Die Gruben von Villette - Ingrid Hedström - E-Book

Die Gruben von Villette E-Book

Ingrid Hedström

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  • Herausgeber: Suhrkamp
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Villette, Belgien 1994: Ein junger Journalist, wird beim Löschen eines Kahns tot aufgefunden. In der Hand hält er ein verblichenes Foto aus einer alten schwedischen Zeitung, es zeigt Minenarbeiter. Suchte er einen von ihnen? Erste Erkundigungen ergeben, dass er nach Villette geschickt worden ist, um über das tragische Grubenunglück zu schreiben, das sich in den fünfziger Jahren in der Stadt ereignet hat. 162 Kumpel kamen damals ums Leben. War Vorsatz im Spiel – und der Journalist dem Täter auf der Spur? Kein einfacher Fall für die junge Untersuchungsrichterin Martine Poirot. Als in Villette ein zweiter Mord geschieht, erkennt sie, dass sie der Wahrheit auf der Spur, aber auch, dass ihr eigenes Leben bedroht ist.

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Seitenzahl: 501

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Villette, Belgien, September 1994: Beim Löschen eines Prahms am Fluß Meuse wird ein junger Journalist tot aufgefunden. In der Hand hält er ein verblichenes Foto aus einer alten schwedischen Zeitung, es zeigt Minenarbeiter. Suchte er einen von ihnen?

Erste Erkundigungen ergeben, daß er nach Villette geschickt worden ist, um über das tragische Grubenunglück zu schreiben, das sich in den fünfziger Jahren in der Stadt ereignet hat. 162 Kumpel kamen damals ums Leben. War Vorsatz im Spiel – und der Journalist dem Täter auf der Spur?

Kein einfacher Fall für die junge Untersuchungsrichterin Martine Poirot. Als in Villette ein zweiter Mord geschieht, erkennt sie, daß sie der Wahrheit auf der Spur, aber auch, daß ihr eigenes Leben bedroht ist.

Ingrid Hedström, geboren 1949, arbeitet als Auslandskorrespondentin für die schwedische Zeitung Dagens Nyheter. Viele Jahre war sie in Brüssel stationiert. 2008 erhielt sie den Debütantenpreis der Schwedischen Krimiakademie. 2010 erschien Die toten Mädchen von Villette (st 4128).

Ingrid Hedström

Die Gruben von Villette

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen vonAngelika Gundlach

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

Under jorden i Villette

im Alfabeta Bokförlag, Stockholm

Copyright © 2010 Ingrid Hedström

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagfoto und Umschlaggestaltung: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

eISBN 978-3-518-78610-9

www.suhrkamp.de

»Sie waren am Ende schon mit fünfzehn.Gleich am Anfang war’s um sie geschehen.Das ganze Jahr war nun Dezember.«

Jacques Brel, ›Jaurès‹

PROLOG

7. August 1956

Foch-les-Eaux, Villette

Er wußte sofort, daß er in Schwierigkeiten war, als er die Augen aufschlug und von einem Sonnenstrahl, der durch die schmutzige Scheibe hereinfiel, geblendet wurde. Wenn die Sonne so hoch stand, daß sie direkt auf sein Bett schien, hätte er schon auf dem Weg zur Arbeit sein, ja, am besten schon im Umkleideraum sitzen und sich die Stiefel schnüren müssen.

Er rollte aus dem Bett und riß die Kleider, die auf dem Boden lagen, an sich, die Hose und das verschlissene Hemd, das schlechteste von den dreien, die er besaß. Er zog sich in Rekordgeschwindigkeit an, zog sich mit einer Hand das Hemd über den Kopf, während er gleichzeitig mit der anderen die Hose zuknöpfte, und stürzte durch die Tür hinaus.

Er hielt dennoch auf dem Stein, der an der Haustür als Treppe diente, einen Augenblick inne, nicht um in der klaren Morgenluft die Aussicht über das Tal zu genießen, sondern um mit blinzelnden Augen auf die Uhr am Kirchturm unten im Dorf zu schauen. Fünf nach halb sechs – ja, jetzt war es wirklich kritisch!

Die kleine Annunziata Paolini, das älteste der drei Kinder der Familie Paolini, war allein draußen vor der Baracke auf dem Hof und versuchte, mit einem viel zu kurzen Stück Seil Springseil zu springen.

– Ti sei svegliato in ritardo? fragte sie und sah durch die Gardine dunkler Haare, die ihr übers Gesicht hing, noch ohne die Haarspange, mit der ihre Mutter Giovanna es so genau nahm, mitleidig zu ihm auf.

– Sprich französisch, Nunzi, sagte er und schwang das Bein über die Fahrradstange, ja, klar habe ich verschlafen!

Die Straße zum Dorf fiel so steil ab, daß er kaum zu treten brauchte, um Fahrt aufzunehmen, aber er tat es trotzdem, fuhr im Stehen und trat den ganzen Weg hinunter wie rasend, bis er beim Café angekommen war, wo er vor dem Eingang scharf bremste und an die Glasscheibe klopfte.

Suzanne machte sofort auf. Obwohl er es so eilig hatte, konnte er es nicht lassen, zu ihrem Körper zu schielen. Ihre Taille war wespenschmal und der Bauch unter der eng zugebundenen Schürze flach. Sie hatte sich vielleicht geirrt, hoffen konnte man ja immer.

– Mein Gott, bist du spät dran, sagte sie, als sie ihm das Paket mit belegten Broten und die Flasche mit Milchkaffee reichte.

– Ich habe verschlafen, das siehst du doch, sagte er, kannst du mir noch ein Stück Brot geben, ich muß unterwegs frühstücken.

Sie verschwand ins Café, und er zündete sich schnell eine Zigarette an, die er aus dem Mund nahm, als Suzanne mit einem belegten Brot zurückkam. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er unter der knusprigen Kruste des Baguette die Wurstscheiben herausragen sah, und er biß ein paar große Happen ab. Mit dem Brot in der linken Hand ergriff er mit der rechten, in der er zwischen Zeige- und Mittelfinger die Zigartte hielt, den Lenker und wollte losradeln.

– Warte, sagte Suzanne, ich habe deine Wäsche hier!

Sie brachte ein großes Paket, eingeschlagen in braunes Papier, und legte es auf den Proviant im Fahrradkorb. Er lächelte ihr pflichtschuldigst zu und radelte auf der staubigen Landstraße weiter aus dem Dorf hinaus.

