Die Grenzen der Verwaltung - Niklas Luhmann - E-Book

Die Grenzen der Verwaltung E-Book

Niklas Luhmann

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Beschreibung

Nach mehrjähriger Tätigkeit in der niedersächsischen Ministerialverwaltung und einem Aufenthalt bei Talcott Parsons in Harvard wechselte der studierte Jurist Niklas Luhmann Anfang der 1960er Jahre an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Dort entstand der Entwurf einer allgemeinen Theorie der Verwaltung, welche die Verwaltungswissenschaft auf ein neues Fundament stellen sollte. Er wird nun unter dem Titel Die Grenzen der Verwaltung erstmals publiziert.

In souveräner Argumentation bestimmt Luhmann darin zunächst, was er als die Aufgabe einer Verwaltungsorganisation sieht: das Erzeugen verbindlicher Entscheidungen, um sich dann der wesentlichen Herausforderung zuzuwenden, der sich ein solches soziales System gegenübersieht: dem Management seiner eigenen Grenzen. Mit wenigen systemtheoretischen Begriffen und angereichert durch die eigene praktische Erfahrung, zeigt er, wie Verwaltungen die unterschiedlichen Erwartungen ihrer Umwelten so ausbalancieren, dass ihre Grenzen stabil und ihre Strukturen funktionsfähig bleiben. Auch knapp 60 Jahre nach der Niederschrift erweist sich dies als ein höchst origineller Zugriff auf die Verwaltung – das Rückgrat der modernen Gesellschaft.

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Eine Edition des Niklas Luhmann-Archivs der Universität Bielefeld in Kooperation mit den Digital Humanities der Bergischen Universität Wuppertal

Titel

Niklas Luhmann

Die Grenzen der Verwaltung

Herausgegeben vonJohannes F. K. Schmidt und Christoph Gesigora

Mit einem Nachwort vonAndré Kieserling und Johannes F. K. Schmidt

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Erstausgabe, 2022.Korrigierte Fassung, 2022.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2021

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-76982-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

I. Teil: Verwaltung als Entscheidungssystem

1. Kapitel: Stand und Entwicklungsmöglichkeit der Verwaltungswissenschaft

2. Kapitel: Grundbegriffe einer systemtheoretischen Verwaltungswissenschaft

(a) System

(b) Entscheidung

(c) Erwartung

(d) Funktion

3. Kapitel: Struktur als Systemleistung

II. Teil: Die Umwelt der Verwaltung

4. Kapitel: Die allgemeine Konstellation

5. Kapitel: Publikum

6. Kapitel: Politik

7. Kapitel: Personal

8. Kapitel: Umweltsynthese

Editorische Notiz

Faksimile des Buchplans

Nachwort Verwaltung als Milieu

Sachregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Vorwort

In einem wissenschaftlich so zerstrittenen Gebiet wie dem der Verwaltungswissenschaft, wo die Uneinigkeit so weit geht, daß nicht einmal über den Gegenstand der Uneinigkeit Klarheit geschaffen werden kann, ist es ohne Zweifel ein Wagnis, das Wort »Theorie« zu benutzen. Wenn dies trotzdem geschieht, soll das keine Prätention des Besserwissens, keinen Anspruch auf Gültigkeit endlich gefundener Ergebnisse bezeugen, sondern nur einen Hinweis geben auf den Abstraktionsgrad der vorgelegten Untersuchungen. Praktiker mögen dadurch abgeschreckt werden. In Wahrheit bezeichnen jedoch die Begriffe Theorie und Praxis in der abendländischen Tradition keinen sachlichen Gegensatz von Perspektiven, sondern nur einen Unterschied in der Umweghaftigkeit und Komplexität des Denkens. Umwege des Denkens ersparen Umwege des Handelns. Die Rationalität des Handelns gründet sich letztlich immer auf die Indirektheit von Zwischenüberlegungen. Es gibt daher, wie man gesagt hat, nichts Praktischeres als eine gute Theorie.

I. Teil:Verwaltung als Entscheidungssystem

1. Kapitel:Stand und Entwicklungsmöglichkeit der Verwaltungswissenschaft

Eine Studie über Verwaltungswissenschaft findet sich heute, Mitte der 60er Jahre, in einer in doppeltem Sinne ungemütlichen Situation: In allerjüngster Zeit sind eine Reihe von glänzenden theoretischen Ansätzen bekannt geworden, die vielversprechende Aussichten eröffnen, freilich Aussichten von einer Kompliziertheit, über die sich in Deutschland weder akademische Kreise noch die Verwaltungspraxis bisher hinreichend Rechenschaft geben. Andererseits ist so wenig sicherer Grund, so wenig konsistente Theorie, geschweige denn empirisch gesicherter Erkenntnisbesitz vorhanden, daß jeder Schritt ins Ungewisse geht. Beides hängt natürlich eng zusammen. Der Kompliziertheitsgrad der Materie, die verwirrende Fülle der empirischen Fakten, die eine Deutung verlangen, die Funktionalisierung aller Maßstäbe und die Variabilisierung aller Konstanten lassen ein Gefühl des Schwindels aufkommen. Je stärker man sich dem konkreten, faktischen Verwaltungshandeln zu nähern, je praxisnäher man zu denken sucht, desto vielfältiger werden die Beziehungs‐ und Deutungsmöglichkeiten, desto abstraktere Denkmittel sind nötig, will man zu sachgerechten Aussagen kommen. Weder im gesetzten Recht noch in einigen übersehbaren Organisationsprinzipien, weder in einer vorgegebenen politischen Ordnung, die allseits Vertrauen genießt, noch in einer unwandelbaren Aufgabenstruktur finden sich letzte und gültige Ansatzpunkte für die Beurteilung des Verwaltungsgeschehens. Und wenn man zuweilen auf Tagungen nachdrücklich vorgehalten bekommt, daß der Mensch im Mittelpunkt aller Dinge stehen müsse, so ist bei der Vielzahl der Menschen, die mittlerweile den Erdball bevölkern, weder diese Vorstellung vollziehbar, noch wird einem mitgeteilt, wo sich dieser Mittelpunkt befindet. Das Tagungspathos bedient sich begreiflicherweise einer Abstraktionshöhe, die eine Aussage zustimmungssicher und unschädlich macht. Abstraktionen werden auch wir nicht vermeiden können. Ist aber über angenehme, weil vertraute Banalitäten hinaus eine Abstraktion möglich, die nicht nur unschädlich, sondern auch nützlich ist?

