Die Göttliche Komödie: Läuterungsberg - Dante Alighieri - E-Book

Die Göttliche Komödie: Läuterungsberg E-Book

Dante Alighieri

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Beschreibung

Eine neue, gut lesbare Übersetzung, klar und genau, in natürlicher Sprache. Sie wird ergänzt durch: Zahlreiche knappe Erläuterungen und Lesehilfen, eine Einführung in die Göttliche Komödie und in Dantes Zeit, eine Biographie des Dichters, eine Übersicht über seine sonstigen Werke und ein ausführliches Register. Dantes Göttliche Komödie ist ein Höhepunkt der Weltliteratur. Obwohl im Mittelalter geschrieben, ist sie immer noch lebendige Lektüre. Doch ist es keine Komödie. Es ist die Schilderung einer ungewöhnlichen Reise, die der Pilger Dante antreten muss. Ihren Anfang nimmt sie bei einer „midlife crisis“, wo „der rechte Weg“ verlorengeht. Die Reise führt ihn hinab in die Hölle, dann hinauf auf den Läuterungs-berg und schliesslich ins Paradies. Ganz am Schluss wird ihm ein Blick auf das Licht Gottes zuteil. Aber er muss wieder zur Erde zurück. Es ist der Weg eines Menschen zu immer grösserer Selbsterkenntnis. (Man kann die Göttliche Komödie durch-aus auch psychologisch lesen.) Spirituelle Einsichten und konkrete, überraschende Geschehnisse mischen sich. In zahlreichen Begegnungen mit namhaften Persönlichkeiten im Jenseits erfahren wir von diesseitigen Schicksalen. Ein reiches Panorama des weltlichen Geschehens entfaltet sich. Es zeigen sich Höhen und Tiefen der Gesellschaft, der Politik, aber auch des familiären Lebens. Neben Vorbildlichem ist da auch Betrug, Verrat, Gewalt, Habgier und Machtstreben. In Dantes unnachahmlicher Sprache werden selbst schwierigere Themen fasslich und Abstraktes anschaulich. Im Italienischen ist die Göttliche Komödie in Versen mit kunstvollen Reimen gehalten. Sie im Deutschen zu imitieren, wirkt gezwungen und unbefriedigend. Diese Übersetzung strebt eine natürliche Sprache an, mit der Möglichkeit, die Zeilen als Verse zu lesen.

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Das Bild auf dem Einband stammt aus den berühmten 135 Holzstichen zu Dantes „Göttlicher Komödie“ des genialen französischen Illustrators Gustave Doré (1832–1883). Es zeigt die Ankunft des Engelfährmanns mit den geretteten Seelen am Strand des Läuterungsbergs (2. Gesang, Z. 15–45). Links Vergil mit Lorbeerkranz (Dichterkranz) und Dante kniend, auf Geheiss Vergils (Z. 25–28).

Inhaltsverzeichnis Band 2

Läuterungsberg

(Text und Anmerkungen)

Dantes Läuterungsberg: Schema (Graphik)

Inhaltsverzeichnis Band 1

Dank

Widmung

Vorwort

Zu dieser Übersetzung

Zu den Anmerkungen

Verzeichnis der Abkürzungen

Einführung 1. Teil (für den 2. Teil: siehe Band 3)

Der Inhalt der Göttlichen Komödie – kurz und knapp

Einige Vorbemerkungen zur Lektüre

Die Göttliche Komödie

Hölle

(Text und Anmerkungen)

Dantes Hölle: Schema (Graphik)

Inhaltsverzeichnis Band 3

Paradies

(Text und Anmerkungen)

Dantes Paradies: Schema (Graphik)

Einführung 2. Teil

Geschichtlicher Hintergrund

Dantes Leben

Biographische Daten tabellarisch

Andere Werke Dantes

Bibliographie (Verwendete Ausgaben)

Verzeichnis von Namen, Orten, Begebenheiten und Begriffen

Läuterungsberg

Um bessere Gewässer zu befahren: statt vom Reich der Verdammten zu berichten

ein so grauenvolles Meer: (bildlich) das Reich der Hölle

von jenem zweiten Reiche: dem Läuterungsberg

die tote Dichtkunst: „tot“, weil sie von den auf immer Toten in der Hölle handelte

heilige: göttlich inspirierte

soll Kalliope sich … erheben: Kalliope ist die Muse u. a. der epischen Dichtung; für den Bereich des Läuterungsbergs soll sie einen erhabeneren Stil vermitteln als der für die Hölle verwendete.

die elenden Elstern: in welche die neun Töchter eines thessalischen Königs verwandelt wurden. Sie hatten, in törichtem Stolz auf ihren Gesang, die Musen zu einem Wettstreit herausgefordert, doch als Kalliope sie mit ihrem Singen besiegte, konnten sie auf keine Gnade für ihre Überheblichkeit hoffen („sie verzweifelten an der Vergebung“,Z. 12.) (nach Ovid, Met 5. Buch, 294–340 und 662–678).

Die sanfte (azurblaue) Farbe des … Saphirs: der damals als schönster und kostbarster Edelstein galt

bis zum ersten Kreis: bis zum Horizont, dem ersten himmlischen Kreis, den das Auge sieht

aus der toten Luft: aus der Atmosphäre der Hölle

der mir Augen und Brust bekümmert hatte: ein Kummer für die Augen wegen des ständigen Dunkels, und für die Brust, weil der Anblick der Leiden Dante den Atem benahm (oder evtl. wegen des Gestanks)

Der schöne Planet: der Morgenstern, (astronomisch) die Venus; als „Morgenstern“ zugleich Symbol für Maria (oder Christus), Zeichen der Hoffnung und der (göttlichen) Liebe; als „Venus“ (= Göttin der Liebe) die weltliche Liebe

verschleierte (mit ihrem Glanz) die Fische (d. h. das Sternbild der Fische): Wenn die Venus im Sternbild der Fische stand, so war es kurz vor Sonnenaufgang am Ostersonntagmorgen, der dritte Tag der Jenseitsreise.

Ich wandte mich zur Rechten: die Seite der Gerechten, während sie in der Hölle immer nach links gegangen sind. Die Richtungsänderung, äusserlich und zugleich moralisch, geschah nach dem Überschreiten des Erdmittelpunkts, der tiefsten Hölle.

den andern Pol: den Südpol

vier Sterne: Die vier Sterne sind real aufgefasst, aber nicht genau zu bestimmen; zugleich aber haben sie allegorische Bedeutung, indem sie die vier Kardinaltugenden der Weisheit, Gerechtigkeit, inneren Stärke und Mässigung darstellen.

Läuterungsberg, 1. Gesang

Anrufung der Musen – Morgenstimmung – Vorgelände des Läuterungsbergs, unweit vom Strand – Cato erscheint, streng – sie müssen ihr Kommen begründen – er heisst Vergil, Dantes Gesicht am Strand zu reinigen

Um bessere Gewässer zu befahren, hisst nun

das Schifflein meines Geistes seine Segel,

das hinter sich zurücklässt ein so grauenvolles Meer,

und ich will von jenem zweiten Reiche singen,

wo der menschliche Geist sich läutert

und würdig wird, zum Himmel aufzusteigen.

Hier aber soll die tote Dichtkunst wieder auferstehen,

o heilige Musen, da ich der eure bin,

und hier soll Kallíope sich ein wenig erheben

und mein Lied begleiten mit jenem Klang,

von dem die elenden Elstern sich so sehr

getroffen fühlten, dass sie verzweifelten an der Vergebung.

Die sanfte Farbe des morgenländischen Saphirs,

die sich sammelte im heiteren Anblick

des Himmels, der rein war bis zum ersten Kreis,

brachte meinen Augen wieder Freude,

sobald ich heraustrat aus der toten Luft,

die mir Augen und Brust bekümmert hatte.

Der schöne Planet, der uns zu lieben veranlasst,

liess den ganzen Osten strahlend lachen

und verschleierte die Fische, die in seinem Geleite waren.

