Die große Gereiztheit - Bernhard Pörksen - E-Book

Die große Gereiztheit E-Book

Bernhard Pörksen

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Beschreibung

Terrorwarnungen, Gerüchte, die Fake-News-Panik, Skandale und Spektakel in Echtzeit – die vernetzte Welt existiert längst in einer Stimmung der Nervosität und Gereiztheit. Bernhard Pörksen analysiert die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters und beschreibt das große Geschäft mit der Desinformation. Er führt vor, wie sich unsere Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen und der Charakter von Debatten verändern. Heute ist jeder zum Sender geworden, der Einfluss etablierter Medien schwindet. In dieser Situation gehört der kluge Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung und sollte in der Schule gelehrt werden. Medienmündigkeit ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden.

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Über das Buch

Die vernetzte Welt existiert längst in einem Zustand rauschhafter Nervosität, einer Stimmung der großen Gereiztheit, weil alles sichtbar geworden ist, das Banale und das Bestialische, die enthemmte Pöbelei und die anonyme Attacke. Bernhard

Pörksen analysiert die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters und das große Geschäft mit der Desinformation. Er führt vor, wie sich unsere Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen, der Charakter von Debatten und die Vorstellung von Autorität und Macht verändern. Heute ist jeder zum Sender geworden, der Einfluss etablierter Gatekeeper schwindet. In dieser Situation gehört der kluge Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung und sollte in der Schule gelehrt werden. Medienmündigkeit ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden.

Hanser E-Book

Bernhard Pörksen

Die große Gereiztheit

Wege aus der kollektiven Erregung

Carl Hanser Verlag

Für Julia

Inhalt

Clash der Codes – oder das Zeitalter der indiskreten Medien

1 Die Wahrheitskrise – oder die gefühlte Manipulation

Der moderne Turing-Test

Prinzipien der Informationswäsche

Angst vor dem postfaktischen Zeitalter

Die Katastrophe, der Terror und die Gesetze digitaler Medien

Entfesselung des Bestätigungsdenkens

2 Die Diskurskrise – oder die Schwächung der Gatekeeper

Von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie

Verschlechterung des Kommunikationsklimas

Die vielen Gesichter der fünften Gewalt

Die Macht der Konnektive

3 Die Autoritätskrise – oder die Schmerzen der Sichtbarkeit

Ausweitung der Beobachtungszone

Kollateralschäden der Transparenz

Helden und Anti-Helden im Netzzeitalter

4 Die Behaglichkeitskrise – oder der Kollaps der Kontexte

Filter Bubble und Filter Clash

Digitale Schmetterlingseffekte

Vom Aufstieg der Emotions- und Erregungsindustrie

Das falsche Lob der Ignoranz

5 Die Reputationskrise – oder die Allgegenwart des Skandals

Der digitale Pranger

Erfahrung des Kontrollverlustes

Balanceakt der Aufklärung

6 Die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft

Prinzipien der redaktionellen Gesellschaft

Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone

Danksagung

Anmerkungen

Clash der Codes – oder das Zeitalter der indiskreten Medien

Es ist womöglich nur sehr wenig geschehen und doch gleichzeitig unendlich viel passiert. Wir sind, so der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan in einem prophetischen Aphorismus aus dem Jahre 1964, »von den Nerven der gesamten Menschheit umgeben. Sie sind nach außen gewandert und bilden eine elektrische Umwelt.«1 Heute trifft das zu. Alles, was geschieht, was das Nervenkostüm anderer Menschen an irgendeinem Ort der Welt erreicht, was sie bewegt, verstört, ängstigt, vermag auch uns zu erreichen und zu verstören. Es ist eine Zeit der Empörungskybernetik, in der miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation und der großen Gereiztheit erzeugen. Jeder, der postet und kommentiert, Nachrichten und Geschichten teilt, ein Handyvideo online stellt, leistet seinen Beitrag, wirkt daran mit, die Erregungszonen der vernetzten Welt endgültig zu entgrenzen. Und es vergeht kein Tag ohne Verstörung, keine Stunde ohne Push-Nachrichten, kein Augenblick ohne Aufreger. Man könnte, selbst wenn man wollte, den digitalen Fieberschüben nicht entkommen. Sie regieren die öffentliche Agenda der klassischen Medien und bestimmen, was kommentiert wird. Und es ist längst eine eigene Emotionsindustrie entstanden, die genau beobachtet, was funktioniert und viral geht, um durch die Analyse von Echtzeit-Quoten die Aufreger systematisch zu verstärken. Bis am Ende des Tages Millionen von Menschen über ein einzelnes Foto diskutieren, sich über einen Tweet erregen oder rund um den Globus über einen einzigen Scherz lachen.

Man kann jedoch, so die These dieses Buches, die Wirkungen einer nervösen, hoch reaktionsbereiten Medienmacht gar nicht erkennen, wenn man einfach nur die Ereignisgeschichte referiert und sich am gerade Aktuellen orientiert, also allein die gerade diskutierten Inhalte betrachtet. Damit ist nicht gemeint, die Ereignisse selbst seien unwichtig oder gar bloß fiktive Größen, Schimären im Impulsgewitter der vernetzten Welt. Natürlich entdeckt man jede Menge Kuriositäten und Seltsamkeiten auf diesem Planeten, über die man lachen oder aber sich auch aufregen kann. Selbstverständlich gibt es den Schrecken der Terroranschläge und Amokläufe, der unabhängig von statistischen Wahrscheinlichkeiten schockiert. Wer sie ins Reich des Irrealen verbannen will, wie jene gleichermaßen heiter und dämlich formulierenden Medientheoretiker, die überall nur Simulation und Spektakel sehen können, also das Ereignis letztlich zur Medienfiktion umdeuten, der ist ein Zyniker, der sich nicht berühren lassen will.2 Medienanalyse ist dann Gedankenflucht, Legitimation von Ignoranz und Indifferenz. Denn natürlich gilt: Menschen bluten wirklich. Sie leiden real unter Naturkatastrophen, Armut und Folter. Sie sterben auf der Flucht, im Bombenhagel oder an verseuchtem Trinkwasser – unabhängig vom Akt der medialen Repräsentation, der die privilegierten Bewohner der Welt vielleicht nur als verwackeltes Handyvideo erreicht, über das man dann in den Sinnprovinzen akademischer Klubs philosophiert. Bilder totaler Armut oder des obszönen Reichtums verweisen auf eine Realität, die nicht in plakativen Simulationsthesen auflösbar ist und die nicht negiert werden darf. Aber im Hintergrund der Ereignisgeschichte wirken – als alles verändernde Einstrahlung – Effekte digitaler, vernetzter Medien; ebendiese Effekte sind das Thema dieses Essays. Sie verändern, wie zu zeigen sein wird, den Charakter dessen, was wir Öffentlichkeit nennen. Sie schließen das private und das öffentliche Bewusstsein kurz. Sie erzeugen eine eigene Dynamik und Dramatik der Enthüllungen. Sie treiben ganze Gesellschaften in Phasen rauschhafter Nervosität und der Verunsicherung hinein. Sie lassen Konflikte in Hochgeschwindigkeit eskalieren und erhalten sie am Leben, weil auf einmal alle ohne größere Schwierigkeiten mitzündeln und die einmal entstandene Aufregung immer wieder neu anfachen können.