Trotz des raschen Anwachsens der Forschungen und Theorieversuche in den letzten Jahren, das mit einer Explosion verglichen worden ist,1 besitzen wir keinen theoretischen Bezugsrahmen, der den Verwaltungsvorgang als solchen zum Thema hätte. Es gibt im Grunde nur angelehnte Verwaltungswissenschaften. Ihr jeweiliger Ausgangspunkt liegt in einer der traditionell anerkannten Disziplinen, deren Methode und Begriffe sie auf das Verwaltungsgeschehen übertragen. Daher findet, wer einen Überblick über das Schrifttum zu gewinnen sucht, mehrere Verwaltungswissenschaften, die einander im Stile guter akademischer Arbeitsteilung Respekt bezeugen, sich aber nicht miteinander im Gespräch befinden.2

Darunter leidet auch das Studium der Verwaltungswissenschaft. Man kann nicht sämtliche Wissenschaften studieren, die zum Verständnis des Verwaltungsgeschehens beitragen können. Die Lehre der Verwaltungswissenschaft muß sich daher praktisch auf den Boden einer bestimmten Fachwissenschaft begeben, deren Kenntnis sie bei den Studierenden voraussetzen kann. So bekommt sie auch von den Unterrichtsproblemen her den Charakter einer angelehnten, mit praktischen Spezialproblemen befaßten, »angewandten« Disziplin. Dadurch wird die theoretische Besinnung auf die Eigenart des Verwaltungsvorganges gehemmt.

Diese Situation erschwert die Konsolidierung einer einheitlichen Verwaltungswissenschaft, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in der dafür sehr viel stärker aufgeschlossenen amerikanischen Forschung. In der abendländischen Wissenschaftstradition haben sich neue Wissenschaften zumeist durch Ausgliederung, durch eine Art Zellteilung der vorhandenen, gebildet. Man schied Teilkomplexe aus, deren Selbständigkeit im Fortschreiten einer Mutterwissenschaft erkennbar geworden war – ein Prozeß zunehmender Abstraktion, Differenzierung und Spezialisierung. Die Begründung einer Verwaltungswissenschaft scheint dagegen das umgekehrte Verfahren der Integration zu verlangen. Sie kann, da viele Wissenschaften an der Zeugung beteiligt sind, nicht durch bloße Absonderung geschehen. Sie muß aus mehreren Disziplinen das für sie Brauchbare herausdestillieren und – will sie nicht bei einer eklektischen Ansammlung heterogener Vorstellungen stehenbleiben – daraus eine einheitliche Theorie bilden. Das ist, wenn überhaupt, nur auf dem Wege scharfer Abstraktion möglich. Daß dieser Vorgang sehr viel größere Schwierigkeiten bereitet als der einer einfachen Ausdifferenzierung, liegt auf der Hand. Allein die Orientierung in den verschiedenen Grundwissenschaften überfordert den einzelnen Forscher, zumal der Zug der Zeit zur Spezialisierung und zu wachsenden Genauigkeitsanforderungen geht.

Als Grunddisziplinen der Verwaltungswissenschaft stehen heute namentlich die Rechtswissenschaft (1), die Wirtschaftswissenschaft (vor allem Betriebswissenschaft) (2), die Politische Wissenschaft (3), die Soziologie (4) und die Psychologie (5) in Konkurrenz. Wir müssen auf diese verschiedenen Möglichkeiten in aller Kürze eingehen, um uns ein Bild über ihre Tragweite zu verschaffen.

(1) Die Rechtswissenschaft hat, zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland, das Gebiet der öffentlichen Verwaltung mit nahezu ausschließender Wirkung annektiert. Damit ist die Frage der Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, und dies unter ganz speziellen, nämlich juristischen Gesichtspunkten.

Die Kriterien der Richtigkeit einer Verwaltungsentscheidung werden dem gesetzten Recht und der Rechtsprechung entnommen und auf dieser Grundlage rational durchgearbeitet. Der Problemstil ist durch das Streben nach Konsistenz von Normauslegungen bestimmt. In begrenztem Umfange, bei der Auswahl unter sich anbietenden Problemlösungen, spielt der Gedanke an die praktischen Folgen dieser oder jener dogmatischen Variante eine Rolle. Aber es ist nicht Sache der Rechtswissenschaft, diese Folgen als empirische Fakten eigens zu erforschen.

Außerdem kann die Rechtswissenschaft, die davon ausgeht, daß Recht sein soll, nicht nach der Funktion des Rechts für die Verwaltung fragen; denn die Frage nach der Funktion eines Gegenstandes impliziert, daß dieser Gegenstand als ersetzbar behandelt wird. Weil nicht nach der Funktion des Rechts gefragt werden kann, kommt auch nicht deutlich zutage, daß Privatverwaltungen nicht nur von anderen Normen, sondern überhaupt nicht im gleichen Sinne vom Recht beherrscht sind wie öffentliche Verwaltungen, daß die Funktion des öffentlichen Rechts dort anders erfüllt wird. Um diese sprengende Einsicht zu umgehen, isoliert sich die Verwaltungsrechtswissenschaft als Wissenschaft vom öffentlichen Recht auf den Bereich der öffentlichen Verwaltung und schließt Vergleiche mit Privatverwaltungen und erst recht deren thematische Erfassung aus ihrer Zuständigkeit aus. Ihre Sicht auf die »Verwaltungslehre« bleibt, milde gesagt, egozentrisch.3

Bezeichnend dafür sind zwei typische Einstellungen zum Verhältnis von Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft, die man unter Juristen immer wieder vertreten findet: Die eine meint, die Verwaltungsrechtswissenschaft könne sich die rechtlich relevanten Verwaltungshandlungen reservieren, die Verwaltungswissenschaft sei auf die übrigbleibenden Verwaltungshandlungen beschränkt – als ob alle Gegenstände, die farbig sind, deshalb nur von der Optik behandelt werden könnten. Selbst wenn man einsieht, daß es keinen rechtsfreien Raum der Verwaltung gibt, wird daraus nur die ebenso fehlgehende Schlußfolgerung gezogen, die Verwaltungswissenschaft müsse deshalb auf der Verwaltungsrechtswissenschaft aufbauen und von dort her ihre Grundbegriffe beziehen.4 Beide Ansichten verkennen den analytischen Charakter einer Wissenschaft in ihrem Verhältnis zur konkreten Wirklichkeit. Das Verwaltungsrecht, und infolgedessen auch die Verwaltungsrechtswissenschaft, befaßt sich mit den gleichen Tatbeständen wie die Verwaltungswissenschaft, nur daß sie ein anderes grundbegriffliches Relevanzschema zugrunde legt und daher jeweils andere Aspekte des Wirklichen beleuchtet und erforscht.5

(2) Ähnliche Feststellungen lassen sich über die Versuche treffen, wirtschaftswissenschaftliche Methoden und Begriffe auf das Verwaltungsgeschehen anzuwenden. Sie haben zu einem Komplex von Aussagen über Organisation und »Management« geführt, die wir in Anlehnung an einen sich einbürgernden Sprachgebrauch die »klassische Organisationstheorie« nennen wollen.

