Die Gordon Rabe-Reihe - H.C. Scherf - E-Book

Die Gordon Rabe-Reihe E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

Jeder im Team schätzt diesen charismatischen Hauptkommissar, der stets komplett in Jeansanzug gekleidet das Essener Morddezernat führt. Sein Team vertraut diesem bärtigen, großherzigen Mann, der mit viel Hingabe seinen autistisch veranlagten Sohn Jonas fördert. Immer wieder öffnet sich für die Ermittler das Tor zur Hölle und fordert sie bis an die Grenzen des Ertragbaren. Serienmörder stellen alle vor unmenschlich erscheinende Aufgaben. Brutalste Verbrechen können mit Hilfe eines ebenfalls sonderbaren Rechtsmediziners gelöst werden. Lassen Sie sich in sechs abgeschlossenen Bänden in die Welt des abgrundtief Bösen entführen und erfahren Sie mehr Wissenswertes aus dem Bereich der Rechtsmedizin.

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DIE GORDON RABE-REIHE

Sammlung in 6 Teilen

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DIE GORDON RABE-REIHE

Thriller-Sammlung in 6 Teilen

 

© 2021 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166, 45699 Herten

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von:

majdansky / clipdealer

dgool / clipdealer

frenzelll / adobe

EJRodriquez / adobe

Arto / adobe

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

DER TOD

HINTER

DER LÜGE

 

– Gordon Rabes erster Fall –

 

Von H.C. Scherf

Die Eifersucht nährt sich von Zweifeln und sie wird zur Wut.

Oder sie endet,

sobald sie von Zweifeln zur

Gewissheit gelangt

 

François de La Rochefoucauld (1613 - 1680), François VI. de La Rochefoucauld, franz. Offizier, Diplomat und Schriftsteller

 

1

Träge wabernde Nebelschwaden umhüllten den Platz, der häufig als wilde Müllabladestelle genutzt wurde. Rainer Fielmann wusste, dass er dort häufig fündig wurde, wenn er auf der Suche nach Pfandflaschen und Dosen war. Vor Tagen hatte ihn der Fund einer abgelegten Luftmatratze überrascht, die er nun als Nachtlager nutzen konnte. Seine Kumpel, die teilweise auf Zeitungspapier liegen mussten, versuchten schon mehrfach, ihm die Unterlage zu stehlen. Wenn man Platte schieben musste, stellte eine solche Schlafhilfe in den kalten Nächten einen besonderen Komfort dar. Rainer hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und hoffte darauf, auch ein paar Essensreste vorzufinden, nachdem ihn der Marktleiter eines SB-Marktes vor einer halben Stunde wie einen Hund mit den Worten davongejagt hatte: »Geh arbeiten, du faules Schwein. Verdien dir dein Essen erst.«

Rainer kannte diese Beschimpfungen zu Genüge und reagierte mittlerweile gar nicht mehr darauf, winkte nur ab und verzog sich ohne weitere Erwiderung. Diese arroganten Ärsche wussten alle nicht, was ihn vor Jahren auf die Straße getrieben hatte und dass das Schicksal sie schnell selber in dieses Elend führen konnte. Ohne große Erwartung näherte er sich dem übel riechenden Dreckhaufen, der sich mittlerweile hoch auftürmte und dessen Konturen sich gegen das Licht der Laterne abzeichneten. Während er sich mit einer Hand die wenigen Haarsträhnen, die ihm noch geblieben waren, unter die Wollmütze steckte, suchte die andere nach brauchbaren Gegenständen. Heute war der eklige Geruch besonders intensiv, was sicherlich an dem feuchtkalten Wetter liegen durfte. Seine Stiefel schützten ihn weitestgehend vor dem Schlamm, in dem Rainer immer wieder fast katzengroße Ratten davonhuschen sah. Sie waren nur Konkurrenten bei der Suche nach Nahrung. Immer wieder zog er Abfallbeutel zur Seite, riss Säcke auf, in denen er Brauchbares vermutete und zuckte plötzlich zusammen, als er eine schwache Stimme vernahm. In dem diffusen Licht konnte er lediglich die Richtung ausmachen, aus der sie zu kommen schien. Als er alles schon als Hirngespinst abtun wollte, war sie wieder da – diese Stimme, die aus einem Jutesack zu kommen schien. Rainer wich einen Schritt zurück, fiel fast über einen Eimer, der mit Abfällen aus einer Wohnungsrenovierung gefüllt war. Im letzten Moment fand er sein Gleichgewicht und festen Halt wieder und starrte auf den Sack, der ihm einen Riesenschrecken eingejagt hatte.

Das ist nicht möglich, Rainer. Jetzt ist es endlich so weit – du spinnst komplett.

Seine Augen suchten die nähere Umgebung ab, um den Übeltäter zu finden, der ihn hier zum Narren halten wollte. Lediglich die umherirrenden Ratten und die Nebelschwaden waren in Bewegung und täuschten ihm Leben vor. Er schrak heftig zusammen, als er nun klar und deutlich die Worte vernehmen konnte: »Ist da jemand? Bitte, helft mir doch. Es tut so schrecklich weh.«

Nur sehr schwach war die Bewegung erkennbar, die Rainer anzeigte, dass sich etwas Lebendiges in dem Sack befinden musste. Er konnte seine Unsicherheit, seine Angst nicht vollends verbergen, als er sich dem Behältnis näherte, nach einem Verschluss suchte. Als er endlich die Schnur gefunden sah, die jemand um die Öffnung gebunden hatte, zitterten seine Finger dermaßen stark, dass er sie erst unter die Achselhöhlen presste, bevor er ein weiteres Mal versuchte, den Knoten zu lösen. Immer wieder dieses Wimmern, das ihm zeigte, wie schwer es der Person in dem Sack fallen musste, überhaupt einen Ton von sich zu geben. Verzweifelt riss er an dem Knoten, wobei er genau das Gegenteil erreichte. Er zog sich immer enger zusammen.

Das Taschenmesser. Ja, das wird helfen. Wo habe ich es denn ...?

Mit Erleichterung ertasteten seine Finger das Messer, das er sich vor Monaten zur Selbstverteidigung angeschafft hatte, in der Gesäßtasche. Es war nur noch ein Schnitt, der ihm allerdings den Atem raubte. Er musste wegsehen, als er in das Gesicht der Frau blicken musste, deren Augen nur noch aus leeren Höhlen bestanden.

»Hilf mir bitte. Ich halte das nicht mehr aus.«

2

Der Blick in den Badezimmerspiegel verdarb Hauptkommissar Gordon Rabe den verbliebenen Rest der guten Laune. Was er sah, konnte seiner Meinung nach nur eine Mutter wirklich lieben. Was war aus dem smarten Burschen geworden, der er einmal war? Sein einst schwarzer Bart, der sich um Mund und Wangen legte, war von breiten, weißen Strähnen durchzogen, die sich mittlerweile auch in seinem schulterlangen Kopfhaar fanden. Die Tränensäcke konnten auch die Teebeutel nicht mehr kaschieren, die er sich häufig auf die Augen legte. Obwohl er sich dessen bewusst war, dass man mit sechsundvierzig nicht mehr das jugendliche Aussehen eines Teenagers besitzen konnte, trieb ihn die Eitelkeit zu so manchen Hausmittelchen. Aber er tat es nicht, um der Damenwelt zu imponieren. Es war reine Gewohnheit, war die Ausrede, mit der er sich selbst belog. Mit dem Finger fuhr er zärtlich über das Foto, das er in die Ecke des beschlagenen Spiegels gesteckt hatte. Die Verzweiflung in seinen Augen wich für einen kurzen Moment einem Leuchten, das jedoch Sekunden später wieder der Hoffnungslosigkeit Platz einräumte.

Wie inhaltsreich und sinnvoll war dieses Leben gewesen, bevor Denise ihm Jonas nahm und das Haus verließ. Dass ihre Ehe nach seinen Saufeskapaden den Bach runterging, kam nicht überraschend, obwohl er Denise immer noch liebte. Er hatte nicht bemerkt, vielleicht auch nicht bemerken wollen, dass sie sich mit den Jahren auseinandergelebt hatten. Sein Beruf war zumeist der Grund dafür, dass eine Beziehung nicht auf Dauer hielt. Schon weit vorher schlossen die Kollegen Wetten darauf ab, wie lange es bei ihm noch dauern würde, bis sie seine Trennung besaufen könnten. Er hasste sie manchmal dafür.

Wie geht es dir, Kleiner? Mama wird bestimmt gut für dich sorgen.

