliette das Büro ihres Chefredakteurs Loic. Sie mochte den großen Raum und die Regale aus hellem Holz mit den vielen Büchern ringsum. Das Parkett roch angenehm nach Wachs. Der Schreibtisch war mit zahllosen Papieren, Notizen und Artikeln bedeckt. Der durchsichtige Laptop hob sich deutlich von dem harmonischen Ensemble aus Holz, Leder und Papier ab. Zwei Ledersessel standen zu beiden Seiten des niedrigen Sofatischs.

Loic, ein freundlicher Mann mit kahlem Kopf, sah auf die Uhr: Es war genau zwölf.

»Zwei Jahre bist du jetzt meine rechte Hand, und du bist nach wie vor pünktlich, auch wenn wir mit der Redaktionskonferenz immer zu spät beginnen«, bemerkte er amüsiert.

Juliette lächelte ihm zu.

»Ich lasse die Leute nicht gerne warten. Ist das ein Verbrechen?«

»Soweit ich weiß, nicht«, sagte Loic. »Genauigkeit ist eine verbreitete Gewohnheit. Bei manchen wird sie schon zur Besessenheit.«

»Und du findest, bei mir ist das so?«

»Ja, du könntest für die nächste Ausgabe ein Dossier zu dem Thema vorbereiten. Käme bestimmt gut an.«

»Da kann ich mir Spannenderes vorstellen«, meinte sie. »Wie geht es deinem alten Hund?«

»Er ist in bester Form.«

Wie jede Woche setzte sie sich genüsslich in einen Sessel, um die neuesten Zeitungen durchzublättern, die sich auf dem niedrigen Tisch stapelten. Die beiden sahen sich freundlich an. Die Minuten vor der Redaktionskonferenz waren immer ein schöner Moment. Sie verband eine tiefe Freundschaft, Respekt und Vertrauen. Loic war ein Junggeselle um die sechzig. Er mochte Juliettes Intelligenz und ihren Humor. Ihm gefiel, dass sie nie den Überblick verlor, ein Gespür für Texte hatte, er mochte ihre Begeisterungsfähigkeit und ihr Aussehen. Er wunderte sich immer wieder darüber, dass er sich einer viel jüngeren Frau, die so ganz anders war als er, so verbunden fühlte. Sie gefiel ihm, das war offensichtlich. Aber ihr tiefes Einvernehmen schloss jedes andere Verhältnis aus. Sie war für ihn die Frau und zugleich die Tochter, die er niemals haben würde. Dass er für sie ein Ersatzvater war, hatte sie ihm nicht verraten.

Juliette Forestier hatte beim Radio angefangen, wo sie für Sendungen über Alltag und Haushalt zuständig gewesen war. Sie hatte sich weiterentwickelt und arbeitete nun bei der Frauenzeitschrift. Sie hörte lieber zu, als selbst zu reden, doch wenn sie ihre Meinung äußerte, dann war Loic stets von neuem erstaunt über ihr Fingerspitzengefühl. Sie wusste so gut wie immer, was zu tun, zu sagen und zu entscheiden war; nur bei ihren Händen nicht. Sie steckte sie in die Tasche oder verschränkte die Arme, weil sie es nicht lassen konnte, an den Nägeln zu kauen.

Bald würde sie dreißig sein. Sie war blond, schlank, charmant, hatte einen tänzelnden und leichten Gang, einen breiten Mund und ständig zerzauste Haare. Am liebsten trug sie Leinenkleidung, Mokassins, meistens in kämpferischem Rot. Ihre schwarzen Augen hatten kleine Goldsprenkel, und Loic hätte sie sich gerne mit einer Lupe angesehen. Wenn er sie hätte beschreiben sollen, hätte er geschworen, dass ihre Augen leuchteten. Heute sahen sie besorgt aus.

»Hast du ein Problem?«, fragte er. Sie nickte.

»Ich war gestern mit Aurélien beim Diabetesspezialisten. Er wird sich sein Leben lang drei Mal am Tag Insulin spritzen und streng Diät halten müssen.«

Seit die Krankheit diagnostiziert worden war, war ihr Sohn bei mehr Ärzten gewesen als Juliette in ihrem ganzen Leben.

»Er ist doch erst zehn Jahre alt«, seufzte sie. »Im Moment sieht er das alles noch als ein Spiel an. Aber kannst du dir das vorstellen? Sich jeden lieben Tag irgendein Zeug spritzen zu müssen, wo immer du bist, was immer du tust?«

»Tausende von Diabetikern haben gelernt, damit zu leben.«

»Ich bin mir nicht so sicher, dass sie das so leichtnehmen.«

Verzweifelt legte sie die Zeitungen beiseite.

»Er wird immer auf die Zeit achten müssen, auf die Uhr sehen …«

»Du lebst doch auch so«, bemerkte Loic.

»Vielleicht, aber er kann sterben, wenn er es vergisst.«

Sie verzog das Gesicht, um ihre Rührung zu verbergen, und lachte bemüht.

Loic streckte die Hand nach einer Packung indischer Eukalyptuszigaretten aus.

»Wie läuft es denn gerade mit deiner kleinen Schwester?«

»So gut es geht … Aber leider nicht besonders«, sagte Juliette. »Auch wenn sie Alice heißt. Mit ihr zu leben bedeutet keine Reise ins Wunderland. Wie auch immer. Wollen wir anfangen?«

Loic zündete sich eine Zigarette an, bemühte sich, einen runden Rauchkringel zu produzieren, und sah ihm nach, als er durch den Raum flog und sich auflöste.

»Heute Morgen habe ich den Typ von der Personalabteilung getroffen«, sagte er ruhig. »Jetzt steht es fest. Im September höre ich auf.«

Juliette war verblüfft.

»Haben sie dich gefeuert?«

»Sagen wir, sie haben mir nahegelegt, vorzeitig in Rente zu gehen.«

»Das können sie doch nicht machen! Wir müssen etwas unternehmen, eine Petition schreiben.«

Loic war gerührt, doch er schüttelte den Kopf.

»Auf gar keinen Fall! Ich bekomme eine gute Abfindung, und ich habe kein Problem damit, diese Wahnsinnsarbeit anderen zu überlassen.«

»Was willst du denn machen?«

Loics Augen funkelten.

»Ich glaube, ich werde heiraten.«

»Ohne indiskret sein zu wollen: Wen willst du heiraten?«

»Dich natürlich, wenn du einverstanden bist.«

Während Juliette das Angebot lachend ausschlug, klopfte die Redaktionssekretärin vorsichtig an die Tür.

»Was gibt es?«, fragte Loic schroff.

»Die Sitzung beginnt, und alle warten nur auf Sie.«

»Das kann nicht wahr sein«, rief Loic. »Meine Mitarbeiter werfen mir vor, dass ich sie warten lasse.«

»Vielleicht ist das das Geheimnis des Glücks: Sich erlauben zu können, zu spät zu kommen«, meinte Juliette.

Die Sitzung verlief wie immer effizient. Kaum war sie vorbei, räumte Juliette rasch ihre Siebensachen zusammen.

»Ich muss meine Schwester ans andere Ende der Stadt zum Ballett bringen«, erklärte sie.

