Die große Verantwortung - Bettina Clausen - E-Book

Die große Verantwortung E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Cornelia Köstler ging mit ihrem vierjährigen Schwesterchen Gabriele einkaufen. Ihr Bruder war schon vorausgelaufen. Er hieß Helmut und war sieben Jahre alt. An einem Fenster des großen Mietshauses wurde ein Vorhang zurückgeschoben. »Die armen Kinder«, sagte Luise Müller, eine Nachbarin der drei Geschwister. »Wen meinst du?«, erkundigte sich ihre Freundin, die an diesem Tag zum Kaffee eingeladen worden war. »Die Köstler-Geschwister, Conny, die Älteste, muss ihren kleinen Geschwistern Mutter und Vater gleichzeitig ersetzen.« »Liegt der Vater der Kinder noch immer im Krankenhaus?« Luise Müller nickte. »Und so schnell wird er auch nicht herauskommen. Nach einem Unfall musste ihm das rechte Bein amputiert werden. Wenn die Kinder wenigstens ihre Mutter noch hätten … Aber die ist vor einigen Wochen ganz plötzlich gestorben. Jetzt stehen die Kinder ganz allein da.« »War Herr Köstler nicht Lehrer an unserer Schule?«, erkundigte sich die Freundin von Luise Müller interessiert. »Ja, das war er. Aber natürlich musste sich die Schule nach einem anderen Lehrer umsehen. Er liegt ja nun schon fast ein Vierteljahr im Krankenhaus.«

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Seitenzahl: 134

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sophienlust – 541 –Die große Verantwortung

Bettina Clausen

Cornelia Köstler ging mit ihrem vierjährigen Schwesterchen Gabriele einkaufen. Ihr Bruder war schon vorausgelaufen. Er hieß Helmut und war sieben Jahre alt.

An einem Fenster des großen Mietshauses wurde ein Vorhang zurückgeschoben. »Die armen Kinder«, sagte Luise Müller, eine Nachbarin der drei Geschwister.

»Wen meinst du?«, erkundigte sich ihre Freundin, die an diesem Tag zum Kaffee eingeladen worden war.

»Die Köstler-Geschwister, Conny, die Älteste, muss ihren kleinen Geschwistern Mutter und Vater gleichzeitig ersetzen.«

»Liegt der Vater der Kinder noch immer im Krankenhaus?«

Luise Müller nickte. »Und so schnell wird er auch nicht herauskommen. Nach einem Unfall musste ihm das rechte Bein amputiert werden. Wenn die Kinder wenigstens ihre Mutter noch hätten … Aber die ist vor einigen Wochen ganz plötzlich gestorben. Jetzt stehen die Kinder ganz allein da.«

»War Herr Köstler nicht Lehrer an unserer Schule?«, erkundigte sich die Freundin von Luise Müller interessiert.

»Ja, das war er. Aber natürlich musste sich die Schule nach einem anderen Lehrer umsehen. Er liegt ja nun schon fast ein Vierteljahr im Krankenhaus.«

»Aber hör mal, Luise, du willst doch nicht etwa behaupten, dass die drei Kinder ganz allein sind? Ich meine, irgendjemand muss sich doch um sie kümmern?«

Luise Müller zog die Schultern hoch. Es sah wie eine Entschuldigung aus. »Anfangs haben wir uns ja auch alle der Kinder angenommen. Ich habe ihnen jeden Mittag etwas zu essen gebracht, und eine Nachbarin im vierten Stock hat sich um die Wohnung und um die Wäsche der Kinder gekümmert. Aber schließlich hat man ja auch seine eigenen Sorgen. Vorübergehend habe ich gern geholfen. Aber es wurde ja ein Dauerzustand daraus.«

»Warum kümmert sich denn das Jugendamt nicht um die Kinder? Für so etwas ist es doch schließlich da!«

»Sie haben ja auch zu helfen versucht«, erwiderte Luise Müller leise. »Aber keine Familie war bereit, gleich drei Kinder aufzunehmen. Und trennen wollen sich die Geschwister nicht.«

»Das ist ja auch verständlich«, erklärte Luises Freundin voller Mitleid. Doch dabei blieb es. Wie immer. Die Geschwister taten allen leid. Aber ernstlich helfen wollte niemand.

Inzwischen hatte Cornelia, von ihren Geschwistern nur Conny genannt, das Lebensmittelgeschäft betreten.