Für die klassische Organisationslehre, namentlich die betriebswissenschaftliche Unternehmenstheorie, ist zunächst bezeichnend, daß sie standpunktrelativ entworfen ist: Sie erkennt nur einen einzigen Standpunkt, den des Unternehmers, als Rationalisierungsgrundlage an.6 Die Standpunkte aller anderen Beteiligten – seien es arbeitende Organisationsmitglieder, Lieferanten, Kunden – erscheinen in der Perspektive des Unternehmers als Daten, Mittel oder Hindernisse, also in einer spezifisch funktionalen Charakterisierung. Durch diesen Ausgangspunkt wird es möglich, einen Unternehmenskomplex als Handlung – und nicht als das, was er ist: als System – zu verstehen und zu rationalisieren. Man gewinnt dadurch den Anschluß an die traditionelle Explikation der Rationalität des Handelns durch das Zweck/​Mittel‐Schema. Die Ganzheit der Unternehmung wird durch den Zweck (des Unternehmers) repräsentiert, die Teile der Unternehmung werden als Mittel zu diesem Zweck angesehen.

Die klassische Organisationstheorie ist, was ihre heutigen Kritiker oft verkennen, ebenfalls normativer Natur. Sie fordert, daß ein Organisationszweck durch geeignete Mittel bestmöglich verwirklicht werden soll und sucht nach den Organisationsprinzipien und Verhaltungsmaximen, die dabei zu beachten sind. Der normative Charakter des Ansatzes verrät sich besonders in der Art, wie diese Theorie mit den faktischen Organisationsschwierigkeiten, mit mangelnder Motivation und den empirischen Grenzen der Rationalisierung fertig wird: Die Probleme werden entweder durch Gegenprinzipien aufgefangen (zum Beispiel Zentralisierung/​Dezentralisierung; herrschaftliche/​genossenschaftliche Struktur; Spezialisierung/​Koordination; Stabilität/Flexibilität)7 oder den Schwächen der menschlichen Natur zur Last gelegt. Im Spannungsfeld von idealen Prinzipien und menschlicher Natur erscheint das Verwaltungshandeln als Kunst.

Aufgabe der Organisation ist es, die strukturellen Bedingungen rationaler Wahl zu gewährleisten. Sie ist insofern marktanalog gedacht. Alles kommt deshalb darauf an, wie Rationalität ausgelegt wird (und an diesem Punkte setzt dann auch die Kritik an). Die Anlehnung an die Wirtschaftswissenschaft findet die klassische Organisationslehre in ihrem Rationalitätsbegriff durch Auslegung des Zweck/​Mittel‐Schemas im Sinne des Optimalprinzips. Dessen These, daß ein Zweck gesetzt sei und alle anderen Handlungsfolgen als Folgen der Mittel begriffen und als Kosten gegengerechnet werden könnten, setzt Quantifikation, praktisch also Geldrechnung voraus. Da die öffentliche Verwaltung es sich niemals leisten kann, ihre Handlungsfolgen nur in Geld zu bewerten, limitiert dieser Ansatz den Anwendungsbereich der Theorie auf Privatunternehmen.8

Für Privatunternehmen ist nun bezeichnend, daß Verwaltungsvorgänge mit andersartigen Vollzügen, etwa Produktion oder Verkauf, eng verflochten sind. Sie werden natürlich von anderen Personen und in anderen Gebäuden ausgeführt; aber das Thema der Privatverwaltung ist die unmittelbare Planung einer Tätigkeit, die als solche nicht mehr Verwaltung ist. Mit diesem Bild vor Augen hat die klassische Organisationstheorie keine reine Verwaltungstheorie ausbilden können, sondern Verwaltung teils rein instrumental als mittelbares Mittel einem verwaltungsfremden Betriebszweck zugeordnet, teils mit Betriebsleitung gleichgesetzt9 oder sie, beides kombinierend, als Hilfsfunktion der Unternehmensleitung definiert.10 Daher kommen die privatwirtschaftlichen Verwaltungslehren von der Auffassung nicht los, daß Entscheidungen lediglich systeminterne Bedeutung haben, lediglich der Vorbereitung von Handlungen, insbesondere solcher der Produktion, dienen und daß erst in diesen Handlungen sich der Verkehr des Systems mit der Umwelt vollzieht (während für öffentliche Verwaltungen gerade typisch ist, daß die Entscheidungen als solche der Umwelt zugestellt werden).

Die privatwirtschaftlichen Organisationslehren sahen ihre Aufgabe zunächst einfach in der Anwendung der Prinzipien wissenschaftlicher Organisation. Die Überschätzung dieser Prinzipien führte so zu einer Unterschätzung der Verwaltungsprobleme.11 Mangels eines Ansatzpunktes für empirische oder funktionale Forschung endet diese Verwaltungstheorie bei begrifflichen Aufzählungen und Definitionen, wie etwa: Verwaltung ist Organisation, Leitung und Kontrolle.12

(3) Die Verwaltungslehre der Politischen Wissenschaft läßt sich sehr gut am Lehrfach »Public Administration« in den Vereinigten Staaten studieren. Es übernimmt die vorwiegend deskriptiven, auf Verständnis des politischen Handelns und seiner Bedingungen gerichteten Methoden der Politischen Wissenschaft und überträgt sie auf die öffentliche Verwaltung. Die Selbständigkeit dieser Politischen Wissenschaft von der Exekutive war von Anfang an ein Problem, wenn sie auch zunächst durch die Unterscheidung von Politik und Verwaltung gesichert zu sein schien.13 Im Grunde hält nur die institutionelle Einheit ihres Gegenstandes diese Wissenschaft zusammen. Sie hat daher in der Auseinandersetzung mit moderneren, theoriebewußten und methodenscharfen Forschungsansätzen einen schlechten Stand. Ihr Ausweichen in eine »vergleichende Verwaltungswissenschaft«14 kann vielleicht als ein Prozeß langsamer Selbstauflösung gewertet werden. Denn Vergleiche sprengen die institutionelle Einheitsgarantie und setzen theoretisch abstrahierte Bezugsgesichtspunkte voraus, von denen aus entschieden werden kann, was als gleich und was als ungleich anzusehen ist. Die mannigfachen und bleibenden Einsichten, die im Rahmen dieser Bemühungen gewonnen worden sind, müssen in eine weiträumiger und abstrakter angelegte allgemeine Verwaltungswissenschaft überführt werden.