Ich wandte mich zur Rechten und richtete meinen Sinn

auf den andern Pol und sah vier Sterne,

die niemand je gesehen hatte, ausser den ersten Menschen.

ausser den ersten Menschen (= Adam und Eva): Sie lebten im Paradies zuoberst auf dem Läuterungsberg; nach ihrer Vertreibung wegen ihres Sündenfalls lebten die Menschen auf der entgegengesetzten Hemisphäre, wo sich alles Land befindet.

an ihren Flämmchen: diesen vier Sternen

verwaiste: da sie ohne die vier Sterne sind, die sie nicht sehen können

dem andern Pol (= dem Nordpol) zuwandte

der (Grosse) Wagen: Er befindet sich unter dem nördlichen Horizont und ist deshalb vom Läuterungsberg nicht mehr sichtbar.

einen Greis: Der Greis, nicht genannt, aber aus dem folgenden erkennbar, ist Cato (der Jüngere), 95–46 v. Chr., römischer Staatsmann, eine bedeutende Persönlichkeit.

der Ehrfurcht würdig: Cato setzte sich unbeugsam für freiheitliche Gesinnung (und für die römische Republik) ein, gegen Machtansprüche vor allem Cäsars, und ist für Dante ein Symbol für die Freiheit des Geistes.

eine doppelte Strähne: eine Strähne links und rechts

Sterne: bei Dante „Lichter“

dem blinden (= unterirdischen) Fluss entgegen: dem Bächlein, das in das Erdinnere hinabfliesst und längs dem Vergil und Dante vom Kozytus zur Erdoberfläche aufgestiegen sind (vgl. Hölle 34, 127–134). – blind: weil man den „Fluss“ im unterirdischen Dunkel nicht sehen kann

die Gesetze des Abgrunds (= der Hölle): dass Verdammte die Hölle nicht verlassen können

der jüngste Ratschluss: der erst nach Christi Tod und „Abstieg zur Hölle“ (vgl. Hölle 4, Anm. 49) entstand (nicht wie die anderen, früheren Gesetze des Weltalls), nach welchem es nicht nur die Hölle, sondern auch einen Läuterungsort und das Paradies geben solle

zu meinen Felsen: Es sind die Felsen, wo der Aufstieg zum Läuterungsberg beginnt. Dante und Vergil befinden sich auf einer Ebene, die den Fuss des Läuterungsbergs umgibt (vgl. unten Z. 113–118). Noch sind sie aber nicht im eigentlichen Läuterungsbereich, zu dem sie erst weiter oben gelangen (im 8. Gesang), sondern im Vorpurgatorium (1.–8. Ges., eine Erfindung Dantes).

mit Knien und Augen ehrfürchtig sein: Er liess mich die Knie beugen und den Blick senken.

Eine Frau … vom Himmel: Beatrice

den letzten Abend: seinen leiblichen und seelischen Tod

wegen seiner Torheit: den rechten Weg zu verlassen und sich im dunklen Wald der Sünde zu verlieren

Der Himmel schien sich zu freuen an ihren Flämmchen:

Ach, ihr nördlichen Breiten – verwaiste,

weil euch versagt ist, sie zu schauen!

Als ich mich von ihrem Anblick trennte

und mich ein wenig dem andern Pol zuwandte,

dorthin, wo der Wagen schon verschwunden war,

sah ich nahe bei mir einen Greis, allein,

so sehr der Ehrfurcht würdig in seiner Erscheinung,

dass kein Sohn seinem Vater grössere schuldet.

Den Bart trug er lang und mit weissen Haaren vermischt,

ähnlich seinem Haupthaar,

von dem eine doppelte Strähne auf die Brust niederfiel.

Die Strahlen der vier heiligen Sterne

schmückten sein Angesicht so mit Licht,

dass ich ihn sah, als wäre vor mir die Sonne.

„Wer seid ihr, die ihr dem blinden Fluss entgegen

aus dem ewigen Kerker entflohen seid?“

sagte er, seinen ehrwürdigen Bart bewegend.

„Wer hat euch geleitet, oder was war euch Leuchte,

wie ihr herausgestiegen seid aus der tiefen Nacht,

die das höllische Tal immer schwarz sein lässt?

Sind die Gesetze des Abgrunds so gebrochen?

Oder hat sich im Himmel der jüngste Ratschluss geändert,

dass ihr, als Verdammte, zu meinen Felsen kommt?“

Da fasste mich mein Führer,

und mit Worten und mit Händen und mit Blicken

hiess er mich, mit Knien und Augen ehrfürchtig sein.

Darauf erwiderte er: „Von mir aus bin ich nicht gekommen:

Eine Frau stieg vom Himmel herab, auf deren Bitten

ich diesem hier mit meiner Begleitung zu Hilfe kam.

Aber da es dein Wunsch ist, dass man dir

unsre Bewandtnis näher erklärt, wie sie wirklich ist,

kann es nicht der meine sein, ihn dir zu verweigern.

Dieser hat den letzten Abend noch nicht gesehen,

doch wegen seiner Torheit war er ihm so nah,

eine (göttliche) Kraft, die mir (= Beatrice) hilft

Freiheit: Die Freiheit, die Dante sucht, ist die des Geistes, aber auch des menschlichen Willens, der nicht mehr den Begierden unterworfen ist (von denen der Sündenfall im Paradies der Anfang war), sondern wie im ursprünglichen paradiesischen Zustand in Freiheit dem göttlichen Gesetz folgt.

wie der (= Cato) weiss, der um ihretwillen (= der Freiheit) dem Leben entsagt (zu Z. 72–74): Als Cato seine Sache gegen die Machtansprüche Cäsars verloren sah, gab er sich in Utica (an der Nordküste Afrikas) selbst den Tod, um nicht den Untergang der Freiheit erleben zu müssen – eine Haltung, deren moralische Kraft seine Zeit und viel später auch Dante tief beeindruckte. Daneben tritt die Tatsache des Selbstmordes zurück (der ihn in den 2. Ring des 7. Kreises hätte bringen müssen), er bekommt vielmehr den Charakter eines christlichen Märtyrertodes, als das Resultat einer konsequent vorbildlichen Haltung. Deshalb macht Dante Cato zum Hüter des Läuterungsbergs. (Cato war bei seinem Tod erst 48 oder 49 Jahre alt, doch beginnt für Dante das Alter mit 46 Jahren [wie er in seinem „Gastmahl“ schreibt: „Es steht also fest, dass das Erwachsenenalter sich im 45. Jahr erfüllt. Und […] so folgt der Niedergang, d. h. das Alter.“ [4. Buch, 24. Kap., 4]).

das Kleid: die sterbliche Hülle

am grossen Tag: am Jüngsten Tag

so hell: so leuchtend wie bei den Seligen. Dante gibt zu verstehen, dass auch Cato nach dem Jüngsten Tag schliesslich doch zu den Seligen gehören wird (vgl. Anm. 89).

Die ewigen Gesetze werden durch uns nicht verletzt: da die („ewigen“) Gesetze der Hölle nicht auf Dante oder Vergil zutreffen, die nicht zur Hölle gehören; ausserdem untersteht Vergil, aus dem Limbus, nicht der „Gewalt“ des Minos

aus dem Kreis (der gerechten Heiden im Limbus)

die … Augen deiner Marzia: der Gattin Catos

o heiliges Herz (bei Dante „heilige Brust“): die Brust Catos als Sitz eines edlen und gerechten Herzens, oder auch „Brust“ als Bezeichnung für die ganze Person Catos

bittet …, dass du sie als die deine betrachtest: Sie versichert, dass sie dir wie auf Erden in treuer Liebe verbunden sei.

durch deine sieben Reiche: durch die Kreise des Läuterungsberges

Dank … will ich ihr bringen: bei Vergils Rückkehr in den Limbus, wo auch Marzia weilt. Cato hingegen wurde von dort als Hüter zum Läuterungsberg versetzt.

dort unten: im Limbus

dort drüben: im irdischen Leben

jenseits des schlimmen Flusses: des Acheron, der den Übergang zur Hölle darstellt

dass nur noch sehr wenig Zeit verblieb.

So – wie ich sagte – wurde ich zu ihm gesandt,

um ihn zu retten, und es gab keinen andern Weg

als diesen, den ich eingeschlagen habe.

Gezeigt habe ich ihm das ganze Volk der Verdammten,

und jetzt will ich ihm die Geister zeigen,

die sich läutern unter deiner Aufsicht.

Wie ich ihn hergebracht, das wäre zu lang, dir zu erzählen;

von oben kommt eine Kraft herab, die mir hilft,

ihn herzuführen, um dich zu sehen und zu hören.