Gordons Lippen bewegten sich, während er diese Gedanken formulierte. Er sah die Bilder des letzten gemeinsamen Urlaubs vor seinem geistigen Auge vorüberziehen, in dem sich Denise schon mit ihm bezüglich seiner Trunksucht gestritten hatte. Jonas zuliebe verzichteten sie auf allzu offene Debatten, da sie glaubten, dass er unter diesem Zustand doch leiden könnte. Wenn auch sein angeborener Autismus nur Eingeweihten gestattete, seine Verhaltensänderung zu erkennen, so war es bezeichnend, dass er sich noch weiter in sich zurückzog. Immer wieder hatte Gordon versucht, ihn bei Strandspaziergängen aufzumuntern. Sie spielten ihm sogar das funktionierende, intakte Eheleben vor mit dem Ergebnis, dass er sie beide nur verständnislos und schweigend anstarrte. Obwohl es schwierig war, seine wenigen Reaktionen, so es sie überhaupt gab, einzuordnen, schien er in ihre Seelen blicken zu können. Dann verabschiedete er sich in seine Welt und paukte eine neue Fremdsprache. Es fiel ihm unendlich leicht, nun schon neben Englisch, Französisch und Spanisch auch Russisch zu lernen. Eine Gabe, die er unmöglich von seinen Eltern haben konnte. Man erlebte sie immer wieder besonders bei Autisten, die das Asperger-Syndrom aufwiesen. So war es auch bei Jonas. der Fall.

Gordon zuckte zusammen, als das Smartphone auf der Ablage tanzte und der Gefangenchor aus Nabucco durch das Bad dröhnte. Fluchend griff er nach dem Störenfried und meldete sich mit mürrischer Stimme. Lange hörte er zu, bevor er die erste Frage stellte.

»Wo ist diese verfluchte Müllhalde denn nun genau. An der Heißener Straße reicht mir da nicht. Ich möchte das schon genau wissen.«

Wieder lauschte er und drehte den Wasserhahn auf.

»Moment, bin sofort wieder da.«

Mit beiden Händen fing er das Wasser auf und warf es sich ins Gesicht. Erst als er die erfrischende Wirkung spürte und sich wieder trocken gewischt hatte, nahm er das Telefon wieder auf.

»So, da bin ich wieder. Habt ihr der Spurensicherung schon die Adresse gegeben? Ich möchte sie und euch beiden vor Ort haben. Bin in zwanzig Minuten da.«

Hauptkommissar Rabe stützte beide Hände auf das Waschbecken und blickte an sich herunter. Das, was er zu sehen bekam, ließ den Entschluss in ihm reifen, bald wieder mit dem Fitnesstraining zu beginnen. Entschlossen eilte er ins Schlafzimmer und schlüpfte in den Jeansanzug, der zu seinem Markenzeichen im gesamten Präsidium geworden war. In der Szene hatte man ihm seit längerer Zeit den Beinamen »The Boss« gegeben, angelehnt an das äußere Erscheinungsbild eines Bruce Springsteen.

Große Scheinwerfer, die rund um die Fundstelle aufgestellt worden waren, wiesen Gordon Rabe den direkten Weg. Es war ein Bild, das ihm für einen kurzen Moment ein Grinsen auf die Lippen zauberte, bevor er sich des Ernstes der Lage bewusst wurde. Es wirkte zumindest auf ihn belustigend, dass Heerscharen von in weißen Schutzanzügen gekleideten Menschen durch einen Berg von Müll wuselten und dabei ständig die Blitze der Fotokameras die Szene für Momente aufhellten. Er wusste, wie mühselig es war, in diesem Dreck eine verwertbare Spur zu finden. Nachdem man ihm den Fundort nannte, war er sich bereits sicher, dass dies niemals der Tatort sein konnte. Man hatte wohl ein Opfer entsorgt, von dem man höchstwahrscheinlich überzeugt war, dass es tot war. Ansonsten ergab die Aktion für ihn keinen Sinn. Ein Polizeibeamter stellte sich ihm in den Weg, der jedoch den Finger an die Mütze legte, als er Gordons Dienstausweis sah. Mitten im Gewühl entdeckte er die imposante Figur von Kommissar Kai Wiesner, der ausgiebig mit Kommissarin Leonie Felten diskutierte. Gordon Rabe näherte sich von der Seite und unterbrach das Gespräch.

»Ich störe ja ungern eure Unterhaltung, aber es hört sich danach an, als wärt ihr unterschiedlicher Meinung. Worum geht es dabei?«

Leonie Felten reagierte bereits, bevor Kai Wiesner den ersten Ton von sich geben konnte.

»Es hat zehn Minuten gebraucht, bevor ich den Preisboxer hier aus den Federn geklingelt hatte. Kai wollte sogar noch duschen. Fast hätte ich den Sturkopf mit Waffengewalt ins Auto gezwungen. Und jetzt haben wir den Salat.«

»Moment mal, Leonie – du machst es dir ziemlich einfach. Ich trage keine Schuld daran, dass ...«

»Ruhe jetzt!«, fuhr Hauptkommissar Rabe dazwischen. »Kann mir mal jemand erklären, was das Theater soll? Ich verstehe nur Bahnhof.«

Wieder war es Leonie, die schneller reagierte als der etwas behäbig wirkende Kollege.

»Wäre der liebe Kollege etwas entscheidungsfreudiger und schneller gewesen, hätten wir das Opfer eventuell noch befragen können. Jetzt hat sie den Löffel abgegeben. Dr. Lieken ist der Meinung, dass der Tod erst vor weniger als zwanzig Minuten eingetreten sein muss. Das bestätigt auch die Aussage des Zeugen, der die Frau gefunden hat. Er behauptet nämlich, dass sie noch um Hilfe gebettelt hat.«

»Wo finde ich Dr. Lieken?«, wollte Rabe wissen und blickte sich um. Es war nicht schwer, diesen besonderen Mann aus den vielen weißen Gestalten herauszufiltern. Obwohl er die gerade einmal hundertsechzig Zentimeter nur knapp überschritt, war sein schulterlanges Haar ein klares Erkennungsmerkmal. Nur selten trugen Männer, die das Alter von fünfundsechzig erreicht hatten und einen akademischen Titel ihr Eigen nannten, diese Frisur der ehemaligen Blumenkinder. Der Mann jedoch machte sich wenig aus den abschätzenden Blicken anderer. Da stand dieser perfekt ausgebildete Rechtsmediziner drüber, zumal er sich durch die Einheirat in eine stinkreiche Familie eine gewisse Gelassenheit angeeignet hatte, die unterschiedlich ausgelegt wurde. Was viele für pure Arroganz hielten, war jedoch nur ein Schutzmantel für ihn. Gordon Rabe wusste durch eine lange Zusammenarbeit mit ihm, wie sensibel und innerlich zerrissen Lieken in Wirklichkeit war. Gordon kämpfte sich durch den Unrat und sah die Erleichterung in Liekens Augen, als der ihn erkannte.

»Zu spät.«

Resigniert hob der Mediziner die Schultern, bevor er seine Aussage erläuterte.

»Es wundert mich ehrlich gesagt, dass diese junge Frau überhaupt noch einen Hilferuf von sich geben konnte. Guck dir mal diese ekligen Wunden an. Das ist nicht mehr menschlich, was man ihr angetan hat. Einige von den Verletzungen sind für sich allein schon tödlich. In der Summe grenzt es wirklich an ein Wunder, dass sie überhaupt noch atmete.«

Dr. Lieken zog das Tuch vom Körper der Frau, die quasi in ihrem eigenen Blut badete. Gordon hatte in seinen langen Jahren bei der Mordkommission schon viele Opfer gesehen – das hier überstieg jedoch eine rote Linie. Er musste den Blick abwenden, um die Übelkeit zu unterdrücken.

»Wie hat diese Frau das denn geschafft? Das kann doch kein Mensch aushalten. Wo ist der Rest von der Frau? Gibt es noch weitere Funde hier?«

Die Lippen des Mediziners waren fest aufeinandergepresst, als er den Kopf schüttelte. Er griff nach einem Kugelschreiber und wies auf das Gesicht der Frau.

»Da muss eine gehörige Portion Hass beim Täter vorhanden gewesen sein, als er ihr die Augen herausriss. Ich kann keine eindeutigen Verletzungen, also Scharten an den Knochen erkennen, die darauf hinweisen, dass er dafür einen Gegenstand benutzt hat. Das Schwein muss ihr die Augäpfel mit bloßen Fingern herausgegraben haben. Wir könnten es wieder einmal mit einem Trophäensammler zu tun haben. Doch das ist nicht alles, Gordon. Siehst du das hier?«

Der Hauptkommissar zwang sich dazu, der Richtung zu folgen, die ihm der Kugelschreiber des Arztes vorgab. Die Gänsehaut konnte er nicht vermeiden, die sich augenblicklich bildete, als er die rechte Hand betrachtete, an der der Ringfinger fehlte. Weiter leitete ihn Dr. Lieken zum Unterleib der geschändeten Frau. Erst jetzt bemerkte Gordon, worauf der Freund hinauswollte. Der abgetrennte Ringfinger steckte noch sichtbar in der Vagina des Opfers. Gordon Rabe fehlten die Worte. Die Frage kam im gleichen Augenblick aus dem Mund von Leonie Felten, die sich unbemerkt von Gordon neben ihn gestellt hatte.

