Die große Uhr - Fearing Kenneth - E-Book

Die große Uhr E-Book

Fearing Kenneth

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Beschreibung

George Stroud ist Borderline-Alkoholiker, Serien-Ehebrecher, Kunstsammler und Chefredakteur des True-Crime-Magazins "Crimeways". Seine neueste Affäre, Pauline Delos, ist ausgerechnet die Geliebte seines Arbeitgebers, des mächtigen Verlagsunternehmers Earl Janoth. Pauline Delos wird ermordet, und Janoth erfährt von ihrer Affäre. Um den Rivalen aufzuspüren und als ­Mörder dingfest zu machen, spannt er das gesamte Investigativteam des Verlagshauses ein, unter der Leitung von George Stroud, der nun zur Jagd auf sich selbst gezwungen ist. Geschickt behindert Stroud die Erfolgschancen der Ermittlungen, doch Schritt für Schritt tastet sich das Team näher an die Wahrheit heran …

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Ähnliche


Kenneth Fearing

Die große Uhr

Ein Klassiker des Noir-Thrillers

Herausgegeben vonMartin Compart

INHALT

Die große Uhr

George Stroud I

George Stroud II

George Stroud III

George Stroud IV

George Stroud V

Earl Janoth I

Earl Janoth II

Steve Hagen

George Stroud VI

George Stroud VII

Edward Orlin

George Stroud VIII

Earl Janoth III

Georgette Stroud

Emory Mafferson

George Stroud IX

Louise Patterson

George Stroud X

George Stroud XI

Nachwort von Martin Compart

Impressum

GEORGE STROUD I

Pauline Delos ist mir zum ersten Mal auf einer jener unendlich wichtigen Parties begegnet, zu denen Earl Janoth alle zwei bis drei Monate einlud – ausgewählte Mitarbeiter, persönliche Freunde, diskrete Millionäre und öffentlichkeitssüchtige Nobodys, in beliebiger Reihenfolge. An diesem Abend hatte er die Gäste in sein Haus in den East Sixties gebeten. Und obwohl es sich streng genommen nicht um eine öffentliche Veranstaltung handelte, ließen sich während der zwei bis drei Stunden mehr als hundert Besucher dort blicken.

Ich selbst kam in Begleitung von Georgette; man stellte uns sofort Edward Orlin von Futureways vor – und anderen Anwesenden, die unschwer als Teile des Teams zu erkennen waren. Pauline Delos kannte ich bisher nur dem Namen nach. Zwar gab es kaum jemanden in der Firma, der nicht schon eine ganze Menge über diese Dame wusste, doch die allerwenigsten hatten sie tatsächlich zu Gesicht bekommen – und es gab fast niemanden, der sie auf einer Veranstaltung gesehen hatte, bei der auch Janoth zugegen war. Sie war groß, eisblond und umwerfend. Dem Auge bot sie nichts als pure Unschuld, doch die Instinkte witterten heiße Erotik, und der Verstand spürte die Nähe der Sünde.

«Earl hat noch vor einer Minute nach Ihnen gefragt», sagte Orlin. «Er will Sie wohl jemandem vorstellen.»

«Ich bin aufgehalten worden. Soeben habe ich zwanzig Minuten mit Präsident McKinley geplaudert.»

Miss Delos wurde offenbar neugierig. «Mit wem, sagten Sie?»

«William McKinley. Unser vierundzwanzigster Präsident.»

«Ich weiß», sagte sie und lächelte. Ein wenig. «Sie haben vermutlich eine Menge Klagen zu hören bekommen.»

Ein Mann, den ich als Emory Mafferson kannte, ein kleiner dunkler Kerl, der in den unteren Etagen hauste, bei Futureways, glaube ich, meldete sich zu Wort.

«In der Rechnungsprüfung gibt es einen Typen mit eisernem Gesicht, wie McKinley. Wenn Sie den meinen, da hat es Beschwerden gegeben, jede Wette.»

«Nein. Ich habe wirklich und wahrhaftig mit Mr. McKinley gesprochen. An der Bar im Silberstreif.»

«Das stimmt», bestätigte Georgette. «Ich war auch dabei.»

«Ganz genau. Und er hat sich überhaupt nicht beklagt. Er kommt offenbar gut zurecht.» Ein Tablett glitt vorüber, und ich griff nach einem weiteren Manhattan. «Er steht natürlich nicht unter Vertrag. Ist aber trotzdem oft im Einsatz. Außer dass er den McKinley gibt, tritt er gelegentlich als Richter Holmes, Thomas Edison, Andrew Carnegie, Henry Ward Beecher oder sonst jemand aus dem Kreis der großen Honoratioren auf. Er kann gar nicht mehr sagen, wie oft er schon Washington, Lincoln und Christoph Kolumbus war.»

«Das ist aber ein wirklich praktischer Freund», sagte Delos. «Wer ist er?»

«Sein weltliches Pseudonym lautet Clyde Norbert Polhemus. Jedenfalls für berufliche Zwecke. Ich kenne ihn seit Jahren, und er hat mir eine Rolle als Zweitbesetzung versprochen.»

«Was hat er angestellt?», erkundigte sich Orlin zögerlich. «Klingt so, als hätte er eine ganze Geisterbande beschworen und würde sie jetzt nicht mehr los.»

«Funktechnik», sagte ich. «Kontakte in alle Sphären.»