»Es ist mir ein Rätsel, wie du es schaffst, das alles hinzukriegen«, sagte Loic. »Bringst du nicht manchmal alles durcheinander?«

»Das kann ich mir nicht leisten«, sagte Juliette, »ich habe zu wenig Zeit, um Zeit zu verlieren.«

Juliette liebte die Place du Trocadéro. Dieser Ort symbolisierte ihre Vergangenheit und Gegenwart. Als echte Pariserin war sie nur drei Schritte entfernt geboren, in derselben Klinik, in der auch ihr Sohn Aurélien zur Welt gekommen war. Sie war im Schatten des Eiffelturms aufgewachsen, durch das Musée de l’Homme gelaufen wie andere Kinder durch den Zoo, und ihre ersten Macarons hatte sie im Café Carette gegessen. Als sie die Journalistenschule beendet hatte, schrieb sie ihren ersten Artikel in einem Café an der Avenue Kléber. Die Trauerfeier für ihre Eltern hatte in der Kirche Saint-Honoré-d’Eylau stattgefunden. Dabei hatte sie die Hand ihrer kleinen Schwester Alice ganz fest gehalten. Inzwischen wohnte sie etwas weiter unten in der Rue de la Tour. Und seit kurzem zierte eine riesige Narbe ihr rechtes Knie, weil sie beim Inlinern auf der Esplanade hingefallen war. Auch wenn sie ihrem Sohn das Gegenteil hatte beweisen wollen, sie war wirklich zu alt fürs Inlinern.

Nun saß sie gerade am Steuer ihres schwarzen Twingo im Stau und hörte ein Lied von Jacques Brel über die Liebe, von dem sie wie immer eine Gänsehaut bekam. »In Liebe gefangen, ohne Kraft und ohne Schutz zum unerreichbaren Stern gelangen …«

Juliette stellte einen anderen Sender ein. Brel machte sie melancholisch. Die klangvolle Stimme einer Unbekannten erklang im Auto.

»Man wird geboren, man stirbt, man lernt die Liebe kennen, und man entscheidet sich in einer Sekunde, sein Leben zu verändern«, behauptete die Frau schulmeisterlich.

Juliette lächelte. Dazu brauchte man wohl erst einmal eine Sekunde für sich selbst! Endlich fuhren die Autos weiter. Juliette sah nach, ob kein Polizist in der Nähe war, und nahm ihr Handy. Das Handy in der einen Hand, die andere Hand am Steuer, lavierte sie sich geschickt aus dem Stau heraus und sagte ihrer Schwester, dass sie gleich da sein würde.

Alice, fünfzehn Jahre alt, groß und schlank, mit schwarzen Haaren und blauen Augen, beobachtete die Straße. Endlich erblickte sie den Twingo.

»Wir kommen zu spät, und ich mache wieder alles falsch bei der Choreografie«, beschwerte sie sich, als sie ins Auto sprang.

»Ich wette, wir kommen pünktlich.«

»Worum wetten wir?«

»Wenn wir pünktlich sind, dann kochst du heute Abend.«

»Und wenn wir zu spät kommen, kaufst du mir dann eine Vespa?«

»Du weißt sehr gut, was ich davon halte«, antwortete Juliette.

Sie gelangte virtuos vom Westen in den Osten der Hauptstadt. Im Slalom fuhr sie zwischen den Autos und kam gerade rechtzeitig bei der Bastille an.

»Ich koche Spaghetti Carbonara«, verkündete Alice und nahm ihre Tasche aus dem Auto. »Und können wir über die Vespa noch mal sprechen?«

»Nein. Dein Leben ist mit zwei gesunden Armen, zwei Beinen und einem heilen Kopf bestimmt einfacher.«

Alice zuckte die Achseln und verschwand. Juliette wollte gerade losfahren, als die Ballettlehrerin, eine junge Frau mit einem Dutt, in einem schwarzen, enganliegenden Trikot, auf sie zukam.

»Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?«, fragte sie.

Juliette öffnete lächelnd die Tür.

Graziös schlüpfte die Tänzerin neben sie.

»Ich mische mich nicht gerne in das Leben anderer Leute ein, aber Ihre Schwester ist ein hübsches und begabtes Mädchen … Sie haben mir doch erzählt, dass Ihre Eltern verunglückt sind.«

Juliette sah sie überrascht an.

»Ja. Alice war damals fünf Jahre alt.«

»Ich dachte, Sie sollten es vielleicht lieber wissen. Sie hat den anderen Schülerinnen erzählt, dass Sie Ihre Eltern umgebracht haben.«

Juliette brachte vor Schreck eine ganze Weile kein Wort hervor. Ihr Atem ging schwer, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Schließlich beruhigte sie sich wieder und atmete normal weiter.

»Natürlich«, fuhr die Ballettlehrerin verlegen fort, »hat sie das mehr aus Spaß gesagt … Sie wissen ja, wie Mädchen in diesem Alter sind. Ein paar haben sich unterhalten. Sie haben über ihre Eltern geredet, und eine von ihnen hat Ihre Schwester gefragt, was ihre Eltern machen. Sie hat geantwortet, dass sie tot seien. Und als die anderen wissen wollten, wie es geschehen ist, hat sie gesagt: ›Meine Schwester hat sie umgebracht.‹ Sie hat gelacht, als wäre es ein Witz. Aber es war gar nicht komisch.«

»Das ist es auch nicht.«

»Ich wusste nicht, ob ich eingreifen sollte, und dann habe ich die ganze Bande einfach auseinandergescheucht, als wäre nichts geschehen. Soll ich vielleicht mal mit ihr sprechen?«

»Das wird nichts bringen. Ich mache das schon.«

»Es ist nicht leicht, fünfzehn zu sein.«

»Ich weiß«, sagte Juliette. Sie beendete die Unterhaltung abrupt, indem sie sich vorbeugte, um die Tür aufzumachen.

Die Ballettlehrerin verstand die Botschaft und stieg mit geschmeidigen Bewegungen aus dem Twingo.

»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben«, sagte Juliette.

»Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.«

»Sie haben genau das Richtige getan. Ich ziehe meine Schwester und meinen Sohn auf, und wir sind eine echte Familie. Das heißt, fast … Wir üben es jeden Tag aufs Neue. Sagen Sie ihr nicht, dass Sie mit mir gesprochen haben, ja?«

»Kein Problem.«

Juliette versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.

Die Ballettlehrerin wartete auf dem Bürgersteig, bis sie losfuhr, und sah ihr nach. Von der großen Schwester ging dieselbe Empfindlichkeit und Energie aus, die sie bei ihrer jungen Schülerin bemerkt hatte.

2

Juliette war so mitgenommen von dem Gespräch mit der Ballettlehrerin, dass sie mithilfe des Navis nach Hause fuhr. Sie konnte nicht begreifen, was im Kopf ihrer Schwester vorgegangen war. Wie konnte sie nur über so etwas scherzen? Natürlich wusste Alice, wie ihre Eltern gestorben waren. Aber als es geschehen war, hatte sie nicht mit Alice darüber sprechen können, weil sie noch zu jung gewesen war. Außerdem hatte Juliette die ganze Last der Verantwortung zu tragen. Sie musste die Erbangelegenheiten regeln, den Umzug organisieren und für den Lebensunterhalt sorgen. Außerdem war sie für die beiden Kinder verantwortlich, die sie erzog, obwohl sie selbst noch so jung war. Und so waren die Jahre vergangen. Deshalb hatte sie nie ausführlich über den Unfall gesprochen, der ihre Eltern das Leben gekostet hatte.

Hatte Alice das den anderen Schülern erzählt, um sie zu provozieren? War es Wichtigtuerei? Oder glaubte sie wirklich daran? War das der Grund, warum es Juliette trotz aller Mühe nicht gelang, sich ihre kleine Schwester zu einer echten Freundin zu machen?