»Hat das eine Bedeutung, Dr. Lieken? Warum nimmt der Satan die Augen mit und lässt den Finger in der Scheide zurück? Das muss doch einen Grund haben.«

Der Arzt kam aus seiner Hockstellung hoch und verstaute seinen Schreiber wieder umständlich in der Jackeninnentasche. Während er den Kopf gesenkt hielt, kamen die Worte stockend über seine Lippen.

»Ich bin da nicht der richtige Ansprechpartner, liebe Kollegin Felten. Das wird Ihnen ein Psychologe besser erklären können. Aber wenn Sie mich schon einmal fragen«, hier machte Lieken eine bedeutungsvolle Pause. »Ich sehe in dem Ringfinger einen Hinweis. Warum gerade der und nicht der Daumen? Ich möchte wetten, dass wir daran auch einen Ehering finden werden. Den Beweis werde ich Ihnen später vielleicht nachreichen können, wenn ich die Dame auf dem Tisch hatte. Ich weiß, dass es weit hergeholt scheint, aber ich vermute, dass die Frau in den Augen des Täters untreu war und er es damit symbolisieren will. Der Ring ist das Versprechen zur Treue – die Vagina die Wurzel allen Übels.«

»Was soll denn der Unsinn, Herr Doktor? Sie können doch nicht behaupten, dass ...«

Leonie Felten stemmte ihre Fäuste in die Hüften und betrachtete den Mediziner missbilligend. Gordon hielt sie zurück, bevor sie einen ihrer berüchtigten Wutanfälle bekam.

»Ruhig, Felten. Da hast du was in den falschen Hals bekommen. Ich denke, dass Dr. Lieken es ganz anders meinte, als du es aufgefasst hast. Er sieht in den Genitalien und dem Sexualtrieb beider Geschlechter einen gewichtigen Grund, warum Menschen ihr Versprechen zur Treue brechen und sich einem anderen möglicherweise aus reiner Wollust hingeben. Es wäre doch gut möglich, dass wir es mit einem betrogenen Ehemann zu tun haben, der an verknöcherten Treueschwüren festhält und so Rache geübt hat. Ist das denn so weit weg für dich? Komm mal wieder runter. Selbst du als überzeugte Single solltest dir das vorstellen können.«

Leonie schenkte dem Doktor noch einen letzten giftigen Blick, bevor sie sich wieder entspannte. Die gemurmelte Bemerkung konnte sie sich jedoch nicht verkneifen.

»Wenn das jetzt Mode macht, haben wir eine weitere Gottesplage auf Erden. Das dürfte allerdings kaum einer überleben und zur endgültigen Ausrottung der menschlichen Rasse führen. Halleluja. Und das mit dem überzeugten Single solltest du einmal etwas differenzierter sehen. Ich habe auch Beziehungen, lehne aber die feste Bindung ab. Bemerkst du den feinen Unterschied darin?«

Einige der Männer, die um sie herumstanden und der Diskussion gefolgt waren, konnten sich trotz der bedrückenden Situation ein Grinsen nicht verkneifen. Dr. Lieken nutzte die Pause, um noch eine Bemerkung loszuwerden.

»Ich möchte Sie alle noch auf eine Kleinigkeit hinweisen, die allerdings von besonderer Bedeutung sein dürfte. Der Täter hat uns eine Nachricht hinterlassen.«

Demonstrativ hob er die Decke nun vollständig und drehte den Leichnam auf die Seite, sodass jeder die Wunden auf dem Rücken erkennen konnte. Jemand hatte der Frau die Worte in die Haut geschnitten:

Ich habe Gottes Gebot missachtet

»Wer das getan hat, Herrschaften, wollte ein Exempel statuieren. Wenn ihr mich nach der Bedeutung fragt, würde ich auf Untreue tippen. Das würde zu der anderen Verletzung passen. Ich hätte die Dame gerne zeitnah auf dem Tisch. Könntest du das veranlassen, Gordon?«

Der Mediziner wartete die Antwort des Freundes nicht ab und stapfte durch den Müll in Richtung seines Autos. Der Citroën 2CV tuckerte gefährlich schaukelnd davon und ließ vorerst ratlose Polizisten am Fundort der Leiche zurück.

3

»Nun noch einmal von vorne, Herr Fielmann. Jede Kleinigkeit kann für uns sehr wichtig sein. Sie suchten also nach etwas Essbarem und begaben sich zu dieser wilden Abladestelle. Ist Ihnen dabei wirklich niemand aufgefallen, der sich vielleicht vom Fundort des Opfers entfernte? Der Ort wird ja relativ gut von einer Straßenlaterne beleuchtet.«

Leonie Felten beugte sich über den Tisch und schob dem sichtlich nervösen Obdachlosen die Tasse mit dem heißen Kakao näher hin, die er bisher nicht angefasst hatte. Fast ängstlich um sich blickend legte der nun die schmutzigen Hände um die Tasse und nippte an dem Getränk.

»Da war wirklich keiner – glauben Sie mir. Das hätte ich bemerkt. Ich bin in dem Punkt sehr vorsichtig, da man mir früher mal aufgelauert und mir die Jacke angezündet hat. Da waren nur ein paar Ratten und dann diese Frau. Die hat sich noch bewegt und um Hilfe gerufen.«

»Hat sie laut gerufen oder nur so ganz leise? Was genau hat sie Ihnen gesagt?«

Kommissarin Felten versuchte, ihrer ansonsten festen, sogar rauen Stimme einen sanften Klang zu geben. Jeder, der dieser Frau zum ersten Mal begegnete, war beeindruckt von der etwas maskulinen Erscheinung im stets strengen Hosenanzug. Obwohl sie sich bemühte, sie durch ständige Rasuren unsichtbar zu halten, fiel die Oberlippenbehaarung immer wieder auf. Im krassen Gegensatz dazu stand der betörende, sehr feminine Duft von Chanel No 5, den sie sich hin und wieder zu stark auflegte.

Rainer Fielmann schien nun alle Scheu abzulegen. Er trank einen großen Schluck des wärmenden Kakaos und rieb sich mit dem Ärmel über den Bart, um letzte Tropfen zu beseitigen. Er überlegte nur Sekunden, bevor er seine Erstaussage wiederholte.

»Sie sagte, so glaube ich – nein, ich bin mir da sicher: Ist da jemand? Bitte helft mir doch. Es tut so schrecklich weh. Als ich den Sack aufgeschnitten hatte, kam dann noch: Hilf mir bitte. Ich halte das nicht mehr aus. Mehr kann ich nicht sagen, weil ich dann losgelaufen bin. Den Rest kennen Sie ja. Verdammt, wer macht so was nur? Derjenige muss total krank sein.«

Leonie Felten ließ die abschließende Aussage unkommentiert, zumal ihr in dem Augenblick der Kollege Wiesner ein Zeichen gab, dass er sie sprechen wollte.

»Für Ihre Aussage und dafür, dass Sie so umsichtig gehandelt haben, danken wir Ihnen. Wenn Sie bitte noch einen kleinen Moment draußen warten würden, bis die Kollegen die Aussage protokolliert haben. Sobald Sie unterschrieben haben, können Sie natürlich gehen. Hinterlassen Sie bitte noch eine Adresse, wo wir Sie erreichen können.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Leonie, um nach dem Grund der Störung zu fragen. Sie bekam die Bemerkung des Zeugen nicht mehr mit, der sich draußen auf die Bank setzte.

»Meine Adresse? Hat die Frau was geraucht? Ich wollte, ich hätte endlich eine.«

Er verfolgte noch einen Moment die Geschehnisse im Nebenraum, wo sich die Kommissarin mit einem riesigen Kerl unterhielt, der ihr Fotos zeigte. Dann schlief er auf der Bank im Flur ein. Nach kurzer Zeit klopfte ihm ein Beamter auf die Schulter und bat darum, ein Schriftstück zu unterzeichnen. Missmutig verließ Fielmann das Präsidium und machte sich auf den Weg zu seiner normalen Schlafstelle in der Kanalisation.

 

Leonie Felten besah sich die Fotos, die ihnen Dr. Lieken aus der Rechtsmedizin auf den Rechner geschickt hatte. Sie konnte immer noch nicht begreifen, warum man so was einem anderen Menschen antat.

»Jetzt, wo der Körper gewaschen wurde, kann man auch die vielen Prellungen und Blutergüsse erkennen. Da muss sich jemand im Zustand rasender Wut über die Frau hergemacht haben. Haben wir schon Hinweise auf die Identität? Das Gott sei Dank geschönte Bild vom Gesicht der Toten war doch in der Presse. Dann müssen wir nur noch zwei und zwei zusammenzählen. Es dürfte nicht schwer sein, herauszufinden, wo sich der Ehemann derzeit aufhält. Findest du nicht auch, dass dieses Gemetzel auf ihn hindeutet?«

Kai Wiesner, der seine Kollegin um mehr als einen Kopf überragte, legte den Kopf schräg und zog die Stirn in Falten.