Nun möge sein Kommen deine Zustimmung finden:

Freiheit sucht er, die so teuer ist –

wie der weiss, der um ihretwillen dem Leben entsagt.

Du weißt es, denn dir war der Tod für sie nicht bitter

in Útica, wo du das Kleid gelassen hast,

das am grossen Tag so hell sein wird.

Die ewigen Gesetze werden durch uns nicht verletzt,

denn dieser lebt, und Minos bindet mich nicht,

sondern ich bin aus dem Kreis, wo die keuschen Augen

deiner Márzia sind, die im Blick dich stets noch bittet,

o heiliges Herz, dass du sie als die deine betrachtest:

Daher, um ihrer Liebe willen, sei uns geneigt.

Lass uns durch deine sieben Reiche gehen;

Dank für deinen Dienst will ich ihr bringen,

wenn es dir wert ist, dort unten genannt zu werden.“

„Marzia gefiel meinen Augen sehr,

solang ich dort drüben war“, sagte er darauf,

„dass ich ihr jeden Gefallen, um den sie mich bat, erfüllte.

Jetzt, da sie jenseits des schlimmen Flusses weilt,

wegen des Gesetzes: Als Christus vorchristliche Gerechte aus der Hölle herausholte – eigenwillig gesellt Dante zu ihnen auch Cato, den er allerdings zunächst nicht unter die Seligen, sondern in das Vorpurgatorium versetzt – entstand dadurch die Einteilung in Erlöste und Verdammte (= das „Gesetz“). Cato ist daher, und auch wegen seines Amtes, von seiner Frau getrennt.

von dort: aus dem Limbus

bedarf es keiner Schmeicheleien: Cato wehrt ab mit der Strenge und der Kargheit des alten Römers.

mit einer … Binse: als Sinnbild der Demut

jeden Schmutz … tilgst: den die schwarze Atmosphäre der Hölle auf dem Gesicht hinterlassen hat. Es ist eine erste, äusserliche Läuterung, eine symbolische Waschung.

getrübt von einem Nebel: dem Dunkel der Hölle

vor dem ersten Diener: dem Wächterengel an der Pforte zum eigentlichen Läuterungsberg

Keine andere Pflanze … (zu Z. 103–105; im allegorischen Sinn): Keine andere Pflanze, die Laub trägt oder hart wird und die nicht nachgibt, d. h. kein Mensch, der stolz ist oder sich verhärtet und der nicht imstande ist, sich demütig zu beugen, kann „dort überleben“, d. h. vermag am Ort der Läuterung zu bestehen.

euer Rückweg: vom Strand wieder den Berg hinauf

die Sonne (als Symbol der göttlichen Gnade) … wird euch zeigen: ein Anklang an Hölle 1, 17–18 „die Strahlen des Gestirns, das einen richtig führt auf jedem Weg“

gegen ihr unteres Ende: den Meeresstrand

das leichte Zittern des Meeres: zugleich mit dem ersten Morgenglanz als hoffnungsvollem Zeichen, in bewusstem Kontrast zum Meer im 1. Gesang der „Hölle“ als „gefahrvollem Wasser“, dem einer knapp „ans Ufer entronnen“ ist (Z. 23)

zum Weg, den er verfehlte: ebenfalls ein Anklang an Hölle 1, 3: „in dem der rechte Weg verlorenging“

bei der kühlen Brise (vom Meer her)

kann sie mich nicht mehr bewegen, wegen des Gesetzes,

das gemacht wurde, als ich von dort herauskam.

Aber wenn eine Frau des Himmels dich bewegt und leitet,

wie du sagst, bedarf es keiner Schmeicheleien:

Es reicht schon, dass du um ihretwillen mich bittest.

Geh also und schau, dass du den da

mit einer glatten Binse gürtest und das Gesicht ihm wäschst,

so dass du jeden Schmutz daraus tilgst,

denn es ziemte sich nicht, mit Augen, noch getrübt

von einem Nebel, hinzutreten vor den ersten

Diener, der zum Paradies gehört.

Diese einsame Insel trägt ringsum – ganz zuunterst,

dort unten, wo die Welle an sie schlägt –

Binsen auf dem weichen Schlamm:

Keine andere Pflanze, die Laub trägt

oder hart wird, kann dort überleben,

weil sie dem Schlagen der Wellen nicht nachgibt.

Danach führe euer Rückweg nicht hier vorbei –

die Sonne, die jetzt aufgeht, wird euch zeigen,

wo der Berg mit leichterem Anstieg zu nehmen ist.“

Damit verschwand er, und ich erhob mich,

ohne zu reden, und drängte mich ganz

zu meinem Führer und richtete die Augen auf ihn.

Er begann: „Mein Sohn, nun folge meinen Schritten.

Wenden wir uns zurück, denn da neigt sich

diese Ebene gegen ihr unteres Ende.“

Die Morgendämmerung besiegte die nächtliche Stunde,

die vor ihr floh, so dass ich von weitem

das leichte Zittern des Meeres erkannte.

Wir gingen über die einsame Ebene,

wie jemand, der zurückgeht zum Weg, den er verfehlte,

und dem es bis dahin scheint, er gehe vergeblich.

Als wir dort anlangten, wo der Tau

noch mit der Sonne kämpft, weil er an einer Stelle ist,

wo er, bei der kühlen Brise, nur wenig schwindet,

seine Gebärde: Sie bedeutet, dass Vergil Dantes Gesicht mit dem (himmlischen) Tau, der auf dem Gras liegt, waschen will.

die verweinten Wangen: mit den Tränenspuren noch von der Hölle her, angesichts der Leiden der Verdammten, und verschmiert durch den „Schmutz“ der Hölle (vgl. Z. 96 und Anm.)

die (natürliche) Farbe (in Dantes Gesicht)

nie einen Menschen seine Wasser befahren sah, der … hätte zurückkehren können: eine Anspielung auf Ulysses, der angesichts des Läuterungsberges unterging (vgl. Hölle 26, 90 bis Schluss).

einem andern: Gott, dessen Wille sich durch Cato äussert

die bescheidene Pflanze … entstand sogleich wieder neu (allegorisch): Die Demut ist etwas, das stets Bestand hat.

legte mein Meister beide Hände

ausgebreitet sanft auf das Gras,

und ich, der seine Gebärde wohl verstand,

hielt ihm die verweinten Wangen hin,

da brachte er die Farbe wieder ganz zum Vorschein,

die die Hölle mir verborgen hatte.

Dann gelangten wir an den verlassenen Strand,

der nie einen Menschen seine Wasser befahren sah,

der danach hätte zurückkehren können.

Dort gürtete er mich, wie es einem Andern gefiel:

O Wunder! denn die er wählte,

die bescheidene Pflanze, sie erstand

sogleich wieder neu, wo er sie ausriss.

Nun war die Sonne zum Horizont gelangt (zu Z. 1–5): Die Sonne – von Jerusalem aus gesehen – war am westlichen Horizont am Untergehen, d. h. es war Abend in Jerusalem, 18 Uhr. Der Meridiankreis, der über Jerusalem verläuft (es „bedeckt“, d. h. der „seinen höchsten Punkt“, den Zenith, senkrecht über Jerusalem hat), ist auch derjenige des Läuterungsbergs, der nach Dantes Vorstellung genau antipodisch zu Jerusalem liegt. Wenn es in Jerusalem 18 Uhr ist, muss es am Ganges (der nach Dante 90° östlicher gelegen ist) schon 6 Stunden später, d. h. Mitternacht (= die Nacht schlechthin) sein – die Nacht, die aus dem Ganges (Z. 5) aufsteigt (Dante lässt die Nacht wie ein Gestirn „kreisen“). Am Läuterungsberg hingegen, wo sich Dante und Vergil befinden, ist es 6 Uhr morgens, Sonnenaufgang. – Dantes komplizierte astronomische Einleitung dient sowohl als Zeitangabe wie auch dazu, räumliche Beziehungen herzustellen. Die lange Umschreibung (von einigen Kommentatoren gerügt) statt einer einfachen Zeitangabe hat ihre Begründung darin, dass für Dante die Zeit keine private oder zufällige Angelegenheit darstellt, sondern, wie auch seine Jenseitsreise, stets mit dem kosmischen Geschehen und dem Lauf der von Gott geschaffenen Gestirne und Himmelssphären verbunden ist.

