Die Große Wanderung - Hans Magnus Enzensberger - E-Book

Die Große Wanderung E-Book

Hans Magnus Enzensberger

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Beschreibung

Völkerwanderung, Fremdenhaß: ein Jahrhundertthema. Enzensbergers Markierungen, die es an Deutlichkeit nicht fehlen lassen, werden allen willkommen sein, die es leid sind, das Problem aus der Froschperspektive der deutschen Innenpilitik zu betrachten. Es geht um eine Frage, die zu wichtig ist, daß man sie Politikern und Demagogen überlassen dürfte. Fremdenhaß und Migration hat es immer gegeben. Die Erfahrungen, die damit gemacht worden sind, werden aber mit Vorliebe verleugnet oder vergessen. Enzensbergers Sätze »fügen sich nicht ein ins Gemurmel der deutschen Betroffenheitskultur ... Den Matadoren des >Asylstreits< sei Enzensbergers Buch empfohlen. Es putzt die Brille. Und es ist ästhetische Medizin gegen den Identitäts- und Gesinnungskitsch, der die deutsche Debatte beherrscht.« (FAZ)

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Seitenzahl: 52

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Hans Magnus Enzensberger Die Große Wanderung

Dreiunddreißig Markierungen

Mit einer Fußnote

›Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd‹

Suhrkamp

Die Große Wanderung

Inhaltsverzeichnis

Motto

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd. Eine Fußnote

Wir wissen nicht mehr, wen wir achten und respektieren sollen und wen nicht. In dieser Hinsicht sind wir gegeneinander Barbaren geworden. Denn von Natur sind alle gleich, ob Barbaren oder Griechen. Das folgt aus dem, was von Natur aus für alle Menschen notwendig ist. Wir atmen alle durch Mund und Nase, und wir essen alle mit den Händen.

Antiphon, Von der Wahrheit.

5. Jahrhundert v. Chr.

An der Freiheitsstatue steht die Inschrift: »In diesem republikanischen Land sind alle Menschen frei und gleich geboren.« Aber darunter steht in winziger Schrift: »Außer dem Stamm der Hamo [der Schwarten].« – Das macht den ersten Satz zunichte! Oh, ihr Republikaner!

Herman Melville, Mardi: and

a Voyage thither. 1849.

I

Eine Weltkarte. Schwärme von blauen und roten Pfeilen, die sich zu Wirbeln verdichten und gegenläufig wieder zerstreuen. Unterlegt ist dieses Bild mit Kurven, die farbig getönte Zonen verschiedenen Luftdrucks voneinander abgrenzen: Isobaren und Winde. Hübsch sieht eine solche Klimakarte aus; aber wer keine Vorkenntnisse hat, wird sie kaum deuten können. Sie ist abstrakt. Einen dynamischen Prozeß muß sie mit statischen Mitteln abbilden. Nur ein Film könnte zeigen, worum es geht. Der normale Zustand der Atmosphäre ist die Turbulenz. Das gleiche gilt für die Besiedelung der Erde durch den Menschen.

II

Auch nach einem guten Jahrhundert paläontologischer Forschung ist die Herkunft des homo sapiens noch immer nicht zweifelsfrei geklärt. Man scheint sich aber darauf geeinigt zu haben, daß diese Spezies zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent aufgetreten ist, und daß sie sich durch eine lange, in komplizierten und riskanten Schüben verlaufende Kette von Migrationen über den ganzen Planeten ausgebreitet hat. Seßhaftigkeit gehört nicht zu den genetisch fixierten Eigenschaften unserer Art; sie hat sich erst relativ spät ausgebildet, vermutlich im Zusammenhang mit der Erfindung des Ackerbaus. Unsere primäre Existenz ist die von Jägern, Sammlern und Hirten.

Aus dieser nomadischen Vergangenheit mögen sich gewisse atavistische Züge unseres Verhaltens erklären, die ansonsten rätselhaft anmuten, wie der Massentourismus oder die leidenschaftliche Liebe zum Automobil.