Ein Beispiel? Es ist der 12. Januar des Jahres 2016, irgendwo in den Häuserschluchten von Berlin-Marzahn. An diesem Tag lügt die 13-jährige Lisa, nachdem sie 30 Stunden lang nicht auffindbar und nicht erreichbar war, ihre Mutter an.3 Lisa ist am Vortag auf dem Weg zur Schule verschwunden. Sie war die Nacht über nicht zu Hause, und die Familie hat sie als vermisst gemeldet. Nun berichtet das russischstämmige Mädchen, drei südländisch aussehende Männer hätten sie in ein Auto gezerrt, in eine Wohnung gebracht, sie entführt, geschlagen, vergewaltigt. Später stellt sich heraus, dass es Schwierigkeiten in der Schule gab und man ihre Eltern zu einem Gespräch einbestellt hatte, vor dessen Ausgang sie sich offenbar fürchtete. Später wird klar, dass es in dieser Nacht keine Vergewaltigung gegeben hat, sondern eine Übernachtung in der Wohnung eines Freundes, der ihr nichts angetan hat. Später wird offenbar, dass Lisa sich die Verletzungen, die von der Horror-Nacht herrühren sollen, vermutlich selbst beigebracht hat.

Aber da hat die Lüge längst das Zwiegespräch von zwei Menschen verlassen. Sie diffundiert durch die digitale Welt und hinterlässt ihre Spuren im analogen Leben. Schon am 14. Januar 2016 brodelt es im Netz. Innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft in Deutschland, auf Facebook und Twitter kursiert das Gerücht, die 13-Jährige sei von Migranten missbraucht worden, Politiker und Medien würden jedoch die Wahrheit verschweigen und den Fall gezielt vertuschen. Nur einen Tag später tauchen aufgebrachte Russen am Eingang eines Flüchtlingsheims in Berlin-Marzahn auf. Fensterscheiben splittern, ein Sicherheitsmann wird verletzt. Die Erregung innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaften, von denen viele nach wie vor die Medien ihrer früheren Heimat konsumieren, nimmt weiter zu, als der Erste Kanal, der beliebteste Fernsehsender Russlands, am 16. Januar 2016 den Fall aufgreift. Die Moderatorin, die den Beitrag anmoderiert, behauptet, es gebe eine »neue Ordnung« in Deutschland. Sie bestünde darin, dass die Menschen im Angesicht der ungehindert ins Land strömenden Flüchtlinge nicht mehr sicher seien und sich nun auch an Kindern vergreifen würden. In den Städten herrsche längst Gewalt und Chaos. Der Berliner Korrespondent des Senders, Iwan Blagoj, berichtet, Ausländer hätten Lisa dreißig Stunden vergewaltigt und dann »auf die Straße« geschmissen, die Polizei hätte das Mädchen zwar mehrere Stunden lang verhört, würde jedoch nichts tun. All dies verbreitet sich in Hochgeschwindigkeit. Ausschnitte aus der Fernsehsendung werden blitzschnell übersetzt, tauchen auf den unterschiedlichsten Seiten im Netz auf, werden millionenfach geklickt. Noch am selben Tag veranstaltet die rechtsextreme NPD eine Kundgebung vor dem Einkaufszentrum Eastgate in Berlin-Marzahn. Auf einer weiteren NPD-Veranstaltung wird die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Eine angebliche Cousine beklagt hier unter Tränen, was man dem Mädchen zugefügt habe.

Aber ist diese Zeugin der Anklage ernst zu nehmen, kann sie als authentisch gelten? Es gebe Hinweise, so wird in verschiedenen Medien angedeutet, dass es sich bei diversen, öffentlich auftretenden Verwandten des Mädchens um Schauspieler gehandelt haben könnte – eine Behauptung, die sich nicht verifizieren lässt, aber doch ein Indiz einer allgemeinen Verunsicherung darstellt und die Frage aufkommen lässt, ob man womöglich einer großen Inszenierung beiwohnt. Jedenfalls verwandeln russische Medien die Geschichte eines vermeintlich vertuschten Verbrechens mit aller Macht in ein beherrschendes Thema. Mal ist auch die Rede von fünf Vergewaltigern und einer Art »Sex-Gefangenschaft«. Es kommt zu Demonstrationen von Russlanddeutschen in verschiedenen Städten. Allein vor dem Kanzleramt in Berlin tauchen 700 Demonstrierende auf. »Lisa! Lisa!«-Rufe ertönen hier, Schilder mit Parolen werden hochgehalten: »Heute mein Kind – morgen Dein Kind«, »Unsere Kinder sind in Gefahr!«, »Schützt unsere Frauen und Kinder«. Manche tragen T-Shirts, auf denen zu lesen steht: »Lisa, wir sind mit Dir«. Im digitalen Paralleluniversum haben sich längst Verschwörungstheoretiker und rechtsradikale Agitatoren des Themas angenommen. Man attackiert die angeblich lügende, vermeintlich kollektiv paktierende Front aus Polizei, Politik und etablierten Medien. Ein verwackeltes Amateurvideo, das seit 2009 im Netz kursiert und in dem sich junge Ausländer mit der Gruppenvergewaltigung einer Jungfrau brüsten, erscheint als eine Art dokumentarischer Beweis gänzlich haltlos gewordener Zustände. Der Fall wird komplizierter, als sich herausstellt, dass das Mädchen tatsächlich Sex mit einem Türken und einem türkischstämmigen Deutschen hatte, dies jedoch zu einem früheren Zeitpunkt und nach Aussage der Ermittler auch einvernehmlich, was nichts daran ändert, dass es sich um eine schwere Straftat handelt, den Missbrauch einer Minderjährigen. Aber den eigentlichen Fall hat es nicht gegeben, gleichwohl ist die Geschichte längst auf unzähligen Seiten zur gefühlten Gewissheit geworden, die selbst dann real sein könnte, wenn sie sich nicht in den entscheidenden Details bestätigen sollte. »Es ist Krieg«, so heißt es etwa im Kommentarforum eines rechtsradikalen Online-Magazins. »Im Krieg wird Propagandamunition verschossen! […] Lisa steht beispielhaft! Selbst wenn eine Vergewaltigung nicht vollendet worden wäre, so wurde das Mädchen gekidnappt und gequält bzw. hätte es vergewaltigt werden können, so wie unzählige zuvor. Ja zu Tode gebracht werden können, wie in so vielen Fällen, in denen Deutsche durch Fremdstämmige dieses Schicksal erleiden mussten.« Am 26. Januar wirft der russische Außenminister Sergej Lawrow im allgemeinen Getöse den deutschen Behörden vor, dem Verbrechen aus Gründen der politischen Korrektheit nicht wirklich nachzugehen – eine Behauptung, die vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier scharf zurückgewiesen und auch von Seiten anderer Regierungsmitglieder ins Reich der Fabel verbannt wird. Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht. Ein paar Tage später erklärt die Staatsanwaltschaft abschließend, dass das Mädchen das Verbrechen lediglich erfunden habe.

