Die Kontrolle von Intransparenz - Niklas Luhmann - E-Book

Die Kontrolle von Intransparenz E-Book

Niklas Luhmann

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Beschreibung

Die hier versammelten Texte aus Niklas Luhmanns letzter Schaffensphase stellen sein Theorievermächtnis dar. Sie kulminieren im titelgebenden Aufsatz über Die Kontrolle von Intransparenz. Luhmanns Interesse gilt jener Eigenart sozialer Systeme, die sie dazu befähigt, mit Wissen ebenso wie mit Nichtwissen umzugehen. Die Fragestellung könnte aktueller nicht sein: Sie beschreibt eine soziale Intelligenz, die sich sowohl von psychischer Intelligenz als auch von künstlicher Intelligenz unterscheidet. Wird damit eine Schwelle markiert, die von der künstlichen Intelligenz nicht überschritten wird? Oder finden die Computer andere Wege, sich an der Kommunikation zu beteiligen?

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Seitenzahl: 230

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3Niklas Luhmann

Die Kontrolle von Intransparenz

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dirk Baecker

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Erkenntnis als Konstruktion

I

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Gibt es ein »System« der Intelligenz?

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Das Risiko der Kausalität

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Zeit und Gedächtnis

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VII

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Die Kontrolle von Intransparenz

I

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Dirk Baecker 

Nachwort

Nachweise

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Informationen zum Buch

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Hinweise zum eBook

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7»Was auf diese Weise erreicht wird, kann auch als ein Zusammenhang mehrerer Variablen beschrieben werden, die sich, oberflächlich gesehen, widersprechen, nämlich als Einheit von (1) selektiver Verknüpfung der Elemente, (2) Bindung freier Energien aus anderen Realitätsschichten durch Interpenetration, (3) ständige sofortige Wiederauflösung der Verknüpfung und der Bindung, (4) Reproduktion der Elemente auf Grund der Selektivität aller verknüpfenden und bindenden Relationen, und (5) Fähigkeit zur Evolution im Sinne einer abweichenden Reproduktion, die Möglichkeiten der Neuselektion eröffnet. Ein solches System hat kein zeitfestes Wesen. Es ist auch nicht nur in dem Sinne der Zeit ausgesetzt, daß es sich anpassen und gegebenenfalls Strukturen ändern muß. Nicht einmal die Austauschbarkeit der Elemente (davon war die Theorie der Autopoiesis im Hinblick auf Makromoleküle bzw. Zellen ausgegangen) erfaßt den Zeitbezug radikal genug. Handlungssysteme benutzen die Zeit, um ihre kontinuierliche Selbstauflösung zu erzwingen; sie erzwingen ihre kontinuierliche Selbstauflösung, um die Selektivität aller Selbsterneuerung sicherzustellen; und sie benutzen diese Selektivität, um die Selbsterneuerung selbst zu ermöglichen in einer Umwelt, die kontinuierlich schwankende Anforderungen stellt.«

 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 394

9Erkenntnis als Konstruktion

I.

Es ist eine alte Kommunikationstechnik für unbeweisbare oder schwer beweisbare Behauptungen: die Behauptung kommunikativ zu verstärken. So findet man in der Endphase der lateinischen Rhetorik von der Tugend zu wahrer Tugend, so verlangt man von der Politik heute echte Reformen. So findet man in Läden heute naturreine Früchte angeboten. Und die letzte Mode in der Erkenntnistheorie heißt »radikaler Konstruktivismus«. Je mehr solche Verstärker hinzugesetzt werden, um so mehr sind Zweifel angebracht. Je mehr der Konstruktivismus sich im Unterschied zu anderen Erkenntnistheorien als »radikal« behauptet, desto mehr kann man deshalb zweifeln, ob nun diese Theorie (erstmals) das Problem der Erkenntnis gelöst hat, und sogar: ob sie wenigstens ihre Hausaufgaben ordentlich gemacht hat. Wer sich an das erinnert, was Kant (mit Bezug auf Descartes) »problematischen Idealismus« genannt hat,[1] wird nicht so leicht erkennen, was denn der radikale Konstruktivismus an prinzipiell Neuem zu sagen hat.