»Musst du viel einkaufen, Conny?«, erkundigte sich die vierjährige Gabriele und blickte zu ihrer Schwester hoch. Sie hätte Conny gern gebeten, ein paar Bonbons zu kaufen. Doch sie wagte es nicht. Conny hatte ihr erklärt, dass sie nur noch ganz wenig Geld besaßen. Das müssten sie nun sehr vorsichtig einteilen, um davon leben zu können. So ganz verstand Gabi zwar nicht, wie dieses Geld einteilen vor sich ging. Aber Conny war so klug. Sie wusste das bestimmt.

»Nein, Gabi, ich kaufe nur ganz wenig ein«, antwortete Conny. »Nur das Allernotwendigste. Wir wollen doch Vati auch noch ein kleines Geschenk mitbringen, wenn wir ihn im Krankenhaus besuchen.«

Gabi nickte eifrig und war auch schon bereit, auf die Süßigkeiten zu verzichten.

Da beugte sich die Ladeninhaberin über den Tisch und steckte ihr eine Handvoll Bonbons zu. »Oh!«, hauchte Gabi, ganz überwältigt vor Freude. Dann strahlte sie die Verkäuferin mit ihren großen braunen Augen glücklich an. »Danke!«

Helmut trat zu ihr, und Gabi teilte die Bonbons redlich mit ihm. Auch für Conny ließ sie noch zwei übrig. Dann genoss sie das unerwartete Geschenk sichtlich.

Conny hatte sich auf einem Zettelchen die Lebensmittel aufgeschrieben, die ihr ausgegangen waren. Auf dem Ladentisch lagen bereits ein Brot, ein Päckchen Nudeln und Milch. »Wir brauchen aber auch noch Marmelade«, sagte Conny und blickte auf ihren Zettel. Da stand zwar auch noch Butter und Honig, aber diese Dinge waren zu teuer. Conny zitterte ohnehin schon, ob das wenige Geld im Geldbeutel für die eingekauften Sachen reichen würde.

»Was für Marmelade möchtest du denn, Conny?«, fragte die Verkäuferin, die gleichzeitig die Besitzerin des kleinen Ladens war. »Wir haben Erdbeer-, Himbeer-, Aprikosenmarmelade und noch viele andere Sorten.«

»Die billigste, bitte«, bat Conny mit niedergeschlagenen Augen.

Da stellte ihr die Verkäuferin ein Glas ihrer besten Erdbeerkonfitüre hin und berechnete nur den halben Preis. Sie wusste genau, dass die Kinder Erdbeermarmelade am liebsten aßen. Als sie die einzelnen Posten zusammengezählt hatte, nannte sie Conny den Preis.

Mit zitternden Fingerchen holte Conny das letzte Geld hervor. Wie sie befürchtet hatte, reichte es nicht ganz. Vor Scham und Hilflosigkeit stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie begann zu stottern.

Doch die Verkäuferin nahm ihr das Geld aus der Hand, zählte es nach und nickte. »Das stimmt schon so, Conny. Komm, ich gebe dir eine Tüte, damit du die Sachen einpacken kannst.«

»Wir haben eine Tasche mitgebracht«, entgegnete Conny. Die verständnisvolle Art der Verkäuferin ließ sie ihr Gleichgewicht wiederfinden.

»Hätte sie uns die Sachen wieder weggenommen, wenn wir sie nicht hätten bezahlen können?«, wollte Helmut wissen, sobald sie den Laden verlassen hatten.

»Freilich«, bestätigte Conny. »Man bekommt doch nichts umsonst.«

»Und wenn nun unser Geld alle ist, was machen wir dann?«, fragte der Junge weiter.

Einen Moment lang blickte Conny den jüngeren Bruder hilflos an. Was sie für diese Woche eingeteilt hatte, war bereits aufgebraucht. Einkaufen konnte sie nun nichts mehr. Also mussten sie mit dem auskommen, was sie an Vorräten zu Hause hatten. Aber das war nicht viel. »Wir haben ja zu Hause noch ein bisschen Geld«, tröstete sie ihre Geschwister. »Aber wir müssen ganz vorsichtig damit umgehen. Denn wenn die vom Jugendamt merken, dass wir kein Geld mehr haben, stecken sie uns sofort in ein Heim.«

»Nein!«, riefen Gabi und Helmut erschrocken aus.

»Doch! Das tun die bestimmt!« Trotz und Auflehnung schwangen in Connys Stimme mit. »Sie wollten uns ja auch auseinanderreißen und zu drei verschiedenen Familien geben.«

»Aber das lässt du doch nicht zu, Conny!«, flüsterte Gabi erschrocken und klammerte sich an die Hand der älteren Schwester.