Man könnte es dabei bewenden lassen. Und doch illustriert diese Geschichte eine größere Geschichte, die von medialen Tiefeneffekten handelt. Sie macht offenbar, mit welcher Unmittelbarkeit und Geschwindigkeit Parallelöffentlichkeiten unter den modernen Medienbedingungen aufeinanderprallen. Sie lässt deutlich werden, wie leicht es ist, sich in Protestgemeinschaften zu verbünden und in den eigenen Selbstbestätigungsmilieus Gewissheiten zu verkünden, die zu gefühlten Realitäten werden. Sie macht klar, dass die Grenzen zwischen Peripherie und Zentrum in der Sphäre des Öffentlichen durchlässig werden, dass Gerüchte plötzlich in den medialen Mainstream gelangen und sich hier zu Themen verdichten, zu denen sich schließlich die Außenminister zweier Länder und die unterschiedlichsten Regierungsmitglieder äußern. Ohne die indiskreten Medien des digitalen Zeitalters hätte es die Ereignisse rund um das 13-jährige Mädchen Lisa so nicht gegeben. Was ist damit gemeint? Es ist die Digitalisierung von Daten und Dokumenten im Verbund mit der Vernetzung, der leichten Zugänglichkeit und der barrierefreien Benutzbarkeit, die Medien in einem doppelten Sinne indiskret werden lässt.4 Zum einen wird vor dem Hintergrund dieses Bedingungsgefüges die Veröffentlichung des gerade noch Privaten ungleich leichter möglich. Indiskretion heißt hier also konkret: das Vertrauliche und Verborgene offenbaren. Überdies werden, allgemeiner betrachtet, eben durch die Digitalisierung und Vernetzung und die Durchdringung der Welt durch Medientechnologien einst diskrete, voneinander getrennte Bewusstseins- und Lebenssphären miteinander verbunden. Indiskretion bedeutet somit auch: Verschmelzung des gerade noch Unterscheidbaren. Es verschmelzen im Zuge der Digitalisierung, der Vernetzung und des weltweiten Einsatzes von digitalen Medien das Hier und das Dort, das Vergangene und das Gegenwärtige, die Information und die Emotion, das Gesprochene und das Geschriebene, das Reale und das Simulierte, die Kopie und das Original. Das ist eine entscheidende Veränderung in der globalen Organisation von Information, ein Wechsel von der stärker publikums- und kontextspezifischen Segmentierung hin zur integrierenden Konfrontation. Man hat nicht mehr oder minder strikt getrennte Informationssphären für Junge und Alte, Kinder und Erwachsene, sondern alle können potenziell alles sehen. Sie können fortwährend senden und empfangen, immer und zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei der Arbeit oder in der Freizeit, von jedem Ort der Welt. Es sind also – einerseits – die Ereignisse, die uns beunruhigen, die Kriege und Krisen, die schmutzigen Wahlkämpfe, die Zeichen für den Zerfall Europas, die Wiederkehr des Autoritarismus, die eskalierenden Konflikte. Und es ist – andererseits – die plötzliche Sichtbarkeit des Schreckens, die eine Stimmung der großen Gereiztheit forciert. Wir spüren ein untergründiges Beben, eine konstante Verstörung durch Vernetzung und können uns ihr kaum entziehen.

Einer solchen Stimmung aus Verunsicherung, aus Aufgewühltheit und plötzlich hervorbrechender Wut hat Thomas Mann einst im Zauberberg ein berühmt gewordenes Kapitel gewidmet und ihm den Titel »Die große Gereiztheit« gegeben. Es handelt sich um das Gesellschafts- und Gefühlspanorama einer anderen Zeit. Beschrieben wird die von Nervosität und plötzlichen Erregungsschüben geprägte Atmosphäre in einem Sanatorium am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Hier heißt es: »Was gab es denn? Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen. Man erblaßte und bebte.«5 Die Insassen des Sanatoriums in den Schweizer Alpen fiebern, kränkeln und wüten vor sich hin, weil sich, wie Thomas Mann zeigt, die Luft der Epoche ändert und ein Gefühl des Unbehagens und des drohenden Unheils selbst jene infiziert, die sich in die vermeintlich abgeschlossene Oase des Sanatoriums mit vielen Wolldecken auf ihre Liegestühle geflüchtet haben. Sie sind hoch oben auf dem Berg eben nicht wirklich der Welt abhandengekommen, ihre Isolation ist pure Fiktion, weil »das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt«, wie der Philosoph Martin Heidegger die Grundaussage des Romans gleich nach Beginn der Lektüre in einem Brief an seine Geliebte Hannah Ahrendt resümiert.6 Heute hat sich, eben durch die indiskreten Medien der Gegenwart, die Luft der Epoche geändert, weil das Dasein, um Heideggers eigenwillige Formulierung aufzugreifen, durch die Tatsache der digitalen Vernetzung »gelebt« und verstört wird und die Bewohner der digitalen Welt von blitzschnell übertragenen Schmerzen heimgesucht werden, die sie, eben wie die keuchenden und keifenden Luxuswesen auf dem Zauberberg mit ihren wirklichen und ihren eingebildeten Krankheiten, nicht zur Ruhe kommen lassen. Informationelle und damit emotionale Isolation ist im digitalen Zeitalter illusionär; ebendies ist mediengeschichtlich eine Zäsur, die das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert.