mit der Waage (zu Z. 5–6): Mit dem Sternbild der Waage (das die Nacht hier noch in der Hand hält) betont Dante die Jahreszeit, d. h. den Frühling. Später, nach der Herbst-Tagundnachtgleiche, wenn die Nacht länger wird als der Tag („wenn die Nacht überwiegt“ Z. 6), verschiebt sich das Sternbild der Waage aus der Nacht in den Tag („die Waage fällt der Nacht aus der Hand“ Z. 6).

die (zuerst) weissen und (dann) roten Wangen

der … Aurora: der (Göttin der) Morgenröte

so dass die … Wangen der … Aurora goldgelb wurden (zu Z. 7–9): Der Morgenhimmel (verkörpert in der Aurora) ist zuerst weiss und rötet sich dann („die weissen und die roten Wangen“) und nimmt schliesslich („vor zu hohem Alter“), kurz bevor die Sonne aufgeht, eine (gold)gelbe Farbe an.

am Meeresstrand (des Läuterungsbergs)

wie Leute, die den Weg bedenken: wie Pilger

die mit dem Herzen (schon) gehen (möchten) und mit dem Leib (noch) verweilen

durch den dichten Dunst: der entweder vom Meer aufsteigt oder der, wie man glaubte, den Mars umgibt

könnt‘ ich es (= das Licht) noch einmal sehen: Es ist die Hoffnung, dieses Licht nach dem Tod noch einmal zu sehen, d. h. als gerettete Seele zum Läuterungsberg (und nicht in die Hölle) zu gelangen.

die ersten beiden Weiss als Flügel: während das „andere Weiss“ (Z. 24) das Gewand des Engels ist

Läuterungsberg, 2. Gesang

Am Strand – ein Boot naht mit einem Engel-Fährmann – Seelen steigen aus – unter ihnen ein Freund Dantes, der Musiker Casella – er trägt eine Canzone Dantes vor – Cato treibt sie vorwärts, zum Berg

Nun war die Sonne zum Horizont gelangt,

dessen Meridiankreis mit seinem höchsten Punkt

Jerusalem bedeckt,

und die Nacht, die ihr gegenüber kreist,

stieg aus dem Ganges auf mit der Waage,

die ihr aus der Hand fällt, wenn die Nacht überwiegt,

so dass die weissen und die roten Wangen

der schönen Aurora – da wo ich war –

vor zu hohem Alter goldgelb wurden.

Wir waren noch am Meeresstrand,

wie Leute, die ihren Weg bedenken,

die mit dem Herzen gehen und mit dem Leib verweilen.

Und siehe, wie beim Nahen des Morgens

durch den dichten Dunst Mars rötlich schimmert

weit im Westen, über dem Meeresspiegel –

so schien mir (oh, könnt‘ ich es noch einmal sehen)

ein Licht über das Meer zu kommen, so schnell,

dass kein Flug seiner Bewegung gleichkommt.

Und als ich das Auge ein wenig

von ihm abgewendet hatte, um meinen Führer zu fragen,

sah ich es wieder, leuchtender noch und grösser geworden.

Dann erschien mir auf seinen beiden Seiten

ein Weiss – ich wusste nicht, was –, und unter ihm

kam allmählich noch ein anderes Weiss hervor.

Mein Meister sagte noch immer kein Wort,

bis sich die ersten beiden Weiss als Flügel zeigten;

dann, als er den Fährmann recht erkannte,

rief er: „Schnell, schnell, beug deine Knie!

Sieh den Engel Gottes: Falte die Hände –

solche hohen Diener: Engel als Wächter bei jedem Kreis auf dem Läuterungsberg, alle in Weiss

zwischen so entfernten Stränden: zwischen dem Strand der Tiber-Mündung, wo die Seelen in das Boot steigen, und dem des Läuterungsbergs, aber auch zwischen menschlichem und göttlichem Bereich

nicht wie sterbliches Gefieder wechseln: ohne Mauserung wie bei den Vögeln. Ihre „ewigen Federn“ sind nicht dem irdischen Wechsel unterworfen wie die Federn der Vögel und das Haar der Menschen, die von Zeit zu Zeit abgestossen werden.

dass das Wasser nichts von ihm (= dem Nachen) verschlucken konnte: Das Boot trägt nur Seelen, und diese sind ohne Gewicht, so dass das Boot kaum eintaucht.

mehr als hundert: eine unbestimmte, sehr grosse Zahl

mit einer Stimme: in scharfem Gegensatz zum unharmonischen Durcheinander bei der Einschiffung der verdammten Seelen in der Hölle (3, 102–3 und 107)

was weiter … in diesem Psalm geschrieben steht: in Ps 114 und 115 (nach heutiger, hebräischer Zählung). Dante setzt voraus, dass seine zeitgenössischen Leser den Psalm kannten; von dem, was „weiter noch geschrieben steht“, bezog er vermutlich vor allem die Schlussverse (Ps 115,17 und 18) auf diese Seelen: „Tote können den Herrn nicht mehr loben … Wir aber preisen den Herrn von nun an bis in Ewigkeit.“

verschoss: wie ein Bogenschütze

die Sonne …, die … den Steinbock vertrieben hatte: Wenn die Sonne im Zeichen des Widders aufgeht (um 6 Uhr), entfernt sich – durch die Bewegung der Tierkreises – das Zeichen des Steinbocks (der in 90° Abstand zum Widder steht, also im Mittag oder „der Himmelsmitte“) aus dem Zenith hinweg. Die Sonne, die jetzt schon höher steht, „vertreibt“ gewissermassen den Steinbock „mit ihren Pfeilen“ (= Strahlen).

von nun an wirst du solche hohen Diener sehen.

Du siehst, wie er die Mittel der Menschen verschmäht,

so dass er kein Ruder braucht und kein anderes Segel,

als seine Flügel, zwischen so entfernten Stränden.

Schau, wie er sie zum Himmel gerichtet hat

und die Luft bewegt mit den ewigen Federn,

die nicht wie sterbliches Gefieder wechseln.“

Dann, als der göttliche Vogel

uns näher und näher kam, erschien er heller,

weshalb das Auge ihn von nahem nicht ertrug,

und so senkte ich es, und jener kam ans Ufer

mit einem Nachen so flink und leicht,

dass das Wasser nichts von ihm verschlucken konnte.

Auf dem Heck stand der himmlische Fährmann,

so schön, dass Seligkeit auf ihm geschrieben schien,

und mehr als hundert Geister sassen darin.

„In éxitu Israel de Egypto“,

sangen alle zusammen mit einer Stimme,

und was weiter noch in diesem Psalm geschrieben steht.

Dann machte er über sie das Zeichen des heiligen Kreuzes,

worauf sie alle auf den Strand sich stürzten,

und er fuhr davon, so schnell wie er gekommen war.

Die Menge, die dort zurückblieb, schien

des Ortes unkundig und schaute sich um,

wie der, der neue Dinge erst probieren muss.

Auf alle Seiten verschoss die Sonne das Licht des Tages,

die mit ihren sicheren Pfeilen

aus der Himmelsmitte den Steinbock vertrieben hatte,

als die neuen Leute zu uns die Stirne hoben

und zu uns sagten: „Wenn ihr ihn wisst,

so zeigt uns den Weg, um auf den Berg zu gelangen.“

Und Vergil erwiderte: „Ihr glaubt

vielleicht, wir seien vertraut mit diesem Ort,

doch wir sind Fremde, wie ihr es seid.