»Nein, das lasse ich nicht zu!«, rief Conny trotzig aus. »Und ihr müsst mir dabei helfen.«

»Klar, Conny, tun wir doch«, bestätigte Helmut großzügig. »Du musst uns nur sagen, was wir machen sollen.«

»Das erzähle ich euch zu Hause«, antwortete Conny. Dabei blickte sie sich wie eine Verschwörerin um. Der Ort war klein, und immer wieder folgten den Geschwistern neugierige oder mitleidige Blicke.

Die Wohnung der Geschwister war überraschend sauber und aufgeräumt. Conny gab sich die größte Mühe damit. Sie hatte panische Angst davor, die Wohnung der Eltern zu verlieren. Trotz ihrer jungen Jahre war sie sich darüber im Klaren, dass sie die Wohnung mit allen Mitteln halten musste. Nur so konnten sie beisammenbleiben.

»Wir dürfen den Leuten vom Jugendamt nicht sagen, wie wenig Geld wir haben«, machte Conny ihren Geschwistern klar, als sie ihr am Küchentisch gegenübersaßen. »Und wenn sie euch fragen, wie es uns geht, dann müsst ihr immer sagen, es geht uns gut.«

»Und dass wir zusammenbleiben wollen«, ergänzte Helmut.

Conny nickte.

»Wir wollen lieber beisammenbleiben und ein bisschen weniger essen. Ich möchte nicht ohne euch zu fremden Leuten.«

»Wir auch nicht«, bestätigten Gabi und Helmut im Chor.

»Warum sind die Leute immer so garstig und wollen nur ein Kind nehmen?«, fragte Gabi verständnislos. »Sie könnten uns doch alle drei nehmen, wenn sie ein großes Haus und einen schönen Garten haben.«

Eine wohlhabende Familie hatte sich dem Jugendamt gegenüber bereit erklärt, eines der drei Kinder aufzunehmen. Die Fürsorgerin hatte den Kindern diesen Pflegeplatz in den rosigsten Farben geschildert. Sie hatte erzählt, dass die Villa groß und geräumig und von einem wunderschönen Park umgeben sei. Aber die Familie hatte nur ein Kind nehmen wollen. Da hatte Conny rigoros das Angebot abgelehnt. Sie hatte sich der Fürsorgerin gegenüber recht patzig verhalten, sodass diese sich in der Überzeugung verabschiedet hatte, die Köstler-Geschwister seien sehr undankbar.

Seit diesem Vorfall hatte sich das Jugendamt mit keinem derartigen Vorschlag mehr an die Kinder gewandt. Nur ab und zu kam noch jemand, um nach ihnen zu sehen. Dann brachte Conny ihre Geschwister jedes Mal rechtzeitig in Sicherheit. Ablehnend erklärte sie den Leuten, dass es ihnen gut ginge und dass man sie in Ruhe lassen solle.

»Weißt du was, Conny? Ich möchte gar nicht in ein schönes Haus mit großem Garten, wenn ich dort allein wäre«, gestand Gabi ihrer Schwester.

»Ich auch nicht«, fügte Helmut schnell hinzu. »Auch wenn es noch so leckere Sachen zu essen gäbe.« Er aß für sein Leben gern. Aber so richtig satt war er in der letzten Zeit eigentlich nie geworden.

Conny stellte gerade einen Topf mit Kartoffeln auf den Herd. Dabei erklärte sie: »Heute Mittag können wir uns alle richtig satt essen. Ich koche Kartoffeln.«

»Toll«, meinte Helmut strahlend.

»Gibt es nur Kartoffeln?«, platzte Gabi heraus.

Conny umarmte ihre kleine Schwester. »Am Sonntag gibt es eine Wurst zu den Kartoffeln. Das verspreche ich euch. Heute haben wir noch ein bisschen Quark. Wir können ja auch Kartoffeln mit Quark essen. Was meint ihr?«

Stumm nickten die Geschwister. Während die Kartoffeln kochten, räumten sie gemeinsam die Wohnung auf. Sogar Gabi durfte dabei helfen. Mit einem Handbesen und einer kleinen Schaufel kehrte sie an allen möglichen Stellen, wo sie Schmutz vermutete.

Helmut, der für seine sieben Jahre schon sehr groß war, nahm die Läufer aus dem Wohnzimmer und trug sie in den Hof zur Teppichstange. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft klopfte er sie von beiden Seiten.