Man versteht, wie es zu der Selbstbezeichnung als radikal kommt; denn in der Tat gibt es schwächliche, unentschlossene Ja/Aber-Ausgaben von Konstruktivismus. Man nimmt alle Argumente, die in diese Richtung zu führen scheinen, zur Kenntnis, sagt dann aber, ganz so hart sollte man sich nicht ausdrücken, ausschließlich konstruktiv könne die Erkenntnis nicht verstanden werden, denn schließlich müsse doch irgendeine Beziehung zur Realität vorausgesetzt werden können.[2] Bekanntlich hatte schon Kant in die zweite Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« einen entsprechenden Rückzieher eingefügt, der die in der transzendentalen Ästhetik erreichte Position wenn nicht aufgibt, so doch auf unklare Weise wieder abschwächt.[3] Rückzieher dieser Art sind jedoch we10nig überzeugend, sind nur Symptome für eine unzureichend erfaßte Problematik. Man könnte daraufhin die Akten schließen. Wenn die Erkenntnistheorie keine Problemlösungen anbieten kann, hat sie auch keine Probleme mehr. Sie kann sich dann für glücklich erklären oder sich mit empirischen Forschungen beschäftigen. Die Frage ist, ob der Sachstand diesen Rückzug erzwingt.

Wenn man darauf achtet, wie das Problem der Erkenntnistheorie formuliert ist, kann man in der Tat eine Radikalisierung erkennen. In der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus ging es um die Frage der Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand. Die Frage lautete: wie kann die Erkenntnis einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst feststellen? Oder: wie kann sie feststellen, daß etwas unabhängig von ihr existiert, wo doch alles, was immer sie feststellt, schon Erkenntnisleistungen voraussetzt und gar nicht unabhängig von Erkenntnis (das wäre ein Selbstwiderspruch) durch Erkenntnis feststellbar ist? Ob man nun transzendentaltheoretische oder dialektische Problemlösungen bevorzugte, das Problem lautete: wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der Radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. Ein Gehirn beispielsweise kann nur Information erzeugen, weil es umweltindifferent codiert ist, d. h. im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen eingeschlossen operiert.[4] Ebenso müßte man sagen: Kommunikationssysteme (soziale Systeme) können nur deshalb Informationen erzeugen, weil die Umwelt nicht dazwischenredet. Und nach alldem dürfte sich dasselbe auch für den klassischen »Sitz« (Subjekt) der Erkenntnistheorie von selbst verstehen: für das Bewußtsein.

Offenbar sehen die radikalen Konstruktivisten diesen Schritt von »obwohl unmöglich« zu »weil unmöglich« als eine befreiende Radikalisierung, mit der man zweitausend Jahre unnütze Reflexion abhängen kann.[5] An der Bedeutung dieses Schrittes von »obwohl« 11zu »weil« will man nicht zweifeln, ebenso wenig wie an der Notwendigkeit der Neufundierung der Erkenntnistheorie. Man möchte aber genauer wissen, was wir mit diesem Schritt von »obwohl« zu »weil« gewinnen; und hier stehen wir erst am Anfang einer nur in vagen Umrissen absehbaren Entwicklung.

Einen Neuheitseffekt könnte der Konstruktivismus erzielen, wenn er der Frage nachginge, wie Abkopplung (mit anderen Worten: Indifferenz, Schließung usw.) möglich ist. Die Subjekttheorie der Erkenntnis hatte es nie zu dieser Frage gebracht, weil sie immer mit der paradoxen Forderung zu ringen hatte, durch Introspektion herauszubekommen, wie andere sich zur Welt verhalten.[6] Sie konnte konzedieren, daß es keinen direkten Zugang zum Erleben anderer Subjekte gibt; aber zumindest sollte durch Rückgang auf das Faktum des eigenen Bewußtseins herauszubekommen sein, nach welchen Prinzipien sich im anderen die Gegenstände der Welt ordnen. Die Subjekttheorie mußte dabei eine gemeinsame, zumindest eine gemeinsam beobachtbare Welt voraussetzen und war dadurch gehindert, die Abkopplung je eines erkennenden Systems als Bedingung der Erkenntnis zu denken. Aber auch der Übergang zu einer Objekttheorie der Erkenntnis hilft nicht (mag er das erkennende Objekt nun physikalisch, biologisch, psychologisch oder soziologisch beschreiben). Er gelingt nicht, weil die Reduktion der Beschreibung auf Vorgänge des beschriebenen Objekts wiederum das Problem der Abkopplung[7] überspringt. Wir schlagen daher vor, die Unterscheidung von »Subjekt« und »Objekt« zu ersetzen durch die Unterscheidung von »System« und »Umwelt«. Diese Unterscheidung bleibt bei klassischen Problemstellungen insofern, als sie von einer Differenz ausgeht und deren eine Seite in die andere wiedereintreten läßt. Sie überholt klassische Problemstellungen, weil sie 12sowohl die Subjekttheorie als auch die Objekttheorie revidiert. Sie kann die Frage nach der Abkopplung durch Schließung als Frage nach der Ausdifferenzierung von Systemen stellen, und sie kann die Prämisse einer gemeinsamen Welt ersetzen durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme (second order cybernetics).