Erst vorhin sind wir gekommen, ein wenig vor euch,

auf anderem Wege: ohne zu erwähnen, dass der andere Weg durch die Hölle führte

den Ölzweig: ein Zeichen nicht nur für Frieden, sondern auch für gute Nachrichten

jene glücklichen Seelen: glücklich, weil für den Himmel bestimmt

um sich schön zu machen: sich von ihren Sünden zu läutern

vereinigte ich … die Hände: in der Umarmung

kehrte ich mit ihnen zurück: Dantes Arme umschliessen nur Leere und enden an seiner eigenen Brust.

drängte vorwärts: um es nochmals zu versuchen

losgelöst (vom Leib): als blosse Seele

du: der du noch lebendig bist

ein anderes Mal: nach dem Tod

Mein Casella: Obwohl unzweifelhaft eine reale und vertraute Person aus Dantes Umgangskreis während seiner Florentiner Zeit, sind über Casella keine historischen Angaben überliefert.

mache ich diese Reise: um das Heil zu erlangen

hat dich so viel Zeit gekostet: bis du nach deinem Tod (der mindestens drei Monate [s. Z. 98] oder eher länger vor Dantes Reise geschah) hier angekommen bist

der (Engel-Fährmann)

aus gerechtem (= dem göttlichen) Willen

seit drei Monaten: seit der Verkündigung des Jubeljahres durch Papst Bonifaz VIII. (vgl. Hölle 18, Anm. 29) im Februar 1300 mit allgemeinem Ablass der Sünden ab Weihnacht 1299

auf anderem Wege, der so rauh und beschwerlich war,

dass uns der Aufstieg jetzt als Spiel erscheinen wird.“

Die Seelen, die wegen meines Atems

bemerkt hatten, dass ich noch lebendig war,

wurden blass vor Erstaunen.

Und wie zu einem Boten, der den Ölzweig trägt,

die Leute hinlaufen, um Neues zu hören,

und keiner sich scheut zu drängen,

so starrten jene glücklichen Seelen

mir allesamt in das Gesicht,

und fast vergassen sie weiterzugehen, um sich schön zu machen.

Ich sah eine von ihnen vortreten,

um mich zu umarmen, mit so grosser Zuneigung,

dass sie mich bewog, ein Gleiches zu tun.

O leere Schatten, ausser für den Anblick!

Dreimal vereinigte ich hinter ihm die Hände,

und ebenso oft kehrte ich mit ihnen zurück an die Brust.

Vor Erstaunen, glaube ich, verfärbte ich mich,

weshalb der Schatten lächelte und zurücktrat,

und ich, ihm folgend, drängte vorwärts.

Sanft sagte er zu mir, ich solle stehen bleiben,

da erkannte ich, wer er war, und bat ihn,

ein wenig zu verweilen, um mit mir zu reden.

Er erwiderte mir: „So wie ich dich liebte

im sterblichen Leib, so liebe ich dich losgelöst,

darum verweile ich – doch weshalb gehst du diesen Weg?“

„Mein Casélla – um ein anderes Mal hierher,

wo ich jetzt bin, zurückzukehren, mache ich diese Reise“,

sagte ich, „aber du, was hat dich so viel Zeit gekostet?“

Und er zu mir: „Mir ist kein Unrecht geschehen,

wenn der, der in sein Boot nimmt, wann und wen er will,

mir mehrmals diese Überfahrt verweigert hat,

denn aus gerechtem Willen entsteht der seine:

Jedoch hat er seit drei Monaten

jeden, der eintreten wollte, in allem Frieden mitgenommen.

dem Meer … zugewandt: auf den Engel wartend

salzig wird: an der Tiber-Mündung, d. h. dem Hafen von Rom

von ihm (ins Boot) aufgenommen: Die Überfahrt zum Heil geschieht logischerweise von Rom aus, weil Rom der Sitz der Kirche ist.

er: der Engel-Fährmann

zum Acheron hinunter: zur Hölle

ein neues Gesetz: das Gesetz dieses neuen Ortes und der neue Zustand als büssende Seele

Liebeslieder: Offenbar vertonte und sang Casella Gedichte von Freunden.

die … meine Wünsche stillten: als sowohl Casella als auch Dante noch auf der Erde waren

mit ihrem Leib (und dessen Bürde)

„Liebe, die im Geiste …“: ein Gedicht Dantes aus einem früheren Werk, dem „Gastmahl“, Anfang 3. Buch

bei ihm: bei Casella

der würdige Alte: Cato, der Wächter am Strand des Läuterungsberges

zum Hang: dem ersten Felshang des Läuterungsbergs, immer noch im Vorpurgatorium

Daher wurde ich, dem Meer schon zugewandt,

dort, wo das Wasser des Tiber salzig wird,

wohlwollend von ihm aufgenommen.

Zu jener Mündung hat er jetzt die Flügel gerichtet,

denn dort versammeln sich alle,

die nicht zum Acheron hinunterfahren.“

Und ich: „Wenn nicht ein neues Gesetz dir verwehrt,

dich an die Liebeslieder, die alle meine Wünsche stillten,

zu erinnern oder sie vorzutragen,

so möge es dir gefallen, mit ihnen ein wenig

meine Seele zu trösten, die mit ihrem Leib

hierhergekommen und so sehr erschöpft ist!“

„Liebe, die im Geiste zu mir spricht“,

begann er darauf so lieblich,

dass die Lieblichkeit mir noch im Innern klingt.

Mein Meister und ich und jene Leute,

die bei ihm waren, schienen so zufrieden,

als berührte nichts anderes unsern Sinn.

Wir waren alle wie gebannt und hingegeben

seinen Tönen, da plötzlich erschien der würdige Alte

und rief: „Was ist denn das, ihr trägen Geister?

Was soll die Nachlässigkeit, was soll hier das Säumen?

Eilt zum Berg, um euch zu befreien von der alten Hülle,

die nicht zulässt, dass Gott euch offenbar wird.“

Wie wenn zum Körner- oder Samenpicken

die Tauben um das Futter vereint sind,

ruhig, ohne den gewohnten Stolz zu zeigen,

und wenn etwas erscheint, das ihnen Angst macht,

sogleich das Futter liegen lassen,

weil eine grössere Sorge sie befällt –

so sah ich die neue Schar

den Gesang sein lassen und zum Hang hinfliehen,

wie einer, der läuft und nicht weiss, wohin er gelangt,

und auch unser Aufbruch war nicht weniger schnell.

sie: die Seelen, die Casella zugehört hatten

uns peinigt: wo die göttliche Gerechtigkeit die Seelen sich läutern lässt, was mit Pein verbunden ist

zum (Läuterungs-)Berg hin

hielt ich mich eng an meinen … Gefährten: Dante blieb bei Vergil und lief nicht weg wie die andern.

sich (selber): auch ohne den Tadel Catos am Schluss des 2. Gesangs

eine kleine Verfehlung: dass auch Vergil dem Gesang selbstvergessen zuhörte

gefangen: vom Gedanken an Casella und an Catos Zurechtweisung

rot: wie sie gerade erst aufgeht

unterbrochen: durch seinen Schatten vor ihm

zur Seite (wo Vergil sein sollte): um sich seiner Gegenwart zu vergewissern

dass nur vor mir die Erde dunkel war: dass die Erde nur vom Schatten Dantes dunkel war und derjenige Vergils fehlte, indem Dante vergisst, dass Vergil keinen Schatten wirft, und deshalb fürchtet, von Vergil verlassen zu sein

mein Tröster: Vergil

Es ist schon Abend dort (in Neapel, während es hier Morgen ist): Im Zeitunterschied zeigt sich zugleich die Distanz zu seinem Leben damals.

der Leib …, in dem ich einen Schatten warf: der irdische Leib, der einen Schatten warf, als Vergil noch in ihm lebte

Neapel hat ihn (= den Leib)

Neapel …, Brindisi: Vergils Leiche wurde auf Befehl von Kaiser Augustus nach Neapel geholt und dort begraben, nachdem Vergil auf der Rückkehr von einer Reise nach Griechenland in Brindisi gestorben war.

wo keiner die Strahlen … hindert: Wie die Himmel durchscheinend sind, so dass kein Planet oder Stern einen anderen verdeckt, so sind auch die Gestalten der Toten durchscheinend und werfen daher keinen Schatten.

Läuterungsberg, 3. Gesang

Zum Berg – Vergil ohne Schatten – eine Schar von wartenden Seelen, unter Kirchenbann – sie bemerken Dantes Schatten – unter ihnen König Manfred: er erzählt von seinem Untergang – unschlüssig, wo aufsteigen

Obwohl die plötzliche Flucht

sie über das Feld zerstreute,

zum Berg hin, wo die Gerechtigkeit uns peinigt,

hielt ich mich eng an meinen verlässlichen Gefährten –

und wie hätte ich ohne ihn laufen können?

Wer hätte mich den Berg hinaufgeführt?