Conny sollte sehen, dass er schon tüchtig mithelfen konnte, auch wenn er erst sieben Jahre alt war. Als er hinaufschaute und sie hinter dem Fenster stehen sah, winkte er fröhlich hinauf.

Dann kam Gabi aus dem Haus gelaufen. »Ich helfe dir, Helmut!«

»Wobei willst du mir denn helfen?«

»Beim Tragen.«

»Nein«, wehrte er ab. »Die Läufer sind zu schwer für dich.«

»Sie sind nicht zu schwer«, nörgelte Gabi, denn sie wollte unbedingt auch etwas tun.

Conny hatte die Szene vom Fenster aus verfolgt. Jetzt werden sie gleich streiten, dachte sie. Schnell verließ sie die Wohnung und lief hinunter in den Hof.

Conny kam gerade zur rechten Zeit. Den einen Läufer hatte Helmut auf die Stufen vor dem Haus gelegt. Den anderen zerrte er mit Gabi

hin und her, weil jeder ihn tragen wollte.

»Was macht ihr denn da?«, fragte Conny streng.

»Er will nicht, dass ich ihn trage«, jammerte Gabi.

»Aber der ist doch wirklich zu schwer für dich, Gabi«, meinte Conny. Doch als sie sah, wie die kleine Schwester daraufhin unglücklich das Gesicht verzog, kam ihr eine Idee. »Weißt du was«, sagte sie, »wir tragen ihn gemeinsam.«

Strahlend nickte Gabi. Der kleine Streit war damit geschlichtet.

Den Rest des Tages verbrachten die Kinder in der Wohnung, da dunkle Wolken aufzogen, die ein Gewitter ankündigten. Doch es wurde später Abend, bis sich das Gewitter wirklich entlud.

Die Geschwister hatten sich schon gewaschen und ihre Nachthemden angezogen. Meistens spielten sie danach noch ein bisschen in dem gemeinsamen Schlafzimmer, bis sie einschliefen. Das elterliche Schlafzimmer mieden sie ängstlich. Nur Conny betrat es ab und zu, um Staub zu wischen. Die Erinnerung an die geliebte Mutter war noch zu lebendig in ihnen. Sie hätten die Bilder von ihr nicht ohne Schmerz betrachten können.

Während Conny nun überall in der Wohnung das Licht löschte und die Fenster schloss, begann es zu regnen. Ganz sacht zunächst. Doch plötzlich prasselten dicke schwere Tropfen wie eine geschlossene Wand gegen die Fenster des Kinderzimmers.

Mit einem ängstlichen Laut flüchtete Gabi in ihr Bett. Helmut presste dagegen neugierig die Nase an die Fensterscheibe. »Dort hinten blitzt es schon!«, rief er Conny zu.

Schnell schloss die ältere Schwester die Tür zum Kinderzimmer. Dann prüfte sie vorsichtshalber noch einmal, ob das Fenster auch wirklich fest zu war.

Mit einem krachenden Donnerschlag begann das Gewitter. Gabi stieß einen Schrei aus und verschwand unter der Bettdecke.

»Angsthase«, neckte Helmut sie. Doch nun war es auch ihm am Fenster nicht mehr ganz geheuer. Schnell sprang er in sein Bett.

Conny wollte das Licht löschen, doch da tauchte Gabi wieder aus der Vermummung auf. »Du kannst doch nicht das Licht ausmachen!«, rief sie erschrocken. »Wenn es dunkel ist, sterbe ich vor Angst.«

»Ich wollte ja nur das große Licht löschen«, erklärte Conny. Doch nun ließ sie die Deckenbeleuchtung brennen.

Ein zweiter polternder Donnerschlag durchbrach das Rauschen des Regens. Er kam so unerwartet, dass Gabi nicht mehr unter die Decke flüchten konnte. Vor Angst und Schrecken begann sie zu weinen. »Kannst du nicht zu mir ins Bett kommen, Conny?« Ihre braunen Augen flehten die Schwester an.

Conny, selbst ein bisschen ängstlich, kroch zu Gabi ins Bett.

»Ich möchte bloß wissen, warum alle Mädchen so feige sind«, meinte Helmut und kam sich in diesem Moment sehr stark und männlich vor. Doch als der nächste Blitz grell durch die Nacht zuckte, war auch sein Mut weg. Bis zum Hals wühlte er sich unter die Bettdecke.

