Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas - Hans Magnus Enzensberger - E-Book

Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas E-Book

Hans Magnus Enzensberger

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Beschreibung

Europa ist derzeit in aller Munde. Mißtrauen herrscht gegen die fernen Institutionen in Brüssel. Was, fragen sich immer mehr Europäer, treiben unsere weithin unbekannten Vormünder hinter verspiegelten Fassaden, meist verschlossenen Türen und mit einer höchst fragwürdigen Legitimation? In einem Essay hat sich Hans Magnus Enzensberger der Aufgabe gestellt, zur Aufklärung über die Gebräuche und Spielregeln beizutragen, mit denen das Europa von ‚Brüssel’ uns zu regieren beansprucht: lakonisch und treffsicher, wohlinformiert und bissig, dabei um Gerechtigkeit bemüht, denn das Monster, dem er ins Auge blickt, ist nicht immer nur furchterregend, sondern auch sanft. Dennoch muß der Leser Nebenwirkungen in Kauf nehmen.

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Hans Magnus Enzensberger

Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-75960-8

www.suhrkamp.de

I Lob & Preis

Gute Nachrichten sind selten; deshalb empfiehlt es sich, mit ihnen anzufangen, auch wenn jeder ordentliche Reporter natürlich die schlechten bevorzugt.

Das Wichtigste zuerst: Es gibt nur wenige Jahrzehnte in der Geschichte unseres Erdteils, in denen der Friede geherrscht hat. Zwischen den Staaten, die der Europäischen Union angehören, ist es seit 1945 zu keinem einzigen bewaffneten Konflikt mehr gekommen. Fast ein ganzes Menschenalter ohne Krieg! Das ist eine Anomalie, auf die dieser Kontinent stolz sein kann.

Aber auch über eine Reihe von Annehmlichkeiten, bei denen es nicht um Leben oder Tod geht, können wir uns freuen. Sie sind inzwischen so selbstverständlich geworden, daß sie uns kaum noch auffallen. Personen, die jünger als sechzig sind, können sich nicht daran erinnern, wie mühsam es nach dem Zweiten Weltkrieg war, ein benachbartes Land zu betreten. Ohne einen langwierigen bürokratischen Kampf war an eine Auslandsreise nicht zu denken. Wer eine Grenze überschreiten wollte, hatte beglaubigte Einladungsschreiben vorzulegen, Visumanträge in dreifacher Ausfertigung auszufüllen, um Aufenthaltsgenehmigungen zu ersuchen, komplizierte Devisenbestimmungen und ein Dutzend anderer Hürden zu überwinden. Wollte man ein Buch aus dem Ausland beziehen, so war dazu eine umständliche Prozedur beim Hauptzollamt nötig. Erwartete man eine Überweisung aus Frankreich oder wollte man eine Rechnung in Spanien bezahlen, so kam dies einem Hoheitsakt gleich, der ohne eine Ansammlung von amtlichen Stempeln nicht vollzogen werden konnte. Heute ist das alles nur noch eine verblassende Erinnerung. Wer einen Paß der meisten Mitgliedsländer besitzt, kann wohnen, wo er will, ohne bei Ausländerbehörden Schlange zu stehen, um eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Arbeitserlaubnis zu erlangen. Es ist sogar, mit wenigen Ausnahmen, möglich geworden, ein elektrisches Gerät anzuschließen, ohne ein Arsenal von diversen Adaptern im Koffer mitzuführen. Auch viele Transaktionskosten sind in Europa, sehr zum Leidwesen der Wechselstuben, erheblich gesunken.

Kurzum, der Prozeß der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, daß bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlaß bitten.

Ferner muß man es unseren Brüsseler Beschützern danken, daß sie nicht selten wacker vorgegangen sind gegen Kartelle, Oligopole, protektionistische Tricksereien und unerlaubte Subventionen. Die Telephontarife! Die kleingedruckten Vertragsklauseln, mit denen arglose Konsumenten getäuscht werden sollen! Der Schutz der Nichtraucher! Die Abzocke am Geldautomaten! Die Union wacht darüber, daß hier Klarheit geschaffen wird.

Eine mühselige Arbeit, die sich nicht von selbst versteht. Denn die nationalen Regierungen haben sich immer wieder gern von den weltweit agierenden Riesen der Pharma-, Energie-, Finanz-, Lebensmittel- und Kommunikationsbranche über den Tisch ziehen lassen. Das sind Gegner, die über enorme Geldmittel verfügen. Sie kämpfen mit harten Bandagen um ihre Monopolgewinne, drohen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und haben es in der Kunst der Steuerflucht zum Virtuosentum gebracht. Kein einzelnes Land ist heute mehr in der Lage, ihnen die Stirn zu bieten, ihren Erpressungsversuchen zu widerstehen und sie gelegentlich sogar zu bestrafen.