Mir schien, er mache sich Gewissensbisse:

O würdiges und reines Gewissen,

wie ist für dich eine kleine Verfehlung schon ein bittrer Stachel!

Als seine Füsse von der Eile liessen,

die jede Handlung in der Würde mindert,

begann mein Geist, der vorher noch gefangen war,

seine Aufmerksamkeit zu erweitern, begierig auf Neues,

und ich wandte meinen Blick zum Berg,

der gen Himmel sich höher als andre aus dem Meer erhebt.

Die Sonne, die hinter mir rot flammte,

war vor meinem Leib unterbrochen,

weil ihre Strahlen an mir ein Hindernis fanden.

Ich wandte mich zur Seite, voller Angst,

verlassen zu sein, als ich sah,

dass nur vor mir die Erde dunkel war,

und mein Tröster: „Warum verzagst du noch immer?“

begann er mir zu sagen, mir ganz zugewandt,

„glaubst du nicht, dass ich bei dir bin und dass ich dich führe?

Es ist schon Abend dort, wo der Leib

begraben ist, in dem ich einen Schatten warf;

Neapel hat ihn, und von Bríndisi wurde er geholt.

Wenn jetzt vor mir kein Schatten fällt,

wundere dich darüber nicht mehr als über die Himmel,

wo keiner die Strahlen des andern hindert.

den unendlichen Weg (von Gottes Ratschluss): vgl. Jes 55,9: „… so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege …“ und Röm 11,33: „Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!“

zufrieden … mit dem ‚dass‘: sich damit zufrieden geben, dass es so ist, ohne zu wissen, warum es so ist

sehen: durchschauen

hätte Maria nicht (Jesus) gebären müssen: Wenn den Menschen die ganze Erkenntnis Gottes überhaupt zugänglich wäre, hätte Jesus nicht auf die Erde kommen müssen, um ihnen die göttliche Wahrheit zu offenbaren, aber auch nicht, um sie zu erlösen, denn die ersten Menschen hätten nicht, um „alles zu sehen“, vom Baum der Erkenntnis gegessen und sich deshalb nicht versündigt.

fruchtlos … begehren (alles zu „sehen“, d. h. zu erkennen): das Geheimnis des Weltalls und seiner Schöpfung zu erfassen

deren Begehren (nach Erkenntnis) gestillt worden wäre

das (= ihr Begehren) auf ewig ihnen nun zum Leid gegeben ist: denn im Limbus können sie keine Hoffnung haben, zur Erkenntnis des von Gott Geschaffenen zu gelangen

senkte er (schmerzlich) die Stirn: da er selber zu diesen gehört

von vielen andern (Weisen der Antike)

Lerici und Turbia: je am östlichen und westlichen Ende der damals schwer passierbaren ligurischen Steilküste

erschien auf der linken Seite: Die Bewegung des Aufstiegs zum Läuterungsberg geschieht nach rechts, während der Abstieg in die Hölle fast durchwegs nach links erfolgte.

so langsam kamen sie: Die Langsamkeit ihres Gehens bezeichnet die hinausgezögerte Reue in ihrem Leben.

dorthin: auf sie zu

Dass sie Qualen, Hitze und Kälte erdulden,

dazu befähigt solche Körper die göttliche Macht,

die, wie sie es tut, uns nicht enthüllen will.

Toll ist, wer hofft, dass unser Verstand

den unendlichen Weg zurücklegen könne,

den eine Wesenheit in drei Personen geht.

Seid zufrieden, ihr Menschen, mit dem ‚dass‘;

denn wenn ihr alles hättet sehen können,

hätte Maria nicht gebären müssen,

und fruchtlos saht ihr grosse Geister begehren,

deren Begehren gestillt worden wäre,

das auf ewig ihnen nun zum Leid gegeben ist:

Ich rede von Aristóteles und Plato

und von vielen andern“, und hier senkte er die Stirn

und sagte nichts mehr und blieb verstört.

Wir gelangten inzwischen zum Fuss des Berges,

da fanden wir den Fels so steil –

es hätten sich hier die Beine vergeblich bemüht.

Zwischen Lérici und Turbía ist der ödeste,

der schroffste Bergrutsch wie eine Treppe

gegen diesen, bequem und breit.

„Wer weiss nun, auf welcher Seite der Hang nicht so steil abfällt“,

sagte mein Meister und hielt die Schritte an,

„so dass ihn einer ersteigen kann, der ohne Flügel geht?“

Und während er den Blick gesenkt hielt

und seinen Geist nach dem Weg befragte

und ich ringsum hinauf zum Felsen schaute,

erschien auf der linken Seite eine Schar

von Seelen, die ihre Füsse auf uns zu bewegten

und doch nicht zu gehen schienen, so langsam kamen sie.

„O Meister“, sagte ich, „erhebe deine Augen:

Da ist jemand, der uns Rat geben wird,

wenn du selbst von dir aus keinen finden kannst.“

Da schaute er auf, und mit freier Miene

antwortete er: „Gehen wir dorthin, denn sie kommen langsam,

sich an die … Felsen … drängten: bestürzt darüber, dass Dante und Vergil in normalem Schritt gehen und ausserdem in der umgekehrten (= falschen) Richtung zur hier üblichen

gut geendete: die im Heil gestorben sind

um des Friedens (= der Aussöhnung mit Gott) willen

der um die Zeit weiss: der weiss, wie kostbar die Zeit ist

ohne zu wissen, warum (die Vorderen anhielten)

und du stärke die Hoffnung, lieber Sohn.“

Noch waren jene Leute so weit entfernt,

nach unseren (wie ich meine) tausend Schritten,

wie ein guter Werfer werfen könnte mit der Hand,

als sie sich alle an die harten Felsen

des hohen Hanges drängten und still und eng beisammen standen,

wie einer, um zu schauen, im Gehen zweifelnd anhält.

„O gut geendete, o schon auserwählte Geister“,

begann Vergil, „um des Friedens willen,

den, wie ich glaube, ihr alle erwartet –

sagt uns, wo der Berg sich sanfter neigt,

so dass es möglich ist hinaufzusteigen,

denn dem, der um die Zeit weiss, missfällt es, sie zu verlieren.“

Wie die Schafe aus dem Pferch herauskommen,

eines, zu zweit, zu dritt, und die andern

schüchtern dastehen, Auge und Maul zur Erde gesenkt,

und was das erste tut, das tun auch die andern,

zu ihm sich drängend, wenn es stehenbleibt,

einfältig, still, und wissen nicht warum –

so sah ich das Haupt der glückseligen Schar

sich nun bewegen, um sich zu nahen,

verschämt im Gesicht und im Gehen würdig.

Wie nun die Vorderen das Licht auf dem Boden

zu meiner rechten Seite unterbrochen sahen,

so dass mein Schatten auf die Felswand fiel,

blieben sie stehen und wichen etwas zurück,

und alle andern, die hinterher kamen,

taten, ohne zu wissen warum, dasselbe.

„Ohne eure Frage erklär’ ich euch offen,

dass dies ein menschlicher Leib ist, den ihr seht,

darum ist das Licht der Sonne auf dem Boden gespalten.

Verwundert euch nicht, sondern glaubt,

dass er nicht ohne Kraft, die vom Himmel kommt,

diese Wand zu überwinden sucht.“

So der Meister, und jene würdigen Leute

Kehrt denn um: als Antwort auf Vergils Frage (Z. 76–77). Vergil und Dante hatten sich ihnen nach links entgegengewandt; jetzt aber sollen sie wieder in derselben Richtung aufwärtsgehen wie die Seelen, d. h. rechts um den Berg herum.

wende das Gesicht (nach hinten): da Dante und Vergil jetzt vorangehen

drüben: auf Erden

ein (Schwert-)Hieb

verneinte, ihn je gesehen zu haben: Derjenige, der spricht, starb ein Jahr nach Dantes Geburt, wie sich aus dem folgenden zeigt.