Er hatte sich am Tag zuvor mit seinem Onkel gestritten, deshalb hatte ihn der schmollende Alte nicht geweckt. Später sollte er oft daran denken, wie ein trivialer Streit um eine Fahrradpumpe sein ganzes Leben entschieden hatte, und sich fragen, ob es nur der blinde Zufall war, der über Leben und Tod entschied, oder ob es eine höhere Macht gab, die die Fäden zog und entschied, wie die menschlichen Figuren auf dem Spielbrett des Lebens bewegt wurden. Die Frage eines Kindes, eine Begegnung an einer Bartheke, ein verspäteter Zug – man wußte immer erst danach, daß man vor einer entscheidenden Wegscheide im Leben gestanden hatte.

Und nichts ließ ihn ahnen, daß er sich einer solchen Wegscheide näherte, als er auf seinem rostigen Fahrrad durch die Gittertür hineinspurtete. Er warf das Fahrrad hin, lief die Treppe hinauf, rannte an den Duschen vorbei in den Umkleideraum, wo er in rasender Geschwindigkeit den Blaumann anzog und seine eigenen Kleider hochzog, so daß sie mit denen der anderen oben an der Decke hingen, wo Hemden und Hosen und Jacken baumelten, makaber wie die Körper nach einer Massenhinrichtung.

Mit dem Helm im Nacken rannte er weiter zur Lampenausgabe, lieferte seine Personalmarke ab und bekam von der hochnäsigen Ginette Marceau, die mißbilligend schnaubte, als sie seine Marke an den Haken hängte, eine Lampe.

In drei langen Sprüngen überwand er die Treppe und lief zum hohen Turm des Fördergerüstes, jetzt beinah sicher, daß er den letzten Fahrkorb noch erreichen würde. Aber als er zur Winde kam, sah er das Oberteil des Korbs in den Schacht hinunter verschwinden. Er rief hinterher, aber niemand hörte im Lärm der Werke und dem Dröhnen der Dieselmotoren seine Stimme. Guy Huytgens guckte in letzter Sekunde hoch und sah ihn enttäuscht dort stehen, aber er lächelte ihm nur höhnisch zu. Typisch Guy!

Was sollte er jetzt machen? Wenn er es sich hätte leisten können, einen Tageslohn zu verlieren, hätte er gern den Job geschwänzt, aber er war sowohl Suzanne als auch anderen schon viel zuviel Geld schuldig, und er wollte die Schuldenlast nicht vergrößern. Nicht jetzt.

Er trat ein paar Meter zurück, um zu überlegen, stellte sich mit dem Rücken an einen Stapel Holz für Stollenstützen und sah über das Tal hinaus. Die Sonne wärmte sein Gesicht, und er schloß die Augen. Vor sich sah er eine trostlose Zukunft mit einer unendlichen Reihe gleicher Tage mit derselben Fahrradfahrt, demselben Knochenjob, denselben Vorarbeitern und demselben erbärmlichen Lohn. Dazu kam jetzt die Vision eines Zuhauses mit einer immer nörgeligeren und immer dickeren Suzanne und einer zu versorgenden, wachsenden Familie.

Es muß ein anderes Leben geben, dachte er und sah zum Himmel hinauf. Hoch, hoch da oben flog in weiten Kreisen ein Raubvogel. Er folgte ihm träge mit dem Blick und sah, wie er plötzlich geradeaus zum Boden niederstieß, ein tödlicher, lotrechter Pfeil zu einer Beute unten auf dem Feld, die der kalte Raubvogelblick erspäht hatte.

Genau da hörte er das Dröhnen, ein dumpfes und erschreckendes Grollen aus dem Inneren der Erde, so tief im Ton, daß es sich mehr wie eine Vibration im Körper als ein Geräusch anfühlte, eine Vibration, die jeden Knochen im Körper erschütterte, als würde er sich gleich von seinem Haltepunkt lösen. Es war ein Geräusch, an das sich sein Körper erinnerte und das angsterregende Bilder aus den dunklen Winkeln des Gedächtnisses aufsteigen ließ – zerschossene Häuser, eine Brücke, die es nicht mehr gab, eine Straße mit fliehenden Menschen, ein Pferdekörper ohne Kopf.

Seine erste Reaktion war, sich auf den Boden zu werfen und hinter den Holzstapel zu rollen, ein kindisches Gefühl, dessen er sich sofort schämte, denn er war jetzt erwachsen und begriff, daß es an einem sonnigen Augusttag in einem Land, wo der Krieg seit langem zu Ende war, kein Artilleriefeuer war, was er hörte.

Seine zweite Reaktion war, zum Schacht zu laufen und zu sehen, womit er helfen könnte. Er dachte an die hundertsiebzig Mann, die unten in der Grube waren, an Roberto, Angelo, Pierre und die anderen. Aber dann sah er aus allen Richtungen, von der Sortieranlage und den Werkstätten und dem Büro, Menschen angerannt kommen und fragte sich, was er unter so vielen tun könne.

Seine dritte Reaktion war die Einsicht, daß das, was vor einer halben Stunde wie ungewöhnliches Pech ausgesehen hatte, ein Glückstreffer in der Klasse mit dem Hauptgewinn im Lotto war und daß er etwas daraus machen sollte. Und plötzlich war ihm der Plan klar, tauchte in seinem Gehirn auf wie eine Offenbarung, ebenso rein und perfekt wie der Schlag des Raubvogels auf seine Beute.

Er hielt sich im Schatten des Holzstapels und zog sich vorsichtig vom Fördergerüst zurück. Keiner beachtete ihn. Alle sahen zum Schacht, wo jetzt eine dünne, unglückverheißende Rauchsäule aufzusteigen begonnen hatte.

Das Büro war leer. Er ging hinein und nahm, was er brauchte. Dann kroch er am Zaun entlang zum Fahrradständer und nahm Suzannes Paket vom Fahrradkorb, wo er es vergessen hatte, als er zum Umkleideraum gerannt war.

Wenn er jetzt nur noch unbemerkt rauskommen könnte … Doch das schien kein Problem zu sein, das Häuschen des Wachmanns an der hinteren Gittertür war leer, und er konnte ruhig durch das Drehkreuz schlendern und mit dem Paket unter dem Arm den Pfad hinunter in den Wald nehmen, gerade als die Sirene zu heulen begann, ein abgrundtiefes Heulen, das ihn, obwohl es klang wie die Luftangriffssirenen, an die er sich erinnerte, jetzt unberührt ließ.