Sie musste unbedingt unter vier Augen mit ihr sprechen. Heute würde allerdings nichts daraus werden, Juliette hatte ihre beste Freundin Noémie zum Essen eingeladen.

Als sie ihren Twingo vor dem Haus parkte, sah sie Noémie Longchamp, die auch gerade angekommen war. Sie war Moderatorin bei einer Fernsehsendung, die von Woche zu Woche erfolgreicher wurde. Juliette mochte die liebenswürdige Frau trotz ihrer Launenhaftigkeit und Egozentrik sehr, aber Noémie war nicht die Richtige, um ihr das Herz auszuschütten, wenn sie nicht vorher die Situation bereinigt hätte. Sie beschloss, so zu tun, als sei nichts vorgefallen. Unter größter Anstrengung gelang es ihr, locker zu wirken.

»Und, wie geht es unserem Fernsehstar?«

»Es klappt so gut, dass ich mich nicht mehr dazu herablasse, dich anzusprechen.«

»Also muss ich mich wieder mit der Gala trösten, um das Neueste über dich zu erfahren«, sagte Juliette und lächelte.

Sie schlüpften in den Fahrstuhl, der sie in die fünfte Etage brachte. Juliette hatte ihre Wohnung in ein englisches Schiff verwandelt. Ein imposantes Ruder aus dem achtzehnten Jahrhundert begrüßte die Gäste am Eingang. Von dort gelangte man in ein großes Wohnzimmer mit Boden und Wänden aus hellem Teakholz, von dem aus man durch Bullaugen die drei weiteren Zimmer der Wohnung sah. Fotos von Segelbooten zierten die Wände, zwei große Sofas luden zum Ausruhen ein, ein Fernseher und eine Stereoanlage von Bang & Olufsen standen an der hinteren Wand. Ein Regal voller Bücher und Comics trennte das Wohnzimmer von der Küche.

Noémie ließ sich in das nächststehende Sofa fallen und fuhr sich mit den Händen durch das braune Haar ihrer Pagenfrisur.

»Du siehst mitgenommen aus.«

»Ich bin gerade im Dauerstress«, sagte Juliette. »Ich komme mir vor wie der Hamster im Laufrad.«

»Hast du vergessen, dass du mich zum Abendessen eingeladen hast?«

»Alice kocht Spaghetti Carbonara für uns.«

Bei der Erwähnung ihrer Schwester überkam Juliette ein leiser Schauer, doch sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Das kommt gar nicht infrage!«, beschwerte sich Noémie, der nichts weiter auffiel. »Und was ist mit meiner Figur? Ich weiß, du und Alice, ihr pfeift darauf, weil ihr eh dick seid wie Pfannkuchen.«

Aurélien, ein blonder schlanker Junge mit Augen so schwarz wie Juliettes Twingo, kam ins Wohnzimmer gerannt.

»Mama, hast du am Samstag Zeit?«

»Für dich immer. Warum?«

Er sah sie herausfordernd an, wie immer, wenn ihn etwas beunruhigte.

»Im Informatik-Club ist Vatertagsfeier. Kommst du mit?«

»Na klar.«

Aurélien war zufrieden, drehte sich um und steuerte auf sein Zimmer zu.

»Übrigens, Mama, auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht für dich.«

Juliette ging in ihr Zimmer. Der Knopf des Anrufbeantworters blinkte. Nachdem sie darauf gedrückt hatte, lief quietschend das Band. Sie hörte eine fröhliche weibliche Stimme mit englischem Akzent.

»Hallo, bin ich richtig bei Juliette Forestier? Hier spricht Sarah Owen. Ich bin gerade in Paris und wollte fragen, ob wir uns treffen können. Ich wohne im Hotel de l’Abbaye.«

Juliettes Gesicht strahlte, während sie sich die Nummer notierte.

»Wer ist das?«, fragte Noémie.

»Meine englische Brieffreundin von früher.«

»Du hast mir nie von ihr erzählt.«

»Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, waren wir vierzehn. Sie war meine beste Freundin.«

»Ich dachte, ich bin deine beste Freundin«, warf Noémie ein.

»Dann beweis es mir und massier mir die Schultern«, sagte Juliette. »Ich hab vielleicht was mitgemacht heute. Da hätte ich gut drauf verzichten können. Am liebsten würde ich mich in ein Mauseloch verkriechen, bis Alice erwachsen und nach Neuseeland ausgewandert ist.«

Noémie schüttelte den Kopf.

»Du kannst keine Maus werden. Du magst doch nicht mal Käse.«

Juliette und Sarah hatten sich vor der Comédie Française verabredet. Juliette war auf die Minute pünktlich, sie trug eine weiße Hose und ein rotes Leinenhemd. Sarah, eine typische Britin mit kastanienbraunem Haar und grünen Augen, wartete auf einer Bank und trug einen beigefarbenen Hosenanzug aus einem leichten, fließenden Stoff. Sie erkannten sich von weitem. Juliette führte sie in den Garten des Palais Royal, und die Engländerin staunte, als sie die schwarz-weißen Säulen des Künstlers Daniel Buren sah.

»Was ist das denn? Ein Modell für einen Flughafen?«

»Nein, moderne Kunst.«

»Kann man sich da drauf setzen?«

»Im Park sind Stühle, die sind bequemer.«

Als sie endlich saßen, sahen sie sich zärtlich und ein wenig schüchtern an.

»Ich bin so froh, dich wiederzusehen!«, sagte Sarah. »Du hast dich ja kaum verändert, ich hätte dich, ohne zu zögern, wiedererkannt.«

»Du hast dich auch nicht verändert«, sagte Juliette und ahmte die Stimme von Julio Iglesias nach, der ein Lied mit diesem Titel sang.

»Wie geht es deiner Familie? Dein Vater, der Anwalt, hält er immer noch Gericht wie der heilige Ludwig unter seiner Eiche?«

Juliette schüttelte traurig den Kopf.

»Meine Eltern hatten einen Unfall. Sie sind tot, Sarah.«

»Oh, mein Gott!«

»In diesem Winter ist es zehn Jahre her.«

»Das tut mir so leid«, murmelte Sarah betrübt.

»Du konntest es doch nicht wissen«, sagte Juliette und stand auf. »Gehen wir ein bisschen spazieren?«

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

»Das letzte Mal haben wir uns im August 1988 gesehen, da waren wir vierzehn, und meine Mutter war schwanger, erinnerst du dich?«, fuhr Juliette fort. »Meine kleine Schwester Alice ist in dem Jahr im Dezember geboren, und am selben Tag ist meine Großmutter gestorben.«

»Ein Tod für ein Leben.«

»Das Schlimmste ist, dass das Ganze noch einmal geschehen ist. Als unsere Eltern 1993 verunglückt sind, war ich schwanger. Zwei Tote für ein Leben! Meine Schwester war erst fünf Jahre alt, und ich habe sie gemeinsam mit meinem Sohn aufgezogen. Jetzt ist Alice fünfzehn und Aurélien zehn. Sie verstehen sich eigentlich ganz gut, so wie Bruder und Schwester. Unsere Familie ist also nicht größer, sondern eher kleiner geworden.«

»Ich verstehe. Das war bestimmt nicht leicht.«

Juliette nahm an, dass das eher eine Feststellung als eine Frage war, und nickte.

»Hast du einen Job?«, fragte Sarah.