II.

Wir gehen davon aus, daß alle erkennenden Systeme reale Systeme in einer realen Umwelt sind, mit anderen Worten: daß es sie gibt. Das ist naiv, so wird oft eingewandt.[8] Aber wie anders als naiv soll man anfangen?[9] Eine Reflexion des Anfangs kann nicht vor dem Anfang durchgeführt werden, sondern erst mit Hilfe einer Theorie, die bereits hinreichende Komplexität aufgebaut hat.[10]

Die Frage, wie Systeme in einer Umwelt Erkenntnis zustande bringen, kann dann reformuliert werden in die Frage, wie Systeme sich von ihrer Umwelt abkoppeln können, oder mit Heinz von Foerster: wie Schließung durch Einschließung möglich ist. Diese Frage auch nur zu stellen heißt: sehr scharfe Beschränkungen, also hochselektive Bedingungen eines solchen Vorgangs zu vermuten. Die Selbstisolierung eines erkennenden Systems – einer Zelle, eines Immunsystems, eines Gehirns, eines Bewußtseins, eines Kommunikationssystems – führt gerade nicht in die Beliebigkeit der dadurch ermöglichten Operationen. Das Gegenteil trifft zu. Jeder Beobachter eines sich zur Erkenntnis abschließenden Systems kann scharfe Beschränkungen des daraufhin Möglichen erkennen. Überhaupt gibt es in der Realwelt keine Beliebigkeit. Die Unterstellung von Willkür heißt vielmehr immer: beobachte das System, dem Du Willkür ansinnst; und dann wirst Du sehen, daß Deine Vermutung nicht zutrifft. Belieben ist, so gesehen, also nichts anderes als ein Begriff für die Weisung: beobachte den Beobachter.

13Denn: wie ist Schließung möglich? Doch nur dadurch, daß ein System eigene Operationen produziert und im Netzwerk ihrer rekursiven Vor- und Rückgriffe reproduziert. Der Vorgang selbst erzeugt die Differenz von System und Umwelt. Maturana hat das »Autopoiesis« genannt; aber auch Lyotard kommt von der Linguistik eher mit Begriffen wie »phrase«, »enchaînement«, »différend« zum gleichen Ergebnis.[11] Die Systemtheorie ermöglicht es allerdings, das Ergebnis besonders einleuchtend zu formulieren: Kein System kann außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren, auch ein erkennendes System nicht. Diese Überlegungen lassen noch offen, ob man alle Operationen autopoietischer Systeme »Erkennen« (cognition) nennen will oder nur solche besonderer Art, die dann genauer zu bestimmen wäre. Maturana optiert für Kongruenz mit der Maßgabe, daß über den Begriff der Kognition mit berücksichtigt wird, daß die Autopoiesis, wenngleich blind, in einem Interaktionsbereich vollzogen wird. Davon wird ein Begriff des Beobachters unterschieden, der durch die Verfügung über Sprache definiert wird.[12] Ich möchte dagegen den Begriff des Erkennens enger fassen und dabei von einem Begriff des Beobachters ausgehen, für den die Begriffe des Unterscheidens und Bezeichnens die Definitionsgrundlage bieten.[13] Es wird im folgenden erkennbar werden, was auf diesem Wege erreicht werden soll.