»Auf den ersten Blick würde ich mit dir darin d´accord gehen. Aber es besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass es sich um einen Freund der Frau oder sogar um ein Zufallsopfer handelt. Die Kollegen suchen nach vermissten Personen und Fällen, die Ähnlichkeiten aufweisen. Dr. Lieken schreibt hier, dass er Spuren von Erde und Fremdblut unter den Fingernägeln der Frau gefunden und an das Labor geschickt hat. Die versuchen nun in der Datenbank die DNA abzugleichen. Vielleicht haben wir ja Glück und es handelt sich um einen alten Bekannten.«

Das Telefon auf Rabes Schreibtisch meldete sich. Leonie warf einen Blick auf das Display und zuckte im letzten Moment zurück, als sie den Anrufer anhand der Nummer ausmachen konnte.

»Warum gehst du nicht dran?«

Keiner von beiden hatte bemerkt, dass der Chef gerade in diesem Augenblick das Büro betreten hatte und fragend auf seine Kollegin blickte.

»Es war Denise. Ich wollte nicht ...«, stotterte Leonie und trat zur Seite.

»Was ist los mit dir? Du bist es nicht, die mit ihr in Scheidung lebt, sondern ich. Denise hätte dich schon nicht gefressen. Dafür bin ich da. Jetzt kann ich sie zurückrufen, verdammt. Gibt es was Neues über den gestrigen Fund? Gebt mir fünf Minuten, dann habe ich Zeit für euch. Jetzt werde ich zuerst das größere Problem angehen.«

Gordon Rabe ließ sich mit einem ergebenen Seufzer in seinen Drehstuhl fallen und griff nach dem Telefonhörer. Kaum hatte er die erste Ziffer gewählt, erklang wieder der Gefangenenchor in seiner Innentasche. Ergeben legte er wieder auf und griff nach seinem Smartphone.

»Na, noch nicht im Büro angekommen? Hat dich dein Kater wieder einmal aufgehalten? Nun ja, soll meine Sorge nicht mehr sein. Schmeiß dir eine Tablette rein und hör mir zu. Ich wollte etwas mit dir besprechen, was Jonas betrifft. Wann hat der Herr Hauptkommissar Zeit für wichtige familiäre Angelegenheiten? Noch muss ich mich ja mit dir abstimmen. Also, wann können wir uns sehen?«

Gordon verdrehte die Augen, als er schon zur Begrüßung mit dieser Boshaftigkeit überschüttet wurde. Er atmete zweimal kräftig durch, um sachlich antworten zu können.

»Geht es dir jetzt besser, nachdem du dein Gift versprüht hast? Komm zur Sache. Vielleicht erübrigt sich ja dann das ominöse Treffen. Ich denke, dass du sowieso nicht so scharf darauf bist. Was ist mit Jonas?«

Im Hintergrund konnte Gordon ein Tuscheln vernehmen, was ihm zeigte, dass Denise nicht alleine am Telefon war.

»Ist das Jonas, mit dem du sprichst? Gib ihn mir mal. Vielleicht kann er mir selbst mitteilen, was seine Mutter nur Auge in Auge klären kann.«

»Es ist nicht Jonas, du Feigling. Hast du nicht einmal mehr genug Arsch in der Hose, mir persönlich gegenüberzutreten? Was ist aus diesem Superbullen geworden, der du doch immer sein wolltest? Ich komm heute Abend mit unserem Sohn bei dir vorbei. Basta. Ich hoffe, dass du um zwanzig Uhr in der Wohnung bist – und nüchtern.«

Hauptkommissar Rabe blieb keine Gelegenheit, darauf zu antworten. Kopfschüttelnd starrte er auf sein Smartphone und steckte es schließlich zurück in die Jackentasche. Zwei Augenpaare richteten sich fragend auf ihn, als er sich zum Besprechungstisch bewegte.

»Ich will jetzt nichts darüber hören, Leonie!« Drohend wies sein Zeigefinger auf seine Mitarbeiterin, die gerade zu einer Frage ansetzen wollte.

»Ich wollte ja nur ...«, war alles, was sie noch herausbekam. »Aber über den Fall dürfen wir doch wohl reden, oder? Du wolltest wissen, was es an Neuigkeiten gibt. Nichts. Hilft dir das irgendwie weiter?«

Fast hätten die beiden losgelacht, als sie in das überraschte Gesicht ihres Chefs blickten. Im letzten Moment verkniffen sie sich das, da sie einschätzen konnten, dass der für Scherze derzeit nicht empfänglich sein durfte. Kai Wiesner beeilte sich deshalb, dem Vorgesetzten die Ausdrucke aus der Rechtsmedizin vorzulegen. Sie gaben Gordon Zeit, die Fakten zu registrieren. Schließlich gab auch er den ersten Kommentar zur Sache ab.

»Ich habe vorhin noch mit Dr. Lieken telefoniert. Er hat diverse Haare an der Leiche gefunden, die eindeutig nicht ihr selbst zuzuordnen sind. Die gleichen wir jetzt schnellstmöglich mit der DNA von unserem Zeugen Fielmann ab. Könnte ja sein, dass der die Frau angefasst oder sich über sie gebeugt hat. So ganz dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass er sogar der Täter sein könnte und uns nur ein Theater vorspielt. Das klingt doch gut, wenn man die Geschichte mit dem Hilferuf auftischt. Kommt die Polizei, ist sie soeben verstorben. Er ist dann fein raus. Also werden wir Rainer Fielmann im Kreis der Verdächtigen belassen. Ich hoffe nur, dass wir bald den Namen der Toten haben. Das dürfte doch wohl nicht so schwer sein.«

»Mit Augen wäre es sicherlich einfacher«, konnte sich Kai Wiesner nicht verkneifen zu erwähnen.

4

Sie ist immer noch eine Schönheit, fuhr es ihm durch den Kopf, als Gordon an der Haustür zur Seite trat, um Denise und Jonas in die Wohnung eintreten zu lassen. Keiner der beiden gönnte dem Mann einen Gruß, der jeden Monat einen großen Teil seines Gehaltes an sie überwies. Bei Denise hatte er es auch nicht erwartet, aber der teilnahmslose, leere Blick seines Sohnes Jonas bereitete ihm Sorgen. Während Jonas sofort damit begann, das Bücherregal des Vaters zu inspizieren, setzte sich Denise an den Esstisch und entfaltete wortlos ein Schreiben auf dem Tisch. Gordon ließ sich dadurch nicht davon abhalten, sich seinem Sohn zu nähern, der scheinbar interessiert in dem Kompendium der Kriminalistik blätterte, das der diplomierte Kriminalist Dr. Lukaschewski als Nachschlagewerk für Kollegen und angehende Mediziner herausgebracht hatte. Er reagierte kaum, als sich die Hand seines Vaters auf seine Schulter legte.

»Möchtest du nach der Schule bei uns einsteigen? Wir können immer guten Nachwuchs brauchen. Du darfst dir das Buch gerne ausleihen.«

Als hätte Gordon gegen eine Wand gesprochen, stellte Jonas das Buch wieder in das Regal und setzte sich wortlos neben seine Mutter. Er begann damit, etwas in ein Notizbuch zu schreiben, das weder Denise noch Gordon einsehen durften. Schließlich steckte der Zwölfjährige das Büchlein zurück in die Tasche und sah weiterhin stumm auf einen imaginären Punkt an der Wand.

»Würdest du dir jetzt endlich das Schreiben ansehen und deine Unterschrift drunter setzen?«, giftete Denise los und tippte mit ihren dunkelrot lackierten Nägeln auf das amtliche Schreiben. »Ich muss das bis morgen zurückgeschickt haben.«

Nun endlich überlas Gordon, was er unterschreiben sollte. Adressiert war das Schreiben an die Schule, die Jonas bisher besucht hatte. Sie erwartete die Bestätigung beider Elternteile, dass Jonas zum Ende des Schuljahres die Schule verlassen würde, um auf eine andere zu wechseln, die ihm das Erreichen des Abiturs eher ermöglichen könnte. Man bescheinigte ihm ein überdurchschnittliches Wissen und Talent, wobei aber auch auf die Problematik seines angeborenen Autismus hingewiesen wurde. Die Lehrer empfahlen daher die besondere Förderung, die man ihm auf Grund fehlender Inklusionsmöglichkeiten derzeit auf der bisherigen Schule nicht garantieren konnte. Man empfahl eine gleichwertige Schule, die über mehr Lehrkörper verfügte, die entsprechend geschult waren. Inklusion war ein großes Wort, das durch die Schulen geisterte, wobei die Umsetzung in den wenigsten Fällen klappte.

»Ich verstehe das nicht. Jonas könnte doch sein Abitur auch dort machen. Das hat man uns doch zugesagt. Was sagt denn Jonas zum Wechsel?«

»Frag ihn doch selbst – dein Sohn sitzt doch direkt vor dir.«

Als hätte er nichts von der Diskussion mitbekommen, war der Blick von Jonas nun auf die Tischdecke gerichtet, auf der er mit einem Finger das abstrakte Muster nachzeichnete. Gordons Hand legte sich über die von Jonas, was lediglich dazu führte, dass er aufhörte, die Linien nachzuzeichnen, jedoch weiter auf eine Stelle starrte. Selbst als er die Worte des Vaters vernahm, reagierte er nur, indem er Denise fragend ansah.