»Ja, ich bin stellvertretende Chefredakteurin bei einer Frauenzeitschrift. Gefällt mir ganz gut. Und du?«

»Ich lebe mit einem faszinierenden Mann zusammen. Er heißt John. Er ist Landschaftsarchitekt und eher exzentrisch. Wir haben viel gemeinsam, und besonders mögen wir unseren Golden Retriever, der Buckingham heißt.«

»Eine vornehme Art auszudrücken, dass ihr keine Kinder habt?«

»Genau. Und leider werden wir auch nie welche haben, weil John unfruchtbar ist.«

»Macht es dir etwas aus?«

»Manchmal. Aber du hast gar nichts von einem Mann erzählt. Gibt es keinen?«

»So ist es.«

»Fehlt dir nicht etwas?«

»Oft«, sagte Juliette. »Und du, hast du einen Beruf?«

»Ich war lange in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Aber im Moment arbeite ich gar nicht.«

Wieder herrschte eine Weile Schweigen, während sie die Neuigkeiten verarbeiteten.

Neben ihnen saßen zwei Studenten und lernten. Zwei Kinder liefen schreiend hintereinander her, eine uralte Dame ging langsam voran und wiegte mit verträumtem Blick den Kopf hin und her. Sie dachte an einen jungen Mann, der für Frankreich gefallen war und nun unter einem weißen Kreuz auf dem Soldatenfriedhof lag.

»Weißt du, ich denke oft an deine Großmutter«, sagte Sarah. »Ein bisschen bin ich heute auch ihretwegen hier.«

Juliettes Gesichtsausdruck veränderte sich.

»Ich versuche, möglichst wenig an sie und meine Eltern zu denken. Sonst wird es mir zu viel. Ich musste ohne sie weiterleben und Häuptling unseres improvisierten Stammes werden. Ich hatte keine Wahl, entweder schwimmen oder ertrinken.«

»Was willst du damit sagen?«

»Im Gers war ich die Enkelin von Clémence. Aber Clémence ist nicht mehr da. Und in Paris war ich die Tochter eines berühmten Anwalts. Aber jetzt bin ich niemandes Tochter mehr. Im Gegenteil: Ich bin zur Mutter und zur einzigen Schwester geworden! Ich kann nichts mehr für die Toten tun, Sarah. Meine Aufgabe ist es, die Lebenden zu lieben, Alice und Aurélien, und sie glücklich zu machen.«

Sarah und Juliette hatten sich während eines Schüleraustauschs kennengelernt, als sie zehn Jahre alt waren. Sie hatten vier wunderbare Sommer im Département Gers im Südwesten Frankreichs bei Juliettes Großmutter Clémence verbracht, während Juliettes Eltern in Paris blieben. Dann war die Großmutter gestorben, das Haus verkauft worden, und die beiden Freundinnen hatten die Verbindung verloren.

Im letzten Sommer im Südwesten hatten sie sich in einen schnurrbärtigen Bauern verliebt, der von morgens bis abends auf seinem Traktor saß. Damals wussten die beiden Mädchen nur theoretisch, was Liebe bedeutete, und hatten sich geschworen, dass die, die sie zuerst erlebte, der anderen ihre Erfahrung bis ins Detail erzählen sollte. »Schwör mir, dass du mich anrufst, auch wenn du in London bist und es fünf Uhr morgens ist«, hatte Juliette eindringlich gesagt. Und Sarah hatte entgegnet: »Versprich mir, dass du mich anrufst, auch wenn du in Paris bist und es nach Mitternacht ist.«

Ihre besten Erinnerungen, ihre innigsten Gefühle verdankten sie dem Gers. Der Duft der Erde, die Sonne, die einem ins Gesicht schien wie ein großer Scheinwerfer im Kino und alle Sonnenblumenfelder an Sommerabenden mit ihrem Licht überflutete. Die hügelige Landschaft der Gascogne, von der Abendsonne sanft berührt, der Humor, die Lebensfreude und die Lust am Feiern der Menschen dort hatten ihren Charakter geprägt.

»Bist du nie dorthin zurückgekehrt?«, fragte Sarah verwundert.

Juliette schüttelte den Kopf.

»Wozu denn? Ich kenne dort niemanden mehr.«

»Du kanntest …«

Juliette sah sie verständnislos an.

»Vielleicht kanntest du dort niemanden mehr, aber seit heute stimmt das nicht mehr. John und ich wohnen seit dem letzten Winter dort. Wir haben nicht weit von dem Haus deiner Großmutter ein kleines Haus gekauft. Ich bin nach Paris gekommen, um dir das zu sagen.«

Juliette zog die rechte Augenbraue hoch.

»Dieser Ort hat mich wirklich geprägt«, fuhr Sarah fort. »Letzten Sommer wollte ich, dass John ihn kennenlernt, und wir haben die Ferien in einer Wohnung auf dem Land verbracht. Er fand die Gegend wunderbar. Wir haben uns an einen Makler gewandt, und das war’s.«

Juliette zog beunruhigt auch die linke Augenbraue hoch.

»Die Leute sind herzlich, und John hat einen wundervollen Garten angelegt. Wir leben in Frieden, Juliette.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Sag nichts und komm uns mit deiner Schwester und deinem Sohn besuchen. John wird dir bestimmt gefallen. Und meine Gänseleberpastete auch.«

Juliette zuckte zusammen. Die Idee, die Orte ihrer Kindheit wiederzusehen, war beängstigend.

»Ich habe zu viel zu tun«, warf sie ein.

»Die Wochenenden sind dazu da, um sich auszuruhen.«

»Alice ist in einer sehr schwierigen Phase. Und seit kurzem wissen wir, dass Aurélien Diabetiker ist.«

»Dann kommt ihr mal auf andere Gedanken.«

»Es tut mir leid, Sarah, ich kann wirklich nicht.«

»Kannst du nicht … oder willst du nicht?«

Juliette wich ihr aus.

»Hast du unseren schönen Bauern mit dem Schnurrbart mal wiedergesehen?«

Sarah brach in schallendes Gelächter aus.

»Er hat sechs Kinder und schielt.«

Juliettes Augen blitzten.

»Ich muss dir etwas gestehen, Sarah. Ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden liebt! Ich hätte dich anrufen sollen, um dir alles zu erzählen. Ich habe mein Versprechen nicht gehalten.«

»Ich weiß es auch«, sagte Sarah lächelnd. »Also sind wir quitt.«

3

Zu beiden Seiten des Wagens zogen die Felder vorbei. Juliette hatte die Thermoskanne mit Wasser gefüllt, Sandwichs zubereitet, das Geld für die Autobahnmaut abgezählt und sich die Straßenkarte angesehen. Alice und Aurélien spielten Kopf oder Zahl. Der Junge gewann und durfte vorne sitzen.

Sie hatten Paris früh am Morgen verlassen, um die siebenhundertfünfzig Kilometer möglichst ohne Stau zu bewältigen. Juliette hatte sich für die Autobahn Paris-Bordeaux entschieden, die Richtung Toulouse genommen und war in Agen abgefahren.

Je mehr Kilometer auf dem Zähler erschienen, umso mehr tat ihr der Magen weh. Es war ein immer stärker werdender und brennender Schmerz. Als sie anhielt, um an der Tankstelle bei Bordeaux zu tanken, freute sie sich über den singsanghaften südlichen Akzent des Tankwarts.

»Was sollen wir da eigentlich?«, beklagte sich Alice. Sie hasste das Land.