Und das war auch schon alles bei meiner ersten Begegnung mit Pauline Delos. Der Rest des Spätnachmittags und frühen Abends verging wie stets in diesem behaglichen kleinen Palast – gelegen inmitten großer und kleiner Paläste, die zu größeren und kleineren Königreichen gehörten, als Janoth Enterprises eines war. Althergebrachte Konversation mit neuen Gesichtern. Georgette und ich plauderten mit der Nichte eines Kaufhauses. Selbstverständlich wollte die Nichte Neuland erobern. Ohnehin würde sie einige Hektar des alten Reiches erben. Ich begegnete einem Riesen in der Welt der Mathematik; er hatte eine Reihe von Rechenmaschinen zu einer einzigen verbunden, und dieser Superrechner war jetzt der größte der Welt. Die Maschine konnte Gleichungen lösen, die jenseits der Vorstellungskraft ihres Erfinders lagen. Ich sagte: «Damit sind Sie größer als Einstein. Jedenfalls wenn Sie Ihre Maschine dabei haben.»

Er blickte mich unsicher an, und mir fiel auf, dass ich ein wenig betrunken war.

«Ich glaube nicht. Es handelt sich um ein rein mechanisches Problem, entwickelt für ganz spezielle Aufgaben.»

Ich konzedierte also, er sei vielleicht nicht der beste Mathematiker der Welt, aber gewiss der schnellste; anschließend redete ich mit einem kleinen juristischen Rädchen einer großen politischen Maschinerie. Und danach mit Janoths neuester Erfindung aus der Welt der Lifestyle-Leitartikler. Und mit vielen anderen, darunter einige verdammt wichtige Leute, die das aber nicht wussten. Einige hatten keinen blassen Schimmer, dass sie echte Gentlemen waren oder Gelehrte. Andere ahnten noch nicht, dass sie eines Tages zu den prominenten Flüchtlingen zählen würden, verfolgt von den Hütern des Gesetzes. Ein ganzer Trupp Verrückter, die man niemals verdächtigt hatte und die nie in Verdacht gerieten. Bemerkenswerte Insolvenzen künftiger Zeiten und rätselhafte Suizide – in zehn oder zwanzig Jahren, von heute an gerechnet. Womöglich eines Tages ruhmreiche Mörder. Oder die Väter und Mütter wahrhaft bedeutender Menschen, die mir nie begegnen würden.

Kurzum: Die große Uhr tickte wie gewöhnlich, und es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Manchmal rasten die Zeiger der Uhr, und manchmal ruckten sie unmerklich vor. Der Uhr war das vollkommen gleichgültig. Die Zeiger mochten rückwärts laufen, die Zeit, die sie anzeigten, wäre dennoch die richtige. Sie liefe einfach weiter wie gewöhnlich, weil alle anderen Uhren sich nach der einen großen zu richten hatten, die sogar über den Kalender herrscht und an der jedermann ganz automatisch sein gesamtes Leben ausrichtet. Verglichen mit diesem Uhrwerk zählte der Mann mit der Rechenmaschine immer noch mit den Fingern.

Wie dem auch sei, jedenfalls war es an der Zeit, dass ich Georgette einsammelte und nach Hause fuhr. Ich fahre immer nach Hause. Vielleicht gelegentlich mit einem kleinen Umweg, aber am Ende lande ich immer dort. Zu Hause – laut Fahrplan der Bahn waren es 37,4 Meilen dorthin; aber selbst wenn es 3740 Meilen wären, ich würde es immer schaffen. Plötzlich tauchte Earl Janoth von irgendwoher auf, und wir verabschiedeten uns.

Es gab etwas, das ich immer wieder in Janoths großem, rosarotem und etwas grobem Gesicht zu erkennen glaubte, einem Gesicht, das in einem leisen Lächeln erstarrt war, das er schon vor langer Zeit vergessen hatte – und in seinem offenen und unschuldigen Blick, der das Gegenüber gar nicht mehr bemerkte. Janoth richtete sich nicht nach der großen Uhr. Er wusste nicht einmal, dass eine solche Uhr überhaupt existierte. Der große, graue und angespannte Muskel hinter jenem Kinderblick bewegte sich nach Regeln, die der Alltagswelt ganz unbekannt blieben. Dieser Muskel mit seinen langen Sehnen hatte sich an einen Gedanken geheftet, einen Gedanken, der sehr fern von jenem jovialen Ausdruck lag, den die äußere Hülle des Gesichts irgendwann angenommen hatte und der dort hängen geblieben war, einsam und verlassen. Eines Tages würde der Gedanke reifen, und der Muskel würde zuschlagen. Vermutlich war das früher schon einmal geschehen. Und er würde es wieder tun.

Janoth erklärte, wie hübsch Georgette aussähe, was zutraf; sie erinnere ihn immer an Karneval und Halloween und die wildesten Baseballspiele der Geschichte, und wie immer lag eine spürbare und außerordentliche Wärme in seiner Stimme, als spräche eine ganz andere, eine dritte Person.

«Einer meiner alten Freunde, Major Conklin, musste leider früh aufbrechen», wandte er sich an mich. «Ihm gefällt die neueste Entwicklung bei Crimeways. Ich habe ihm erzählt, Sie seien der versierte Bluthund, der uns zu neuen Interpretationen führt, und er war sehr interessiert.»