»Jonas – bitte antworte mir«, drängte ihn Gordon nun energischer, »Ich möchte doch nur wissen, ob du das auch möchtest. Du hast doch bestimmt viele Freunde in der Schule, die du dann nicht mehr sehen würdest. Hast du dir das gut überlegt? Hat dich deine Mutter überhaupt gefragt?«

»Das ist doch wohl die Höhe. Was erlaubst du dir überhaupt uns gegenüber? Du säufst dir den Verstand weg und meinst jetzt, uns belehren zu müssen? Ich trage derzeit die Verantwortung für unseren Sohn – ich ganz allein. Verstehst du das? Unterschreibe und lass mich das erledigen, was für den Jungen das Beste ist.«

Sie riss Gordon das Schreiben aus der Hand und tippte wieder auf die Stelle, an der Gordon unterschreiben sollte. Ihr Gesicht hatte neben der Freundlichkeit auch die Züge verloren, die ihre natürliche Schönheit ausmachten. Gordon war erfahren genug, um jetzt nicht die Ruhe zu verlieren. Allerdings trieb genau diese abgeklärte Ruhe Denise immer wieder zur Weißglut. Sie hasste es, wenn sie durch ihre Aggressivität bei ihm keine Wirkung erzielen konnte.

»Komm mal wieder runter von deinem hohen Ross. Mein Verstand funktioniert noch recht gut. Und die Entziehung habe ich hinter mich gebracht. Ich habe mein Wort gehalten. Du warst es, die trotz falscher Versprechungen, dass danach wieder alles gut wird, die Scheidung eingereicht hat. Wenn es nach mir gegangen wäre, könnte ich mich immer noch um den Jungen kümmern. Mach jetzt mal halblang.«

Ohne dass er es beeinflussen konnte, hatte Gordon ungewollt die Stimme erhoben. Denise hatte es durch ihre Art, schnell ausfallend zu werden, geschafft, dass auch er überreagierte. Beide stockten in ihren Reaktionen, als sie die Stimme von Jonas unterbrach.

»Mama, ich will gehen. Bitte.«

»Siehst du, du Wahnsinniger? Jetzt hast du erreicht, was du wolltest. Dein Sohn hat Angst vor dir. Unterschreib nun endlich den Wisch, sonst tue ich es selbst. Du kannst mich ja anschließend verklagen wegen Urkundenfälschung. Mach es jetzt endlich. Der Junge muss hier raus, bevor er wieder einen Anfall bekommt.«

Jonas wich dem bittenden Blick seines Vaters aus und konzentrierte sich wieder auf die Tischdecke.

Bitte, mein Junge, hör mir doch zu. Ich liebe dich und möchte doch nur, dass du glücklich bist.

Gordon versuchte, seine Gedanken auf seinen Sohn auszurichten, stellte aber verzweifelt fest, dass es ein wirkungsloser Versuch war, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er nahm schließlich zögernd den Kugelschreiber aus der Hand von Denise, die ihm den schon eine Weile entgegenhielt. Mit schwerem Herzen setzte er seine Unterschrift unter das Papier. Er beobachtete weiter den Jungen, der das Geschehen aus einer Welt mitverfolgte, die kein anderer außer ihm verstehen konnte. Denise faltete das Schreiben schnell zusammen, als befürchtete sie, Gordon könnte es sich überlegen. Sie zerrte Jonas vom Stuhl und verließ grußlos die Wohnung. Noch eine Weile starrte Gordon auf die Tür, die sich hinter denen schloss, die er über alles liebte.

5

»Wir haben den möglichen Namen der Toten. Es hat sich jemand aus Bredeney gemeldet, die glaubt, die Frau erkannt zu haben. Diese Frau Marken meint, dass es sich um ihre Nachbarin, eine Frau Heurath, handelt, die sie schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hat. Der Ehemann ist angeblich auf Geschäftsreise. Wir sollten mal hinfahren. Hoffentlich ist das nicht wieder so eine Ente wie gestern.«

Kai Wiesner klärte die Kollegin Felten über den Anruf auf, den er vor wenigen Sekunden erhalten hatte. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen, als er sich die Jacke überwarf, die der sehr ähnelte, die einst Götz George in seiner Rolle als Kommissar Schimanski trug. Nur mit dem Unterschied, dass Kai die mindestens vier Nummern größer benötigte. Es war immer wieder ein belustigendes Bild, wenn Leonie neben dem mächtigen Körper des Kommissar Wiesner über den Gang marschierte. Sie mussten sich schon so manche Frotzelei diesbezüglich anhören.

 

Der Dienstpassat hielt nur wenige Meter von dem Haus entfernt, das ihnen als Wohnsitz der Familie Heurath genannt worden war. Auf dem gleichen Flur sollte die Zeugin Lisbeth Marken wohnen, deren Klingelknopf sie auch auf Anhieb fanden. Leonie hatte kaum den Finger vom Knopf gelöst, als auch schon der Türöffner betätigt wurde. Die etwa vierzigjährige Frau in der Türöffnung kämmte sich in aller Eile die Locken aus, für die sie vermutlich erst kurz zuvor den Frisierstab benutzt hatte. Den hielt sie immer noch in der anderen Hand. Das Kabel zog sie hinter sich her, als sie dem Besuch ins Wohnzimmer folgte.

»Entschuldigen Sie bitte – aber ich hatte Sie so schnell nicht erwartet. Bin noch nicht ganz mit der Morgentoilette fertig. Wenn Sie noch einen kleinen Augenblick Geduld ...?«

Hier wurde sie von Leonie Felten unterbrochen.

»Das macht gar nichts, Frau Marken. Wir möchten Ihnen ja nur ein paar Fragen stellen. Bleiben Sie ruhig hier.«

»Aber machen Sie denn kein Foto für die Zeitung? Ich kann doch so nicht ...«

Kai Wiesner war anzumerken, was sich in ihm aufbaute, da er befürchtete, wieder einmal umsonst eine Fahrt unternommen zu haben. Er stellte sich neben die Zeugin und legte seinen mächtigen Arm um deren Schultern. Er schob sie vorsichtig in Richtung Sessel, in den Frau Marken mit enttäuschter Miene sank.

»Aber eine Belohnung gibt es doch bestimmt. Das kenne ich aus dem Fernsehen. Was möchten Sie denn genau wissen?«

Nur Leonie bemerkte, dass Kai in seiner Verzweiflung die Augen zur Decke drehte und sich neben sie auf die Couch setzte. Sie übernahm die erste Frage.

»Wir haben uns noch gar nicht vorstellen können, Frau Marken. Mein Name ist Kommissarin Felten und das ist mein Kollege Kommissar Wiesner. Sie erwähnten gegenüber meinem Kollegen, dass Sie in dem Foto aus der Zeitung glauben, Ihre Nachbarin erkannt zu haben. Ist das so richtig?«

Statt einer Antwort, erhielten die beiden lediglich ein Kopfnicken und in Erwartung neuer Fragen sahen sie in weit aufgerissene Augen.

»Ich deute Ihr Nicken einmal als Zustimmung. Ist es richtig, dass es sich dabei um die Frau Heurath von nebenan handelt? Wir sahen das auf dem Klingelschild. Und bitte, Frau Marken – wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns mit einem deutlichen Ja oder Nein antworten würden.«

Lisbeth Marken hüstelte den Frosch weg, der ihr im Hals steckte und ließ ein krächzendes Ja hören. Allerdings begleitete sie diese Bemerkung wieder mit einem deutlichen Nicken. Kai Wiesner musste sprechen, um nicht an seiner Wut und Enttäuschung zu ersticken.

»Könnten Sie uns die kompletten Namen der Familie geben, damit wir Ihre Aussage überprüfen können? Ich denke, dass Frau Heurath verheiratet ist und möglicherweise sogar Kinder hat.«

Zum Erstaunen der beiden Ermittler schüttelte Lisbeth Marken jetzt energisch den Kopf.

»Sie kennen die Namen Ihrer direkten Nachbarn nicht?«

»Ich meine nur, dass die beiden keine Kinder haben. Die Frau heißt Martina und ihn spricht sie immer mit Karsten an. Ob die Herrschaften miteinander verheiratet sind – wer weiß? Man erlebt ja heutzutage die schlimmsten Sachen. Bevor Sie fragen, Herr Kommissar«, Frau Marken rutschte auf die Vorderkante ihres Sessels und beugte sich flüsternd vor, als würde sie ein Staatsgeheimnis weitertragen wollen: »Er ist angeblich immer auf Geschäftsreise, sagt sie. Hier im Haus denkt man, dass der Kerl in irgendeinem Gefängnis seine Strafen absitzt. Den müssten Sie mal sehen. Der sieht schon aus wie einer von der schlimmsten Sorte. Der hat die arme Frau bestimmt ...« Hier machte Frau Marken mit dem Finger eine Bewegung, als würde sie den Hals durchschneiden. »Sie wissen schon, was ich meine.«

Spätestens jetzt wühlte der Zorn auch in Leonie Felten, die sich bemühte, trotzdem sachlich zu bleiben.