III

Im Mythos von Kain und Abel wird der Konflikt zwischen wandernden und seßhaften Stämmen faßbar. »Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.« Der territoriale Konflikt endet mit einem Mord. Die Pointe der Geschichte besteht darin, daß der Seßhafte, nachdem er den Nomaden getötet hat, seinerseits vertrieben wird: »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.«

Die Geschichte der Menschheit läßt sich als Entfaltung dieser Parabel lesen. Über Jahrtausende hinweg bilden sich immer wieder stationäre Populationen. Aufs Ganze und auf die Dauer gesehen, bleiben sie jedoch die Ausnahme. Die Regel sind: Raub- und Eroberungszüge, Vertreibung und Exil, Sklavenhandel und Verschleppung, Kolonisation und Gefangenschaft. Immer war ein erheblicher Teil der Menschheit in Bewegung, auf der Wanderung oder auf der Flucht, aus den verschiedensten Gründen, auf gewaltförmige oder friedliche Weise – eine Zirkulation, die zu fortwährenden Turbulenzen führen muß. Es handelt sich um einen chaotischen Prozeß, der jede planende Absicht, jede langfristige Prognose zunichte macht.

IV

Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Diese Auffassung läßt sich rational nicht begründen. Um so tiefer scheint sie verwurzelt zu sein.

Dennoch kommt es so gut wie nie zu offenen Auseinandersetzungen. Das liegt daran, daß die Fahrgäste einem Regelsystem unterliegen, das nicht von ihnen abhängt. Ihr territorialer Instinkt wird einerseits durch den institutionellen Code der Bahn, andererseits durch ungeschriebene Verhaltensnormen wie die der Höflichkeit gebändigt. Also werden nur Blicke getauscht und Entschuldigungsformeln zwischen den Zähnen gemurmelt. Die neuen Fahrgäste werden geduldet. Man gewöhnt sich an sie. Doch bleiben sie, wenn auch in abnehmendem Grade, stigmatisiert.

Dieses harmlose Modell ist nicht frei von absurden Zügen. Das Eisenbahnabteil ist ein transitorischer Aufenthalt, ein Ort, der nur dem Ortswechsel dient. Die Fluktuation ist seine Bestimmung. Der Passagier ist die Negation des Seßhaften. Er hat ein reales Territorium gegen ein virtuelles eingetauscht. Trotzdem verteidigt er seine flüchtige Bleibe nicht ohne stille Erbitterung.

V

Jede Migration führt zu Konflikten, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wird, welche Absicht ihr zugrunde liegt, ob sie freiwillig oder unfreiwillig geschieht und welchen Umfang sie annimmt. Gruppenegoismus und Fremdenhaß sind anthropologische Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, daß sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen.

Um sie einzudämmen, um dauernde Blutbäder zu vermeiden, um überhaupt ein Minimum von Austausch und Verkehr zwischen verschiedenen Clans, Stämmen, Ethnien zu ermöglichen, haben altertümliche Gesellschaften die Tabus und Rituale der Gastfreundschaft erfunden. Diese Vorkehrungen heben den Status des Fremden aber nicht auf. Sie schreiben ihn ganz im Gegenteil fest. Der Gast ist heilig, aber er darf nicht bleiben.

VI

Nun öffnen zwei weitere Passagiere die Tür des Abteils. Von diesem Augenblick an verändert sich der Status der zuvor Eingetretenen. Eben noch waren sie Eindringlinge, Außenseiter; jetzt haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandelt. Sie gehören zum Clan der Seßhaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle Privilegien für sich in Anspruch, von denen jene glauben, daß sie ihnen zustünden. Paradox wirkt dabei die Verteidigung eines »angestammten« Territoriums, das soeben erst besetzt wurde; bemerkenswert das Fehlen jeder Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige Initiation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mußten; eigentümlich die rasche Vergeßlichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet wird.

VII