Das war eine dieser entscheidenden Wegscheiden im Leben, und in den Jahren, die kamen, zweifelte er fast nie daran, daß er den richtigen Weg gewählt hatte. Fast nie.

KAPITEL 1

Mittwoch, 21. September 1994

Villette

Die Sonne war schon hinter dem Horizont versunken, aber der orangefarbene Schein der Halogenlichter beleuchtete den Prahm, der am Kai lag. Außerhalb des Lichtkreises der Scheinwerfer verdichtete sich das Dunkel, und der Fluß war dunkel, beinah schwarz. Die Feuchtigkeit, die vom Wasser aufstieg, bildete Nebelschleier darüber, magische Finger aus Dunst, die orange leuchteten, wenn sie über die schwarze Erzladung glitten und das Halogenlicht in den mikroskopischen Wassertropfen reflektiert wurde.

Jérôme arbeitete gern in der Abendschicht. Er konnte schlafen, solange er wollte, und wenn er den Dienst verließ, war es immer noch nicht zu spät, um mit den Kumpeln auszugehen. Eine schnelle Dusche im Umkleideraum, ein Kamm durch die dunkelblonden Haare und vielleicht etwas zusätzliches Frisiergel, ein Anruf bei einem der Freunde, und er war bereit, sich zu amüsieren.

Und der September war gut, nicht wie die Sommermonate, in denen es meistens eine Qual war, Helm und Overall zu tragen.

Er betrachtete den Prahm, der vor dem Hintergrund des dunklen Flusses, auf dem das Heck im Nebel verschwand, gigantisch aussah. Mit seiner Länge von fast hundert Metern und seiner Ladung von zweitausend Tonnen Eisenerz war er einer der größten, die diesen Teil der Meuse befuhren. Jérômes Job an diesem Abend bestand darin, genug Kondition aufzubringen, um die halbe Nacht im Le Garage zu tanzen, wenn die Kumpel immer noch dort hingehen wollten. Die Löschung von Eisenerz aus dem Prahm war fast komplett automatisiert. Er mußte lediglich darauf achten, daß alles reibungslos ablief, daß nichts steckenblieb und daß die Waggons des Zuges, der das Erz zum Sinterwerk brachte, davonrollten, um in dem Tempo, in dem sie gefüllt wurden, neuen Platz zu machen. Wenn etwas schiefging, mußte er natürlich eingreifen, aber das passierte selten.

Ein neuer Waggon rollte heran, um gefüllt zu werden, und er gab Guido Leone am anderen Ende des Zuges ein Zeichen, während er gleichzeitig ein paar Takte von »Mr. Vain« pfiff, einem Teenagersong, der seiner sechzehnjährigen kleinen Schwester gefiel, der aber trotzdem seine Füße immer zum Kribbeln brachte, wenn er ihn in einem rauchigen Kellerlokal auf einer vollgepackten Tanzfläche hörte.

Etwas ließ ihn innehalten, und er hörte mitten in einem Takt auf zu pfeifen. Der Baggerlöffel leerte noch eine Ladung Erzschlich aus dem Prahm, die mit einem dumpfen Schmatzen auf den Boden des leeren Waggons traf. Aber es war noch etwas anderes darin gewesen, etwas, das mit einem ganz anderen Geräusch als das Erz landete …

Er dachte eine Sekunde, er habe nicht richtig gesehen, obwohl er wußte, daß das nicht so war. Wie auch immer, er mußte die Löschung sofort abbrechen, der Baggerlöffel hatte schon ein paar Ladungen Schlich über Das Da geleert.

Er lief zum Baggerlöffel und drückte auf den Halteknopf, während er gleichzeitig den holländischen Besatzungsmitgliedern, die rauchend an Deck standen, das Stopzeichen gab.

– Stop! rief er sicherheitshalber.

– Wat gebeurt? sagte einer der Holländer und stoppte gleichzeitig die Maschinerie.

Jérôme begriff, daß sein niederländischer Wortvorrat nicht ausreichte, um das Unfaßbare zu sagen.

– Ich meine, ich hätte eine Leiche gesehen, sagte er mißmutig auf französisch.

– Je zag een lijk? wiederholte das ältere Besatzungsmitglied, während der Jüngere von ihnen den Kopf schüttelte und lachte.

– Was hast du geraucht, Junge, das muß starker Tobak gewesen sein, sagte er.

Jérôme machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Er kletterte auf den Waggon und sah hinunter, während gleichzeitig Guido Leone das Gleis entlang angelaufen kam und etwas rief, das Jérôme nicht hörte.

Der Boden des Waggons lag im Schatten, und auf dem schwarzen Boden bildete die Erzladung einen Hügel von noch tieferem Schwarz, aber etwas leuchtete weiß da unten.

Es war eine einsame Hand an einem Arm in einem Jeanshemd, die wie der letzte Hilferuf eines Ertrinkenden aus dem Schlichhaufen aufragte.

Jérôme hatte einen Augenblick das Gefühl, daß das Blut aus seinem Gehirn wich, und er klammerte sich an der Seite des Waggons fest, um nicht zu fallen. Er guckte hinunter. Die Holländer waren an Land gegangen und standen zusammen mit Guido da und sahen zu ihm herauf.

– Nein, nein, ich habe nichts geraucht, sagte Jérôme und sprang hinunter.

Etwas später saß er auf einem der harten Stühle im Pausenschuppen, eingehüllt in eine Decke, die Guido aus dem Schrank mit dem Verbandskasten und anderer Ausrüstung für Unfälle und Notsituationen genommen hatte, und mit einer Tasse heißem Milchkaffee aus Guidos Thermoskanne vor sich.

– Nimm viel Zucker, sagte Guido, das soll man, wenn man einen Schock gehabt hat.

– So schlimm ist es wohl nicht, protestierte Jérôme, aber eher der Form halber, er spürte, wie der Schwindel ihn beinah überwältigte, sobald er daran dachte, wie es sich angefühlt hatte, diese kalte, starre, leblose Hand anzufassen.