Natürlich muss man solche Diagnosen der Neuartigkeit vorsichtig und mit Bedacht formulieren. Die Beschwörung eines Epochenbruchs – ganz gleich, ob es um die Erfindung der Schrift, der Druckerpresse, des Telegrafen oder des Telefons, des Radios, des Fernsehens oder des Internet geht – ist lange schon ein eigenes Genre aufgeregter Zeitdiagnostik. Und sie ist immer fraglich, weil sie Kontinuität übersieht und einzelne Veränderungen womöglich überbewertet. Und selbstverständlich erzeugt jedes einzelne in der Geschichte der Menschheit erfundene Medium neue Möglichkeiten und Bedingungen, um die Stimmungs- und Gemütslage von Gesellschaften zu transformieren, Erregung öffentlich zu machen und dann präsent zu halten; das also ist keineswegs eine Besonderheit. Schon mit dem Gedruckten, dem Flugblatt, dem Buch und der Zeitung löst sich die Erinnerung von der Person, lässt sich Vergangenes, vielleicht nur flüchtig Dahingesagtes und für den Moment Gesprochenes fixieren.7 Das Foto entreißt den Augenblick der Vergänglichkeit. Tonaufnahmen und Radio erlauben die authentische Reproduktion der einzelnen Äußerung, geben einen Eindruck von Stimme und Stimmung, der das Gefühl des Authentischen steigert. Film und Fernsehen erzeugen ein Gefühl der Vertrautheit mit dem eigentlich Unvertrauten, weil Prominente und Mächtige, zur besten Sendezeit ins heimische Wohnzimmer gebeamt, auf einmal wie persönliche Bekannte wirken, über deren Anzüge oder Frisur man debattieren und sich bei Bedarf auch erregen kann. Aber bei aller gesellschaftsverändernden Dynamik hat sich doch bislang jedes Medium, gefesselt an das von Verfall und Vernichtung bedrohte Material, selbst in seiner Reichweite begrenzt. Es gab vor dem Kulturbruch der Digitalisierung eine automatische, womöglich manchmal unverdiente Gnade des Vergessens, die eine Begebenheit mitunter einfach verschwinden oder hinter den dicken Mauern einer Bibliothek aus dem allgemeinen Bewusstsein geraten ließ. Das ist heute anders. Die indiskreten Medien der Gegenwart schlucken die verschiedenen Einzelmedien, nehmen ihre Eigenschaften der speziellen Dokumentation in sich auf und erzeugen in der Summe eine neue Stufe situationsunabhängiger Sichtbarkeit, permanenter, ortloser Präsenz und unabweisbarer Evidenz. Man kann auch das gerade Flüchtige fixieren und barrierefrei verbreiten. Alles, was digital vorliegt, lässt sich blitzschnell und ohne Rücksicht auf Ursprungskontexte für ein Riesenpublikum zugänglich machen. Im Extremfall entsteht so eine deterritorialisierte Simultanität in der Ereigniswahrnehmung: Millionen von über den Erdball verstreuten Menschen befassen sich dann mit ein und demselben Thema, setzen sich mit ein und demselben Inhalt – nur eben unvermeidlich aus ihrer jeweils besonderen Perspektive, vor dem Hintergrund ihrer je besonderen Kultur oder auch Ideologie – auseinander.8 Aus dem Kollaps der Kontexte, dem Verschwimmen von Situations- und Informationsgrenzen infolge der umfassenden Durchdringung der Welt durch Medieneffekte folgt zum einen, dass Schutzzonen der Unsichtbarkeit und Rückzugsräume der Unbefangenheit schwinden. Und es ergibt sich zum anderen ein fortwährender Clash der Codes, eine Sofort-Konfrontation und Ad-hoc-Vergleichbarkeit von äußerst unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen.

Der Effekt einer solchen elementaren Neuorganisation der Informationswelt besteht darin, dass sich die Weltbewohner oft unerträglich nahe kommen. Sie sind genötigt, einander anzuschauen, und können sich nicht ausweichen. Sie sehen sich in ihrer ganzen Fremdartigkeit, ihrer Radikalität und Brutalität, auch in ihren Versuchen, doch zu begütigen, für Ruhe zu sorgen, in ihrer Gleichgültigkeit oder in ihrem Mitgefühl. Die Bewohner im Weltinnenraum der vernetzten Kommunikation werden in eine Art der Nachbarschaft hineingezwungen und mit einer Transparenz der Differenz konfrontiert, die sie im Letzten überfordert. Und das globale Dorf, diese so romantisch klingende Urmetapher des Medientheoretikers Marshall McLuhan, ist, wie sich nun sagen lässt, eine Welt, die den Clash der Codes durch den weltweiten Einsatz indiskreter Medien programmiert. Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit oder den Einfällen eines delirierenden amerikanischen Präsidenten ausgesetzt werden, der seine Tweets in die Welt feuert. Wir sind gereizt, weil wir nicht sicher wissen können, was von dem, was gerade noch als Gewissheit erscheint, eigentlich stimmt und wer Daten und Dokumente aus welchen Gründen und mit welchen Absichten manipuliert. Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter und einem medientechnisch produzierten Dauerzustand der Ungewissheit in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden. Und wir sind gereizt, weil zivilisierende Diskursfilter weggebrochen sind, Autoritäten in rascher Folge demontiert werden und wir untergründig ahnen, dass wir, wie jenes vor aller Augen der Lüge überführte Mädchen aus Berlin-Marzahn, eines Tages womöglich selbst angreifbar werden, verletzbar auf der weltweit einsehbaren Bühne des Netzes.