»Mama macht es wie bei Monopoly«, sagte Aurélien. »Sie kehrt immer auf Los zurück.«

Juliette war überrascht, sah zu ihm hin und achtete nicht mehr auf die Straße.

»He, guck doch, wo du hinfährst, sonst kommen wir nie an!«, schimpfte ihr Sohn.

»Juliette, warum hast du mir nie etwas vom Gers und deiner Freundin Sarah erzählt?«, sagte Alice vorwurfsvoll.

Juliette schluckte, atmete tief durch und antwortete ruhig:

»Ich war sicher, dass ich nie dorthin zurückkehren würde.«

»Aber hat unsere Großmutter nicht in Paris gewohnt?«

»Im Winter, aber die Sommer verbrachte sie im Süden.«

»Und wie ist es im Gers?«

»Du wirst sehen, es ist wunderbar.«

»Das will ich hoffen«, brummte Alice.

»Der d’Artagnan aus den Drei Musketieren ist dort geboren«, las Aurélien aus dem Reiseführer vor.

Sie fuhren durch eine herrliche Landschaft mit atemberaubend schönem Licht.

Auf den hügeligen Feldern wuchs Getreide, die Sträucher und die Wiesen leuchteten in sanftem Grün. Die Sonnenblumen- oder Rapsfelder strahlten in goldgelber Pracht. Kleine Seen, die als Wasserreservate dienten, trennten die Anbauflächen voneinander. Die Gegend war bis auf einen einsamen Bauernhof hin und wieder kaum bevölkert. Alles war von einer wunderbaren Heiterkeit und befreite Juliette ein wenig von der Last, die sie seit dem Gespräch mit der Tanzlehrerin ihrer jüngeren Schwester gegenüber quälte. Sie hatte sich entschlossen, nichts zu überstürzen und auf den richtigen Moment zu warten, um mit Alice zu sprechen. Nach zehn Jahren machten ein paar Tage keinen großen Unterschied.

»Wenn ihr aus dem Dorf kommt, fahrt ihr noch drei Kilometer weiter. An der Kreuzung biegt ihr nach links auf einen Weg ab. Dann noch zweihundert Meter geradeaus, und ihr seid da.« So hatte Sarah den Weg beschrieben.

Als der schwarze Twingo vor dem alten Bauernhof aus Sandstein hielt, sahen sie, wie ein splitternackter, großer, hagerer Mann den Rasen mähte. Er winkte zur Begrüßung, als ob nichts wäre. Alice biss sich auf die Lippen, während Juliette und Aurélien vor Lachen platzten. Sarah kam aus dem Haus, sie hatte einen grünen Pullover aus Baumwolle und eine Cargohose an.

»Darf ich euch John vorstellen«, sagte sie. »Er nutzt jede Gelegenheit, ohne Kleider herumzulaufen. Aber er hat mir versprochen, dass er sich euch zu Ehren etwas anzieht.«

Dann begleitete sie sie ins Haus, in dem Buckingham sie überschwänglich begrüßte.

John kam bald nach. Sein Oberkörper war nackt, aber er trug eine Latzhose.

»Ihr seid bestimmt hungrig, oder?«, fragte Sarah.

Das Essen war fröhlich und typisch für den Gers: selbst gemachte Leberpastete, Entenconfit und Rumgebäck, von dem Aurélien nur ein bisschen probierte. Dazu tranken die Erwachsenen einen vorzüglichen Tariquet, einen weißen, milden Côtes de Gascogne. Juliette drehte sich alles im Kopf, genau wie früher, wenn sie Fieber gehabt und ihre Großmutter sie in jede Menge Decken gewickelt hatte.

Die Sonne hatte morgens noch hell geschienen, aber jetzt war sie einem eigenartigen Wetter gewichen, das weder schön noch schlecht zu nennen war. John und Sarah bestanden darauf, dass Juliette einen Drink probierte. Er bestand aus einer Einheit Likör aus Armagnac mit bitterer Orange, sechs Einheiten perlendem Weißwein, einem Stück Eis und einer halben Scheibe Orange. Das Ergebnis war eine Tortur für den Kopf, doch es wärmte die Seele.

»Im Winter ist an jedem Wochentag Markt, auf dem man Leberpastete kaufen kann. Dort decken sich alle ein. Schon die Römer kannten Leberpastete, und in der Gascogne wird sie seit dem sechzehnten Jahrhundert hergestellt«, sagte Sarah, stolz auf ihr neu erworbenes Wissen.

Die beiden Freundinnen ließen lachend die Vergangenheit wiederaufleben. An einem bestimmten Tag war eine von ihnen in die Jauchegrube gefallen, dann hatte sich die andere in einem Schrank versteckt, dessen Schloss klemmte, und danach hatten sie zum ersten Mal einen Kuchen anbrennen lassen. Aurélien stellte fasziniert fest, dass seine Mutter auch einmal ein Kind gewesen war.

John schlug vor, alle in seinem Range Rover spazieren zu fahren.

»Gäste werden geehrt«, sagte er und wies Juliette einen Platz neben sich zu.

Die Gegend hatte sich kaum verändert, die Dörfer hatten nur ein kleines Lifting über sich ergehen lassen. Juliettes Herz schlug höher, als John vor einem lang gestreckten Bauwerk mit einem runden Taubenschlag hielt. Das Gebäude wirkte verlassen, die hellen Steine schienen im Sonnenlicht zu schlafen. Die roten Läden hätten gut etwas Farbe vertragen können. Es herrschte Stille. Das Grundstück war umzäunt und das schwarze Gitter geschlossen.

»Ich glaube, da wohnt ein kranker Mann, aber ich habe ihn noch nie gesehen«, sagte Sarah.

»War das dein Haus, Mama?«, fragte Aurélien.

Juliette nickte und zeigte auf eine Glocke an einem Baum in der Nähe des Gitters.

»Damit hat mich meine Großmutter immer zum Essen gerufen«, sagte sie aufgeregt.

Sie gingen an dem Grundstück entlang bis zu einem Punkt, an dem die Steine heller wurden. Dort hatte jemand ein Stück Mauer ersetzt. Die Großmutter und ihre Enkel hatten ihre Handflächen in den Zement eingedrückt wie die Schauspieler in Hollywood. Juliette streckte zögernd ihre Hand aus. Ihre Handfläche war inzwischen größer als die ihrer Großmutter. Die Rosensträucher, die sich an der Fassade des Gebäudes hochgerankt hatten, gab es nur noch in der Erinnerung, aber der kleine Weihnachtsbaum, den sie gepflanzt hatte, war gewachsen und jetzt der größte im ganzen Hof. Der besondere Geruch des Hauses war auch verschwunden, ein Gemisch aus Rosen, Flieder, frischer Erde und dem Lavendel-Parfum von Clémence, der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte. Allerdings erschien der Ort Juliette auch so vollkommen.

Die Geräusche hatten sich ebenfalls verändert. Man hörte nicht mehr das Schnurren der Katze mit dem irritierenden Blick. Mit ihr hatte Juliette endlos darum gekämpft, wer zuerst die Augen schließen musste. Das Klopfen der Krücke, auf die sich Clémence stützte, wenn niemand hinsah, ihre Angewohnheit, sich zu räuspern, als ob sie etwas sagen wollte, und doch bloß freundlich zu lächeln, all das gab es nicht mehr. Aber die Vögel waren geblieben, auch wenn niemand mehr für sie Fettkugeln in den Bäumen aufhängte.