«Tut mir leid, dass ich ihn verpasst habe.»

«Larry hat kürzlich ein paar Friedhofsmagazine übernommen, und er möchte sie irgendwie entwickeln. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ein Mann mit Ihrer praktischen Erfahrung und Ihrem Scharfsinn ihm wirklich raten kann. Er braucht wohl einen Geomantiker.»

«Es war ein schöner Abend, Earl.»

«Nicht wahr? Gute Nacht.»

«Gute Nacht.»

Wir bahnten uns den Weg durchs Foyer, an einem hochpolitischen Streit entlang und mitten durch eine Gruppe von Leuten, die hier schon lange hockten und denen Gott am nächsten Morgen nicht beistehen würde; dann schoben wir uns behutsam an einem Paar vorbei, das plötzlich in hilfloser Wut lächelnd erstarrte.

«Wohin?», fragte Georgette.

«Ein kleiner Umweg. Nur zum Abendessen. Und anschließend natürlich nach Hause.»

Während wir unsere Garderobe holten und ich noch auf Georgette wartete, sah ich, wie Pauline Delos mit drei anderen Gästen in die Nacht hinaustrat. Um diesen Planeten zu verlassen. Also jedenfalls ganz beiläufig. Meine Gedanken aber flehten sie an, zurückzukehren. Jederzeit.

Im Taxi fragte Georgette: «George, was ist ein Geomantiker?»

«Keine Ahnung, George. Earl hat es im größten Wörterbuch der Welt gelesen und sich auf die Manschette geschrieben, und nun wissen wir alle, warum er der Boss ist. Erinnere mich doch bitte daran, dass ich es nachschlage.»

GEORGE STROUD II

Ungefähr fünf Wochen später erwachte ich an einem Januarmorgen, und das Erste, woran ich dachte, war ein Brief, den Bob Aspenwell mir aus Haiti geschrieben hatte. Keine Ahnung, warum gerade dieser Brief mir in den Sinn kam, als der Schlaf sich verflüchtigte. Ich hatte ihn schon vor etlichen Tagen bekommen. Er handelte von der Wärme dort, der Leichtigkeit und vor allem vom einfachen Leben.

Bob sprach von einer «Schwarzen Republik», und ich lächelte im Schlaf beim Gedanken an Bob und mich selbst, wie wir dort eine Revolte der Weißen anzettelten, fest entschlossen, uns nicht von Crimeways kaufen zu lassen. Und dann erwachte ich tatsächlich.

Ein Montagmorgen. In der Marble Road. Ein wichtiger Montag.

Gemeinsam mit Roy Cordette hatte ich eine Teambesprechung für die April-Ausgabe angesetzt – eine jener Wundertüten-Veranstaltungen, die die Egos und die Fantasie gleichermaßen beflügeln. Die große Uhr tickte in einem gemächlichen Tempo, und ich selbst konnte bequem Schritt halten.

An diesem Morgen aber fiel mir ein Büschel grauer Haare an der rechten Schläfe ins Auge, und ich begriff, dass der Zeiger auf dem großen Ziffernblatt wieder eine Strecke zurückgelegt hatte. Und schon steckte ein vertrautes Bild im Kopf – von Sterblichkeit und seniler Hilflosigkeit.

Wer ist bloß dieser armselige weißhaarige alte Knabe, der da drüben am Tisch Papiere abheftet? Die Frage einer jungen, lebendigen Stimme. Schnell schaltete ich sie ab und wechselte zu einer anderen: Wer ist bloß jener vornehme silberhaarige Herr, ein Intellektueller offenbar, der gerade das Zimmer des Direktors betritt?

Kennen Sie ihn denn nicht? Das ist George Stroud.

Wer ist das?

Nun, das ist eine lange Geschichte. Irgendwann einmal war er der Geschäftsführer unseres kompletten Eisenbahnunternehmens. Eisenbahn? Warum nicht etwas Zukunftsweisenderes? Also: Fluggesellschaft. Er hat diese Gesellschaft durch die ersten Jahre geführt, die Pionierzeit. Heute könnte er eine der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Luftfahrt sein, doch irgendetwas ging schief. Keine Ahnung, was damals vorgefallen ist, es gab jedenfalls einen Riesenskandal. Stroud sollte vor den Geschworenen aussagen, aber die Sache reichte viel zu weit, deshalb wurde alles vertuscht, und er kam davon. Anschließend war er natürlich trotzdem erledigt. Mittlerweile gestatten sie ihm aber, vor Meetings die Unterlagen und Zigarren im Sitzungssaal auszulegen. Ansonsten füllt er in den Büros die Tintenfässer auf und sortiert die Faltblättchen in den Ständern.

Warum behalten sie ihn denn überhaupt noch?

Na ja, einige der Direktoren sind ein wenig sentimental und fühlen sich dem alten Knaben verbunden, außerdem hat er Frau und Tochter, die auf sein Einkommen angewiesen sind. He, Bursche, halt mal diese Papiere. Das ist noch ferne Zukunft. Drei Kinder, nein, ich glaube vier. Brillante junge Leute, und stehen voll hinter Stroud. Kein Wort gegen ihren Vater in ihrer Gegenwart! Sie glauben immer noch, dass er hier den ganzen Laden führt. Und haben Sie mal seine Frau gesehen? Sie sind das zärtlichste ältere Ehepaar, das ich kenne.