Erkenntnis wird demnach durch Operationen des Beobachtens und des Aufzeichnens von Beobachtungen (Beschreiben) angefertigt. Das schließt Beobachten von Beobachtungen und Beschreiben von Beschreibungen ein. Beobachten findet immer dann statt, wenn etwas unterschieden und, in Abhängigkeit von der Unterscheidung, bezeichnet wird. Der Begriff ist indifferent gegen die Form der Autopoiesis des Systems, also indifferent dagegen, ob als Operationsform Leben oder Bewußtsein oder Kommunikation 14benutzt wird. Er ist auch indifferent gegen die Form der Aufzeichnung (Gedächtnis). Es kann sich um biochemische Fixierungen, es kann sich auch um schriftlich fixierte Texte handeln, immer muß aber das Beobachten und Beschreiben selbst eine autopoietisch mögliche Operation sein, also Lebensvollzug oder aktuelles Bewußtsein oder Kommunikation, denn sonst würde sie nicht die Geschlossenheit und Differenz des erkennenden Systems reproduzieren, also nicht »in« dem System stattfinden. Der Begriff fordert aber nicht, daß alle Operationen des entsprechenden Systems beobachtende/beschreibende Operationen sind; und er fordert auch nicht, daß die Operationen, die es sind, nur als solche beobachtet werden können.

Mit dieser Begriffsfassung, die das Spezifische des Erkennens im Unterscheiden und im dadurch ermöglichten/erzwungenen Bezeichnen sieht, ist zugleich festgelegt, wie die Abkopplung von der Umwelt und damit die Geschlossenheit erkennender Systeme verstanden werden muß. Erkenntnis ist anders als die Umwelt, weil die Umwelt keine Unterscheidungen enthält, sondern einfach ist, wie sie ist. Die Umwelt enthält, mit anderen Worten, kein Anderssein und keine Möglichkeiten. Sie geschieht, wie sie geschieht. Ein Beobachter mag feststellen, daß es in der Umwelt andere Beobachter gibt. Aber er kann dies nur feststellen, wenn er diese Beobachter unterscheidet von dem, was sie beobachten; oder unterscheidet von Umweltgeschehnissen, die er nicht als Beobachten bezeichnet. Mit anderen Worten: alles Beobachten als Eigenleistung des Beobachters, eingeschlossen das Beobachten von Beobachtern.

Also gibt es in der Umwelt nichts, was der Erkenntnis entspricht; denn alles, was der Erkenntnis entspricht, ist abhängig von Unterscheidungen, innerhalb deren sie etwas als dies und nicht das bezeichnet. In der Umwelt gibt es daher auch weder Dinge noch Ereignisse, wenn mit diesem Begriff bezeichnet sein soll, daß das, was so bezeichnet ist, anders ist als anderes. Nicht einmal Umwelt gibt es in der Umwelt, da dieser Begriff ja nur in Unterscheidung von einem System etwas bezeichnet, also verlangt, daß man angibt, für welches System die Umwelt eine Umwelt ist. Und ebensowenig gibt es, wenn man von Erkenntnis absieht, Systeme. (Deshalb haben wir oben gesagt, es gibt Systeme.) Die Unterscheidung von System und Umwelt ist selbst eine erkenntnisleitende Operation.

Dieser Überlegungsgang erlaubt keinen Schluß auf die Nicht15realität der Umwelt. Er erlaubt auch nicht den Schluß, daß es außerhalb des erkennenden Systems nichts gibt. Ein solcher Schluß wäre zwar Erkenntnis, da er auf der Unterscheidung von »nichts« und »etwas« beruht, also, traditionell gesprochen, »nichts« als »nomen« verwendet.[14] Aber auch er beruhte, eben als Erkenntnis, auf einem Verzicht auf Entsprechung zur Realität.

Bezeichnungen wie »Realität« (Materie, ultimate reality) oder Welt beruhen für die Erkenntnis ihrerseits auf Unterscheidungen. Sie formulieren die Einheit des durch eine Unterscheidung Unterschiedenen – wenn man so will: ihren Geist. Selbst sie entsprechen also der Geschlossenheit des erkennenden Systems, weil auch sie nur mit Hilfe einer Unterscheidung zu gewinnen sind – in unserem Falle der Unterscheidung von System und Umwelt.

Es ist nur eine andere Bezeichnung für denselben Sachverhalt, wenn wir sagen, die Unterscheidung, mit der ein erkennendes System jeweils beobachtet, sei ihr »blinder Fleck« oder ihre latente Struktur. Denn diese Unterscheidung kann nicht ihrerseits unterschieden werden; sonst würde eine andere, ebendiese, als Leitunterscheidung verwendet werden, und dies seinerseits blind. Und wieder dasselbe ist gemeint, wenn man sagt, daß alles Beobachten eine Grenzziehung, einen Schnitt durch die Welt, eine Verletzung des »unmarked space« voraussetzt und erzeugt.