Denn jemand hatte ja in den Waggon hinaufklettern müssen, damit sie ganz sicher sein konnten, daß das, was unter dem Erz begraben lag, nicht eine lebendige Person war, die noch gerettet werden konnte, und weil Jérôme am jüngsten und beweglichsten war, war es selbstverständlich, daß er es tun würde, er mußte sich hinunterschwingen und vorsichtig über die feuchten Haufen aus schimmerndem, feinkörnigem Erz steigen, auf das Unheimliche zu, das dort lag.

Er mußte sich zusammenreißen, um die Hand zu berühren. Es war eine linke Hand mit einer Swatchuhr um das Handgelenk, ein trendgerechtes, neues Modell, das sich Jérôme vielleicht selbst hätte kaufen wollen. Er umfaßte vorsichtig das Handgelenk und legte den weichen Teil des Daumens an die Stelle, wo man den Puls hätte fühlen sollen, falls es noch ein Herz gegeben hätte, das in dem Körper da unten unter dem Erz schlug. Er sah auf seine eigene Uhr und wartete drei ewigkeitslange Minuten, obwohl er wußte, daß es unnötig war. Die Hand war eiskalt, steif, als wäre sie tiefgefroren gewesen, und ganz offenkundig sehr, sehr tot.

– Du mußt jetzt die Polizei anrufen, sagte Guido, während Jérôme in der Tasse umrührte, damit der dritte Teelöffel Zucker sich auflöste.

– Das kannst du doch machen, sagte Jérôme, du bist ja der Ältere.

– Nein, sagte Guido bestimmt, du hast die Leiche gefunden, du rufst an.

Jérôme schielte zu dem altmodischen Bakelittelefon, das in einer Ecke des Schuppens stand.

– Kriegt man überhaupt eine Leitung mit dem da, sagte er, das geht jetzt wohl nur zum Wachmann beim Westtor?

– Dann ruf den Wachmann an und erzähl ihm, was passiert ist, der kann dann die Polizei anrufen.

Das klang doch weniger beängstigend, dann mußte ein anderer die Verantwortung übernehmen. Jérôme hob den Hörer ab und wählte 11, die Nummer, unter der man abends, wenn die Telefonistinnen von der Zentrale nach Hause gegangen waren, den Nachtwächter erreichte. Der Nachtwächter klang beruhigend und väterlich, als er versprach, sofort dafür zu sorgen, daß Polizei und Staatsanwaltschaft benachrichtigt wurden.

– Das war das, sagte Guido, und jetzt rufst du den Vorarbeiter an und erzählst, was passiert ist, und daß wir die Löschung abgebrochen haben, es dauert bestimmt lange, bis wir damit weitermachen können.

Jérôme sah den älteren Mann bittend an.

– Kannst du nicht zumindest das machen? Heute abend hat Polese Dienst, du kennst ihn doch, wenn ich versuche, es zu erklären, wird er es nur so hindrehen, daß es meine Schuld ist.

Guido murrte ein wenig, nahm aber das Telefon und wählte die Nummer des Werkmeisterbüros, wo er offenbar den Schichtvormann Tony Polese erreichte, und erklärte konzis die Lage.

– Jetzt fehlt nur noch eines, sagte Guido, als er aufgelegt hatte. Jetzt mußt du nur noch Becker anrufen.

– Becker, sagte Jérôme nervös, warum soll ich den da reinziehen? Ich habe ja nichts falsch gemacht.

Er begann, trotz der Decke zu frieren, und seine Zähne klapperten, aber gleichzeitig waren seine Handflächen feucht von Schweiß. Er dachte sehnsuchtsvoll an die Gang, die sich jetzt langsam in der Bar versammelte, um dann gegen Mitternacht zum Le Garage weiterzuziehen. Er hatte im Gefühl, daß er heute abend die Füße nicht auf die Tanzfläche setzen würde, und tat sich selbst leid. Aber dann dachte er an den Toten da draußen und schämte sich. Er war sicher, daß es die Hand eines jungen Mannes war, die er gehalten hatte, glatt und muskulös, ein Junge in seinem eigenen Alter, der nie mehr tanzen oder ein Bier in sich hineinschütten oder mit einem Mädchen schlafen würde.

– Ich kapiere nicht, was mit euch jungen Leuten los ist, sagte Guido irritiert, es ist wohl selbstverständlich, daß du Becker bittest hierherzukommen. Ist man in eine Teufelei geraten, soll man dafür sorgen, die Gewerkschaft an seiner Seite zu haben, und was Teuflerisches als das hier kann man sich schwer vorstellen. Die Oberklasse hat ihre Rechtsanwälte, wir haben die Gewerkschaft. Du hast ja selbst gesagt, daß jemand sagen könnte, daß es deine Schuld war. Ruf jetzt ihre Geschäftsstelle an, sie haben das Telefon weitergeschaltet, das weiß ich.

Sie mußten eine gute halbe Stunde in dem Schuppen warten, dreiunddreißig Minuten, die Jérôme als unendlich empfand. Über den Job hinaus hatten Guido und er nicht viel miteinander zu reden. Es lagen vierzig Jahre zwischen ihnen, und manchmal hatte Jérôme das Gefühl, daß sie von verschiedenen Planeten kamen. Wenn Guido von seiner Kindheit in irgendeinem gottverlassenen italienischen Provinznest während des Krieges erzählte, klang es, als erzähle er Erinnerungen aus der dritten Welt.

Nach siebenundzwanzig Minuten legte Jérôme die Decke weg und trat aus dem Schuppen, um etwas frische Luft zu schnappen. Er stellte sich mit dem Rücken zu den Eisenbahnwaggons, um nicht an das denken zu müssen, das da lag, und zündete eine seiner immer selteneren Zigaretten an, er dachte tatsächlich ernsthaft darüber nach, mit dem Rauchen aufzuhören.

Geradeaus vor ihm, aber weit hinten auf dem riesigen Werksgelände von Forvil war die flatternde blaue Flamme des Hochofenkranzes vor dem Abendhimmel zu sehen.

Er hatte die halbe Zigarette geraucht, als plötzlich alles auf einmal passierte. Drei Polizeiwagen kamen mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirenen langsam das Eisenbahngleis entlang angerollt, während gleichzeitig der Gewerkschaftsvorsitzende Jean-Claude Becker mit langen Schritten von rechts kam, als sei er durch das Südtor hereingekommen. Fünfzig Meter hinter den drei Polizeiwagen rollte fast lautlos ein schwarzer BMW heran.