Es ist dieses unterschiedliche politische und soziale Gruppen verbindende Gefühl der Gereiztheit, das ich in diesem Buch in Form von fünf Krisendiagnosen analysiere. Den Auftakt bildet die Diagnose einer Wahrheitskrise. Hier wird gezeigt, dass Gewissheiten in Zeiten der Bild- und Videofälschung, der gekauften Trolle, der Geheimdienst-Aktivitäten, der Fake-Profile und Social Bots und der perfekt orchestrierten Propaganda immer fragwürdiger werden. Die alte, stärker hierarchisch strukturierte Medien- und Wissenswelt stellte, eben weil sie von vergleichsweise mächtigen Gatekeepern und einer gewissen Stabilität der Materialien und Dokumente geprägt wurde, eine implizite Stütze klassischer Wahrheitskonzepte dar, die heute unter Druck geraten. Die Angst vor postfaktischen Zeiten und die aktuelle Fake-News-Panik ist in diesem Sinne Symptom einer allgemeinen informationellen Verunsicherung, einer Angst vor der Totalimplosion realer Bezüge. Das zweite Kapitel skizziert die Konturen einer Diskurskrise und lässt deutlich werden, dass die Grenzen des Sagbaren und Konsensfähigen dabei sind, sich rasant zu verschieben. Der Grund besteht zum einen darin, dass der etablierte Journalismus in vielen Ländern an Einfluss und Deutungsmacht verliert und sich zum anderen auch radikale, abseitige und hasserfüllte Botschaften ohne großen Aufwand bekannt machen lassen. Heute, im Übergang von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie, können sich alle öffentlich äußern, die Wut über die Wut der jeweils anderen Seite ist längst zum kommunikativen Normalfall geworden. Wer will, der kann sich mit anderen zur bloß gefühlten oder aber tatsächlich politisch wirkungsvollen Macht verbünden, einer fünften Gewalt der vernetzten Vielen.

Was hat das für Folgen? Deutlich wird: Die große Gereiztheit hat längst auch den Diskurs über den Diskurs erreicht; Gesellschaftsbeobachter fürchten eine Art Kommunikationsanarchie durch den Verlust zivilisierender Filter und werden, weil Sortierinstanzen weggebrochen oder doch schwächer geworden sind, im Angesicht von enthemmter Aggression und distanzloser Bösartigkeit spürbar nervös. Im dritten Kapitel, das von der Autoritätskrise des digitalen Zeitalters handelt, zeige ich am Beispiel von Politikerinnen und Politikern, dass vermeintliche Vorbilder und gerade noch unumstritten scheinende Autoritäten unter den gegenwärtigen Medienbedingungen unvermeidlich in ihrer Gewöhnlichkeit, Widersprüchlichkeit und Fehlerhaftigkeit sichtbar werden. Autorität und Selbstmystifikationen basieren immer auch auf Informationskontrolle, Distanz, der weitgehend ungestörten Inszenierung und der verborgenen PR, der effektiven Beschönigung der Vergangenheit. Aber ebendiese Informationskontrolle ist im digitalen Zeitalter immer weniger möglich. Vom Smartphone bis zum Pranger-Blog funktionieren die indiskreten Medien der Gegenwart als Instrumente der systematischen Enttäuschung und der Instant-Entlarvung. Sie pulverisieren Autorität, Aura und Charisma und erlauben die permanente Produktion beunruhigender Enthüllungen. Was bedeuten Transparenz und Totalausleuchtung, so kann man fragen, für die Zukunft von Vorbildern? Werden Helden der Gewöhnlichkeit und Prototypen der Kumpelhaftigkeit die neuen Stars? Verwandelt sich Autorität in das Ideal der Authentizität? Oder betreten zunehmend Heroen der Negativität die öffentliche Bühne, die ihren Anhängern auch deshalb imponieren, weil sie die moralischen Maßstäbe ignorieren und attackieren? Das muss offenbleiben. Unabweisbar ist jedoch, dass Autorität unter den aktuellen Bedingungen auf einem fragilen Konsensus beruht, Resultat einer vielleicht nur kurzfristigen, nicht mehr primär institutionell garantierbaren Akzeptanz. Im vierten Kapitel – die Behaglichkeitskrise – gilt es zu verdeutlichen, was es für den vernetzten Menschen heißt, wenn gerade noch lokal begrenzte Konflikte in unverhältnismäßiger Weise eskalieren, Kontexte kollabieren und Lebenswirklichkeiten konstant aufeinanderprallen. (Ich spreche hier in Analogie zu Eli Parisers Theorie der Filter Bubble vom Filter Clash und arbeite heraus, warum die Behauptung, wir existierten alle in abgeschlossenen, unverbundenen Filterblasen, unter den Bedingungen der Vernetzung nicht stimmen kann.) Man sieht, wie andere leben, ist den Bildern des Reichtums, der Armut, des blutigen Protests und den Echtzeit-Dokumentationen des Bestialischen (Livestreaming von Attentaten, Folter- und Vergewaltigungsvideos etc.) ausgesetzt. Es ist die unmittelbare Erreichbarkeit für Informationen und Nachrichten aller Art, die die Behaglichkeitsidylle schleift und die gesellschaftliche Stimmung prägt. Auch dies ist Ursache der Gereiztheit, die in einer eigenen Dialektik der Kulturentwicklung die Sehnsucht nach Ruhe, Stille und Digital-Detox-Programmen erzeugt. In dem Kapitel über die Reputationskrise gehe ich von der Überlegung aus, dass Reputation im digitalen Zeitalter zum prinzipiell gefährdeten Gut geworden ist, und zwar unabhängig von gesellschaftlicher Macht und dem Grad der Prominenz. Unter den gegenwärtigen Medienbedingungen werden auch gänzlich unbekannte Einzelne – losgelöst vom massenmedial bedeutsamen Kriterium der Fallhöhe – auf Pranger-Seiten oder in sozialen Netzwerken zum Objekt unerwünschter Aufmerksamkeitsexzesse; das Publikum selbst ist im Zusammenspiel mit klassischen Massenmedien zum mächtigen Player in der Erregungsarena der Gegenwart geworden; es kann Themen setzen, Missstände anprangern, Mächtige und Ohnmächtige gleichermaßen attackieren, mal mit guten und mal mit schlechten Argumenten. Das ist die neue Leichtigkeit der Skandalisierung. Die Reputationskrise ist jedoch wie alle hier beschriebenen Krisen des digitalen Zeitalters ambivalent, doppelgesichtig. Sie produziert neue Opfer, gibt aber andererseits auch Opfern eine Stimme, um ihre Peiniger an den Pranger zu stellen. Sie unterminiert systematisch Autorität, bringt aber gerade noch gefährliche Charismatiker und Despoten handstreichartig zu Fall. Und das bedeutet: Man wird, wie zu zeigen sein wird, der vielgestaltigen Welt der digitalen Öffentlichkeit und ihren Krisen weder durch pauschale Euphorie noch durch einen ebenso pauschalen Pessimismus gerecht. Schönheit und Schrecken, Ambivalenz und Polymorphie, mediale Zwänge und individuelle Freiheiten gleichermaßen sichtbar zu machen – darauf kommt es an. Eine Opfertheorie oder ein Modell des digitalen Totaldeterminismus wird hier nicht angeboten. Mediale Umwelten sind ein bewegliches Korsett, in dem der Einzelne sich auf verantwortliche oder unverantwortliche Weise bewegen kann.