Während ich mein Gesicht trockenrieb, schaute ich in den Spiegel. Das dunkle, langweilige und irgendwie auch neugierige Gesicht verhärtete sich. Ich sagte:

«Schauen Sie, Roy, wir müssen wirklich etwas unternehmen.»

In welcher Angelegenheit?

«Mehr Geld für uns herausschlagen.» Ich betrachtete die leichte Wölbung von Roy Cordettes schmaler, langfingriger Hand und bemerkte seinen eiligen Rückzug ins Land der Elfen, Kobolde und Zweideutigkeiten.

George, ich dachte, Sie hätten das alles schon vor drei Monaten mit Hagen besprochen. Wir beide liegen doch ohnehin am oberen Limit. Mit einigem Abstand.

«Wissen Sie zufällig, wo genau dieses Limit liegt?»

Ein Durchschnittswert, der für die gesamte Firma gilt, oder nicht?

«Gilt nicht für mich. Ich habe mich nicht um diesen Job gerissen, um meinen Vertrag, um diesen goldenen Käfig voller kastrierter Vögel. Ich denke, es wird höchste Zeit, dass wir es mal richtig drauf ankommen lassen.»

Machen Sie nur. Meine Gebete begleiten Sie.

«Ich sagte wir. Es geht ja gewissermaßen um Ihren und meinen Vertrag.»

Ich weiß. Und ich meine, George, warum reden wir nicht einmal zu dritt ganz informell darüber? Also Sie und Hagen und ich?

«Eine gute Idee.» Ich griff zum Telefonhörer. «Wann passt es Ihnen?»

Sie meinen heute?

«Warum nicht?»

Okay, ich bin heute Nachmittag ziemlich beschäftigt. Aber in Ordnung. Wenn Steve Zeit hat, dann gegen fünf.

«Viertel vor sechs im Silberstreif. Nach der dritten Runde. Sie wissen schon, Jennett-Donohue will fünf oder sechs neue Magazine präsentieren. Wir sollten das nicht vergessen.»

Ich habe davon gehört, aber wenn Sie mich fragen: Das Niveau ist ziemlich bescheiden. Und das Gerücht kenne ich schon seit einem Jahr.

Eine wirkliche Stimme verscheuchte den Tagtraum.

«George, kommst du herunter? Du weißt doch, George darf den Schulbus nicht verpassen.»

Ich rief zu Georgette hinunter, dass ich schon auf dem Weg sei, und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Und wenn wir uns nun mit Steve Hagen zusammensetzen würden, was dann? In meiner Stirn spürte ich das Blut pulsieren. In geschäftlicher Hinsicht waren er und Janoth ein und dieselbe Person, außer dass durch die Adern in Hagens schlanker, sinnlicher Gestalt unablässig eine ganz neue, unberechenbare Flüssigkeit kreiste, flüssige Bosheit.

Ich kämmte mein Haar vor der Schlafzimmerkommode, und das graue Büschel kehrte in seine gewohnte Form zurück. Zum Teufel mit Hagen. Warum nicht direkt mit Janoth reden? Aber natürlich.

Ich legte Kamm und Bürste auf die Kommode zurück, stützte mich auf die Ellbogen und hauchte den Spiegel an. «Heben Sie die Karten ab, Earl. Der Verlierer verlässt die Stadt in vierundzwanzig Stunden. Der Sieger bekommt den Job.»

Ich band mir die Krawatte, schlüpfte in die Jacke und begab mich nach unten. Georgia betrachtete mich nachdenklich, wie immer stand ihr Teller inmitten einer weiten Landschaft aus Cornflakes. Von unten her tönte das sanfte, gleichmäßige Tock, Tock, Tock, mit dem ihre Füße den Takt der Zeit ans Tischbein schlugen. Der Tisch stand nah am Fenster, und ein breiter Sonnenstrahl fiel darauf und ließ das Silber leuchten, den Kaffeefilter, die Gesichter von Georgia und Georgette. Von der Anrichte her warfen Teller noch mehr Licht gegen die Wand, und es schien, als hinge mein zweitliebstes Gemälde von Louise Patterson, gerahmt in Walnussholz, himmelhoch in den Wolken über der Anrichte, über dem Zimmer, über dem Haus. Ein zweites Bild von Patterson hing an der gegenüberliegenden Wand, und oben gab es noch zwei weitere.

Georgette wandte mir ihr großes, strahlendes und jugendliches Gesicht zu, ihre meerblauen Augen musterten mich mit kritischer, aber freundlicher Neugierde. Ich sagte Guten Morgen und küsste die beiden. Georgette rief, Nellie möge nun die Eier und Waffeln bringen.

«Orangensaft», sagte ich und trank meinen. «Diese Orangen haben mir soeben berichtet, dass sie aus Florida stammen.»

Meine Tochter blickte mich verdutzt an. «Ich habe nichts gehört», sagte sie.

«Hast du nicht? Eine von ihnen sagte, dass sie alle von einer großen Farm bei Jacksonville stammen.»

Georgia dachte darüber nach, schüttelte dann ihren Löffel und verwarf die Geschichte. Sie schwieg volle zwanzig Sekunden, dann schien ihr etwas eingefallen zu sein, und sie fragte: «Mit welchem Mann hast du gesprochen?»