»Du hast geglaubt, du würdest nie mehr wiederkommen. Na, da hast du dich aber getäuscht!«, sagte Alice.

»Alle ab ins Auto«, rief Sarah, um Juliette aus ihrer nostalgischen Stimmung zu reißen. »Ich muss euch einen besonderen Ort zeigen.«

Alle zwängten sich wieder in den Range Rover. Aurélien versetzte Alice einen Stoß mit dem Ellbogen, und sie schlug sofort zurück.

»Achtet nicht auf sie«, erklärte Juliette den Engländern. »Das machen sie ständig.«

Der Ort, den Sarah ihnen unbedingt zeigen wollte, war ein verlassenes Dorf mit zehn Häusern. Die Leute hatten im Zuge der Landflucht anderswo Arbeit gesucht. In der Küche des ehemaligen Lebensmittelgeschäfts hing noch eine Schürze, die Leute hatten ein Waschbrett in der Wäscherei, Brotkästen in der Bäckerei und einen Hackklotz in der Metzgerei zurückgelassen. Die Dächer waren abgedichtet und die Häuser geschlossen, nicht einmal ein Tier hätte eindringen können. Offene Fensterläden und unabgeschlossene Türen vermittelten den Eindruck, dass die Einwohner gerade erst fortgegangen waren.

»Buckingham hat uns hierher geführt. Wir waren spazieren, und mit einem Mal ist er wie ein Pfeil davongeschossen, und ich bin ihm hinterhergelaufen«, murmelte Sarah.

»Vielleicht roch die Metzgerei noch ein bisschen nach Fleisch«, sagte John.

»Es ist niemand mehr hier, das ist eigenartig«, fügte Alice im gleichen Ton hinzu.

»Warum flüstert ihr eigentlich alle?«, fragte Aurélien verwundert.

Plötzlich brach ein Sommergewitter aus, und sie stellten sich schnell unter dem nächsten Hausdach unter, bei einer alten Schule, in der es getrennte Eingänge für Jungen und Mädchen gab.

Alles war noch an seinem Platz, die Holzpulte mit den weißen Tintenfässern und den eingeschnitzten Initialen, die schwarzen Tafeln, die Kleiderhaken. Ein Schild mit der Aufschrift Zu verkaufen und der Telefonnummer eines Notars namens Fabre hing an der hinteren Wand.

Sarah erklärte Juliette, dass sie die Schule fast gekauft hätten. Aber weil John Nudist sei, hätten sie sich für ein abgelegenes Haus entschieden. Es sei allerdings ein sehr günstiges Angebot. »Sieht aus wie das Schulmuseum von Saint-Clar. Warum kaufst du das Gebäude nicht und machst ein Ferienhaus daraus?«, schlug sie ihrer Freundin vor. »Dann wären wir Nachbarn und könnten viele Jahre Freundschaft nachholen!«

Aurélien sah seine Mutter hoffnungsvoll an. Alice zuckte gleichgültig die Achseln. Juliette schüttelte lachend den Kopf. Sie hätte reich und verrückt sein müssen, um so eine Bruchbude zu kaufen. Jetzt war weder der richtige Augenblick dafür, noch war es der richtige Ort.

»Versprich mir, dass du auf jeden Fall drüber nachdenkst«, sagte Sarah.

Sie fuhren am nächsten Tag am frühen Nachmittag zurück. Die Autobahn war wie immer verstopft. Aurélien schlief fast während der gesamten Fahrt. Juliette freute sich darüber, weil sie endlich Gelegenheit hatte, sich in Ruhe mit ihrer Schwester zu unterhalten. Sie machte deswegen extra das Radio aus, doch Alice hatte Kopfhörer auf und hörte auf ihrem Smartphone Techno. Juliette wollte die Schwester nicht zum Reden zwingen. Der passende Moment würde schon noch kommen.

Als sie bei ihrem Haus angekommen waren, musste Juliette noch eine halbe Stunde herumkurven, bis sie einen Parkplatz fand. Aurélien ging mechanisch die Treppe hoch und ließ sich in seinem Zimmer auf sein Bett fallen, ohne sich auszuziehen. Juliette zog ihm nur die Schuhe aus und deckte ihn mit seiner gemusterten Steppdecke zu. Alice okkupierte endlos lange das Badezimmer unter dem Vorwand, dass sie sich abschminken müsse. Es war schon spät, als Juliette endlich ein entspannendes Kräuterbad nehmen konnte. Sie schloss die Augen, gemischte Gefühle überkamen sie, und sie schlief ein.

Die Kälte und ihr steifer Hals weckten sie. Das Badewasser war lau, und ihr Nacken tat weh. Sie trocknete sich ab und schlüpfte in einen weichen Bademantel. Als sie noch mal nach den schlafenden Kindern sah, lag Alice zusammengerollt da und nutzte nur ein Drittel des Betts, während Aurélien das ganze Bett einnahm, sein Kopf, seine Arme und seine Beine waren ausgestreckt, sodass er wie ein Stern mit fünf Zacken wirkte.

Juliette ging auf den Balkon und betrachtete die nächtlichen Lichter von Paris. Die Luftverschmutzung machte es unmöglich, die Sternbilder zu erkennen. Sie dachte an eine Geschichte, die ihre Großmutter ihr einmal erzählt hatte, als sie sich den Himmel im Gers angesehen hatten. »Ein Seemann sagt zu seinem Sohn: ›Sieh dir die Sterne an, mein Kleiner, sie sprechen auf der ganzen Welt dieselbe Sprache. Wenn du ihre Sprache verstehst, kannst du dich nie verirren.‹«

Hatte ihr guter Stern sie zu dem verlassenen Dorf geführt?

4

Am nächsten Morgen suchte Juliette, während Alice und Aurélien noch schliefen, im Internet nach der Telefonnummer des Notars Fabre. Der Mann hatte eine junge Stimme und sprach mit dem Akzent der Gegend; er hatte das Notariat gerade erst von seinem Vater übernommen. Juliette fragte ihn, wem das Haus von Clémence gehörte. Fabre junior erzählte ihr, dass es zuerst an einen Holländer verkauft worden und dann in andere Hände gelangt sei. Der jetzige Besitzer, Jacques Barrier, sei ein Mann in den Fünfzigern, der im Rollstuhl sitze. Er lebe wie ein Eremit und verlasse niemals das Haus, er habe nicht einmal Telefon und wolle das Haus nicht verkaufen.

Dann erkundigte Juliette sich nach weiteren Details über die alte Schule. Der Preis war tatsächlich unglaublich niedrig.

Bei der Zeitung war sie an diesem Tag ausgesprochen effektiv. Sie schrieb den Artikel eines freien Mitarbeiters um, kontrollierte den Zeilenumbruch und leitete eine Sitzung. Als sie nach Hause zurückkehrte, beglich sie offen gebliebene Rechnungen, bügelte Kleider, stopfte die Jeans von Aurélien, reparierte den Fuß von Alice’ Lampe, goss die Pflanzen und wachste das Ruder. Dann öffnete sie den alten Seemannskoffer vom Trödelmarkt und nahm eine Akte heraus. Sie sah sie durch und schrieb alle Ziffern in ein blaues Spiralheft. Sie achtete darauf, Euro und Franc nicht zu verwechseln.