Am Schluss dieses Buches gilt es, bildungspolitisch groß zu träumen. Denn in der gegenwärtigen Situation zeigt sich, davon bin ich überzeugt, eine gesellschaftlich noch unverstandene, noch gar nicht entzifferte Bildungsherausforderung. Wir leben in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienevolution, denen wir mit konzeptioneller Klugheit begegnen müssen. Es ist nötig, sich geistig von den kleinformatigen Didaktik- und Medienkompetenz-Programmen zu lösen, die auf den Kulturbruch der Digitalisierung lediglich mit ein paar Seminarangeboten an Schulen und Hochschulen und den neuesten technischen Spielereien reagieren, aber eben nicht mit elementaren Ideen und einem Ideal der Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit. Sie sind einfach zu mickrig geträumt. Ich selbst will im letzten Kapitel dieses Buches die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft zur Diskussion stellen. Es ist eine Gesellschaft reflektierter Publikationsentscheidungen, in der die Grundfragen des Journalismus nach der Glaubwürdigkeit und Relevanz von Information zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind. Diese Grundfragen nach der Seriosität von Quellen, dem Prozess der Recherche oder den Mechanismen der möglichst unvoreingenommenen Informationsauswahl sind längst kein Spezialproblem von Journalisten mehr. Sie gehen heute alle an, denn jeder Mensch, der ein Smartphone in der Tasche trägt, ist zum Sender geworden. Ebendarin liegt die bildungspolitische Bedeutung eines ideal gedachten Journalismus, er liefert ein Wertegerüst für das öffentliche Sprechen, verknüpft den Akt der Publikation mit der Prüfung von Faktizität und Relevanz, er hat Recherche-Routinen und Formen des Faktcheckings und der Quellenprüfung entwickelt, die einen aus dem Gehäuse eigener Vorannahmen und Vorurteile herauskatapultieren können.9 Guter Journalismus will – im Idealfall – systematisch »zu einer zweiten Natur der Offenheit erziehen« (so der Journalismusforscher Horst Pöttker), denn er weiß um die allgemein menschliche Neigung zur Selbstbestätigung, die erste Natur des Menschen, seine gedankliche Bequemlichkeit. Und er zielt auf die Verständigung und den Austausch. Das gesellschaftliche Klima, die Art, wie wir miteinander reden und streiten, wie wir Kompromisse finden, bedeutungsvolle Information von Pseudo-News trennen, Fakten von Propagandamüll und echte Skandale von blödsinnigen Aufregern, wird davon bestimmt werden, ob es gelingt, ein redaktionelles Bewusstsein zu schaffen, so lautet die abschließende Überlegung. Zu diesem Zweck braucht es ein eigenes Fach an den Schulen des Landes, dessen Konturen und Programm (Mediengeschichte, Medienpraxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaft) ich skizziere. Dazu ist es notwendig, dass sich der real existierende Journalismus ändert und ein neues, weniger asymmetrisches, stärker von Transparenz und dem Ideal des Dialoges geprägtes Berufsbild entwickelt. Es gilt das Verhältnis zum Publikum anders und weniger hierarchisch zu entwerfen, sich um eine Form des Austausches auf Augenhöhe zu bemühen, die ich als dialogischen Journalismus bezeichne. Und schließlich sind auch die Plattform-Monopole in der Pflicht, die in der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft die Selbstaufklärung über die eigene Macht energisch vorantreiben und die Prinzipien ihrer Ethik offenlegen müssen. (Ich nenne mögliche Instrumente auf diesem Weg wie beispielsweise das Konzept eines Plattformrates, eines Selbstkontrollorgans in Analogie zum Presserat). All das sind große, noch unverstandene Bildungsaufgaben der Zukunft, ohne deren Schilderung dieses Buch unvollständig wäre und die Position des Autors vielleicht als eine Spielform des handelsüblichen Netzpessimismus erschiene, die sie nicht ist. Denn Bildung fordern heißt, an die Fähigkeiten des Gegenübers zu glauben und auf seine Entwicklungsfähigkeit zu vertrauen – und sich nicht in der Beschwörung der Aussichtslosigkeit zu verlieren; ebendarin besteht das universale Pathos jeder Bildungsidee. Und Bildung zu fordern bedeutet, die Krisen des digitalen Zeitalters, trotz ihrer verstörenden Macht und in scharfem Kontrast zu einer kulturpessimistischen Fehlinterpretation, als offene, nach Gestaltung verlangende Entscheidungssituationen der Gesellschaft zu begreifen. Sie sind ein Aufruf zur Analyse und Aufklärung – auf dem Weg zu einer Medienmündigkeit und einer Autonomie des Denkens und Handelns, die möglich ist, aber doch gewollt sein und gefördert werden muss. Nichts ist ohne Alternative.