Auch um andere Probleme, die nur gemeinsam zu lösen sind, hat sich die Europäische Union verdient gemacht. Seit Jahren versucht sie, ohne durchschlagenden Erfolg, dem lächerlichen Flickwerk ein Ende zu machen, das die Kontrolle des europäischen Luftraums zu einem gefährlichen Geduldspiel macht. Die sechsunddreißig verschiedenen Einrichtungen, die ihn überwachen, jede von ihnen mit anderen Verfahren und Techniken, werden jedoch bis heute von den militärischen und zivilen Instanzen der Mitgliedsländer mit rattenhafter Zähigkeit gegen jeden Vorschlag zur Bereinigung verteidigt. Diese Form der Flugsicherung kostet nicht nur über drei Milliarden Euro im Jahr, sie verschlingt auch Unmengen an Treibstoff und führt zu endlosen Staus und Verspätungen.

Fatale Folgen hat auch der ewige Streit um die Fischfangquoten und die stets auf die lange Bank geschobene Endlagerung der radioaktiven Abfälle – alles Probleme, die keiner der Mitgliedsstaaten, für sich allein genommen, offenbar lösen kann oder will. Die Union hat aber auch noch ganz andere Vorteile zu bieten. Man wird in den entlegensten Ecken Europas auf Schilder stoßen, die verkünden, daß hier irgend etwas von der EU gefördert wird: der Bau einer Autobahn, einer Brücke, eines Gebäudes oder einer Forschungseinrichtung. Vor allem aber ist es die Landwirtschaft, die sich gewaltiger Subventionen erfreuen kann. Besonders die Großbetriebe werden aus dem größten Topf des Brüsseler Haushalts bedacht; für die Agrarpolitik stehen rund 59 Milliarden Euro zur Verfügung. Den zweitgrößten Platz nimmt mit 49 Milliarden die Regionalförderung mit insgesamt 455 Programmen ein. (Einen Wermutstropfen hat der Rechnungshof in diese Douceurs gemischt: Ihm zufolge sind zuletzt 36 % dieser Projekte unter falschen Voraussetzungen gefördert worden.)

Dennoch handelt es sich insgesamt um Wohltaten, die sich sehen lassen können. Sollte man also den Brüsseler Wächtern zu den schönen Resultaten gratulieren, die sie, den eifersüchtig gehüteten »nationales Interessen« zum Trotz, auf vielen Gebieten erzielt haben? Unbedingt nötig ist das nicht; denn diese Mühe nehmen uns die europäischen Behörden gerne ab.

II Sprachregelungen

Bekanntlich gibt es keine Regierung, die ohne Propaganda auskäme, auch wenn dieser Begriff nicht gern gehört wird; man spricht heute lieber von »verbesserter Kommunikation«. Auch die Europäische Union läßt es daran nicht fehlen. Schon vor Jahren hat sie kräftig in Werbefilme und Internetportale investiert. Mit fünf Millionen Euro jährlich subventioniert sie den Sender Euronews und mit sechs das weithin unbekannte Radionetzwerk Euranet. Auch das Europaparlament gönnt sich einen eigenen Fernsehkanal namens Europarltv, den es sich zehn Millionen kosten läßt, obwohl er nur wenige Zuschauer hat. Vieles, was es dort zu sehen und zu hören gibt, erinnert an Hofberichterstattung. Die Selbstkritik ist nicht die starke Seite unserer Wächter.

Die Kommission versteckt gewohnheitsmäßig die nationalen Beiträge zum EU-Haushalt in ihrem Budgetbericht, »weil Antieuropäer die Zahlen mißbrauchen könnten«. Wer zuviel darüber wissen will, gilt als Feind. Der Fédération de la Fonction Publique Européenne, einer Interessenvertretung der Beamtenschaft, die sich nach Brüsseler Brauch mit dem Akronym FFPE schmückt, geht die Geheimniskrämerei noch nicht weit genug. Sie hat unlängst in einem offenen Brief gefordert, daß die Kommission eine »mit den notwendigen Mitteln ausgestattete Spezialzelle« einrichten möge, »um auf all die schändlichen Attacken zu reagieren, die das Personal der EU zum Prügelknaben machen«. Schuld an solchen verleumderischen Angriffen seien »von antieuropäischen Lobbys gelenkte Medien«.