Manfred (König von Sizilien, † 1266)): Da Manfred ein natürlicher, d. h. illegitimer Sohn Kaiser Friedrichs II. war, identifiziert er sich nicht über seine Eltern, sondern als Enkel seiner Grossmutter väterlicherseits, Konstanze von Sizilien. Manfred übernahm die Herrschaft über Sizilien, wurde jedoch vom Papsttum als Usurpator betrachtet und, da er Ghibelline war und ausserdem noch mit Sarazenen verkehrte, auch als Ungläubiger und „Epikuräer“, d. h. Ketzer. Weil er für die Kirche als Herrscher über Sizilien inakzeptabel war, wurde er vom Papst mit der Exkommunikation belegt, erneuert durch die nachfolgenden Päpste (was Manfred mit Verachtung quittierte), und die Krone Siziliens dem französischen König angeboten. Darauf marschierte Karl von Anjou – dem päpstlichen Aufruf zum Kreuzzug gegen diesen Ungläubigen und Sarazenen folgend – in Italien ein, schlug 1266 das viel kleinere Heer Manfreds und tötete Manfred auf dem Schlachtfeld. – Die anziehende Persönlichkeit Manfreds (vgl. Z. 107) ist durch alte Chronisten bezeugt.

zurückkehrst: in die Welt der Lebenden

welche die Ehre Siziliens und Aragons gebar: Manfreds Tochter, ebenfalls Konstanze genannt (s. Z. 143), war die Mutter von König Friedrich von Sizilien und von König Jakob von Aragon. Dante äussert sich im 7. Gesang (Z. 119–20) kritisch über diese beiden Söhne, so dass „Ehre“ hier lediglich auf den königlichen Rang verweist und nicht lobend zu verstehen ist.

wenn man anderes sagt: nämlich, dass er unter den Verdammten sei

zerbrochen: tödlich verwundet

ergab ich mich weinend Ihm: Gerade noch vor seinem Tod übergab sich Manfred Gott in echter Reue („weinend“). Er steht hier stellvertretend für diese Schar der Seelen; es sind alles Exkommunizierte. Ihre Strafe wird unten in Z. 136–140 mitgeteilt.

Schrecklich waren meine Sünden: die Selbstbezichtigung einer bussfertigen Seele. Wieviel Dante selber davon für wahr hielt, bleibt im Ungewissen. Die Anklagen lauteten: Auflehnung gegen die Kirche und Missachtung ihrer Weisungen und sogar der Exkommunikation, ein Leben in Sinnenfreuden und Wollust, ferner noch die Anschuldigungen der guelfischen, feindlichen Propaganda, Manfred habe Vater, Bruder und Neffen umgebracht, um sich der Herrschaft zu bemächtigen.

sagten: „Kehrt denn um und geht uns voran“

und gaben mit dem Rücken der Hand ein Zeichen.

Und einer von ihnen begann: „Wer immer

du bist, der so dahingeht, wende das Gesicht,

besinne dich, ob du mich drüben je gesehen hast“.

Ich wandte mich zu ihm und schaute ihm fest ins Gesicht:

Blond war er und schön und von edlem Aussehen,

doch eine der Brauen hatte ein Hieb gespalten.

Als ich bescheiden verneinte,

ihn je gesehen zu haben, sagte er: „Nun schau“

und zeigte mir eine Wunde oben an der Brust.

Dann sagte er lächelnd: „Ich bin Manfred,

Enkel der Kaiserin Konstanze,

deshalb bitt’ ich dich, wenn du zurückkehrst,

geh zu meiner schönen Tochter,

welche die Ehre Siziliens und Áragons gebar,

und sag ihr die Wahrheit, wenn man anderes sagt.

Nachdem mir mein Leib zerbrochen wurde

durch zwei tödliche Streiche, ergab ich mich weinend

Ihm, der gern verzeiht.

Schrecklich waren meine Sünden,

doch die unendliche Güte hat so weite Arme,

dass sie jeden aufnimmt, der sich ihr zuwendet.

Hätte der Hirte von Cosénza, der auf die Jagd nach mir

von Clemens damals geschickt worden war,

dieses Antlitz Gottes recht gelesen,

wären die Gebeine meines Leibes noch

die unendliche Güte: Gott

der Hirte (= Erzbischof) von Cosenza (in Kalabrien)

Clemens: Papst Clemens IV.

dieses Antlitz Gottes: das Erbarmen zeigt und nicht nur unerbittliche Strenge

am Ende der Brücke von Benevento: wo ihn sein Gegner, Karl I. von Anjou, militärisch bestatten liess, mit einem „Hügel aus Steinen“ über seiner Leiche

wo er (= der Erzbischof von Cosenza) sie hinbringen liess: Der Leichnam des Ketzers Manfred wurde ausgegraben und „bei gelöschtem Licht“ (ohne Fackeln oder Kerzen und auch ohne Kreuz) – wie für Exkommunizierte und Ketzer üblich – „fast ausserhalb des Reichs“ (= des vereinigten Königreichs Neapel und Sizilien) gebracht, das Manfred nach kirchlicher Ansicht zu Unrecht sich angeeignet hatte. Die Leiche wurde am Grenzfluss „Verde“ (heute Garigliano oder Liri) unbegraben liegengelassen (und dort „netzt sie der Regen und bewegt sie der Wind“, Z. 130).

Trotz des Kirchenbanns: Trotz der Exkommunikation und Verdammung Manfreds „durch die da“, d. h. den kirchlichen Obrigkeiten (mit deutlicher Abwertung), ist das letzte Wort nicht gesprochen – Gottes Liebe zu einem reuigen Sünder ist grösser als das beschriebene, letztlich unchristliche, von politischen Machtansprüchen motivierte Verhalten kirchlicher Würdenträger.

ausserhalb von diesem Hange: ausserhalb des eigentlichen Bereichs des Läuterungsbergs, d. h. im Vorpurgatorium

ob du mich glücklich machen kannst: indem Dante Konstanze veranlassen soll, für Manfred zu beten und ihn so zu erlösen („glücklich machen“)

wie du mich gesehen hast: nämlich unter den geretteten Seelen

dieses Verbot: in diesen „Hang“ einzutreten (vgl. Z. 136–138)

durch die dort drüben: durch ihre Fürbitten

hier: auf dem aufsteigenden Läuterungsweg

am Ende der Brücke bei Benevénto,

unter dem Schutz des schweren Hügels aus Steinen.

Jetzt netzt sie der Regen und bewegt sie der Wind

fast ausserhalb des Reichs, am Ufer des Verde,

wo er sie bei gelöschtem Licht hinbringen liess.

Trotz des Kirchenbanns durch die da ist die ewige Liebe

nicht so verloren, dass sie nicht wiederkehren könnte,

solang die Hoffnung noch ein wenig grünt.

Zwar muss, wer exkommuniziert

durch die Heilige Kirche stirbt – auch wenn er am Ende bereut –,

ausserhalb von diesem Hange bleiben,

dreissigmal die ganze Zeit, die er

in seiner Anmassung verbrachte, wenn solche Verfügung

nicht durch Fürbitten guter Seelen verkürzt wird.

Schau nun, ob du mich glücklich machen kannst,

indem du meiner guten Konstanze enthüllst,

wie du mich gesehen hast, und auch dieses Verbot,

denn durch die dort drüben kommt man hier sehr voran.“

von einer unsrer Seelenkräfte (zu Z. 1–12): Es gibt (nach Aristoteles und später Thomas von Aquin) drei „Seelenkräfte“ im Menschen, die in einer Seele wohnen. Dante wendet sich gegen die Ansicht Platos („ jenen Irrtum“ Z. 5), der drei getrennt wirkende Seelen – in Leber, Herz und Gehirn („übereinander“, Z. 6) – annahm. Die drei Seelenkräfte beruhen aufeinander und sind untereinander verbunden. Wenn deshalb eine von ihnen „in Anspruch“ (Z. 8) genommen ist, dann zieht sie die ganze Seele auf sich (die Seele „sammelt sich bei dieser einen“ [Z. 3]), und diese eine Kraft „verfügt über die ganze Seele“ (Z. 11) so, „dass sie (die Seele) auf keine (der anderen beiden Seelenkräfte) mehr achtet“ (Z. 4). – Die Empfindungskraft in der Seele Dantes hatte sich ganz auf den Anblick und die Rede Manfreds konzentriert und „ist gleichsam gebunden“ (Z. 12). Die andern beiden Seelenkräfte aber, die Lebenskraft und die Verstandeskraft, waren unterdessen passiv („gelöst“, Z. 12), und deshalb nahm die Verstandeskraft, die auf die Zeit achten sollte, sie nicht mehr wahr.