(4) Weitaus schwieriger ist es, über die soziologische Verwaltungsforschung einheitlich treffende Aussagen zu machen. Sie hat sich in ein schon aufgeteiltes Gebiet hineingeschoben und findet daher ihr unterscheidendes Merkmal nicht in einer besonderen Art von Normen, Zwecken oder Institutionen, die sie behandelt, sondern in einer eigenartigen Perspektive, unter der sie neue Aspekte des Verwaltungsgeschehens zum Aufleuchten bringt. Alle bisher behandelten Verwaltungslehren haben sich mit unbedenklicher Selbstverständlichkeit die Perspektive des Handelnden zu eigen gemacht. Sie bleiben im Vorstellungsraum des »natürlichen«, vorwissenschaftlichen Handlungserlebens, auch wenn sie es zu rationalisieren trachten. Rechtsnormen, Zwecke und politische Institutionen sind ihnen als Thema des Handlungserlebens zugleich theoretisches Grundgerüst. Die Soziologie dagegen versteht das Handeln durch Beziehung auf nichtmitgemeinte Strukturen, die gerade dadurch, daß sie dem Handlungssinn fremd sind und fremd bleiben können, zu seinem theoretischen Verständnis beitragen.15 Daher rührt der ehrfurchtslose, verfremdende, enttäuschende und zuweilen komische Stil ihrer Analysen.

Die Frage ist natürlich, bei welchen Bezugsbegriffen man die soziologische Analyse ansetzt. Die anfängliche Neigung, von bestimmten heimlich wirkenden Ursachen auszugehen (Marx), entsprach den kausalwissenschaftlichen und historischen Interessen des 19. Jahrhunderts, ist aber inzwischen hoffnungslos diskreditiert. Sie hätte im übrigen für eine Analyse des Verwaltungsalltags kaum Früchte tragen können. Als sehr ergiebig hat sich jedoch der umgekehrte Ansatz erwiesen, bei nichtbedachten Folgen des Handelns anzusetzen, der die Frage nach den manifesten und latenten Funktionen des Handelns auf den Plan rief. Eine Reihe von bereits klassischen Bürokratiestudien aus der Schule Robert K. Mertons verwenden diesen Gedanken.16 Auch die Theorie von formalen und informalen Organisationen steht ihm nahe.17 Geht man diesem Erfolg auf den Grund, so trifft man auf den Gedanken des sozialen Systems, der zum Grundbegriff wenn nicht der Soziologie, so doch der soziologischen Organisationsanalyse zu werden scheint. Zur Erhaltung eines sozialen Systems sind sehr komplizierte, miteinander kollidierende Leistungen erforderlich, so daß jede Handlung in ihrem System positive und negative, bedachte und unbedachte Folgen auslöst, die Probleme für weitere Handlungen aufgeben. Diese Vorstellung einer problembezogenen und Folgeprobleme auslösenden, »schwierigen« Handlungskooperation kommt dem faktischen Verwaltungsalltag erstaunlich nahe und eignet sich deshalb – auf mittlerer Abstraktionshöhe – glänzend als analytisches Schema für Verwaltungssituationen.

Allerdings ist bei der Ausarbeitung und bisherigen Anwendung dieser Methode das Problem der Rationalität fast verlorengegangen. Das liegt vermutlich daran, daß mit der Eigenperspektive des Handelnden zugleich die Formen der Rationalisierung, die auf sie bezogen waren, vor allem: das Zweck/​Mittel‐Schema, ihren alten Primat verloren haben. Es dämmerte bei einem Seitenblick auf die fortgeschritteneren Wirtschaftswissenschaften zwar die Vorstellung, daß Rationalisierung auf der Ebene sozialer Systeme etwas anderes sein und mit anderen Denkmitteln arbeiten müsse als Rationalisierung von Einzelhandlungen.18 Aber die Aufgabe, Handlungsrationalität durch Systemrationalität zu ersetzen, ist bisher kaum gesehen, geschweige denn in Angriff genommen worden. Insofern ist auch die bisherige soziologische Bürokratieforschung einseitig geblieben und steht unverbunden neben der von den Wirtschaftswissenschaften angeregten Rationalisierungsbewegung.19

Besseren Zugang zum Problem des rationalen Handelns in Organisationen scheint die Interaktionstheorie zu versprechen, die von Sozialanthropologen entwickelt, aber auch von Soziologen benutzt wird.20 Sie sucht ohne Umschweife das faktische zwischenmenschliche Handeln auf, um es in wichtigen quantifizierbaren Variablen wie Dauer, Richtung, Initiativ‐ und Vorrangshäufigkeit etc. zu messen und daraufhin bessere Verteilungen vorschlagen zu können. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, daß er um der Quantifizierbarkeit willen allzu einfache psychologische Grundvorstellungen menschlicher Erlebnisverarbeitung und Motivation verwendet. Auch ist er bisher hauptsächlich in Produktionsorganisationen und weniger in den gedankenschweren Verwaltungen erprobt worden.

(5) Scheinbar abseitsliegend, in Wahrheit aber sehr aufschlußreich ist die Frage, was die Psychologie zur Verwaltungswissenschaft beigesteuert hat. Ihr wichtigster Beitrag ist nur sehr indirekt relevant, dafür aber maßgeblich am Sturz der klassischen Organisationstheorie beteiligt gewesen. Er besteht in der wachsenden Einsicht in die Kompliziertheit und das Nichtfestgelegtsein menschlicher Erlebnisverarbeitung und Motivation. Während die älteren Organisationslehren glaubten, sich für den Menschen nur im Ausschnitt, nur in seiner Eigenschaft als Leistungsquelle, als Mittel zum Zweck oder als Vorrat benötigter Handlungen interessieren zu müssen oder allenfalls noch für die Methoden, mit denen die gewünschten Handlungen direkt motiviert, abgefordert oder entlockt werden könnten, versucht die neuere Forschung, den Menschen als komplexes, sein Erleben selbst zu einer persönlichen Identität verarbeitendes Handlungssystem in Rechnung stellen.