Dieses ganze PR-Theater verdankt sich nicht nur der gekränkten Eitelkeit der Beamtenschaft. Es dient auch dazu, einen endemischen Mangel des Integrationsprojektes zu kompensieren. Denn es ist eine schmerzliche, aber unbestreitbare Tatsache, daß bis auf den heutigen Tag eine europäische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdienen würde, nicht existiert. In der Sphäre der Medien ist immer noch jedem Land das Hemd näher als der Rock. Auch deshalb sind die Auskünfte, die uns aus Brüssel erreichen, nur mit Vorsicht zu genießen: je dünner die Legitimität, desto dicker der Glibber der PR.

In dieser ungemütlichen Lage wächst für die Behörde die Versuchung, die Meinungsbildung selbst in die Hand zu nehmen. Hierzu leisten, im Gegensatz zu Wahlen oder gar Abstimmungen, die allen, die an der Macht sind, eher lästig fallen, Umfragen gute Dienste, wenigstens solange ihre Ergebnisse so ausfallen, wie es dem Auftraggeber gefällt.

»Die Lösung ist mehr Europa«, tönt es aus dem Büro der Vizepräsidentin, der die Kommunikation besonders am Herzen liegt. Sie beruft sich auf die Ergebnisse einer Umfrage, die sich Euro-Barometer nennt und in ihrem Auftrag zweimal jährlich erhoben wird. Sie sind für die Kommission sehr günstig ausgefallen. »92 Prozent stimmen der These zu, daß die Arbeitsmärkte modernisiert werden müssen und daß die Unterstützung Armer und sozial Ausgegrenzter Vorrang hat. 90 Prozent wollen eine Wirtschaft, die weniger Rohstoffe verbraucht und weniger Treibhausgase verursacht.« Ein traumhaftes Ergebnis, das sich sicher noch steigern ließe, hätte man die Leute gefragt, ob sie für Krieg oder Frieden, für Siechtum oder gute Gesundheit und für Lohndumping oder für kräftige Tarifabschlüsse eintreten möchten.

Weniger triumphal sieht es aus, wenn man anderen demoskopischen Auskünften glaubt. Danach sehen nur noch 49 % der Europäer die Mitgliedschaft ihres Landes positiv, und nur noch 42% der Bürger schenken den EU-Institutionen ihr Vertrauen.

Das liegt nicht zuletzt an dem Sprachgebrauch, der dort herrscht. Selbst der Vertrag von Lissabon, ein Verfassungs-Ersatz, der als Rechtsgrundlage der Union dient, zeichnet sich dadurch aus, daß seine Lektüre auch den gutwilligsten europäischen Bürger vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellt. Er gleicht einem unpassierbaren Drahtverhau. Abschnitte wie der folgende können nur der Abschreckung dienen:

»Im gesamten Vertrag werden die Worte ›Gemeinschaft‹ oder ›Europäische Gemeinschaft‹ ersetzt durch ›Union‹, die Worte ›Europäische Gemeinschaften‹ oder ›EG‹ oder gegebenenfalls ›Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‹ durch ›Europäische Union‹, der Wortbestandteil ›Gemeinschafts‹- durch ›Unions‹- und das Adjektiv ›gemeinschaftlich‹ durch ›der Union‹, außer in Artikel 299 Absatz 6 Buchstabe c, wo der Artikel 311a Absatz 5 Buchstabe c wird. In Artikel 136 Absatz 1 betrifft die vorstehende Änderung nicht das Wort ›Gemeinschaftscharta‹.«

Daß es selbst Verfassungsjuristen schwerfällt, diese Prosa zu verstehen, kann kein Zufall sein. Leider ist anzunehmen, daß dies ganz im Sinne ihrer Urheber ist. Als in Irland 2008 über den Vertrag abgestimmt werden sollte, meinte der Ire Charlie McCreevy, der das Land in der Kommission vertrat, von den 4,2 Millionen Einwohnern hätten kaum 250 das Werk gelesen, und nicht einmal 25 von ihnen hätten es verstanden. Der Ausgang des Referendums ist bekannt.

Ein Vergleich mit dem Text der amerikanischen Verfassung zeigt, daß hier nicht nur mit der Sprache Schindluder getrieben wird. Schon der schiere Umfang des Dokuments spricht für sich. Es ist über 200 Seiten stark und wurde nur übertroffen von dem gescheiterten Verfassungsvertrag von 2004, einem Wälzer von 419 Seiten. »Dagegen unser Europa!« heißt es bei Gottfried Benn. »Viel Nonsens, Salbader: ›Die Wahrheit‹, Lebenswerk, 500 Seiten – so lang kann die Wahrheit doch gar nicht sein!«