Der BMW hielt zuerst an. Ein Mann im hellen Mantel und mit einem blauen Schutzhelm auf dem Kopf stieg an der Beifahrerseite aus. Jérôme erkannte ihn. Es war Michel Pirot, stellvertretender Geschäftssführer von Forvil und bekannt als derjenige in der Unternehmensleitung, der ausrückte, wenn unerwartete Probleme zu lösen waren. Er und Jean-Claude Becker erreichten im selben Moment die Reihe der Eisenbahnwaggons und schüttelten einander feierlich die Hand, während gleichzeitig aus den Polizeiwagen Leute auszusteigen begannen.

– Wartet, rief Pirot und ging auf sie zu, keiner darf sich hier auf dem Gelände ohne Schutzhelm bewegen, ich habe genug mit, daß es für alle reicht!

Pirots Chauffeur schleppte einen großen Pappkarton mit Besucherhelmen an, und Pirot ging zum Auto und nahm noch einen Karton heraus. Inzwischen schlenderte Jean-Claude Becker zu Jérôme, von dem bis jetzt niemand Notiz genommen hatte.

– Hallo, Jérôme, sagte er freundlich, das hier war nicht so lustig, ist mir klar. Wie geht es dir, das muß ein Schock für dich gewesen sein?

Er trug Jeans und eine abgewetzte braune Wildlederjacke. Sein Schutzhelm war voller Aufkleber, Gewerkschaftsabzeichen und hatte einen schmucken Kranz Schlümpfe um die Helmkante. Über seinem Namensschild thronte ein Aufkleber mit Papa Schlumpf, weißbärtig und rotbehost.

– Schon okay, sagte Jérôme schneidig, für den da drüben ist es schlimmer.

Er machte mit dem Kopf eine Geste Richtung Eisenbahnwaggon.

– Hast du eine Ahnung, wer das sein kann, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende leise, ich meine, glaubst du, daß es jemand von Forvil ist oder jemand von draußen?

– Ich weiß nicht, sagte Jérôme zögernd, es ist nur eine Hand, die herausragt, eine Männerhand, ich glaube, es ist ein ziemlich junger Typ.

– Sieht man Kleidung? Overall oder …?

– Jeanshemd, sagte Jérôme, mit aufgeknöpfter Manschette.

– Und die Hand selbst, fuhr Becker unerbittlich fort, wenn man dich fragen würde, was würdest du sagen, gehört sie einem Dichter oder einem Hafenarbeiter?

Jérôme erschauerte. Er hatte während der drei viel zu langen Minuten, in denen er versucht hatte, der Leiche den Puls zu fühlen, reichlich Gelegenheit gehabt, die Hand zu studieren.

– Es ist kein Schwerarbeiter, sagte er langsam, die Nägel sind gleichmäßig und völlig sauber, und die Hand ist glatt, und ich glaube, er hat einen Tintenfleck am Zeigefinger, aber es kann auch etwas anderes sein.

Beckers graue Augen blickten nachdenklich.

– Ein junger Mann um die zwanzig, sagte er langsam, einer, der schreibt, lässig gekleidet, wie klingt das?

Es klang, als ob er eher laut dachte, als daß er mit Jérôme sprach, und Jérôme machte sich nicht die Mühe zu antworten.

– Hallo, Jean-Claude, sagte hinter ihm eine Frauenstimme in leichtem Ton, fragst du hier meinen Zeugen aus?

Jérôme drehte sich um und sah eine schlanke, blonde Frau mit schnellen Schritten auf sie zukommen. Er erkannte sie – es war die Untersuchungsrichterin Martine Poirot, Promi in Villette, nachdem sie im letzten halben Jahr zwei spektakuläre Mordermittlungen geleitet hatte. Jérôme betrachtete sie neugierig. Er hatte aus irgendeinem Grund eine Schwäche für Frauen, die etwas älter waren als er selbst, und er hatte Martine Poirot recht appetitlich gefunden, als er sie im Fernsehen gesehen hatte, ein wenig wie Debbie Harry, die ihm gefiel. So aus der Nähe war sie kleiner, als er sich vorgestellt hatte, aber ebenso hübsch wie im Fernsehen, trotz des viel zu großen Schutzhelms, den sie auf die blonden Haare gedrückt hatte. Sie trug hohe schwarze Stiefel und ein schwarzes Ledersakko, das teuer aussah, über einem dunkelgrünen Kleid.

Und sie schien den Gewerkschaftsvorsitzenden zu kennen.

– Hallo, Martine, sagte Jean-Claude Becker, ist lange her. Ich bin natürlich nur hier, um meine Gruppenmitglieder zu fragen, ob sie nach ihrem erschütternden Erlebnis heute abend Unterstützung brauchen.

Sie verzog den Mund und wandte sich Jérôme zu.

– Jérôme Vandermeel, nicht wahr, sagte sie und streckte die Hand aus, Sie waren es, der den Toten entdeckt hat, stimmt’s? Ich heiße Martine Poirot und bin Untersuchungsrichterin, ich soll die Voruntersuchung in diesem Todesfall leiten. Wir werden uns gleich hinsetzen und darüber reden, aber zuerst hätte ich gern eine Schnellversion, damit wir beurteilen können, wieviel vom Gelände wir absperren müssen.

Jérôme erklärte rasch, wie er den toten Körper zusammen mit dem Erz aus dem Baggerlöffel hatte fallen sehen.

– Hmm, sagte Martine Poirot, die Leiche kam also von dem Prahm da …

Sie sah über den Fluß.

– Dafne 3, Heimathafen Dordrecht, sagte Michel Pirot, der mit einer Plastikmappe in der Hand zu ihnen kam, verließ den Hafen von Antwerpen letzten Dienstag, beladen mit Eisenerz aus der Grube von Hanaberget in Schweden, im übrigen die allerletzte Ladung von dort, legte hier an unserem Kai gegen drei heute nachmittag an. Eigentlich ist es also nur der Prahm, den Sie absperren müssen, und vielleicht den Eisenbahnwaggon mit der Leiche, ansonsten kann die Arbeit hier weitergehen.

Er lächelte Martine Poirot zufrieden an, als sei das letzte Wort in der Frage gesprochen. Jean-Claude Becker grinste hochachtungsvoll.