«Ich? Ein Mann? Wann? Wo?»

«Gerade. Oben. George sagte, du redest mit einem Mann. Wir haben dich gehört.»

«Oh.»

Georgettes Stimme klang gleichgültig, doch unter dieser Gleichgültigkeit verbarg sich die unschuldige Spannung des unbeteiligten Zuhörers, der einem Streitgespräch in der Kneipe lauscht und den ersten blutigen Hieben entgegenfiebert.

«Ich dachte, du erklärst es am besten selbst», sagte sie.

«Also, dieser Mann, George. Das war ich, bei einer Probe. Musiker müssen sehr viel üben, bevor sie wirklich musizieren. Sportler trainieren vor dem Rennen, und Schauspieler proben ihren Auftritt.» Ich registrierte Georgettes schweigenden Beifall. «Und ich gehe morgens eben immer ein paar Worte durch, bevor ich mit dem Reden beginne. Dürfte ich bitte ein paar Kekse haben?»

Georgia bedachte meine Worte und vergaß sie. Sie sagte: «George hat mir versprochen, dass du mir eine Geschichte erzählst, George.»

«Ich erzähle dir eine Geschichte, in Ordnung. Sie handelt von einem einsamen Cornflake.» Jetzt hatte ich sie gepackt, vollständig. «Mir scheint, da gab es ein kleines Mädchen.»

«Wie alt?»

«Etwa fünf Jahre, glaube ich. Vielleicht waren es auch sieben.»

«Nein, sechs.»

«Richtig, sie war sechs. Also da gab es diese Packung Cornflakes …»

«Wie hieß sie denn?»

«Cynthia. Also diese Cornflakes, viele Hundert, sie wuchsen alle gemeinsam in der gleichen Packung auf, sie spielten zusammen und gingen zusammen zur Schule, sie waren richtig dicke Freunde. Doch eines Tages wurde die Packung aufgerissen, und die ganze Schar landete in Cynthias Schüssel. Sie goss Milch und Sahne und Zucker in die Schüssel, und dann aß sie eines der Cornflakes. Und nach einer Weile begann dieses Cornflake drinnen in Cynthias Magen sich zu fragen, wann alle ihre Freunde denn nun endlich kommen würden. Aber sie kamen nicht. Und je länger das Cornflake wartete, desto einsamer wurde es. Siehst du, die übrigen Cornflakes kamen nur bis zur Tischdecke, viele von ihnen landeten auf dem Fußboden, einige auf Cynthias Stirn, andere hinter ihren Ohren.»

«Und was dann?»

«Also das ist schon alles. Nach einer Weile fühlte sich das Cornflake so verlassen, dass es sich hinsetzte und einfach nur weinte.»

«Und was tat es dann?»

«Was konnte es denn schon tun? Cynthia wusste ja nicht, wie man die Cornflakes richtig isst, oder vielleicht versuchte sie es auch gar nicht, und so geschah Morgen für Morgen das Immergleiche. Ein Cornflake landete allein und verlassen in Cynthias Magen.»

«Und was dann?»

«Nun, das Cornflake weinte so erbärmlich, dass Cynthia jeden Morgen Bauchschmerzen bekam. Sie wusste aber nicht, warum, denn sie hatte ja eigentlich fast gar nichts gegessen.»

«Und was tat sie dann?»

«Sie ärgerte sich, das tat sie.»

Georgia machte sich über ihre weichgekochten Eier her, denen das Schicksal der Cerealien bevorzustehen schien. Dann aber legte sie den Griff ihres Löffels auf den Tisch und ihr Kinn auf die Spitze des Griffes, sehr nachdenklich, während sie mit den Füßen gegen das Tischbein klopfte. Die Oberfläche des Kaffees in meiner Tasse kräuselte sich sanft bei jedem Tritt ihrer Füße.

«Du erzählst mir immer die gleiche Geschichte», erinnerte sie sich. «Erzähl mir eine andere.»

«Da gibt es noch eine über dieses kleine Mädchen – Cynthia, sechs Jahre alt –, also das gleiche Mädchen wie vorhin, das außerdem die Gewohnheit hatte, beim Essen immer mit den Füßen gegen den Tisch zu treten. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr trat sie ihn und trat sie ihn. Eines schönen Tages aber sprach der Tisch: ‹Nun bin ich es wirklich leid›, er spannte sein Bein und wusch, kickte er Cynthia durchs Fenster hinaus. Was war sie da überrascht!»

Diese Geschichte war ein voller Erfolg. Georgias Füße trommelten doppelt so schnell, und sie verschüttete den Rest ihrer Milch.

«Vorsicht, meine Superheldin», sagte Georgette und wischte die Pfütze auf. Draußen tönte eine Hupe, und Georgette fuhr Georgia mit dem Lätzchen durchs Gesicht. «Der Bus ist da, Liebling. Vergiss deine Sachen nicht.»

Nun fegte eine Sternschnuppe durch die Zimmer im Erdgeschoss und verschwand nach einer Minute, laut pfeifend. Nach einer Weile kehrte Georgette zurück und gönnte sich die erste Zigarette und eine zweite Tasse Kaffee. Sie betrachtete mich durch einen dünnen Rauchschleier und fragte: «Möchtest du nun zurück in die Zeitungsredaktion, George?»