»Sie meinen also, dass die beiden sich häufig gestritten haben und er seine Frau abgemurkst hat? Das ist eine interessante These. Na, dann haben wir ja kaum noch was zu tun. Wir finden den Ganoven, sperren den ein und der Fall ist geklärt. Nun wäre da noch etwas, was uns erheblich weiterbringen würde. Können Sie uns diesen mutmaßlichen Verbrecher beschreiben?«

Beide Beamte blickten sich erstaunt an, als Frau Marken aus dem Sessel hochschnellte und überstürzt das Zimmer verließ. Zwei Minuten später erschien sie mit einer altmodischen Blechkiste unter dem Arm, ein breites Grinsen im Gesicht, das immer noch von unfertigen Locken umrahmt wurde.

»Ich habe den Kerl auf einem Foto. Bestimmt habe ich das. Der war im letzten Jahr nämlich dabei, als wir die Hausfete im Garten hinter dem Haus hatten. Warten Sie, ich habe das gleich.«

»Während Sie suchen, hätte ich da noch eine Frage, Frau Marken«, beeilte sich Leonie einzuwerfen, »Sie sind sich sicher, dass Sie die Frau Heurath am Dienstag zum letzten Mal sahen? Das ist wichtig für unsere Ermittlungen.«

Wenn Leonie vorher glaubte, eine klare Antwort erhalten zu können, wurde sie auch diesmal enttäuscht. Das Suchen in den verstaubten Fotos wurde lediglich vom mittlerweile bekannten Kopfnicken begleitet.

»Also ja, wenn ich mich nicht verguckt habe?«

»Sage ich doch, Frau Kommissarin!«, bekam sie als fast patzig zu bezeichnende Antwort. Plötzlich ein Jubelschrei.

»Hier ist es. Ich wusste es. Da sind sogar beide drauf. Sehen Sie hier.«

Frau Marken zeigte auf einen Mann, der mit verschlossenem Gesicht die Menschen am Tisch musterte, die scheinbar über einen Witz lachten.

»Gut, und wer ist seine Frau?«, wollte Kai wissen.

»Na die, die direkt neben ihm sitzt. Glauben Sie mal bloß nicht, dass der seine Frau auch nur einmal in den Arm genommen hat. Der saß den ganzen Abend muffelig am Tisch und hat kaum ein Wort gesagt. Ich hab dem auch kein Stück von meinem Kuchen angeboten. Der war wohl deshalb so stinkig. Aber ich finde, Strafe muss sein.«

»Dürfen wir das Bild mitnehmen? Sie bekommen das auf jeden Fall wieder. Aber wir müssen die Aufnahme vergrößern und mit dem Aussehen einer Person abgleichen. Und außerdem«, hier machte Leonie eine bedeutungsvolle Pause und kniff ein Auge zu, »können wir mit dem Foto besser nach dem Ehemann fahnden.«

Stolz reichte Lisbeth Marken das Bild rüber und drückte den Deckel wieder auf die Dose.

 

»Was war das denn? Wie alt muss ich eigentlich noch werden, um mich an solche Figuren zu gewöhnen? Die hatte doch nicht mehr alle Schweine im Rennen. Kannst du dir vorstellen, mit so einer Frau als Nachbarin leben zu müssen? Da würde ich schon nach wenigen Wochen auf die Fahndungsliste geraten. Die kannst du doch nur noch ...«

»Schluss damit, Kai. Du redest dich um Kopf und Kragen. Ich nehme dich besser schon jetzt in Haft, so rein prophylaktisch.« Leonie schlug dem Partner mit einem lauten Lachen die Hand auf die Schulter. »Aber mal Spaß beiseite. Die Frau Heurath besitzt wirklich eine Ähnlichkeit mit unserem Opfer und wenn die schon etliche Tage verschollen ist, sollten wir damit zum Staatsanwalt, damit die Tür geöffnet werden kann. Du fährst und ich telefoniere mit dem Chef. Der Ehemann muss noch gefunden werden. Der kann uns eventuell mehr sagen.«

6

»Das Bier ist von dem Herrn da drüben am Tisch neben der Toilette.«

Tobias folgte dem ausgestreckten Arm von Freddy, der schon seit mindestens fünfzehn Jahren diese Kneipe führte und eigentlich jeden seiner Gäste mit Namen kannte. Dass er jetzt von einem Herrn sprach, zeigte Tobias, dass es sich um einen Fremden handeln musste. Freddy grinste über alle vier Backen und schob die kleine Bemerkung nach: »Der hat wohl ein Auge auf dich geworfen. Pass bloß auf und nimm ein Gummi!«

Er sprang sofort lachend hinter der Theke zurück, um der Hand von Tobias zu entgehen, die nach ihm greifen wollte. Neugierig suchte Tobias dennoch nach dem edlen Spender und machte sich Gedanken darüber, woher ihn der Fremde wohl kennen könnte oder ob der Wirt recht hatte mit seiner Frotzelei. In dem Augenblick, in dem sich ihre Augen trafen, hob der Mann mit dem halblangen dunkelblonden Haar sein Glas und prostete Tobias zu. Obwohl sein Glas noch halb voll war, nahm er das volle und bedankte sich mit einem Nicken für das Bier. Als er schon glaubte, dass es damit getan war, schob sich der Fremde neben ihn auf den Hocker und hob wieder sein Glas.

»Keine Sorge, Herr Stähler, ich will Sie nicht anbaggern. Ich weiß, Sie kennen mich nicht – ich Sie aber schon. Und richtig kennenlernen sollten wir uns auf jeden Fall. Das könnte für Sie wichtig sein.«

Tobias musste seine Überraschung über den plötzlichen Besuch erst einmal verdauen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er das Grinsen im Gesicht von Freddy, der sich am anderen Ende der Theke mit Holger Pfund unterhielt. Er spürte, dass er im Moment zum zentralen Thekengespräch wurde. Entsprechend verärgert reagierte er auf den Besucher.

»Ich finde das ja ganz toll, dass Sie mich kennen. Sind Sie so nett und klären mich auf? Und dann können Sie sich bitte wieder an Ihren Tisch setzen, damit hier kein falscher Verdacht über Ihre Absichten entsteht. Also, was bekomme ich zu hören?«

Das Lächeln schien wie eingebrannt auf dem fein geschnittenen Gesicht des Fremden. Auffällig war nur, dass die fast schwarzen Augen dabei kalt blieben, das Lachen nicht widerspiegelten. Die rechte Hand schob sich Tobias mit den Worten entgegen: »Mein Name ist Karsten. Dass Sie Tobias heißen, weiß ich schon. Lassen Sie uns auf ein Du anstoßen. Und keine Angst – ich bin genauso hetero wie Sie. Ich suche keinen Kerl für heute Nacht. Trotzdem ist es mir wichtig, dass wir uns endlich unterhalten können.«

Immer noch hielt Karsten die Hand ausgestreckt, bis sie Tobias endlich ergriff und drückte.

»Also gut, was soll´s? Dann eben Du. Und jetzt raus mit Sprache. Was ist so wichtig daran, dass wir uns unbedingt kennenlernen müssen? Jetzt hast du mich ein wenig neugierig gemacht.«

»Wusste doch, dass du vernünftig bist. Allerdings auch ein wenig ahnungslos – oder sagt man nicht besser naiv?«

Mit dieser Gesprächseröffnung hatte Tobias nicht gerechnet. Seine Unsicherheit war nicht zu übersehen, als auch noch die Unterlippe herabsank. Er wandte sich fast angriffslustig seinem neuen Freund zu und öffnete bereits den Mund zu einer Frage, als ihn Karsten unterbrach.

»Nun werde nicht gleich sauer, Tobias. Ich bin ein Freund, glaube mir. Du hast es verdient, dass man offen zu dir ist und dir reinen Wein einschenkt.«

»Und das wirst du jetzt sicherlich bald tun, sonst kannst du dich sofort wieder an deinen Tisch verpissen. Ich mag das nicht, wenn man mit mir spielt. Verstehst du?«

Beschwichtigend hob Karsten beide Hände und hielt Tobias die Handflächen entgegen.

»Ruhig, Brauner. Rege dich nicht gleich auf, denn ich bin es ja nicht, der mit dir spielt. Da solltest du eher in deinem direkten Umfeld suchen. Es sind andere, die dir was vormachen. Verstehst du, worauf ich hinaus will?«

»Nein, das verstehe ich nicht. Du hast jetzt noch zehn Sekunden. Dann machst du den Abflug.«

Das Lächeln auf Karstens Gesicht verstärkte sich, denn er glaubte, Tobias genau dort zu haben, wo er ihn hinbewegen wollte. Die Worte schlugen bei Tobias ein wie Blitze.