Die Neuerung liegt nicht, wie so oft gesagt wird,21 im zunehmenden Interesse am faktischen Verhalten, denn das konnte und wollte auch die klassische Organisationslehre nicht ignorieren; sondern sie liegt in der zunehmenden Erkenntnis, daß der Mensch als selbstgesteuertes System des Erlebens und Handelns Anregungen im Kontakt mit der Umwelt selbst verarbeitet und daher nicht mit einfachen Motivationsmitteln in eine Organisation eingebaut werden kann. Somit erscheint wirkliche Integration als ein hochproblematischer Prozeß, der nur durch sehr komplizierte Strukturanpassungen und durch Verzicht auf Höchstleistung erreichbar ist.

Soweit Psychologen sich unmittelbar mit Verwaltungsvorgängen befaßt haben, ist der Anspruch auf systematische Begründung einer eigenen Verwaltungslehre gar nicht erst erhoben worden. Das gilt selbst für die Gruppenpsychologie, einen Zweig der Sozialpsychologie, der eine nicht mehr zu übersehende Literatur hervorgebracht hat, die sich zu einem wichtigen Teil auf Forschungen über Gruppen in Organisationen stützt. Dabei standen zunächst jedoch Produktions‐ oder Dienstleistungsbetriebe im Vordergrund der Betrachtung.22 Und außerdem knüpfte die Problemstellung an die offenen Punkte der klassischen Organisationstheorie an, was die ziemlich rasche Ausbreitung der neuen Lehren auch in der Betriebspraxis verständlich macht.

Gruppen wurden lediglich als Heilmittel für schon definierte Probleme, etwa Widerstand gegen Neuerungen, mangelhafte Leistungsmotivation, mangelhaftes Vertrauen in die Betriebsleitung, empfohlen. Erst in allerjüngster Zeit beginnen wenig aussichtsreiche Versuche, mit Hilfe der Begriffe der Kleingruppenforschung eine allgemeine Organisationstheorie zu formulieren.23 Sie werden in die oben behandelte Theorie sozialer Systeme einmünden.

Aus der Gruppentheorie haben sich ferner Forschungen entwickelt, welche die Erleichterung von Kommunikation und Verständigung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, und das allerdings ist für Verwaltungsorganisationen unmittelbar relevant. Am Horizonte werden Brücken zur mathematischen Kommunikationstheorie sichtbar, wenn man sich entschließen kann, psychologisch bedingte Kommunikationsstörungen wie unerfreuliche Geräusche im Telephon zu behandeln.24 Nicht selten findet sich die optimistische Vorstellung, daß die Probleme des organisierten Zusammenarbeitens sich dadurch lösen lassen, daß man unbehindert darüber redet; und daß die Organisationsstruktur deshalb in der Anlage von Kommunikationsnetzen, in der Vermeidung von Autoritätsbeziehungen und in gemeinsamer (statt individueller) Verantwortlichkeit, daß ferner die Pflege des Betriebsklimas und das Verhaltensgeschick im Umgang mit anderen auf dieses Ziel abgestellt werden müßten.25 Dabei wird übersehen, daß es außer den Mitgliedern der Organisation noch andere problemverursachende Faktoren gibt – eine typische Einseitigkeit der Organisationspsychologie.

Am wichtigsten ist der Beitrag der Psychologie insofern, als diese Disziplin den Bemühungen, faktisches Verhalten in Organisationen zu erfassen und vorherzusagen, eine erste Heimstätte geboten hat. Denn konkretes Verhalten ist immer individuelles, persönliches Verhalten und in seiner Faktizität zunächst am besten von der Psychologie aus zu behandeln. Hier begann die steile Karriere des Entscheidungsbegriffs,26 der weithin als beste Beschreibung des Verwaltungshandelns angesehen und auch in unseren weiteren Überlegungen eine zentrale Stellung einnehmen wird. An dieser Stelle scheint der Übergang von faktischer Verhaltensforschung zur rationalen Organisationstheorie, die sich mit richtigem Entscheiden befaßt, besser geglückt zu sein als in der Soziologie; jedenfalls wird diese Prätention von Herbert A. Simon und seiner Schule aufgestellt und laufenden Forschungen zugrunde gelegt:27 Nur wenn man die empirischen Gesetzlichkeiten (!) des wirklichen Entscheidungsverhaltens am lebenden Objekt erforsche, könne man auf dieser Grundlage Organisationen zur bestmöglichen Erfüllung ihrer Entscheidungsaufgaben rationalisieren.

Die Fachpsychologie selbst dürfte diesem Anspruch gegenüber freilich skeptischer urteilen. Sie ist in ihren fruchtbarsten Tendenzen nicht mehr kausalwissenschaftlich, sondern funktionalistisch eingestellt. Das heißt: Sie bezieht menschliches Erleben und Verhalten funktional auf Probleme der Persönlichkeitsintegration, wobei die Gefahr der Desintegration vielfach durch den psychoanalytischen Begriff der Angst bezeichnet (oder, wenn man so will: verzeichnet) wird. Von diesem Ufer aus sind interessante Erkundigungsfahrten in den fließenden Strom der Bedrängnisse und Kompensationen des »Organisationsmenschen« unternommen worden, der dabei als angstreduzierendes Persönlichkeitssystem begriffen wird.28 Vom Standpunkt einer allgemeinen Verwaltungswissenschaft aus bleibt dies jedoch ein Sonderproblem. Die Versuche, Organisationsstrukturen auf ihre Angsterzeugung beziehungsweise angstlindernden Funktionen hin abzuleuchten, werfen höchst einseitige Schlaglichter auf den Gegenstand, der die Verwaltungswissenschaft in all seinen Aspekten interessiert.

Dieser rasche Überblick über eine Anzahl von Theorien mag ausreichen, um den Problembezirk zu umreißen, in den die folgenden Untersuchungen gestellt sind. Ihr Ziel ist, Ansatzpunkte für eine allgemeine Theorie der Verwaltung aufzuzeigen; ebendas zu tun, was den beschriebenen angelehnten Verwaltungswissenschaften nicht gelingen konnte.