III.

Eine operative Erkenntnistheorie betrachtet Erkennen als eine Art von Operation, die sie von anderen Operationen unterscheiden kann. Als Operation gesehen geschieht Erkennen oder es geschieht nicht, je nachdem, ob die Autopoiesis des Systems mit einer solchen Operation fortgesetzt werden kann oder nicht. Die wichtigste 16Konsequenz dieses Ansatzes ist: daß es hierfür keinen Unterschied ausmacht, ob das Erkennen Wahrheit produziert oder Irrtümer. Offensichtlich ist in beiden Fällen die Physik, die Biochemie und die Neurophysiologie des Erkennens dasselbe. Wir haben für Irrtümer nicht andere Gehirne oder Gehirnteile als für Wahrheiten. Aber auch für bewußte und für kommunikative Erkenntnisoperationen gilt dasselbe.[15] Weder Bewußtseinssysteme noch Kommunikationssysteme sind entlang der Trennlinie wahr/unwahr empirisch gespalten. Dieselbe Art von Aufmerksamkeit und dieselbe Art von Sprache wird für beide Wahrheitswerte in Anspruch genommen. Nur so ist erklärbar, daß Irrtümer überhaupt irrig als Wahrheiten erscheinen und daß das Problem in der Eliminierung von Irrtümern liegt. Das autopoietische System operiert in bezug auf wahr/unwahr zunächst indifferent, und ebendas macht es möglich und nötig, einen entsprechenden binären Code zu oktroyieren. Aber wer oder was oktroyiert?

Alles Unterscheiden, also auch das von wahr und unwahr, ist Leistung eines Beobachters (denn wir definieren Beobachten als unterscheidendes Bezeichnen). Auch Beobachten ist Operieren und als solches unfähig, sich selbst zu unterscheiden. (Wenn ein Beobachter mit der Unterscheidung wahr/unwahr hantiert, kann er nicht zugleich unterscheiden, ob dieses Operieren selbst wahr oder unwahr ist.) Der vieldiskutierte Unterschied der Sätze »A ist« und »Es ist wahr, daß A ist« kommt also durch eine Beobachtung der Erkenntnisoperation, also eine Beobachtung des Beobachters zustande, wobei die primäre Beobachtung nur »A« von anderem unterscheidet.

Logiker mögen sich hier genötigt sehen, Ebenen zu unterscheiden. Das führt aber nur zurück in die Paradoxie ebendieser Unterscheidung. Empirische Erkenntnistheorien müßten statt dessen fragen, wie erkennende Systeme eine entsprechende Selbstbeobachtung organisieren, also die laufend produzierten Irrtümer un17terscheiden und neutralisieren können. Auf diese Frage antwortet der Begriff der binären Codierung.[16]

Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, Systeme mit der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung auszustatten. Das Sozialsystem Wissenschaft zum Beispiel beobachtet sich nicht nur unter dem Code wahr/unwahr, sondern auch, ja vielleicht vorherrschend, unter dem Zweitcode der Reputation. Auf der Ebene der Erkenntnistheorie, das heißt beim Beobachten und Beschreiben von Systemen, die ihr Beobachten beobachten, muß man nach alldem verschiedene Unterscheidungen unterscheiden können, nämlich

(1)

die Unterscheidung von Operation und Beobachtung, wobei die Beobachtung eine Operation besonderer Art ist, und zwar die Operation des Unterscheidens, was die Unterscheidung von Operation und Beobachtung zirkulär werden läßt (aber wir halten sie ja auch nur auf der Ebene (!) der Kybernetik zweiter Ordnung für nötig);

(2)

die Unterscheidung der Systemreferenz (System und Umwelt) des Beobachters erster Ordnung von der Systemreferenz (System und Umwelt) des Beobachters zweiter Ordnung, die durch einen Beobachter dritter Ordnung getroffen werden müßte;[17]

(3)

die Unterscheidung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung, was die Unterscheidung von System und Umwelt voraussetzt;

(4)

die Unterscheidung, ob die Beobachtung des Beobachtens auf das zielt, was der beobachtete Beobachter beobachtet (womit er sich beschäftigt), oder auf das, was er nicht beobachten kann (seine Unterscheidung); und schließlich

(5)

die Unterscheidung des binären Codes wahr/unwahr von anderen Formen der Selbst- bzw. Fremdbeobachtung.