1 Die Wahrheitskrise – oder die gefühlte Manipulation

Der moderne Turing-Test

Es ist schwer und oft prinzipiell unmöglich, unter den herrschenden Informationsbedingungen zu entscheiden, was denn nun stimmt und was nicht. In der Situation einer allgemeinen Verunsicherung wuchert der Verdacht, regiert der Zweifel und dominiert das Geraune, das den Durchblick suggeriert, aber eigentlich doch nur Verwirrung und Verstörung offenbart. Man kommt der speziellen Erkenntnissituation des digitalen Zeitalters und der allgemeinen Stimmung gefühlter Manipulation genauer auf die Spur, wenn man für einen Moment an den Turing-Test erinnert, dieses aus der Ur- und Frühgeschichte des Computerzeitalters stammende Experiment. Erstmals beschrieben hat das Verfahren der genialische Mathematiker und Kryptograf Alan Turing im Jahre 1950. Geklärt werden soll mit seinem Test eigentlich, ob man Maschinen intelligent nennen darf, ob sie sich als klug bezeichnen lassen. Um dies herauszufinden, kommuniziert ein Mensch mit einer Entität, die nicht näher bestimmt ist. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht. Es kann sich um einen Menschen handeln oder um eine Maschine. Wenn die Testperson aufgrund der Antworten zu der Schlussfolgerung gelangt, es handele sich um einen Menschen, man es jedoch faktisch mit einer Maschine zu tun hat, dann muss man ebendieser auch Intelligenz attestieren, so Alan Turings Argument. Über dieses Verfahren gibt es seit Jahrzehnten einen Streit unter Philosophen und Bewusstseinsforschern. Manche halten den gesamten Ansatz für irreführend, weil die Antworten, die unter den extrem reduzierten Informations- und Kommunikationsbedingungen präsentiert werden, noch nichts über die Klugheit oder das Bewusstsein von Maschinen verraten, sondern eigentlich verdeutlichen, dass der Proband versagt und Fehleinschätzungen produziert hat. Das hieße dann, dass das Verfahren nicht wirklich etwas über die Intelligenz von Maschinen aussagt, aber sehr viel über die Fähigkeit des Menschen, die Herkunft von Kommunikation sicher einzuschätzen. Andere meinen hingegen, Turings Experiment sei durchaus praktikabel, und arbeiten beständig an der Verbesserung der Programme, denen es tatsächlich immer wieder gelingt, die Illusion menschlicher Kommunikation vorzuspielen. Zuletzt bekam man im Jahre 2014 in einer Mitteilung der University of Reading zu lesen, ein Chatbot, also ein Computerprogramm, das in der Lage ist, ein Gespräch zu simulieren, habe den Test bestanden. Der Name des Chatbot war Eugene Goostman, der die Kommunikationsformen und den Wissensstand eines 13-jährigen Jungen aus der Ukraine simulierte.

Solche Jubelmeldungen müssen im Zweifel Spezialisten der KI-Forschung interessieren. Zeitdiagnostisch brisant ist hingegen das Verfahren selbst, weil es als Paradigma einer Kommunikationssituation taugt, die typisch geworden ist. Der vernetzte Mensch kommuniziert unter den gegenwärtigen Medienbedingungen konstant mit »Entitäten«, deren Absichten und Interessen, deren Integrität oder Status – Mensch oder Maschine, neutraler Beobachter oder Propagandist – sich nicht sicher einschätzen lassen. Es gibt einen neuen, global zelebrierten, den digitalen Kommunikationsformen eingeschriebenen Turing-Test, geleitet von der Frage, was überhaupt als echte, wahrheitsgetreue und authentische Kommunikation betrachtet werden kann – und was eben nicht. Der Ort für dieses Experiment ist nicht die Wissenschaft und nicht das Gebäude einer Universität, sondern die digitale Öffentlichkeit. Hier wird der vernetzte Mensch vor das Problem gestellt, ob er die zahlreich verbreiteten Falsch- und Fehlinformation überhaupt erkennen kann. Und man weiß ja selbst längst: Diese zu produzieren und in Umlauf zu bringen ist heute leichter denn je. Jeder kann unter den Bedingungen digitaler Kommunikation Fake-Identitäten kreieren, die eigene Geschichte mit einiger Raffinesse inszenieren und dann ausprobieren, ob sein Publikum die medial erschaffene Realität für echt hält. Jeder kann mit Identitäten und Rollen spielen, kann sich maskieren, das eigene Selbst und die eigene Person als eine variable Projektion entwerfen, an deren Authentizität andere glauben – bis sie den Trick begreifen oder man ihnen das Betriebsgeheimnis einer erfolgreichen Manipulation offenbart hat. »In the Internet«, so heißt es in einem legendären Cartoon des New Yorker aus dem Jahre 1993, der einen am Computer sitzenden Hund zeigt, »nobody knows you’re a dog.« Wie leicht man selbst nächste Angehörige und gute Freunde zu täuschen und mit einer schönen Geschichte zu blenden vermag, hat die niederländische Kunststudentin Zilla van den Born im Jahre 2014 in Form eines amüsanten Selbstexperiments vorgeführt, auch dies eine moderne Variante des Turing-Tests unter den Bedingungen der digitalen Kommunikation.10 Zilla van den Born informierte Verwandte und Bekannte, dass sie durch Thailand, Laos und Kambodscha reisen werde, sie postete fortwährend bezaubernde Urlaubsbeweise auf Facebook. Sie schickte Fotos von einem weißen Palmenstrand und Bilder von Schnorcheltouren in türkisblauem Wasser. Man sah sie beim Essen mit Stäbchen und beim Besuch eines Tempels neben einem Mönch in orangefarbener Kutte – Ferienfotos einer hübschen jungen Frau, die jedoch tatsächlich 42 Tage lang in Amsterdam in ihrer Wohnung hockte und diese für die Skype-Sessions mit der Familie immer wieder umdekorierte. Die mit Hilfe von Photoshop die Illusion einer Reise kreierte, um schließlich ihre Bachelorarbeit an der Kunsthochschule in Utrecht über das sogenannte Fakecationing – die Simulation eines spektakulären Urlaubs – zu verfassen.