Wenn dies bisher nicht geschehen ist (auf den Versuch Herbert A. Simons werden wir gleich eingehen), so dürfte die unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen wertabhängigen (normativen) und empirischen (kausalwissenschaftlichen) Wissenschaften, also zwischen Rechts‐ und Wirtschaftswissenschaften einerseits und Soziologie und Psychologie andererseits daran schuld sein. Für die Verwaltungswissenschaft spitzt sich diese Divergenz zum Problem der Rationalisierung des faktischen Verhaltens zu. Rationalisierung scheint nur denkbar zu sein als Orientierung von wählenden Entscheidungen, das heißt: aufgrund von Wertprämissen. Werte sind jedoch nicht beweisbar, also nicht wahrheitsfähig, und eignen sich deshalb nicht als Grundlage der Erkenntnis faktischen Verhaltens.

Freilich hat man von beiden Seiten aus versucht, einander entgegenzukommen und diese Kluft zuzuschütten. Am Schnittpunkt dieser Bemühungen steht gegenwärtig die Verwaltungstheorie Simons.29 Sie beschränkt sich einerseits darauf, Wertprämissen nur konditional vorauszusetzen: Wenn du den Wert X erreichen willst, mußt du die Handlung Y ausführen. Und andererseits stellt sie das Handeln nicht unter absolute, sondern nur unter statistische Kausalgesetze: Die Situation X bewirkt nicht mit 100prozentiger, sondern nur mit experimentell zu verifizierender 57,3prozentiger Wahrscheinlichkeit die Handlung Y. Dadurch wird das Problem jedoch nur verschoben und verkompliziert, aber nicht gelöst. Wenn die Freiheit der Wertwahl durch statistische Verfahren neutralisiert wird (es gibt nur Wertwahltendenzen, deren Variationen sich in der Fülle der Fälle gegeneinander ausgleichen), so wird damit auf das Ziel richtiger Rationalisierung verzichtet. Dieses muß an bestimmten Wertorientierungen festhalten, von denen die Wissenschaft niemals mit bestimmter Wahrscheinlichkeit voraussagen kann, ob sie gewählt werden oder nicht – es sei denn, daß sie so optimistisch sein will, die Freiheit des Menschen zu leugnen.

Diese Andeutungen reichen bei weitem nicht aus, um den bedeutenden Theorieversuch Simons angemessen zu würdigen, geschweige denn ihn zu widerlegen. Sie sollen lediglich begründen, daß es guten Sinn hat, ihm einen Konkurrenzversuch an die Seite zu stellen, der dieses Grundproblem auf andere Weise löst.

Will man die Doppelgleisigkeit rationaler und empirischer Organisations‐ und Verwaltungswissenschaft überwinden, muß man sie zunächst verstehen und auf einen Nenner zurückführen. Dazu ist die Werturteilsproblematik, welche die Divergenz erzwungen hat, nicht geeignet. Sie muß in ihrer Rolle als letzte Orientierung und als Bezugsrahmen der Forschung durch den Systembegriff abgelöst werden. Für organisierte Systeme ist nämlich charakteristisch (wie wir im Vorgriff auf spätere Erläuterungen hier einfach behaupten wollen), daß sie ihre Identität in einer differenzierten Umwelt und durch Differenzierung ihrer Umwelt gewinnen. Sie setzen als mindestes voraus, daß die Personen, die systemrelevante Handlungen beisteuern, in Mitglieder und Nichtmitglieder unterschieden und entsprechend unterschiedlich behandelt werden. Ein organisiertes System konstituiert und erhält sich dadurch, daß es Anforderungen dieser beiden Umwelten befriedigen und in ein Gleichgewicht bringen kann.

Die beiden Hauptströmungen der Organisationsforschung, die rationale und die empirische Grundkonzeption, zeichnen sich nun dadurch aus, daß sie diese zentrale Bestandsbedingung organisierter Systeme nicht adäquat erfassen, sondern sich jeweils einseitig an den Beziehungen zu einer Umwelt orientieren, der sie primäre Bedeutung beimessen. Die Rationalwissenschaften gehen von den Anforderungen der Leistungsabnehmer aus: die Rechtswissenschaft zum Beispiel von den Bedingungen, unter denen Entscheidungen juristisch abgenommen werden können, die Betriebswissenschaft von den Anforderungen des Marktes, der gewinnversprechende Leistungszwecke vorzeichnet, die ihrerseits dann Organisations‐ und Arbeitsgrundlage werden.30 Soziologie und Psychologie haben sich dagegen vor allem den arbeitenden Mitgliedern der Organisation zugewandt. Deren Einstellungen, Bedürfnisse und Motivationsstrukturen stehen für sie im Mittelpunkt – vermeintlich als »interne« Probleme der Organisation, tatsächlich aber ebenso der Umwelt zugehörig wie die systemwichtigen Handlungsbereitschaften der Nichtmitglieder; denn die Mitglieder gehen zwar als »Rollen«, nicht aber als konkrete Personen in der Organisation auf: Die Entdeckung des »konkreten Menschen in der Organisation« war also in Wahrheit die Entdeckung einer neuen Umwelt.

Beide Perspektiven treiben ihre Einseitigkeit zwar nicht ins Absolute – das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn ein Problem ist kein Problem: Erst der Widerspruch von Anforderungen macht die Problematik aus. Die andere Umwelt muß also jeweils mitberücksichtigt werden. Aber sie wird als nicht maßgebendes, sondern nur begrenzendes Datum, als Konstante gesehen; und von der Organisation wird infolgedessen lediglich gefordert, daß sie sich den Variationen der jeweils bevorzugten Umwelt anpaßt. Das bedeutet in beiden Fällen, daß die Organisation als abhängige Variable einer bestimmten Umwelt verstanden wird – und nicht eigentlich als relativ invariantes, autonomes System zwischen beiden Umwelten. Für die rationalwissenschaftliche Sicht sind die Bedürfnisse der arbeitenden Mitglieder durchaus vorhanden, aber sie erhalten nicht den Primat, haben keinen Einfluß auf die Zielbestimmung, sondern werden lediglich als Kostenfaktor in Rechnung gestellt. Geldentlohnung und strenge Aufsicht waren daher die einzigen Systemstrategien an dieser Front. In der entgegengesetzten, am empirischen Verhalten der Mitglieder interessierten Blickweise, die aus den Mängeln jener »klassischen« Auffassung entstanden war, begeht man den umgekehrten Fehler: Die Anforderungen der Leistungsabnehmer, des Marktes, der öffentlichen Meinung erscheinen nur noch als begrenzende Konstanten. Sie werden ausdrücklich in der Weise berücksichtigt, daß man eine »formale Organisation« hinnimmt, die einen Systemzweck formuliert hat, weniger ausdrücklich auch dadurch, daß die Mitgliederproblematik unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsmoral, der rechten Motivation erforscht wird, wobei das Wofür vorausgesetzt, das heißt der jeweiligen Bestimmung durch die Betriebsleitung überlassen wird. Die Organisation aber soll primär unter dem Gesichtspunkt modelliert werden, daß sie für die Mitglieder attraktiv werden und ein Höchstmaß an spontaner Arbeitsleistung anziehen würde.