Nur eine Erkenntnistheorie, die alle diese Unterscheidungen berücksichtigt, sie aufeinander bezieht und die dabei anfallenden 18Paradoxien auflöst, sollte das Recht haben, sich als »konstruktivistisch« zu bezeichnen; denn nur sie stellt sich konsequent dem Gebot, alles, was als Erkenntnis produziert und reproduziert wird, auf die Unterscheidung von Unterscheidungen (im Unterschied zu: auf einen »Grund«) zurückzuführen. Solange die Erkenntnistheorie einen biologischen oder einen psychologischen Erkenntnisbegriff verwendet, solange sie sich also auf die Autopoiesis des Lebens oder auf die Autopoiesis des Bewußtseins bezieht, um zu begründen, daß Erkenntnis möglich ist, so lange kann sie für sich selbst den Status eines externen Beobachters reklamieren. Sie muß nur zugestehen, daß sie ihrerseits denselben physisch/chemisch/biologisch/psychologischen Bedingungen unterliegt wie das Erkennen, das sie beobachtet. Dies ändert sich mit einem soziologischen Begriff der Erkenntnis; denn es gibt nur eine Gesellschaft, nur ein umfassendes System der Autopoiesis von Kommunikation. So wird der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im Labyrinth und muß reflektieren, von welchem Platz aus er die anderen Ratten beobachtet. Dann führt die Reflexion nicht mehr nur auf die Gemeinsamkeit der Bedingungen, sondern darüber hinaus auch auf die Einheit des Systems der Erkenntnis; und alle »Externalisierung« muß als Systemdifferenzierung begründet werden. Erst die Soziologie der Erkenntnis ermöglicht einen radikalen, sich selbst einschließenden Konstruktivismus.

IV.

Auch wenn der Konstruktivismus so weit getrieben wird, bleibt er eine empirische Theorie. Man kann daher die Frage stellen, weshalb er uns als »radikal« erscheint. Dies läßt sich nur historisch erklären.

Keine Erkenntnistheorie der Tradition (Hegels Logik bedürfte einer besonderen Betrachtung) hat sich so weit vorwagen können, und offenbar deshalb nicht, weil der Platz, an dem von Ununterschiedenheit zu handeln wäre, durch die Theologie besetzt war.

Um das zu sehen, genügt es, Nikolaus von Kues zu lesen. Gott steht jenseits aller Unterscheidungen, selbst jenseits der Unterscheidung von Unterscheidungen und von Unterschiedenheit und 19Nichtunterschiedenheit.[18] Er ist das non-aliud, das, was nicht anders ist als etwas anderes.[19] In ihm fällt alles, was das Unterscheiden transzendiert, insofern, als es das tut, zusammen – also das, was nicht größer, und das, was nicht kleiner, das, was nicht schneller, und das, was nicht langsamer gedacht werden kann (coincidentia oppositorum). Aber das, was damit bezeichnet sein soll, ohne unterschieden werden zu können, muß mit der Gotteslehre der christlichen Dogmatik übereinkommen. Es muß als Person und als Dreieinigkeit ausweisbar sein, und es ist zugleich (unterschiedslos) das ebendeshalb »geheime« Wesen der Dinge. Die Erkenntnistheorie hat dann vorauszusetzen, daß die Dinge, obzwar im Wesen unerkennbar, als »contractio« Gottes und damit als unterscheidbar geschaffen sind, daß Gott sich auf diese Weise in seiner Unerkennbarkeit erkennbar macht und daß die Wahrheit, obwohl letztlich unerkennbar, für Menschen in der Übereinstimmung ihrer Unterscheidungen mit denen der Dinge besteht.