Niemand kam der Kunststudentin in all den Wochen einer angeblichen Abwesenheit auf die Spur. Schließlich entlarvte sie sich und die am Rechner konstruierte Ferienpersönlichkeit selbst und filmte die konsternierten Reaktionen ihrer Freunde und Verwandten, denen sie unter den Augen einer Kamera erklärte, mit welchen Tricks sie über Wochen die Traumreise durch Asien simuliert hatte. Damit ließ sich zweifelsfrei demonstrieren, was denn nun stimmt und was nicht und warum die Illusion einer Wirklichkeit entstehen konnte, die es nicht gab. Ebendieser doppelte Blick, der zunächst die Kulisse des Scheins präsentiert und dann die Sicht auf die Hinter- und Hebelbühne des eigentlichen Geschehens freigibt, ist jedoch längst nicht immer möglich. Die Normalsituation der Erkenntnis in Medienwelten sieht anders aus: Man muss die Möglichkeit der Täuschung zwar prinzipiell in Rechnung stellen, verfügt jedoch kaum über die Möglichkeit privat-persönlicher Authentizitätskontrolle. Man hat zwar eine Ahnung, dass etwas nicht stimmen könnte, vermag jedoch nicht selbst hinter den Vorhang zu schauen, kann keine definitiven Belege liefern, schon gar nicht aus eigener Anschauung und persönlicher Recherche. Die diffuse Ahnung des Zweifelhaften und eine charakteristische Echtheitsungewissheit werden aus mehreren Gründen genährt und verstärkt. Zum einen hat sich das Spiel mit der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Wirklichkeiten demokratisiert; es steht nun allen offen. Natürlich waren Medienbilder immer schon ein beliebtes Objekt der Fälschung. Und die Möglichkeiten der digitalen Bildmanipulation existieren seit Jahrzehnten. Aber heute kann jeder selbst, sei es mit Photoshop oder irgendeiner anderen Software, bequem kleine Fälschungsexperimente machen und diese barrierefrei in die öffentlichen Kreisläufe einspeisen. Und man braucht – im Gegensatz zu früheren Epochen – keine Dunkelkammer, keine Chemikalien und keine Schaber für die Foto- und Realitätsretusche mehr, es genügen ein paar Klicks in einer bequem vorkonfigurierten Struktur. Die Möglichkeit der Fälschung ist also durch die persönliche Erfahrung gedeckt; das ist die private Empirie der Manipulation. Zum anderen gehört die Annahme, man könne in der öffentlichen Sphäre leichthändig getäuscht werden, inzwischen zum Alltagswissen oder doch zur Alltagsahnung des Medienkonsumenten. Es gibt jede Menge Berichte über Hacker und Troll-Armeen, über bezahlte Kommentatoren, die Großmächte in die digitale Welt entsenden, um Meinungs- und Aufmerksamkeitsströme zu manipulieren und im Akkord Kampagnen anzuzetteln und Stimmung zu machen. Man kann leicht herausfinden, dass selbst Augenzeugenvideos, also scheinbar besonders authentische Dokumente, zum Instrument der Propaganda geworden sind und von NGOs und Aktivisten gezielt benutzt werden – ganz gleich, ob dies im Syrienkrieg, in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern oder irgendeinem anderen Konfliktherd der Welt geschieht. Es ist bekannt, dass PR-Leute das Netz als ein besonders leicht manipulierbares System feiern und dass Unternehmen und Lobbyorganisationen für Postings und Empfehlungen ihrer Produkte und Positionen bezahlen, Wikipedia-Artikel gezielt umbauen und Klick- und Like-Wunder fingieren. Und man weiß, dass der britische Geheimdienst GCHQ darüber nachdenkt, wie sich soziale Netzwerke und Blogs für Rufmordkampagnen einsetzen lassen, und sich mit der Frage befasst, wie sich Klickzahlen und Online-Umfragen gezielt manipulieren lassen. (Die entsprechenden Strategiepapiere hat der Journalist Glenn Greenwald zugänglich gemacht.) Darüber hinaus gibt es tatsächlich gute Gründe, sich zu fragen, wer eigentlich spricht, wenn scheinbar die Masse online die Stimme erhebt. Handelt es sich um Menschen oder um Maschinen? Hat man es mit realen Personen, bezahlten Propagandisten oder mit Fake-Accounts zu tun, von denen es angeblich, wie Journalisten argwöhnen, bis zu 100 Millionen auf den großen Plattformen geben soll? Es ist offensichtlich, dass die Integrität und die Identität des Kommunikators – dies sind zentrale Ankerpunkte zur Einschätzung von Glaubwürdigkeit und Wahrheit – in der digitalen Öffentlichkeit fundamental dubios geworden sind. Das Problem für den vor dem Vorhang sitzenden Medienkonsumenten besteht darin, dass er einerseits zu viel weiß, um noch fraglos zu vertrauen, aber andererseits zu wenig exaktes Wissen besitzt, um unter den gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen klar zu entscheiden, mit wem er es eigentlich zu tun hat. Man weiß zu viel diffus und zu wenig genau.

Dieses Dilemma lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wenn man die Erfolge des sogenannten Roboterjournalismus betrachtet. Hier geht es um automatisiert erstellte Texte, die längst öffentlich kursieren, die sich aber nicht mehr eindeutig einschätzen und zuordnen lassen. Eigentlich ist dies ein ganz undramatisches Beispiel, aber eben doch ein Symptom einer typischen Erkenntnissituation des digitalen Zeitalters. Denn auch hier stellt sich die Frage: Wer spricht eigentlich, wer schreibt überhaupt? Bekommt man als Leser womöglich einen maschinell erstellten Bericht zu lesen? Ganz konkret: Als sich am 17. März 2014 ein Erdbeben in Los Angeles ereignete und die Software Quakebot durch Signale des U.S. Geological Survey alarmiert wurde, lieferte Quakebot blitzschnell eine Meldung, die die Los Angeles Times bereits nach drei Minuten veröffentlichte.11 Das heißt: Hier warnte die Maschine den Menschen, hier schrieb eine Software. Noch war die Warnnachricht entsprechend markiert, aber im Prinzip ist dies der Turing-Test in verdeckter Form, dieses Mal unter Hochgeschwindigkeitsbedingungen und im Mini-Format einer Meldung. Und Fakt ist: Die altehrwürdige amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) bringt bereits heute Tausende Berichte in Umlauf, die – maschinell erstellt – mal vom Wetter, dann von Sportereignissen oder auch von Wirtschaftsnachrichten handeln. Zukünftig will man bis zu 80 Prozent des Nachrichtenangebotes von Computerprogrammen schreiben lassen. Nur folgerichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die New York Times ihren Lesern einmal spaßeshalber ein paar Textstellen zur Auswahl vorgelegt hat, um sie dann mit einem Quiz zu konfrontieren, das sehr direkt an Alan Turings Urfrage erinnert: »Did a Human or a Computer Write This?« Die Anschlussfrage lautet jedoch: Was soll ein Leser aus einem solchen Verwirrspiel schließen? Natürlich, er kann konkret und in diesem Fall mit Hilfe der Zeitungsmacher entscheiden, wie sich das Rätsel lösen lässt, aber bekommt grundsätzlich mitgeteilt, dass es womöglich längst Maschinen sind, die Texte schreiben, die er als Schriftstücke von Menschen wahrnimmt.