Es war wirklich verlockend. Sie hatte zwar nie die Absicht gehabt, ein Haus zu kaufen, doch diese alte Schule hatte sich ihr sozusagen aufgedrängt und wollte sie anscheinend nicht mehr loslassen. Juliette hatte Geld auf der Bank, und wenn sie die letzten Ersparnisse zusammenkratzte, reichte es, um das Gebäude ohne Kredit zu kaufen. Bei so einem Preis wäre es lächerlich gewesen, die Gelegenheit zu verpassen. Die Luft im Gers war gut und gesund, und genau das hatte der Arzt Aurélien empfohlen. Alice könnte die Gegend kennenlernen, in der ihre Großmutter gelebt hatte, die sie nie kennengelernt hatte. Juliette hätte dort endlich Gelegenheit, in Ruhe mit ihr zu reden und das Eis zu brechen. Sie würde Sarah und John die Schlüssel geben, die sich in ihrer Abwesenheit um alles kümmern würden. Die Kinder kannten nur Ferienklubs, und jetzt würden sie endlich Gelegenheit haben, bleibende Kindheitserinnerungen zu sammeln. Es war bestimmt verrückt, das Haus zu kaufen … Aber es war das erste Mal seit zehn Jahren, dass sie etwas Verrücktes vorhatte.

Eine Woche nach dem Besuch bei Sarah unterschrieb Juliette den Kaufvertrag für die Schule.

Es gab nur drei direkte TGV-Verbindungen zwischen Paris und Agen, morgens, am frühen Nachmittag und am Spätnachmittag. Sie hatte sich den frühen Zug ausgesucht. Auf dem Bahnhof von Montparnasse wimmelte es schon von Leuten: Studenten mit Rucksäcken, junge Erwachsene mit großen Koffern, alte Leute mit Rollkoffern und Obdachlose mit ihren Hunden. Während der Vier-Stunden-Fahrt schlief sie. Sie wollte nicht nachdenken, nicht an der Sache zweifeln und öffnete bloß das rechte Auge, als der Zug in Angouleme hielt, das linke in Bordeaux und beide Augen erst in Agen, wo Sarah auf sie wartete.

Agen lag im Département Lot-et-Garonne. Der Weg, auf dem ehemals Zinn nach Italien befördert worden war, wurde immer noch Römerstraße genannt. Sie verband Astaffort, die Stadt des Sängers Francis Cabrel, mit Lectoure im Département Gers. Sarah erzählte Juliette, dass dank des Sängers viele Vorpremieren in Astaffort stattfanden. Die Leute aus dem Gers fuhren dann zu den Vorstellungen und aßen im Restaurant Une Auberge en Gascogne.

Die Landschaft veränderte sich, sobald sie im Gers waren: nicht mehr nur plattes Land, Hügel erhoben sich, und das Licht veränderte seine Farbe. Sarah brachte ihre Freundin zum Notariat. Juliette wartete in einem Raum, in dem außer ihr schon zwei Herren saßen.

Baptiste Fontani, ein Mann über sechzig, zerknüllte seine Mütze und fühlte sich offensichtlich unwohl. Er war ein ehrlicher Bauer, und es passte ihm gar nicht, dass er zum Notar gehen musste, nur um irgendwelche alten Wegerechte zu regeln. Er lächelte Juliette auf ihre Begrüßung hin freundlich zu.

Sein vierunddreißigjähriger Sohn Barnabé hatte sanfte braune Augen und schon weiße Haare und nickte ihr bloß zu. Als er sie ansah, dachte er: typische Pariserin. Er fühlte sich beklommen, und dafür gab er ihr die Schuld.

Juliette konnte nicht ahnen, was in ihren Köpfen vorging. Sie fand, dass sie sich ähnlich sahen, und staunte über die Haarfarbe des Sohnes. Das Wartezimmer war gemütlich und mit modernen Bildern geschmückt. Juliette dachte an das Dossier, das sie für ihre Zeitung über Notare in der Provinz gemacht hatte. Darin hatte gestanden, dass sie mit Absicht schlecht geschnittene Anzüge trugen, dass ihre Kanzleien heruntergekommen seien und sie alte Autos fuhren, damit ihre Kunden ihnen nicht vorwarfen, sich auf ihre Kosten zu bereichern.

Das war bei Fabre junior nicht der Fall. Er trug einen gut sitzenden Anzug, eine Reverso-Uhr und hatte ein modernes Büro. Offensichtlich freute es ihn, dass Juliette sich zu dem Kauf entschlossen hatte. Mehrere Gesellschaften hatten schon versucht, das ganze Dorf zu kaufen, um daraus entweder ein Hotel oder eine Firma zu machen, aber die Gemeinde hatte sich geweigert, und die alten Häuser standen weiterhin leer. Der Notar beglückwünschte Juliette zu ihrem Kauf. Die Schule war frei, und sie konnte sofort mit der Renovierung beginnen.

Am Nachmittag fuhr sie mit dem Zug zurück und schlief wieder ein, weil sie vor Aufregung völlig erschöpft war. Als sie am Bahnhof von Montparnasse ankam, ging sie auf die Warteschlange bei den Taxis zu. Ein Mann mit dem Profil eines Raubvogels trat einer alten Frau auf den Fuß, woraufhin sie ihm einen Schlag mit dem Regenschirm versetzte. Ein junges Mädchen mit einem Baby wollte für fünf Euro in den Val-de-Marne fahren, und mehrere Fahrer wiesen sie ab. Ein junges, arriviertes Ehepaar mit zwei Vorzeigekindern ging verächtlich an ihr vorbei.

»Sie sollten den RER nehmen«, riet ihr Juliette.

Sie zog ihren Plan aus der Tasche und ging ein paar Schritte zur Seite, um ihr zu zeigen, an welcher Station sie aussteigen müsste. Als sie sich wieder an ihren Platz in der Schlange stellen wollte, wurden die Leute wütend.

»Hinten anstellen, wie alle anderen auch!«

»Ich war vor Ihnen hier, ich habe nur jemandem eine Auskunft gegeben.«

»Pech gehabt«, schimpfte eine Frau mit zusammengekniffenen Lippen.

Juliette wünschte ihr, dass sie in Hundekacke treten würde. Dann nahm sie die Metro.

Abends zum Nachtisch gab es Obstsalat, weil Aurélien keinen Kuchen essen durfte. Auf den Salat stellte Juliette ein kleines Chalet aus Plastik, das sie vom letzten Weihnachtskuchen aufbewahrt hatte.

»Gibt es was zu feiern?«, fragten die Kinder erstaunt.

»Ich habe eine Überraschung für euch.«

»Kriege ich eine Vespa?«, fragte Alice.

»Kriegen wir einen neuen Computer?«, fragte Aurélien.

Juliette schüttelte den Kopf und sah Sterne vor den Augen.

»Ich habe etwas Verrücktes gemacht«, verkündete sie. »Wir haben jetzt ein eigenes Ferienhaus. Ich habe die alte Schule in der Nähe von Sarah gekauft.«

5

Das mit Ziegeln gedeckte Gebäude aus gelbem Sandstein war in tadellosem Zustand. Der Boden aus roten Steinplatten war ausgetreten. Im Erdgeschoss lagen ein großer und zwei kleine Klassenräume, eine Küche, ein Badezimmer und das Lehrerzimmer. Der voll ausgebaute Speicher konnte leicht in zwei schöne Zimmer für Alice und Aurélien verwandelt werden, man brauchte nur mehrere große Dachluken einzubauen, damit Licht einfiel. Juliette war sicher, dass sich das problemlos machen ließe, und bat den Bürgermeister um Erlaubnis. Doch die Gemeindeverwaltung erteilte per Einschreiben eine Absage. Man gestattete ihr, das Gebäude zu renovieren, aber auf gar keinen Fall, Veränderungen vorzunehmen.