«Um Gottes willen! Ich möchte im Leben keinen Feuerwehrwagen mehr sehen. Jedenfalls nicht, solange ich nicht darin sitze und die Leiter bediene. Der Kerl hinten an der Leiter tut immer das genaue Gegenteil von dem, was auf dem Fahrersitz passiert. Glaube ich jedenfalls.»

«Genau das meine ich.»

«Was meinst du?»

«Du magst Crimeways nicht. Du hältst auch nicht besonders viel von Janoth Enterprises. Du würdest gern in die entgegengesetzte Richtung steuern.»

«Da irrst du dich. Aber komplett. Ich liebe dieses alte Karussell.»

Georgette zögerte, sie war sich nicht sicher. Ich spürte die mühsamen Schritte ihres Denkens, bevor sie sich zu einer These vortastete: «Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch. Glaubst du nicht, George?» Ich versuchte, überrascht zu tun. «Also ich glaube, na ja, also wirklich, mir scheint es jedenfalls, wenn ich so darüber nachdenke, manchmal, dass du viel fröhlicher warst, und ich ebenfalls, als wir noch das Wirtshaus hatten. Stimmt das nicht? Außerdem war es viel lustiger, als du noch als Detektiv beim Pferderennen gearbeitet hast. Ach Gott, und selbst die Nachtschichten beim Radiosender! Es war verrückt, aber es hat mir gefallen.»

Ich beendete mein Frühstück und versank in den gleichen Erinnerungen wie sie. Arbeitszeiterfasser auf einer Baustelle. Privatdetektiv auf der Rennbahn. Kneipenwirt. Laufbursche bei der Zeitung, dann Redakteur, der Job in der Anzeigenabteilung, und schließlich – was? Jetzt?

Ich vermochte nicht zu sagen, welche dieser Erfahrungen mir im Rückblick das größere Vergnügen oder den größeren Ärger bereitet hatten. Und ich wusste, dass es Zeitverschwendung war, diese Frage auch nur zu streifen.

Zeit.

Man klettert wie eine Maus das alte, träge Pendel der großen Uhr hinauf, hangelt sich an ihren großen Zeigern entlang, irrt dann durch die komplizierten Rädchen und die Unruh und die Federn des Uhrwerks, durchsucht das spinnwebenbedeckte Labyrinth der Maschine mit all ihren Scheintüren, den gefährlichen Sackgassen und steilen Pisten, den Fallen und Ködern, immer auf der Suche nach dem wahren Anfang und dem wirklichen Preis.

Dann schlägt die Uhr, es ist eins und Zeit, aufzubrechen, das Pendel herabzuklettern und wieder zum Gefangenen zu werden, der schon bald abermals einen Ausgang sucht.

Denn selbstverständlich hat die Uhr, die die Zeiten vermisst, Gewinn und Verlust, die Luft, die Georgia atmet und Georgettes Energie und die zitternden Ziffern meiner eigenen inneren Skala – diese gewaltige Uhr, die Ordnung schafft und selbst das Chaos in Regeln zwingt, sie hat sich nie geändert, sie wird sich niemals ändern oder ändern lassen.

Ich hatte jetzt, glaube ich, ins Leere geschaut. Ich sagte: «Nein. Ich bin der rundeste Pflock, der dir je begegnet ist.»

Georgette drückte ihre Zigarette aus und fragte: «Nimmst du das Auto?»

Ich dachte an Roy und Hagen und das Silberstreif.

«Nein. Und es könnte spät werden. Ich rufe dich an.»

«In Ordnung, ich fahre dich zum Bahnhof. Vielleicht fahre ich nach dem Mittagessen noch selbst für eine Weile in die Stadt.»

Ich leerte die Kaffeetasse und überflog die Überschriften auf den ersten drei Seiten der Morgenzeitung, entdeckte dort aber nichts Neues. Ein rekordverdächtiger Banküberfall in St. Paul, aber nichts für uns. Während Georgette Nellie ein paar Anweisungen gab, schlüpfte ich in den Mantel, setzte den Hut auf, holte den Wagen aus der Garage und hupte. Als Georgette aus der Haustür trat, rutschte ich auf den Beifahrersitz, und sie übernahm das Lenkrad.

An diesem Morgen war es in der Marble Road frisch, aber nicht kalt, und sehr sonnig. Reste von Schnee, den ein Sturm kürzlich hierhergeweht hatte, bedeckten die braunen Rasenflächen und die fernen Höhenzüge, die sich durch das schwarze Band der Bäume hindurch abzeichneten. Nachdem wir die Marble Road hinter uns gelassen hatten, unser Viertel mit seinen aufstrebenden Managern, gescheiterten Werbeexperten und den immer erfolgreichen Vertriebsleuten, passierten wir die ehrwürdigen, wenn auch ein wenig wettergegerbten großen quadratischen Schachteln der ursprünglichen Einwohner. Am Rande der Stadt, jenseits der Marble Road, lagen weitläufige Anwesen verstreut im Hügelland. Viel Geld und Gold natürlich. Noch drei Jahre, und auch wir würden uns dort einen Bauplatz sichern.

«Heute Nachmittag werde ich hoffentlich die passenden Gardinen finden», sagte Georgette beiläufig. «Letzte Woche hatte ich keine Zeit mehr. Ich war geschlagene zwei Stunden in der Praxis von Doktor Dolson.»