sich bei dieser einen (Seelenkraft) sammelt (= sich konzentriert)

sich … entzünden: zum Leben erwachen, aktiv werden

die darauf (= auf das Vergehen der Zeit) achtet

die (Seelenkraft), die über die ganze Seele verfügt: die in Anspruch genommene Kraft, die „gleichsam gebunden“ ist und die ganze Seele absorbiert (vgl. Anm. 2 Schluss)

diesem Geist: Manfred (s. 3. Ges.)

zuhörte und … betrachtete: vgl. Z. 7 „hört oder sieht“

gut fünfzig Grad gestiegen: Seit dem Sonnenaufgang sind gut drei Stunden zwanzig Minuten vergangen (15° entsprechen einer Stunde), d. h. es ist gegen halb zehn Uhr morgens. – Der Läuterungsberg ist der einzige der drei Bereiche, in dem es die Zeit gibt, deshalb widmet ihr Dante besondere Aufmerksamkeit.

die Seelen: die sie im 3. Gesang getroffen haben und die während Dantes Gespräch mit Manfred weitergegangen sind

wonach ihr fragt: nach dem Ort, wo man aufsteigen kann

dunkler (= reif) wird

mit einer … Gabelvoll seiner Dornen verschliesst: Der Bauer versperrt mit Dornen – aus dem Dorngestrüpp, das auf seinem Land wächst – den schmalen Durchgang („die Öffnung in der Hecke“), damit keine Diebe eindringen und seine Trauben stehlen können.

der enge Pfad: eine Anspielung auf Mt 7,14: „Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dahin ist schmal, und nur wenige finden ihn.“

aufwärts nach San Leo und steil hinab nach Noli …: Alle genannten Orte waren nur zu Fuss, auf sehr steilen Pfaden, erreichbar; San Leo (im Herzogtum Urbino) auf einem Felsenpfad; nach Noli den steilen Gebirgsabhang hinunter; Bismantova – ein Felsplateau über

Läuterungsberg, 4. Gesang

Steiler Aufstieg in einer Felsenspalte – bis zu einem Absatz – warum die Sonne von der anderen Seite her scheint – eine zweite, träge Schar von Seelen (solche mit später Reue) – der träge Belacqua – sein Gespräch mit Dante

Wenn bei einer Empfindung von Lust oder Schmerz,

die aufgenommen wird von einer unsrer Seelenkräfte,

darauf die ganze Seele sich bei dieser einen sammelt,

dann scheint sie auf keine andre Kraft mehr zu achten,

und dies spricht gegen jenen Irrtum, der meint,

dass sich mehrere Seelen übereinander in uns entzünden.

Und darum, wenn man etwas hört oder sieht,

das die Seele stark in Anspruch nimmt,

vergeht die Zeit, und man versieht sich dessen nicht,

denn die Kraft, die darauf achtet, ist die eine,

eine andre aber die, die über die ganze Seele verfügt:

Diese ist gleichsam gebunden, und jene ist gelöst.

Davon machte ich selbst die Erfahrung,

als ich diesem Geist zuhörte und ihn betrachtete,

denn die Sonne war gut fünfzig Grad gestiegen,

und ich hatte es nicht bemerkt,

als wir dorthin kamen, wo die Seelen mit einer Stimme

uns zuriefen: „Hier ist, wonach ihr fragt.“

Oft ist die Öffnung in der Hecke grösser,

die der Landmann mit einer kleinen Gabelvoll

seiner Dornen verschliesst, wenn die Traube dunkler wird,

als der enge Pfad es war, auf dem mein Führer

hinaufstieg und ich hinterher, wir beide allein,

als die Schar sich von uns trennte.

Man geht aufwärts nach San Leo und steil hinab nach Noli,

man steigt hinauf zur Bismántova und zum Cacúme

markanten Steilwänden im Apennin der Emilia Romagna; Cacume – einer der Gipfel der Lepiner Berge im Latium.

hinter jenem Führer (= Vergil)

mir ein Licht war: vgl. Ps 119,105 „Dein Wort ist … ein Licht für meine Pfade.“

durch den Felsspalt: der „enge Pfad“ (Z. 22), d. h. die Öffnung in der Felswand

auf offenem Grund: wieder im Freien

die Linie vom halben Quadranten: die Linie, die den einen Viertelskreis („Quadranten“) von 90° halbiert und 45° bildet. Der Hang ist also „viel steiler“ als 45°.

ihm zu folgen (zu Z. 31–51): Der Aufstieg geht (nach Inglese) etwa so vor sich: Die Felswand ist so steil, dass der schwierige Aufstieg nur durch eine Spalte möglich ist. Sie endet bei einem Grat (? „der oberste Rand“ [Z. 34]), von wo es nochmals recht steil hinaufgeht (mehr als 45° [Z. 41–42]; sie steigen „auf allen vieren“ [Z. 50]) bis zu dem Absatz (Z. 47), wo sie sich hinsetzen (Z. 51–52).

dieser Gürtel: der Absatz (Z. 47) rings um den Berg

stets erfreulich ist (mit allegorischer Bedeutung): da von Osten das Heil kommt (die aufgehende Sonne als Symbol für Christus)

von links: weil der Läuterungsberg südlich des Äquators liegt. Wer auf der nördlichen Hemisphäre nach Osten blickt, sieht die Sonne zu seiner Rechten zur Mittagshöhe aufsteigen; auf der südlichen Hemisphäre steigt sie links empor, wie Dante hier erstaunt feststellt.

den Wagen des Lichts: den Sonnenwagen (= die Sonne)

alles auf eigenen Füssen – doch hier muss man fliegen,

ich meine, mit den flinken Flügeln und den Federn

des grossen Verlangens, hinter jenem Führer,

der mir Hoffnung gab und mir ein Licht war.

Wir stiegen empor durch den Felsspalt

und auf beiden Seiten beengten uns die Wände,

und nach Füssen und Händen verlangte der Boden unter uns.

Als wir auf dem obersten Rand

der hohen Felswand waren, auf offenem Grund,

sagte ich: „Mein Meister – welchen Weg sollen wir nehmen?“

Und er zu mir: „Mit keinem Schritt darfst du abweichen,

stets bergauf leg hinter mir den Weg zurück,

bis uns irgendein kundiger Führer erscheint.“

Der Gipfel war so hoch, dass er sich unsrer Sicht entzog,

und der Hang war viel steiler

als die Linie vom halben Quadranten zum Mittelpunkt.

Ich war müde, als ich begann:

„O lieber Vater, dreh dich um und schau,

wie ich allein zurückbleibe, wenn du nicht rastest.“

„Mein Sohn“, sagte er, „bis dorthin schlepp dich noch hinauf “,

und wies mit dem Finger auf einen Absatz etwas weiter oben,

der auf dieser Seite den ganzen Berg umgibt.

So sehr spornten mich seine Worte an,

dass ich mich zwang, auf allen vieren ihm zu folgen,

bis dieser Gürtel unter meinen Füssen war.

Dort setzten wir uns beide hin,

nach Osten gewandt, woher wir aufgestiegen waren,

– ein Anblick, der für jeden stets erfreulich ist.

Ich richtete die Augen zuerst zum Strand dort unten;

dann hob ich sie zur Sonne und verwunderte mich,

dass wir von links von ihr getroffen wurden.

Wohl bemerkte der Dichter, dass ich

ganz erstaunt war über den Wagen des Lichts,

der sich zwischen uns und dem Norden vorwärtsbewegte.

Deshalb er zu mir: „Wenn Kastor und Pollux

nach unten und nach oben leitet: Die Sonne „leitet“ ihr Licht sowohl zur (Wasser-)Hemisphäre des Läuterungsbergs (= „nach unten“), wie auch zur (Land-)Hemisphäre Jerusalems (= „nach oben“). Ihre Bahn erscheint aber, subjektiv vom Standpunkt des Betrachters aus gesehen, „nördlicher“ oder „südlicher“.

dieser Berg: der Läuterungsberg

sich … gegenüberstehen: Jerusalem und der Läuterungsberg sind antipodisch.

die (Sonnen-)Bahn

Phaeton: vgl. Hölle 17, 107

bei jenem: beim Berg Zion