Sarah machte Juliette mit Pascal Castera bekannt, einem Einheimischen mit kurz geschorenen Haaren, der alle möglichen Berufe ausübte. Eigentlich war er Schreiner, aber zugleich auch Klempner, Elektriker und Maurer. Er war genau der Mann für ein Haus, in dem eine Frau und Kinder wohnten.

»John ist handwerklich völlig ungeschickt. Pascal hat alles bei uns gemacht«, sagte Sarah.

»Sie brauchen mir nur einen Auftrag zu geben, und schon ist es fertig«, sagte Castera lachend.

Juliette erklärte ihm genau, was er zu tun hatte, und er versprach ihr, dass er gleich am nächsten Tag beginnen würde. Sie bot ihm ein Glas Wein an, um ihre Abmachung zu besiegeln, aber er lehnte ab.

»Das hat er bei uns am Anfang auch so gemacht«, sagte Sarah, nachdem Castera gegangen war. »Er will nicht mit dir trinken, weil er dich noch nicht gut genug kennt. Hier trinkt man nur unter Freunden und wenn man sich völlig entspannen kann. So weit seid ihr noch nicht.«

Den ganzen Juli lang hielt Juliette ihr höllisches Lebenstempo durch. Dazu kamen noch die Fahrten in den Gers, um die Fortschritte von Casteras Arbeit zu begutachten. Er arbeitete effizient und mit bester Laune. Juliette hatte den Gedanken, den Speicher umzubauen, nicht aufgegeben, und sie entschloss sich, darum zu kämpfen. Castera arbeitete gerade an einem Fensterladen, als Juliette unverrichteter Dinge vom Bürgermeisteramt kam.

»Es ist unerhört«, sagte sie niedergeschlagen. »Der Bürgermeister hat mich noch nicht einmal empfangen.«

»Er nimmt es Ihnen übel«, stellte Castera fest, als er den nächsten Fensterladen aus den Angeln hob.

»Ich kenne ihn doch nicht einmal. Was habe ich ihm denn getan?«

Castera erklärte ihr, dass der Bürgermeister die Ruinen hatte erwerben wollen, um ein einträgliches Immobiliengeschäft zu machen. Juliettes plötzliches Auftauchen und ihre Schnelligkeit beim Erwerb des Gebäudes hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, weil die Sache nur Sinn gehabt hätte, wenn alle Häuser gekauft worden wären.

»Davon konnte ich nichts wissen. Er hätte eben schneller schießen müssen. Allerdings sollte ein Bürgermeister den Staat repräsentieren und nicht den Freibeuter spielen!«

Castera prustete vor Lachen.

»Wir sind hier auf dem Land«, sagte er. »Wir nehmen uns für alles Zeit. Wir leben heute und nicht morgen, also haben wir keine Eile. Daran müssen Sie sich gewöhnen.«

Juliette begriff und ging nicht weiter darauf ein. Es war nicht so schlimm, sie würden ohnehin nur ihre Ferien hier verbringen. Sie beschloss, das große Klassenzimmer zum Wohnzimmer zu machen, die beiden kleinen Alice und Aurélien zu geben und das Lehrerzimmer für sich zu behalten. Wenn keine Dachfenster erlaubt waren, konnte sie den Speicher später immer noch mit einer besonderen Beleuchtung ausstatten.

»Zwei Generationen Kinder haben hier lesen gelernt. Dieses Haus hat eine Seele«, sagte sie Castera.

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen: Hier gibt es positive Schwingungen. Wie viel Uhr ist es?«

»Sechs Uhr.«

Castera warf ihr einen viel sagenden Blick zu.

»Sie möchten bestimmt nach Hause gehen«, sagte Juliette. »Es tut mir leid, ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«

Castera schüttelte den Kopf.

»Euch Parisern muss man wirklich viel beibringen«, sagte er lachend. »Sechs Uhr, da ist der Aperitif dran. Wenn Leute um diese Zeit bei Ihnen vorbeikommen, dann erwarten sie, dass Sie ihnen etwas zu trinken anbieten.«

Juliette lächelte und begriff, dass sie einen großen Schritt weitergekommen war.

»Ich habe Weißwein im Kühlschrank. Ist Ihnen das recht, Monsieur Castera?«

»Sehr gut«, sagte er. »Sagen Sie doch Pascal zu mir.«

Im August konnten Juliette und die Kinder das Haus beziehen. Ihre Wohnung in Paris war untervermietet. Das erste Mal in ihrem Leben war Juliette Hausbesitzerin. Die Wände, der Garten, sogar der Blick gehörten ihr. Sie konnte pleite, krank, arbeitslos sein, das Haus konnte ihr niemand nehmen, keiner konnte sie verjagen. Dieser Gedanke gab ihr Kraft.

Pascal hatte die groben Arbeiten fertig gestellt, und jetzt wollten sie alles in Ruhe zu Ende bringen. Sie strichen mit Rollen die Wände an. Sarah unterstützte sie, indem sie ihnen prächtige Picknickkörbe brachte, und John schleppte ganze Arme voller Pflanzen an. Auch Buckingham kam mit und sabberte vor Freude die frisch gestrichenen weißen Wände voll.

Früher hatten die Häuser der Gegend blaue Läden gehabt, weil die Farbe damals mit Ammoniak gemischt wurde und Fliegen abhielt. Genauso hatte man auch Wagen und Kuhhörner angestrichen. Diesen Brauch gab es immer noch. Alice selbst übernahm die Verantwortung für die Läden und strich sie mit Lectoure-Blau an. Im 15. Jahrhundert galt das aus einer Pflanze gewonnene okzitanische Pastell, das man Blau der Könige nannte, weil es so leuchtend und intensiv war, als das beste in Europa. Später hatten die billigeren Indigo-Pigmente das Pastell verdrängt, und erst seit 1994 wurde in Lectoure wieder reines Pigment gewonnen und für Kunst, Textilien und Dekorationszwecke zu Farbe verarbeitet.

Sarah und John, Juliette und die Kinder besuchten die verschiedensten Dorffeste. Im Sommer gab es im Gers alle möglichen Anlässe zu feiern. Es gab diverse Märkte, auf denen Produkte aus der Gegend verkauft wurden, ein Knoblauchfest in Mauvezin und Saint-Clar, die Leberpasteten-Messe in Samatan, den Markt mit nach alten Rezepten hergestellten Esswaren in Seissan, ein Melonenfest in Lectoure, musikalische Abende in Cologne, ein Himmels- und Weltraumfestival in Fleurance, ein Mittelalterfest in Sarrant und ein Jazzfestival in Marciac.

Juliette war überzeugt, dass die Gegend auch ihre kleine Schwester für sich einnehmen würde, aber noch vermisste Alice die Stadt und ihre Freundin Marion. Sobald über etwas anderes gesprochen wurde als Klamotten, Kino, Casting-Shows oder die Erhöhung des Taschengeldes, igelte sie sich ein.

Eines Abends saßen sie bei Sonnenuntergang vor dem Haus, und Alice fragte Juliette:

»Du kannst dich bestimmt noch an Mama und Papa erinnern, oder? Wenn ich an sie denke, sehe ich nur noch so etwas wie einen flimmernden Schwarz-Weiß-Film vor mir.«