«Ja?» Dann bemerkte ich, dass sie noch etwas sagen wollte. «Wie kommst du mit Doktor Dolson zurecht?»

Sie antwortete, ohne ihre Augen von der Straße abzuwenden. «Er sagt, er glaubt, alles wird gut.»

«Er glaubt? Was heißt das?»

«Er ist sich sicher. So sicher, wie man eben sein kann. Beim nächsten Mal sollte alles in Ordnung sein.»

«Das ist ja großartig.» Ich legte meine Hand auf die ihre, die das Lenkrad hielt. «Warum hast du es geheim gehalten?»

«Na ja. Empfindest du es auch so?»

«Also, was glaubst du, warum bezahle ich Dolson? Ja, das tue ich.»

«Ich habe mich das auch schon gefragt.»

«Tu’s nicht. Wann, sagt er?»

«Schon sehr bald.»

Wir hatten den Bahnhof erreicht, und der Neun-Uhr-acht-Zug acht fuhr gerade ein. Ich gab ihr einen Kuss, einen Arm auf ihrer Schulter, mit der anderen Hand tastete ich nach dem Türöffner.

«Sehr bald also. Pass auf, dass du nicht auf eisigen Bügersteigen ausrutschst.»

«Ruf mich an», sagte sie noch, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Ich nickte und eilte zum Bahnhof. Am Kiosk drinnen kaufte ich mir noch eine Zeitung und ging weiter. Zeit genug. Ich sah einen Sportler laufen, einen Block entfernt.

Die Zugfahrt begann für mich stets mit den Stellenanzeigen, meiner Lieblingsrubrik in allen Zeitungen, dann folgten die Versteigerungen, ein Blick in den Sportteil, Versicherungsstatistiken und schließlich die Unterhaltung. Wenn der Zug sich schließlich in die Erde bohrte, stimmte ich mich auf den Tag ein, indem ich zum Inhaltsverzeichnis blätterte und die Kurztexte zu den Hauptnachrichten las. Gab es etwas Wichtiges, wusste ich Bescheid, während wir zu Hunderten und Tausenden den großen Ameisenhaufen des Bahnhofs durchquerten – und während wir alle an einem raffinierten Muster webten, wusste doch jeder Einzelne von uns ganz genau, wohin er ging und was er tat.

Fünf Minuten später und zwei Blocks vom Bahnhof entfernt stand ich vor dem Janoth Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragte. Es schien Menschenopfer, Opfer des Fleisches und des Geistes, allen anderen Zeichen der Ehrerbietung vorzuziehen. Tag für Tag brachten wir dieses Opfer dar.

Ich betrat das hallende Foyer mit meiner Opfergabe.

GEORGE STROUD III

Janoth Enterprises belegte die oberen neun Etagen des Janoth Building; wir waren keineswegs das größte Unternehmen dieser Art in den Vereinigten Staaten. Jennett-Donohue war das größere Zeitschriftenkonsortium; das galt auch für Beacon Publications und Devers & Blair. Dennoch nahm unsere Firma ihren ganz speziellen Platz ein und zählte bei weitem nicht zu den kleinsten unter jenen Verlagen, die Nachrichten und Geschichten veröffentlichten und dabei Politik, Wirtschaft und den Bereich der Technik abdeckten.

Newsways war das größte und bekannteste Magazin unserer Gruppe, eine wöchentlich erscheinende General-Interest-Zeitschrift mit einer Auflage von knapp zwei Millionen. Diese Redaktion residierte in der 31. Etage. Darüber, im obersten Stockwerk des Gebäudes, waren die zentralen Abteilungen untergebracht – Anzeigenabteilung, Rechnungsprüfung, Vertrieb; dazu kamen die Büros von Earl und Steve Hagen.

Commerce war eine Wochenzeitschrift für die Wirtschaft mit einer Gesamtauflage von einer Viertelmillion – also weit unterhalb der tatsächlichen Zahl der Leser und wenig angesichts des Einflusses, den das Blatt besaß. Verknüpft damit waren ein vierseitiges Tages-Bulletin namens Trade und ein stündlicher Depeschendienst, Commerce Index. Sie alle befanden sich in der 30. Etage.

Die 29. Etage beherbergte eine große Auswahl an Fachzeitschriften und -zeitungen, die meisten erschienen monatlich. Das Spektrum reichte von Sportland bis The Frozen Age (Nahrungsmittel), The Actuary (Statistiken), Frequency (Radio und Fernsehen) oder Plastic Tomorrow. Insgesamt gab es auf dieser Etage elf oder zwölf solcher Publikationen im Sinne von «Was kommt als nächstes?» oder «Wie helfe ich mir selbst?», keine mit hoher Auflage und einige davon Überbleibsel einer spontanen Inspiration von Earl Janoth, die dieser selbst vermutlich längst vergessen hatte.

Die nächsten beiden Etagen, nach unten hin, enthielten das Archiv, die Bibliothek und die Sammlung allgemeiner Nachschlagewerke, außerdem die Abteilungen für Grafik und Bildredaktion, einen häufig genutzten Erste-Hilfe-Raum, Toiletten, die Telefonzentrale und ein Büro für allgemeine Auskünfte.