Die volle Schärfe dieses Gegensatzes der Perspektiven ist bereits im Zerfall begriffen.31 Dazu hat nicht zuletzt der geschilderte Umstand beigetragen, daß keine der Auffassungen in ihrer Einseitigkeit konsequent bleiben konnte. Auch verwenden die rationale ebenso wie die empirische Forschungsrichtung bereits seit einiger Zeit den Systembegriff – allerdings in einer Fassung, welche den Blick auf rein »interne« Probleme lenkt und die System/Umwelt‐Beziehungen demgegenüber vernachlässigt.32 Es fehlt bis heute eine zusammenfassende Konzeption. Diese läßt sich in dem Gedanken finden, der unsere Darstellung des Gegensatzes getragen hat: daß jedes organisierte System sich (mindestens) zwei Umwelten gegenüber ausbalancieren muß, die beide unabhängig vom System variabel sind, und daß es zwar für die praktische Systemsteuerung, nicht aber für die wissenschaftliche Analyse Primatentscheidungen (Wertentscheidungen) geben darf. Die wissenschaftliche Theorie muß sich für jede empirische Möglichkeit offenhalten.

Für die Verwaltungswissenschaft, die wegen ihres Gegenstandes nicht auf Modelle rationalen Handelns und als Wissenschaft nicht auf empirische Kontrolle verzichten kann, kommt die gegenwärtige Trennung beider Perspektiven einem Startverbot gleich. In keiner kann sie sich voll entfalten. Der Versuch einer Synthese, der mit dieser Arbeit unternommen werden soll, gibt ihr zugleich einen umfassenden Bezugsrahmen, der sie nicht schon durch die Wahl des Theorieschemas zum Vernachlässigen sei es der rational‐strategischen, sei es der empirischen Komponente zwingt. Die Systemtheorie ermöglicht es vielmehr, die beiden Perspektiven als jeweils umweltrelativ einander zu konfrontieren. Das beseitigt den Gegensatz der Orientierungsmöglichkeiten nicht, verlagert ihn aber aus der Ebene der Prinzipien oder Werte in die der Taktik und macht ihn selbst zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.

Daß man eine Konstruktion von Entscheidungsmodellen gleichwohl nicht ohne weiteres für eine Wirklichkeitsbeschreibung halten oder gar zu Verhaltensvoraussagen benutzen darf, versteht sich von selbst. An eine Rückkehr zum Naturrecht ist nicht gedacht. Empirische und entscheidungslogische Aussagen müssen sorgfältig getrennt werden. Die Frage ist jedoch, ob dies nicht innerhalb einer Wissenschaft möglich ist, ob es – mit anderen Worten – nicht möglich ist, die Bezugspunkte der Konstruktion von Entscheidungsmodellen mit Hilfe einer Wissenschaft zu finden, die nicht einfach Werte auswertet, sondern Möglichkeiten empirischer Systembildung behandelt.

Bevor wir uns einem solchen Versuch zuwenden, muß jedoch noch die Methodenfrage angeschnitten werden. Erst sie läßt die angestrebte Synthese voll ins Licht treten. Auch in methodischer Hinsicht muß die Verwaltungswissenschaft über gewisse Grenzen der bisherigen Forschung hinausgeführt werden. Das ist ein unentbehrliches Korrelat unserer Theorievorschläge.33 Während die bisherigen Rationalwissenschaften vor allem in ihren theoretischen Grundlagen revidiert werden müssen, indem dort, wie gesagt, die Probleme der Systemtheorie an die Stelle der Zweckbegriffe treten, Systemrationalität also die Handlungsrationalität ablöst, liegt die Differenz zur bisherigen empirischen Organisationsforschung hauptsächlich auf methodischem Gebiet. Die Synthese läßt sich deshalb weder eindeutig als rationalwissenschaftlich noch als empirisch im Sinne des üblichen kausalwissenschaftlichen Positivismus charakterisieren. Ihr methodischer Grundgedanke ist der Vergleich.

Genauer gesagt liegt der Differenzpunkt nicht im Aufgeben des Kausalgedankens, sondern in seiner Erweiterung: darin, daß die Grenzen seiner rein linearen Verwendung gesprengt werden. An die Stelle der kausalgesetzlichen Aussagen vom Typ: A bewirkt (notwendig beziehungsweise mit angebbarer Wahrscheinlichkeit) B, treten funktionale Aussagen vom Typ: Unter dem Gesichtspunkt X sind A und B funktional äquivalente Möglichkeiten.34 Als Bezugsgesichtspunkte für solche Aussagen nehmen wir die Probleme an, die zu lösen sind, wenn ein soziales System erhalten werden soll. Damit ist eine Aussageform gefunden, die an die Konditionalisierung der Wertprämissen anknüpft, aber über sie hinausführt. Sie stellt nicht fest, was faktisch geschieht, wenn ein Wert verwirklicht werden soll, sondern sie sucht zu ermitteln, welche Handlungsalternativen, welche möglichen Strategien zur Verfügung stehen, wenn ein System erhalten werden soll. Die Frage, ob ein System erhalten werden soll, kann rational nur in Referenz auf dessen Funktion für ein anderes System entschieden werden. Als letzte, nicht mehr rationalisierbare Entscheidung bildet somit die Wahl einer Systemreferenz die Grundlage. Sie kann nicht in vollem Umfange durch Werte gerechtfertigt werden, weil die Systemanalyse deutlich macht, daß man bei der Erhaltung eines Systems Handlungen vollziehen muß, die den Werten widersprechen, um deretwillen man das System gewählt hatte. Im Unterschied zu den rationalistischen Intuitionen der Wertethik impliziert die Systemtheorie also keine zeitlose und rationale Ordnung der Vorzugsgesichtspunkte, sondern trägt der Tatsache Rechnung, daß man sich zu seinen Positionen ständig in Widerspruch setzen muß, wenn man sie behaupten will. Das ist das Wesen der Zeit: Die Notwendigkeit35 entgegengesetzter Bestimmungen am selben Dinge.