Wollte man gleichwohl die mit Schriftzeugnissen belegbare Aussicht auf die Seligkeit (beatitudo) der visio Dei bewahren und zugleich auf der Ununterschiedenheit Gottes und folglich auf dem divinam essentiam per se incomprehensibilem esse[20] bestehen, mußte man die Beobachtungsmöglichkeiten in Gott retten, und zwar einerseits sich davor hüten, Gott Selbstbeobachtungsunfähigkeit zuzuschreiben, und andererseits es vermeiden, in die Nähe des Teufels als dem kühnsten Beobachter Gottes zu geraten. Dies erforderte hohes Geschick der Theologie auf der Ebene der second order 20cybernetics, also im Beobachten von Beobachtern – seien es die electi, sei es der Teufel, sei es schließlich Gott selber. Der Ausweg geriet dann in eine fatale Nähe zu der Annahme, Gott benötige die Schöpfung und die Verdammung des Teufels, um sich selber beobachten zu können, und führte zu Schriften, von denen Nikolaus meinte, daß unvorbereitete Geister mit ihren schwachen Augen sie lieber nicht lesen sollten.[21]

Der Partner für den Radikalen Konstruktivismus ist demnach nicht die Erkenntnistheorie der Tradition, sondern ihre Theologie (und zwar eine Theologie, die wegen ihrer Ansprüche an Genauigkeit über das hinausging, was die Theologie verkraften konnte). Man sieht dann leicht, daß man das Unterscheiden der Unterscheidungen, mit denen die Beobachter arbeiten und die im Beobachten der Beobachter zu beobachten sind, noch zu unterscheiden hat von dem Nichtunterschiedenen, das damals Gott hieß und heute, wenn man System und Umwelt unterscheidet, Welt oder, wenn man Gegenstand und Erkenntnis unterscheidet, Realität.

V.

Man wird nunmehr wissen wollen, wie Unterscheiden und Bezeichnen als eine einheitliche, aber zweikomponentige Operation möglich ist. Damit kommt man auf die bereits vorweggenommene Einsicht, daß stark einschränkende Bedingungen mitwirken müssen. Vermutlich spielt, jedenfalls im Bereich sinnhafter Operationen des Bewußtseins und der Kommunikation, eine Rolle, daß es gerade noch möglich ist, eine Zweiheit als Einheit im Blick zu halten; oder anders gesagt: Kontraste zu sehen. Außerdem wird man Zeit in Betracht ziehen müssen und dann feststellen können, daß hinreichend komplexe Systeme (und nur solche) in der Lage sind, kleine Unterschiede (z. B. Übergänge, die bei oszillierenden Eigenbewegungen auffallen) zu großen Wirkungen zu steigern mit Hilfe von Prozessen, die man als Abweichungsverstärkung oder mit einem Sprachgebrauch der Sprachforschung als Hyperkorrektion bezeichnen kann. Auch dies setzt selbstverständlich Abkopplung 21des Systems voraus, nämlich eine Eigenzeit für eigene Operationen bei unbezweifelbar gleichzeitig gegebener Umwelt. Das wiederum verweist auf das Erfordernis von Gedächtnis, nämlich einerseits auf eine laufende Konsistenzprüfung unter Aktivierung von jeweils einschlägigen Strukturen; und andererseits auf ein Beobachtungsschema, das anfallende Inkonsistenzen als räumliche bzw. zeitliche Unterschiede interpretiert und dadurch auseinanderzieht.

Auf diesem Wege kommen wir jedoch ersichtlich nur zu einer immer weiteren Spezifikation der evolutionären Unwahrscheinlichkeit, aber Möglichkeit erkennender Systeme. Wir würden auch sagen können, daß und vielleicht welchen Unterschied es macht, ob die Diskriminierfähigkeit des Erkennens in ihrer Autopoiesis biochemisch, psychisch oder kommunikativ fundiert ist. Wir wollen solche Forschungsprogramme hier jedoch nicht weiterverfolgen; denn sie würden nichts mehr beitragen zu einer Klärung der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand. Wir erfahren auf diesem Wege etwas über die Realität der erkennenden Operationen, aber nichts über die Realität dessen, was sie außer sich als Unbekanntes und Unerkennbares voraussetzen müssen.