Die klügsten Köpfe des Unternehmens waren selbstverständlich in der 26. Etage versammelt. Dort befand sich Crimeways mit Roy Cordette als Mitherausgeber (Zimmer 2618), mir selbst als Chefredakteur (Zimmer 2619), den Redaktionsassistenten Sydney Kislak und Henry Wyckoff (Zimmer 2617) und sechs Journalisten in angrenzenden Kabinen. Theoretisch waren wir das Polizeihandbuch des Landes, Wächter über die Geldbörsen und Gewissen der Bürger, mitunter auch über Moral und Tischsitten und was uns sonst noch so alles einfiel. Wir waren die Diagnostiker des Verbrechens; und wenn das FBI einmal im Monat vor die Presse treten musste, waren wir zur Stelle. Wollte der Wachtmeister von Twin Oaks, Nebraska, als scharfsinniger Sozialkritiker hervortreten oder sollte die Nationalversammlung Protestantischer Bischöfe ein gewisses Maß an Unterstützung benötigen, waren wir zur Stelle. Kurz gesagt, wir dienten als Wetterbericht der nationalen Gesundheit, wir dokumentierten die Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart und wir prognostizierten künftige Straftaten. Jedenfalls hatten wir all dies so oder ähnlich irgendwann einmal von uns behauptet.

Gemeinsam mit uns waren auf der 26. Etage noch vier weitere Zeitschriften mit vergleichbarem Konzept untergebracht: Homeways (mehr als nur eine Illustrierte für den gepflegten Haushalt), Personalities (nicht nur die Erfolgsgeschichte des Monats), Fashions (der Mensch, nicht die Kleidung) und The Sexes (Affären, Hochzeiten, Scheidungen).

Und schließlich gab es noch zwei Stockwerke unter uns; dort fanden sich die Abteilungen für Tiefenrecherche, für PR und Büromaterial, die Personalabteilung und eine neue Einrichtung namens Futureways, die einer planmäßigen sozialen Evolution gewidmet war – ein Unterfangen, das in ein eigenständiges Heft münden konnte, in eine neue Zeitschrift, eine Ansprache nach irgendeinem Dinner oder das ganz einfach spurlos wieder verschwindet. Edward Orlin und Emory Mafferson gehörten beide zu diesem Team.

So also war das Hauptquartier von Janoth Enterprises beschaffen. Büros in einundzwanzig Großstädten der Vereinigten Staaten und fünfundzwanzig im Ausland schaufelten täglich und stündlich Nahrung in dieses Nervenzentrum. Versorgt wurden die Büros von reisenden Korrespondenten, von prominenten Wissenschaftlern, Gelehrten und Technikern in allen Winkeln der Erde. Janoth Enterprises war ein Imperium der Informationsbeschaffung.

Jede Zeitschrift des Unternehmens konnte, falls nötig, die Hilfe ausgewählter Kanäle anfordern. Oder aller. Crimeways tat das regelmäßig.

Wir hatten nach dem verschollenen Bankier Paul Isleman gesucht und ihn gefunden. Dieser Erfolg ging auf meine Rechnung. Und wir hatten die Rechtsabteilung, die Rechnungsprüfung und ein Dutzen Helfer aus unserem eigenen Team und anderen Redaktionen eingespannt, um Islemans raffinierte Betrügereien aufzudecken, während einer unserer besten Autoren, Bert Finch, einen ganzen Monat brauchte, um Islemans kompliziertes Geschäftsgebaren allgemein verständlich aufzubereiten.

Und wir fanden den Mann, der Mrs. Frank Sandler getötet hatte, und dabei schlugen wir die Polizei um drei Zehntelsekunden. Auch dieser Sieg ging auf George Stroud. Ich konnte den Kerl mit Unterlagen aus dem eigenen Archiv identifizieren – mit einigen Mitarbeitern, die ich für diesen Job ausgewählt hatte.

Von meinem Büro aus eilte ich jetzt direkt in das von Roy und hielt nur kurz an, um Hut und Mantel abzulegen. Alle saßen sie in Zimmer 2618, sie wirkten müde, aber entschlossen und irgendwie gedankenverloren. Nat Sperling, ein großer, dunkler und etwas ungeschickter Mann, redete mit seiner gleichförmigen Stimme und schaute dabei in seine Aufzeichnungen.

«… auf einer Farm rund 30 Meilen vor Reading. Der Kerl verwendete eine Flinte, einen Revolver und eine Axt.»

Roys ferner, fragender Blick glitt von mir zurück zu Sperling. Geduldig hakte er nach: «Und?»

«Es war eines jener blutigen und ganz unverständlichen Massaker, die einfach von Zeit zu Zeit an diesen völlig abgelegenen Orten geschehen.»

«In Reading haben wir einen Mann», dachte Roy laut nach. «Aber wo liegt der Punkt?»

«Die Trefferzahl», sagte Nat. «Vier Personen, eine ganze Familie. Also wirklich Mord in großem Stil, ganz unabhängig vom Ort.»

Roy seufzte und erwiderte leichthin: «Reine Zahlen haben nichts zu bedeuten. Jeden Tag werden Dutzende Menschen ermordet.»

«Aber nicht vier auf einen Streich, vom gleichen Täter.»

Sydney Kislak, der auf einer breiten Fensterbank in Elliots Rücken hockte, warf eine muntere Fußnote ein: «Wahl der Waffen. Drei verschiedene.»

«Aber worum ging es überhaupt?», fragte Roy.