Wir hoffen, daß die Vorteile dieses theoretisch komplizierten, aber lebensnahen und praktisch ausgerichteten Ausgangspunktes im Laufe der Untersuchungen deutlicher werden, als dies durch eine abstrakte Darstellung erreicht werden kann. Das theoretische Modell selbst, das wir erproben wollen, hat eine einfache Grundform. Es benutzt vier zentrale Begriffe, die in der bisherigen Diskussion nicht unbekannt sind, aber aufeinander abgestimmt werden müssen: den Systembegriff, den Entscheidungsbegriff, den Erwartungsbegriff und den Funktionsbegriff. Verwaltungen werden dabei als soziale Systeme aufgefaßt, die verbindliche Entscheidungen herstellen. Sie setzen eine erwartbare Umwelt voraus, die ihnen Informationen liefert und die ihre Entscheidungen als verbindlich abnimmt. Sie haben keine absolute Herrschaft über diese Umwelt. Die Erhaltung des Verwaltungssystems mit gewissen beständigen Strukturen und Entscheidungsgepflogenheiten in einer schwierigen Umwelt ist daher problematisch. Das gilt besonders, wenn die Umwelt sich ändert und die Verwaltung sich mit ihrer Organisation und ihren Entscheidungsprogrammen anpassen muß. Die funktionale Analyse dient der Ermittlung von äquivalenten Möglichkeiten des Verhaltens in solchen Problemsituationen, in denen man einiges ändern muß, um anderes konstant halten zu können. Sie legt eine »strategische«36 Konzeption der Rationalisierung zugrunde.

Damit sind bereits die wesentlichen Themen berührt, die in dieser Arbeit behandelt werden. Deren Ausarbeitung setzt zwei weitere einführende Kapitel voraus. Im nächsten muß der grundbegriffliche Bezugsrahmen (die Begriffe »System«, »Entscheidung«, »Erwartung«, »Funktion«) näher erläutert und in seinem inneren Gefüge aufgedeckt werden. Das letzte Kapitel dieses Teils gibt anhand des Strukturbegriffs eine Einführung in die Theorie sozialer Systeme, aus der wir die Problemgesichtspunkte einer Theorie der Verwaltung gewinnen.

2. Kapitel:Grundbegriffe einer systemtheoretischen Verwaltungswissenschaft

Der augenblickliche Stand der Verwaltungswissenschaften, den wir im vorigen Kapitel skizziert haben, erlaubt nicht die Aufstellung einer Theorie, die strengen wissenschaftskritischen Anforderungen genügen könnte. Es wäre eine Utopie, und vermutlich nicht einmal eine nützliche, wollte man sich heute an den Entwurf eines vollständigen und geschlossenen Axiomensystems der Verwaltungswissenschaft machen. Eine Abwehr allzu scharfer Anforderungen ist auch deshalb angebracht, weil die einzige ernstzunehmende Wissenschaftstheorie – die des Neupositivismus und der aus ihm entwickelten analytischen Erkenntnistheorie – wenig Kontakt mit der eigentümlichen Problematik der Wissenschaften vom (freien!) menschlichen Handeln hat, so daß es sich zur Zeit gar nicht sagen läßt, zu welchen Vorstellungen über theoriefähige Aussageformen und empirische Kontrollen man kommen wird, wenn die Handlungswissenschaften einmal voll ausgereift sein werden.

Auf eine vollwertige Theorie im analytischen Sinne zu verzichten heißt jedoch nicht, zu resignieren, und heißt auch nicht, zu einer Vielzahl von Theorien der mittleren Reichweite hinunterzusteigen, wie Robert K. Merton es empfiehlt.37 Vielmehr ist es möglich, eine Anzahl von Grundbegriffen namhaft zu machen, die als Leitbegriffe für die weiteren Erörterungen, als Bezugsbegriffe für die Definition weiterer Begriffe von begrenzter Tragweite dienen sollen. Bei diesem Versuch, der die Begriffe »System« (a), »Entscheidung« (b), »Erwartung« (c) und »Funktion« (d) herausstellt, handelt es sich nicht einfach um die Aufstellung einer Liste. Vielmehr bilden die Begriffe durch ihre wechselseitigen Beziehungen ein Gefüge, dessen innerer Zusammenhalt durch die folgenden Erläuterungen verdeutlicht werden soll. Eine logische Analyse ihres theoretischen Status wäre im Augenblick verfrüht, setzte sie doch voraus, daß ihre Ableitungen als Ganzes zu überschauen wären, daß also die Verwaltungswissenschaft bereits konstituiert wäre.

(a) System

Wer die Behauptung aufstellt, daß Verwalten ein Handeln und Verwaltungen Systeme solcher Handlungen seien, wird vermutlich wenig Widerspruch finden. Wer damit jedoch den Anspruch verbindet, etwas Neues zu sagen und um längere Aufmerksamkeit für diesen Gedanken bittet, wird sich rechtfertigen müssen. Der Systembegriff, die Vorstellung einer geordneten »Zusammenstellung«, gehört zum gewohnten und vertrauten Bestand unserer Denkmittel. Er deutet eine Ordnung an, sagt aber kaum etwas über das Wie dieser Ordnung aus. Er erscheint uns auf den ersten Blick fast als banal, jedenfalls nicht als instruktiv genug, um als Bezugsrahmen für verwaltungswissenschaftliche Analysen zu dienen.

Um diesen ersten Eindruck zu brechen, wird es nützlich sein, sich vor Augen zu führen, welch radikaler Wandel sich in jüngster Zeit in der Systemkonzeption vollzogen hat. Die auslösenden Impulse dieser Umwälzung kamen aus der Biologie; sie ergaben sich aus einer Formalisierung des Organismusbegriffes, sind aber längst zu einer allgemeinen Systemtheorie verbreitert worden, deren mannigfache Anwendungsmöglichkeiten auf Gebieten wie der Persönlichkeitspsychologie oder der Soziologie, der maschinellen Regelungstechnik oder der Wirtschaftsplanung noch nicht voll zu übersehen sind. Dieser Wandel läßt sich – unter Weglassen aller Zwischentöne und Übergangsschwierigkeiten – in zwei gegensätzliche Systemkonzeptionen fassen: den ontologischen und den funktionalen Systembegriff.38