»Deine Frau Sybille betrügt dich! Und das schon seit Monaten.«

Eine Bombe hätte nicht mehr Aufmerksamkeit bei Tobias erzeugen können als diese knappe Bemerkung. Er sprang vom Hocker und griff Karsten an den Hals, was der jedoch mit seinem bekannten Lächeln quittierte. Freddy verließ ebenfalls seinen Hocker, um den aufkeimenden Streit zu unterbinden. Karsten hob eine Hand und deutete dem Wirt an, dass er sich nicht in Gefahr sah und die Situation voll im Griff hatte. Freddy beobachtete trotzdem die Entwicklung und hörte die Worte des Bedrängten.

»Beruhige dich, Tobias. Es wird nicht mehr lange dauern mit dem anderen Kerl. Aber ich finde, du solltest es trotzdem wissen. Du musst stark sein und ihr zeigen, dass du sie trotzdem liebst. Alles wird wieder gut.«

Das Gesicht von Tobias verzerrte sich zu einer Fratze, als er den Druck verstärkte und keine Reaktion bei Karsten sah. Noch immer dieses unverschämte, überhebliche Lächeln, das Tobias fast den Verstand raubte. Wie durch einen Nebel hörte er die Aufforderung von Freddy, endlich loszulassen. Erst als sich die Hand des Wirtes um sein Handgelenk legte, lockerte er den Griff und sank in sich zusammen. Wie ein Film lief die Szene vor seinen Augen ab, in der sich Sybille lustvoll und völlig nackt unter den Bewegungen eines Mannes auf einem Teppich rekelte, dessen Gesicht sich nur verschwommen darstellte. Ihr Stöhnen drohte ihm den Verstand zu rauben. Tobias fuhr mit der Hand über das Gesicht, versuchte, diesen Wahnsinn fortzuwischen.

Was hat man mir in das Bier geschüttet? Wer war der Fremde wirklich, der ihm diesen Irrsinn einzutrichtern versuchte? Ich muss hier weg.

Mit einer Hand schob Tobias den Fremden von sich und suchte den Weg zur Toilette. Dort stützte er sich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens und betrachtete im Spiegel das Gesicht, das ihm plötzlich so fremd erschien. Dieser Mann, dem Tränen über das Gesicht liefen – das war nicht er. Sybille würde das niemals tun. Sie hatten sich die ewige Treue geschworen und sein Vertrauen in sie war grenzenlos.

Ich werde dir den Schädel einschlagen, du Mistkerl. Du willst einen Keil zwischen Sybille und mir treiben? Das werde ich nicht zulassen. Warte nur, ich werde dir zeigen, wozu ich fähig bin. Du wirst die Ehre dieser Frau nicht in den Dreck ziehen.

Tobias drehte den Wasserhahn auf und rieb sich immer wieder das erfrischende Wasser über das erhitzte Gesicht. Als er sich besser fühlte und abgetrocknet hatte, richtete er den Blick entschlossen auf die Tür und stürzte zurück in den Gastraum. Mit langen Schritten eilte er auf den Tresen zu und blieb wie angewurzelt stehen.

»Wo ist der Kerl hin? Der war doch gerade noch hier. Freddy, sag doch was.«

Kaum jemand nahm Notiz von ihm. Lediglich der angesprochene Wirt unterbrach für einen Moment sein Würfelspiel und antwortete knapp.

»Wenn du den Typen meinst, der dir das Bier spendiert hat – der hat sogar deinen Deckel mitbezahlt und ist raus. Lass es gut sein. Vergiss den Streit. Der kommt wohl nie wieder hier rein. Soll ich dir ein frisches Pils zapfen? Das alte dürfte mittlerweile schal sein.«

Der Puls raste, als Tobias zur Tür stürzte, den Windfang zur Seite riss und vor der Kneipe auf dem Bürgersteig stoppte. Seine Augen suchten die Straße ab, ohne eine Spur des Fremden zu entdecken.

Was war das gerade? Ist das tatsächlich passiert? Das habe ich nicht wirklich erlebt. Ich muss nach Hause.

7

»Du kommst früh, Schatz. War keiner von deinen Freunden da? Hättest du eventuell Lust, mit mir ins Kino zu gehen? Ich wollte eigentlich gleich starten.«

Tobias schlug die Wohnungstür zu und zuckte gleich darauf zusammen, als er die vertraute Stimme aus dem Bad hörte. Er blieb die Antwort schuldig und warf seine Jacke über den Stuhl im Essbereich. Als er sich in die Küche bewegte, erschien der Kopf von Sybille im Durchgang zur Diele.

»Hast du nicht zugehört? Ich habe dich gefragt, ob du mit mir ins Kino gehst. Oder willst du lieber allein daheim sitzen?«

»Ich ... ich habe noch was zu tun. Eine Auftragsbestätigung muss noch raus. Es ist besser, du gehst allein. Geht Marion nicht mit? Ihr unternehmt doch sonst auch alles zusammen.«

»Die hat keine Zeit. Der Kindergeburtstag steht doch morgen an. Du glaubst gar nicht, welche Arbeit die Gute damit verbindet. Da kann man nur froh sein, wenn man keine Kinder hat. Nun ja, dann erledige du deine Arbeit. Das ist sowieso nur ein Mädelsfilm mit Vampiren und so, in dem du dich langweilen würdest. Bin so gegen elf wieder da. Du musst nicht auf mich warten, sollte der Film möglicherweise länger laufen.«

Das, was Sybille ihm wieder aus dem Bad zurief, kam wie durch einen Nebel an. Jedes Wort lief durch einen Scanner, der das Gesagte penibel auf Wahrheitsgehalt überprüfte. Tobias griff sich mit beiden Händen an den Kopf und presste die Fäuste gegen die Schläfen.

Was ist los mit mir? Sie geht ins Kino, so wie fast jeden Mittwoch. Marion hat wirklich diesen Kindergeburtstag vor der Brust. Das weiß ich von Manfred. Kino ... Kino ... Kino.

Immer wieder fuhren die Worte durch seinen Kopf, hallten nach. Er lehnte seine Stirn gegen das kühle Glas und versuchte, die heiße Haut abzukühlen. Sein Körper versteifte sich, als sich zwei Hände von hinten um seine Brust schlangen und sich zur Bauchdecke vorarbeiteten. Die Stimme war nahe an seinem Ohr, die ihm äußerst lasziv die Worte zuflüsterte: »Sollte ich besser hierbleiben und dem Herrn die Zeit versüßen? Der Film wird noch ein paar Tage laufen.«

Was ist mit mir los? Will sie mich täuschen? Sie spielt doch nur mit mir.

Tobias bemühte sich, den Körper wieder zu entspannen, was ihm nur ungenügend gelang. Sybille schien es zu spüren, was ihre Frage deutlich untermauerte.

»Was ist mit dir? Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich wollte doch nur nett zu dir sein.«

Sie zog ihre Hände wieder zurück und löste sich von Tobias. Er verfolgte im Spiegelbild der Terrassentür, wie sie sich sichtlich enttäuscht wieder ins Bad bewegen wollte. Ihr Körper, der lediglich durch einen dünnen Slip und einen fast durchsichtigen BH verdeckt wurde, erschien ihm plötzlich nicht mehr erotisch im bisherigen Sinn, sondern auffällig nuttig. Woher er plötzlich diese Definition holte, konnte er sich selbst nicht erklären. Die Vorstellung, dass sie diesen so wunderbaren Körper, der bisher nur ihm gehört hatte, einem anderen Mann schenken würde, brachte ihn fast um den Verstand. Seine Frage hielt Sybille auf.

»In welches Kino geht ihr eigentlich gewöhnlich? Ich meine, du und Marion. Da bekommt ihr bestimmt schon Mengenrabatt. Oder?«

Immer noch leicht irritiert wirkend, informierte ihn Sybille darüber, dass es meistens das Cinemaxx war, das sie aufsuchten. Sie verschwand wieder im Bad und zog die enge Jeans über den perfekten Körper. Als sie sich schließlich von Tobias verabschiedete, wurde sie zunehmend verunsichert, als er den Kopf beim Kussversuch zur Seite drehte.

 

 

Lange studierte Tobias das Kinoprogramm, wobei er sich letztendlich sicher war, dass Sybille einen dieser Vampirstreifen meinte, über die in der letzten Zeit häufig gesprochen und diskutiert wurde. Das Ende des Films schätze Tobias auf etwa 22:30 Uhr. Schon eine Viertelstunde vorher beobachtete er die breite Treppe, auf der Sybille das Kino Richtung Parkhaus verlassen müsste. Als sich die Glastüren öffneten, strömten meist junge Pärchen durch die Ausgänge und verteilten sich eifrig diskutierend vor dem Kino. Tobias‘ Augen suchten in dem Gewirr von Menschen nach Sybille. Immer wieder irrten seine Augen über die Menschenmenge, die sich allmählich auflöste, ohne dass er das Objekt der Begierde hatte ausmachen können.

Wo bist du? Habe ich dich tatsächlich übersehen oder warst du gar nicht ...? Verdammt – das kann, das darf nicht sein. Sie wird schon auf dem Weg sein und sich fragen, wo ich mich so spät rumtreibe.