– Immer langsam, sagte Martine Poirot, ganz so leicht geht das nicht, Monsieur Pirot. Der Prahm liegt hier seit ein paar Stunden, und noch können wir ja nicht wissen, ob der Körper hier oder unterwegs oder schon in Antwerpen an Bord gebracht worden ist. Übrigens, wo ist die Besatzung?

– Sie waren vorhin hier, sagte Jérôme, sie müssen wieder an Bord gegangen sein.

Sie nickte und ging zu den Polizisten und Kriminaltechnikern, die an den Eisenbahnwaggons standen und debattierten. Jérôme war niedergeschlagen und stand da ganz allein mit der Gewerkschaft und der Unternehmensleitung. Der verflixte Guido versteckte sich immer noch im Pausenschuppen.

– Tja, sagte Pirot zu Becker, es liegt wohl in unser aller Interesse, daß das hier so schnell wie möglich geklärt wird. Alle Karten auf den Tisch, keine Obstruktion, umfassende Zusammenarbeit mit der Polizei, damit wir sie bloß schnell loswerden.

– Klar, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende. Eines noch, Pirot – ich gehe davon aus, daß Vandermeel und Leone unter dieser Sache wirtschaftlich nicht leiden müssen. Es war ja nicht ihre Schuld, daß die Arbeit unterbrochen wurde.

Jérôme hatte nicht einmal daran gedacht, daß er durch seinen Leichenfund Geld verlieren könnte. Der Lohn bei Arbeitsausfall war lausig, und daß es nicht seine Schuld war, daß die Arbeit vorläufig eingestellt wurde, spielte dafür keine Rolle, was Becker natürlich sehr wohl wußte.

– Der Lohn bei Arbeitsausfall wird vereinbarungsgemäß gezahlt, wenn die Arbeit ausfällt, sagte Pirot, ohne Rücksicht auf die Ursache. Stromausfall, Auftragsmangel, Leichenfund, Heuschreckenschwärme, das spielt keine Rolle. Wie du weißt.

– Aber es geht ja nur um zwei Männer, sagte Becker überredend, und hast du daran gedacht, daß Vandermeel die Leiche hätte übersehen können, um den Akkord nicht zu versauen? Mit etwas Pech hätte sie direkt in den Hochofen wandern können, ohne daß jemand etwas geahnt hätte. Und du weißt, was die Jungs von der Polizei halten, zumindest die älteren. Etwas Entgegenkommen von der Leitung würde die Kooperationsbereitschaft sicher erhöhen.

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, Beckers aus grauen und Pirots aus dunkelblauen Augen. Jérôme sah, daß sie einander respektierten. Pirot war der, der den Blickkontakt zuerst unterbrach. Er lächelte schwach.

– Der menschliche Körper besteht aus verschiedenen Kohlenstoff-, Stickstoff- und Wasserstoffverbindungen, sagte er, wüßte gern, welchen Effekt das auf die Schmelze gehabt hätte? Das wäre ein Zusatz, den ich in meiner Doktorarbeit nicht behandelt habe. Ja, ich sorge dafür, daß der Vormann über Vandermeel und Leone informiert wird. Und dann heißt es Zusammenhalten.

Am Eisenbahnwaggon hatte die Polizei eigene Scheinwerfer montiert, die mit starkem weißem Licht auf die Ladung leuchteten. Jemand war an der Außenseite des Waggons hochgeklettert und guckte jetzt hinunter auf die Hand, ebenso, wie es vorher Jérôme getan hatte, aber jetzt mit besserer Beleuchtung. Er schrie auf.

– Etwas klemmt in der Daumenfalte, es sieht aus wie ein Stück Papier! Bringt eine Pinzette und einen Umschlag, es ist besser, wir kümmern uns darum, bevor wir das hier unten durcheinanderbringen.

Jérôme wurde neugierig und ging auf den Waggon zu, gefolgt von Becker und Pirot. Er kam dort an, als gerade ein Mann in einer Art Schutzanzug vom Eisenbahnwaggon heruntersprang und einen durchsichtigen Zellophanumschlag zu Martine Poirot hinüberreichte.

– Sieht aus wie Zeitungspapier mit Blutspritzern darauf, ein paar Wörter sind leserlich, aber der Teufel weiß, was da steht, es ist keine Sprache, die ich kenne.

Martine Poirot nahm den Umschlag, glättete ihn an der Handfläche und stellte sich unter den Scheinwerfer, so daß das starke Licht direkt auf das Papier fiel.

– Aber ich weiß es vielleicht, sagte sie langsam, seht hier, ein »a« mit zwei Punkten darüber, das gibt es in mehreren Sprachen, aber hier ist auch ein »a« mit einem runden Ring darüber, viel ungewöhnlicher. Aber ich habe es oft gesehen, mein Mann liest schwedische Zeitungen, und im Schwedischen gibt es diesen Buchstaben.

Sie drehte sich zu Pirot um und runzelte die Stirn.

– Sagten Sie nicht, daß das Erz aus Schweden gekommen ist? Das ist vielleicht ein Zufall. Aber es scheint tatsächlich so, als hätte der tote Mann in der Erzladung ein abgerissenes Stück Papier aus einer schwedischen Zeitung in der Hand.

KAPITEL 2

Mittwoch, 21. September 1994

Granåker

– Du mußt wissen, daß ich viele Männer gehabt habe, murmelte die Bischöfinwitwe. Sie sank zurück auf die Kissen, schloß die Augen und schlief wieder ein. Ihr Atem war schnell und leicht wie bei einem sehr kleinen Kind, und als Thomas Héger ihre Hand nahm, fühlte sie sich dünn und spröde an, als wären die Knochen hohl geworden, mit Haut, die sich fältelte wie ein etwas zu großer Wildlederhandschuh. Er drückte sie vorsichtig, und seine Großmutter schlug die Augen wieder auf.

– Aber Aron, bist du da, sagte sie erstaunt.

– Nein, Großmutter, ich bin Thomas, Evas Sohn, sagte er sanft. Er wußte, daß er seinem Großvater ähnlich war, aber Bischof Aron Lidelius war vor mehr als zwanzig Jahren gestorben und hatte seine Frau Greta zurückgelassen, eine recht lustige Witwe, die in den Jahren nach dem Tod des Gatten Englisch studiert und Kurse geleitet hatte und um die halbe Welt gereist war. Ihren neunzigsten Geburtstag hatte sie in Paris gefeiert. Aber jetzt war sie fünfundneunzig, und eine Lungenentzündung während des Winters hatte an ihren Kräften gezehrt. Sie wirkte substanzlos, dachte Thomas, im Begriff, sich von allem Irdischen zu verabschieden, eine schwach flackernde Kerze, die ganz einfach am Verbrennen war.