In der bereits zitierten »Widerlegung des Idealismus« benutzt Kant ein Zeitargument. Offenbar präsentiert die Umwelt etwas, was im Kontrast zu den beweglichen Operationen als beharrlich erscheint, also ein Zurückkehren, ein Wiederholen etc. erlaubt (wenngleich die dafür nötigen Identifikationen schon wieder Sache des erkennenden Systems sind). Kant argumentiert unscharf, hält dieses Beharrliche für eine Bedingung seines Daseins in der Zeit, während es allenfalls als Bedingung der Identifikation seines Daseins in der Zeit behandelt werden dürfte. Auch ist die umgekehrte Zeitrelation zu bedenken: Das erkennende System kann sich mit demselben Gegenstand befassen, während das, was sich so bezeichnet zu werden gefallen lassen muß, sich schon wieder geändert hat. Und noch erstaunlicher: das erkennende System kann, soweit es über Sprache verfügt, konstante Ausdrücke verwenden zur Bezeichnung von etwas, was als inkonstant gemeint ist – etwa das Wort Bewegung zur Bezeichnung von Bewegungen. Es braucht, mit anderen Worten, Veränderliches nicht durch Eigenveränderung zu simulieren. Das alles sind noch recht unschlüssige Anhaltspunkte dafür, daß die Ausdifferenzierung eines erkennenden Systems jedenfalls zu Zuständen führt, die zwar gleichzeitig, aber nicht mehr 22rhythmisch-synchron zur Umwelt geordnet sind; was nur erreicht werden kann, wenn auch in der Umwelt zeitliche Diskontinuitäten vorkommen, gegen die das System seine eigenen Operationen unterscheiden kann.

Wir können diese Überlegungen ergänzen durch Rückgriff auf einen in der akademischen Erkenntnistheorie bisher übersehenen Beitrag von Fritz Heider.[22] Es geht hier um die Realbedingungen der Möglichkeit von distanzierender Wahrnehmung. Heider postuliert als Eigenschaft der Außenwelt, die dies ermöglicht, eine Differenz von relativ loser und relativ fester Kopplung, also Luft auf der einen und Geräusche auf der anderen Seite, oder Licht auf der einen und sichtbare Objekte auf der anderen Seite. Wesentlich ist die Differenz; denn in dem Maße, als die Luft selbst Geräusche macht und das Licht selbst sichtbar wird, würden distinkte Wahrnehmungen unmöglich werden. Es muß mit anderen Worten physikalische Substrate in loser und in fester Kopplung geben, damit sich Systeme bilden können, die von dieser Differenz profitieren und mit ihrer Hilfe die eine Seite der Differenz, nämlich die Form, beobachten können. Das lose gekoppelte Substrat dient als Medium, das fest gekoppelte dient als Form. Die Differenz dient als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung unter der Bedingung, daß sie ihrerseits nicht wahrnehmbar ist. Sie ist die notwendig latente Struktur der Wahrnehmung, und nur eine Theorie des Wahrnehmens kann auf der Ebene der Kybernetik zweiter Ordnung, also im Beobachten des wahrnehmenden Beobachters, erkennen, daß dies so ist.

Es fällt nicht schwer, diese Medium/Form-Differenz zu generalisieren. Man kann zum Beispiel die akustisch bzw. optisch »körnige«, also lose gekoppelte Struktur der Sprache als Medium ansehen, mit dessen Hilfe Sätze geformt werden können; oder Geld als Medium der Preisbildung. Unter Sonderbedingungen können mithin Formen (wie Worte) wiederum Medium sein für ein erkennendes System, das sich nun diese Differenz invisibilisiert. Das zeigt die Reichweite des Gedankens, führt aber erneut von der Erkenntnistheorie weg. Entscheidend ist die Ausgangsannahme, daß es eine physikalisch (oder wie immer) angelegte Differenz von loser und 23fester Kopplung gibt, ohne die sich kein erkennendes System entwickeln könnte bzw. auf Koinzidenzen an den eigenen Grenzen ohne Raum/Zeit-Distanz zur Umwelt angewiesen bliebe.

Eine verfeinerte Begriffsarbeit könnte hinzufügen, daß das Medium durch die Formung nicht verbraucht werden darf, sondern sich regenerieren muß; daß die Form jeweils stärker (durchsetzungsfähiger) ist als das Medium, ohne daß dem eine heimliche Rationalität zugrunde läge; und daß auch das jeweilige Medium als lose gekoppeltes Substrat (also immerhin als Kopplung, also als Struktur) wieder als Form wahrnehmbar ist, wenn dafür ein geeignetes Medium (etwa ein Meßapparat mit hohem Auflösevermögen) zur Verfügung gestellt werden kann.[23]