Schweigend und mit angstvoll geweiteten Augen verfolgten die Kinder das Gewitter.

Dann ebbte es allmählich ab. Nur der rauschende Regen war noch zu hören. Eine seltsame Melancholie senkte sich auf das Kinderzimmer. Gabi begann leise vor sich hin zu weinen.

»Aber das Gewitter ist doch schon vorbei, Gabilein!« Conny streichelte die blonden Locken der kleinen Schwester.

»Ich weine ja nicht wegen des Gewitters«, murmelte Gabi.

»Aber warum denn dann?«

»Weil alles so traurig ist. Wenn wenigstens Mutti noch bei uns wäre …« Der Rest von Gabis Worten verlor sich in einem leisen Wimmern.

Conny spürte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete.

Auch Helmut neckte die Mädchen nicht mehr, sondern blickte düster vor sich hin.

Conny umschlang Gabi mit ihren Armen. »Wir haben doch Vati noch«, erinnerte sie ihre Geschwister. »Und wir haben uns. Wir sind nicht ganz allein.«

Die Gegenwart der älteren Schwester und deren beruhigende Worte trösteten Gabi ein wenig. »Wir sind nicht ganz allein«, wiederholte sie, als wollte sie sich damit trösten. Und irgendwie gelang es ihr auch. Unter Connys liebevollem Streicheln schlief sie allmählich ein.

Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne. Die Erde sah wie blank gewaschen aus. Bei diesem Anblick vergaßen die Geschwister die Schrecken der Nacht.

»Wisst ihr was? Heute putze ich die Fenster!«, rief Conny unternehmungslustig aus.

»Ich bringe dir das Wasser und halte die Leiter«, erbot sich Helmut sofort.

»Und ich putze mit«, erklärte Gabi strahlend.

Für eine kurze Zeit waren alle Sorgen und Schwierigkeiten vergessen. Mit der Gründlichkeit eines Hausmütterchens machte Conny sich daran, sämtliche Fenster der Wohnung zu reinigen.

Da die Geschwister ihr dabei halfen, war es mehr Spiel als Arbeit.

Es wird bestimmt noch alles gut werden, dachte Conny und sagte laut: »Wir müssen nur durchhalten, bis Vati aus dem Krankenhaus kommt.«

»Wann kommt er denn aus dem Krankenhaus?«, wollte Gabi wissen.

»Das weiß Conny doch nicht«, verteidigte Helmut die ältere Schwester sofort.

»Er kommt bestimmt bald nach Hause«, meinte Conny. »Er ist ja schon so lange fort. Da muss er doch bald wiederkommen.«

»Morgen ist wieder Besuchstag«, erinnerte sich Helmut und strahlte dabei übers ganze Gesicht. »Fahren wir zum Krankenhaus, Conny?«

»Freilich«, bestätigte sie. »Aber wir müssen Vati eine Kleinigkeit mitbringen.«

Die Geschwister einigten sich darauf, ihm zur Abwechslung einen kleinen Blumenstrauß mitzubringen.

Am nächsten Tag standen sie pünktlich an der Haltestelle des Busses, der in die Kreisstadt fuhr. Sie waren ordentlich und sauber angezogen. Darauf achtete Conny peinlich. Genauso, wie sie es bei der Mutter gesehen hatte, steckte sie die schmutzige Wäsche jede Woche in die Waschmaschine. Sie sorgte sich um ihre Geschwister wirklich wie eine Mutter. Niemand konnte das bestreiten. Dabei wurde der Schmerz um die verlorene Mutter manchmal auch in ihr so übergroß, dass er sie zu erdrücken drohte. Doch dann dachte sie jedes Mal schnell an ihre Geschwister, die sie brauchten. Das half stets.

Auch jetzt war Conny stolz darauf, dass Gabi ein duftiges Sommerkleidchen und Helmut ein sauberes Hemd trug.

Der Bus kam, und die drei Kinder stiegen schnell ein. Helmut lief nach hinten und setzte sich in die letzte Reihe.

»Hier schaukelt es am meisten«, erklärte er. Er fuhr für sein Leben gern Bus. Für ihn war die Fahrt in die Stadt immer viel zu kurz. Als sie den Bus an der Endstation wieder verlassen mussten, zog er deshalb auch einen Schmollmund.

Vor dem Betreten des großen Kreiskrankenhauses schob Gabi ihr Händchen unter Connys Finger, denn das große strenge Gebäude ängstigte sie immer etwas. Doch den Vater besuchte sie gern.