– Eva will Malerin werden, wußtest du das? sagte Greta Lidelius.

– Ja, Großmutter, sagte Thomas. Seine Mutter Eva Lidelius war seit den sechziger Jahren eine international anerkannte Künstlerin, deren Gemälde in Museen in New York und Tokio ebenso wie in Europa hingen.

– À Paris on m’appelait Margot, murmelte die Bischöfin und sank mit einem verträumten Lächeln zurück auf die Kissen. In ihrer Jugend hatte Greta Lidelius, geborene Herou, an André Lhotes Kunstschule in Paris studiert. Aber nach der Verlobung mit Aron Lidelius, den sie kennengelernt hatte, als er Pastor in der schwedischen Kolonie in Paris war, während er gleichzeitig an der Sorbonne an seiner Dissertation in Theologie arbeitete, hatte sie die Künstlerträume abgelegt.

Der Atem der alten Dame wurde schwerer, und der spröde Körper schien sich unter der Decke zu entspannen. Thomas stand vorsichtig auf und sah sich im Raum um. Es war eine Bibliothek mit Wänden in Englischrot und eingebauten Bücherregalen bis an die Decke, die in den letzten Wochen auch Greta Lidelius’ Schlafzimmer gewesen war, weil sie mit ihren Doppeltüren der einzige abgetrennte Raum war, in den man das höhenverstellbare Krankenbett hineinbekam.

Seit dem Tod ihres Mannes hatte Greta Lidelius allein in dem alten Pfarrhof von Granåker gewohnt, den das Paar Lidelius gekauft hatte, als die schrumpfende Provinzgemeinde 1962 dem Pastorat der expansiven Grubenortschaft Hanaberget einverleibt worden war. Aron Lidelius war in den dreißiger Jahren Pastor in Granåker gewesen, und dorthin wollte er zurück, als ihm 1955 ein Herzanfall klargemacht hatte, daß er als Bischof abtreten mußte, wenn er noch ein paar Jahre auf der Erde erleben und Zeit finden wollte, sein großes Werk über die frühe christliche Lehre im Licht der Schriftrollen vom Toten Meer zu vollenden. Damals war schon klar, daß die Gemeinde von Schließung bedroht war, und das Bistum hatte den Wunsch des früheren Bischofs, dort in den letzten Jahren arbeiten zu dürfen, bevor er sich zurückzog, enthusiastisch bewilligt.

Für Thomas und seine drei älteren Geschwister war der gelbe Pfarrhof das Sommerparadies ihrer Kindheit gewesen, mit Tagen voll von Walderdbeerenpflücken, Touren auf Heufuhren, Badeausflügen zu dem kleinen Binnensee und Streifzügen im harzduftenden Wald, wo das Sonnenlicht ganz anders durch die Kiefernkronen und dichten Tannen sickerte als in den Laubwäldern zu Hause in Belgien. Eva Lidelius und ihr belgischer Ehemann waren sich einig gewesen, daß ihre Kinder fließend Schwedisch sprechen lernen sollten, und deshalb hatten die vier Kinder Héger nacheinander ihre Sommer bei den Großeltern verbringen dürfen.

Thomas betrachtete nostalgisch die beiden geräumigen Ohrensessel vor dem offenen Kamin. Hier hatten ihm die Großeltern an Sommertagen, wenn Regenschleier es unmöglich machten, durch die drei hohen Fenster in der Bibliothek bis zur Kirche zu sehen, abwechselnd »Mio, mein Mio« vorgelesen. Er konnte die metallisch klingende Stimme seines Großvaters, angepaßt an Kanzeln und Katheder, fast hören: »Greta, Liebes, ich finde, der junge Mann hier sieht schon ganz ausgehungert aus. Das erfordert wohl einen raschen Einsatz von Himbeersaft und Gugelhupf!«

Über dem offenen Kamin hing ein Porträt von Greta Lidelius, gemalt von ihrer Tochter 1945, ein paar Monate bevor sie zum Studium hinunter zum Kontinent reiste und dort blieb. Eva Lidelius war damals sehr jung gewesen, aber es war leicht, die Kontinuität zwischen ihren Jugendgemälden und ihren späteren reifen Werken zu sehen. Thomas wußte, daß seine Großmutter viele Anfragen bekommen hatte, diejenigen von Evas Gemälden, die im Pfarrhof hingen, zu verkaufen, aber sie war nicht interessiert gewesen.

Er meinte, ein Klopfen an der Tür zu hören, und ging in die Diele. Doch, es klopfte wieder. Er machte auf und stand Auge in Auge mit einer Frau um die vierzig. Sie war feingliedrig und klein, hatte rote Haare und eine Pagenfrisur, und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie ihn sah.

– Nein, Thomas, wie schön! Gott, ist das lange her, daß ich dich gesehen habe, das müssen mindestens zwanzig Jahre sein!

Angesichts eines solchen Enthusiasmus empfand er es als ziemlich peinlich, daß er die Besucherin nicht unterbringen konnte, aber er wußte wirklich nicht, wer sie war. Er öffnete die Tür und forderte sie auf, in die Glasveranda einzutreten, während er fieberhaft versuchte, die roten Haare und die grünblauen Augen einzuordnen.

Sie sah seine Qual und lachte.

– Du erkennst mich nicht, stimmt’s? Birgitta Janols, inzwischen Matsson.

– Birgitta! sagte er erfreut. Ja, jetzt sehe ich, daß du es bist, die Haare haben mich in die Irre geführt, ich bin sicher, daß du nicht rothaarig warst, als wir uns das letzte Mal gesehen haben!

Sie lächelte ganz genauso, wie sie es vor dreißig Jahren getan hatte, ein bezauberndes, weit offenes Lächeln, das zwei leicht schiefe Schneidezähne zeigte.

– Tja, du, die Natur ist erstaunlich, sagte sie und strich sich mit einem Funkeln im Auge über die Haare, so wurde es 1978, und so ist es seitdem geblieben.