Noch eine Weile verfolgte er das Geschehen, bis ein Angestellter damit begann, die Ausgänge zu verschließen. Zumindest heute schien es keine Spätvorstellung mehr zu geben. Der Platz vor dem Kino leerte sich.

Als Tobias die Wohnungstür öffnete, empfing ihn die totale Düsternis, die ihn einen Moment verharren ließ. In dem Augenblick, als er gerade die Tür schließen wollte, vernahm er das Brummen des Motors, das kurz darauf erstarb. Sybille war angekommen. Mit fliegenden Fingern entledigte er sich seiner Kleidung, warf sie in den Schrank und setzte sich vor den Computer.

»Arbeitest du noch? Ich bin müde und geh als Erste ins Bad. Kommst du, oder brauchst du noch lange?«

Tobias konnte die Veränderung spüren, die von den Zeremonien abwichen, die ansonsten nach dem Heimkommen angesagt waren. Kein Kuss, kein Scherz, keine Liebkosung. Noch nie zuvor war Sybille, ohne ihn zu begrüßen, nach Hause gekommen. In ihm rumorte es gewaltig. Keinen Gedanken verschwendete er daran, dass er selbst es war, der dieses Verhalten zuvor provoziert hatte.

»Wie war der Film?«, rief er ihr über die Schulter zu. »Der hat aber lange gedauert. Warst du anschließend noch irgendwo?«

»Ich hatte noch Hunger und bin kurz bei McDoof rein. Jetzt ist mir leicht übel. War wohl doch kein so guter Gedanke. Hätte ich dir einen Burger mitbringen sollen?«

»Nein, nein. Hatte mich nur gewundert, warum du so lange für den Weg brauchst.«

Schon als Tobias glaubte, dass er darauf keine Antwort erhalten würde, zuckte er zusammen, als Sybille direkt neben ihm auftauchte und mit einem gewissen Unterton in der Stimme die Frage an ihn richtete: »Warum fragst du das? Du kannst doch gar nicht wissen, wann der Film zu Ende war. Das hört sich nach einer Kontrolle an. Du weißt, dass ich das nicht mag, Tobias.«

»Was ist daran so schlimm, wenn man nichts zu verbergen hat? Im Internet steht, dass der Film vor etwa fünfundvierzig Minuten zu Ende war. Vom Kino nach Hause dauert maximal zwanzig Minuten. Da darf man sich doch mal Sorgen machen, wenn du nach einer Stunde noch nicht eingetroffen bist.«

»Du hast tatsächlich nachgesehen, wann der Film ausläuft? Hast du einen Knall? Das hast du ja noch nie gemacht. Was soll das plötzlich?«

Tobias fühlte, dass sich zwischen ihnen etwas aufschaukelte, das es so bisher noch nie gab. Allerdings trieb ihn ein merkwürdiges Gefühl weiter. Nun wollte er Gewissheit.

»Entschuldige mal. Man wird sich doch wohl noch darüber informieren dürfen, was den Ehepartner jeden Mittwoch aus dem Haus treibt. Das ist ja nicht unbedingt normal, wenn das immer am gleichen Tag, zur selben Zeit passiert. Da macht man sich so seine Gedanken. Verstehst du das?«

»Nein – das verstehe ich nicht. Absolut nicht. Wir hatten von Anfang an besprochen, dass jeder seinen Freiraum bekommt. Du bist doch auch mittwochs in der Kneipe bei deinen Freunden. Das habe ich auch noch nie hinterfragt. Wo führt das Ganze eigentlich hin? Du bist heute so ... so anders.«

Sybille schob sich näher an Tobias heran und strich über sein Haar. Ihr Gesicht legte sie dicht an seines und erstarrte im gleichen Augenblick, als sie die Frage vernahm, die keine Frau hören wollte.

»Warum tust du das? Habe ich dir nicht mehr genügt?«

»Was meinst du damit? Was tue ich, was ich bisher nicht tat? Möchte der Herr nicht mehr, dass ich ihn verführe?«

»Das meine ich nicht. Warum plötzlich der andere? Habe ich dir nicht alles gegeben? Was ist das für ein Supertyp, der den Vorzug vor deinem Mann erhält? Du zerstörst damit alles, was wir uns aufgebaut haben.«

Da stand sie. Eine wunderschöne Frau, deren welliges blondes Haar wie das einer Göttin über die wohlgeformten Schultern fiel. Sybille ließ die Arme am Körper heruntersinken, da sie das Gesagte erst einsortieren musste. Sie verstand den Sinn dieser Fragen nicht und starrte auf den Mann, dem ihre ganze Liebe bisher gehört hatte. Dieser Mann hatte sie gerade wirklich gefragt, warum sie mit einem anderen Mann schlief. Ihre Augen verloren den gewohnten Glanz und füllten sich mit Tränen, die zum einen aus Enttäuschung, zum anderen aus aufkeimender Wut entstanden. Das Zittern ihres Körpers konnte sie nicht verhindern, als sie versuchte zu antworten. Jedes Wort, das sie ihm entgegenschleudern wollte, blieb ungesagt im Hals stecken. Erst nach einer Weile schaffte sie es, die ersten Silben zu formulieren.

»Hast du mir ... ich meine, hast du mir gerade wirklich unterstellt, dass ich mich einem anderen Mann hingeben würde? Du besitzt die Frechheit, mich dessen zu bezichtigen? Ich fasse es nicht. Selbst wenn es ein Scherz war, kann ich nicht darüber lachen. Das ist doch einfach nicht wahr. Ich träume das gerade.«

Mittlerweile liefen ihr die Tränen in Strömen über das schöne Gesicht und hinterließen Streifen im Make-up. Die Mascara löste sich auf und verfärbte die Ränder der Augen. Nur noch verschwommen nahm sie Tobias wahr, der nun mit geballten Fäusten vor ihr stand und dessen Augen kalte, ihr bisher unbekannte Wut zeigten. Trotzdem versuchte Sybille, ihn mit einer Hand zu berühren. Sie wollte sicher sein, dass es sich nicht um eine Geistergestalt handelte, die ihr vorgaukelte, dass es ihr Tobias war, den sie über alles liebte. Ein harter Griff um ihr Handgelenk überzeugte sie endgültig davon, dass es sich nicht um einen bösen Traum handelte, den sie gerade in diesem Augenblick erleben musste. Der Schmerz durchfuhr sie bis in die Fußspitzen.

»Es wird ihm nicht gelingen, dich mir wegzunehmen«, war alles, was sie in dem Moment mitbekam, bevor der erste Schlag ihr Gesicht traf und sie zurückschleuderte. Sofort riss Tobias sie wieder an sich. Sie sah auf eine Zahnreihe, die die folgenden Worte herauspresste: »Niemals wird er dich ganz besitzen. Niemals wieder wird er seinen verdammten Schwanz in deinen Körper stecken. Verstehst du mich? Das wird nie wieder geschehen. Ihr habt den Fehler gemacht, dass man euch zusammen gesehen hat. Ich wollte es erst nicht glauben. Doch damit ist jetzt endgültig Schluss.«

Tobias konnte seine Wut kaum noch kontrollieren und schlug zu – immer wieder und wieder. Sybilles Schreien, ihr Bitten ging unter in dem Lärm, den umstürzende Möbelstücke verursachten. Gekrümmt lag sie auf dem Teppich und wimmerte, als Tobias immer wieder in sie hineintrat. Erst als sie stumm in ihrem Blut und Erbrochenen lag, beruhigte er sich und blieb schwer atmend vor ihr stehen. Noch immer waren seine Finger zu Fäusten geballt und seine Augen voller Hass. Das Klingeln des Telefons holte ihn wieder zurück in die Realität, ließ ihn erkennen, was soeben geschehen war. Wie ein ferngesteuerter Roboter stakste er zum Telefon und nahm den Hörer aus der Schale. Erst war da nur das Rauschen, was anzeigte, dass jemand in der Leitung war. Dann endlich hörte er die Stimme, die ihn lähmte: »Hallo, mein Freund. Ich spüre, du warst schon erfolgreich. Gute Arbeit, Tobias! Du wirst mich jetzt brauchen. Ich werde dir helfen.«

8

»Man hat Karsten Heurath gefunden. Die Kollegen der Schutzpolizei in Aachen haben ihn erkannt, als er mit seinem Wagen einen Auffahrunfall verursachte. Er wirkte total aggressiv, aber auch verwirrt. Da sie den Verdacht hatten, dass der Verursacher des Unfalls unter Drogeneinfluss stand, haben sie den mit zur Wache genommen und festgestellt, dass er zur Fahndung ausgeschrieben war. Der ist schon auf dem Weg hierher.«

Leonie Felten empfing Gordon mit dieser Nachricht, die der beim Eintreten in das Büro mit einem erhobenen Daumen quittierte. Jeder im Raum wusste im gleichen Augenblick, dass der Chef heute mit etwas zu kämpfen hatte, nach dem man besser nicht fragte.