Den Sommer bevor er in die dritte Klasse kam, hatte Thomas im Pfarrhof verbracht, und als er gerade angefangen hatte, Heimweh nach Geschwistern und Eltern und Freunden in Belgien zu bekommen, hatte seine Großmutter sich mit ihm an den großen Tisch in der Küche gesetzt und ihm ernst erklärt, daß entschieden worden sei, daß er das ganze Schuljahr in Granåker bleiben und in Hanaberget in die Schule gehen sollte. Er wußte immer noch nicht genau, warum, aber es hatte etwas mit einer langen USA-Reise, die seine Eltern gemacht hatten, und, das war sein Verdacht, einer Ehekrise zu tun, zu der sich keiner von beiden je bekennen wollte.

Die erste Zeit in der neuen Schule war mühsam für Thomas gewesen, der von den Schulkameraden mit Mißtrauen betrachtet wurde, weil er im Pfarrhof wohnte, Ausländer war und ein akademisch geprägtes Uppsala-Schwedisch statt der breiten Dalarna-Mundart der Gegend sprach. Es war ihm komisch vorgekommen, das Schwedische, die Sprache der intimsten Gespräche zwischen ihm und seiner Mutter, von harten kleinen Jungen mit weißblonden Stoppelhaaren und Schürfwunden an den Knien gesprochen zu hören. Er hatte schon da begriffen, daß er besser darauf verzichtete, das liebe Fräulein Persson zu korrigieren, wenn sie beim Aufrufen seinen Namen »Thomas Häger« aussprach.

Zwei Dinge hatten die Situation verbessert. Erstens stellte sich heraus, daß Thomas der Beste der Schule im Hochsprung und ein akzeptabler Fußballspieler war, und zweitens gelang es ihm schnell, sich den richtigen Dialekt zuzulegen.

Und daß er das getan hatte, war zum großen Teil Birgitta Janols’ Verdienst. Sie war damals fünfzehn gewesen, gerade nach der achten Klasse abgegangen und hatte für vier Stunden am Tag einen Job als Haushaltshilfe im Pfarrhof bekommen. Für Thomas war sie ein Ersatz für die Schwestern geworden, die er vermißte, ein fröhliches Mädchen mit einem unerschöpflichen Vorrat an lokalen Gespenstergeschichten und einem absoluten Mangel an Respekt vor Autoritäten. Sie hatte keine Sekunde gezögert, den Bischof zurechtzuweisen, wenn die Situation es verlangte – »Aber Aron, jetzt bist du wieder mit den Galoschen an den Füßen reingegangen, was denkst du eigentlich?« Und der Bischof hatte schuldbewußt zu den nassen Fußspuren auf dem hellen Knüpfteppich geschielt und entschuldigend gemurmelt: »Ja, aber die kleine Birgitta versteht, ich war so in Gedanken.«

– So was, daß du hier bist, sagte Birgitta, das ist wirklich eine Überraschung. Ich hatte gedacht, daß deine Mutter vielleicht kommen würde, jetzt, wo es Greta schlechter geht.«

– Mama ist in Japan, antwortete Thomas auf die unausgesprochene Frage. Sie arbeitet an einem Wandgemälde für ein neues Universitätsgebäude. Sie würde mehrere Tage brauchen, um hierherzukommen, deshalb fanden wir es besser, daß ich fahre. Du möchtest sicher Kaffee? Ich bin gestern abend gekommen, deshalb weiß ich nicht genau, was ich anbieten kann, aber es gibt sicher etwas im Brotkasten oder im Gefrierschrank.

Birgitta zögerte.

– Ich habe nicht soviel Zeit, sagte sie, ich bin eigentlich gekommen, um ein paar Worte mit Greta zu wechseln. Wie geht es ihr, ich habe gehört, es geht ihr schlechter?

– Sie ist schwach, sagte Thomas, es sieht so aus, als wäre sie dabei zu verschwinden. Sie ist gerade eingeschlafen, aber sie schläft nie sehr lange. Laß uns eine Tasse Kaffee trinken, vielleicht wacht sie auf, bevor du gehst.

– Also eine schnelle Tasse, sagte Birgitta, dann können wir auch ein bißchen reden.

Sie gingen in die Küche, und Birgitta ließ sich auf dem dalarnablauen Küchensofa nieder, während Thomas Kaffee aufsetzte und aus dem Brotkasten ein paar Wecken nahm.

– Erzähl jetzt, sagte Thomas, nachdem er Kaffee eingeschenkt hatte, was machst du zur Zeit?

– Ich bin Kommunalrat in Hammarås, sagte Birgitta und schielte mit einer Miene zu Thomas, die ihm sagte, daß sie irgendeine Reaktion erwartete, sich das aber nicht direkt anmerken lassen wollte.

Das Problem war, daß »Kommunalrat« ein Wort war, das ihm nichts sagte, was mit zusammengesetzten Wörtern im heutigen Schwedisch oft vorkam. Hammarås war die Stadt mit Hüttenindustrie, die zwanzig Kilometer südlich von Hanaberget lag. Birgitta war vielleicht eine Art Beraterin der Kommunalverwaltung dort, ungefähr wie Jean-Pierre Santini zu Hause in Villette, dachte er unsicher.

Noch einmal sah Birgitta seine Verwirrung.

– Bürgermeister, sagte sie, ich nehme an, ihr habt Bürgermeister da unten, wo du wohnst, aber hier nennen wir das Kommunalrat.

– Oj, sagte Thomas, wirklich beeindruckt, gratuliere, Birgitta! Bist du das schon lange?

– Bald drei Jahre, sagte Birgitta. Der alte Kommunalrat ist kurz nach der vorigen Wahl Knall auf Fall gestorben, und die Kollegen, die übernehmen wollten, haben sich gewissermaßen gegenseitig ausgeschaltet, und da bin ich eine Art Kompromißkandidat geworden. Aber es ist gutgegangen, wir haben bei der Kommunalwahl letzten Sonntag siebenundsechzig Prozent der Stimmen bekommen, das ist das beste Ergebnis seit dem Krieg.

Sie lächelte ihn an, ein Lächeln, in dem berechtigter Stolz die falsche bescheidene Attitüde durchbrach, über die sich Thomas bei Leuten hier in der Gegend, wo es Brauch und Sitte war, sich nicht zu überheben, oft geärgert hatte. Zum ersten Mal nahm er ihre ganze Erscheinung auf. Sie trug eine schwarze lange Hose und eine gerade geschnittene Jerseytunika mit Rollkragen in gedeckten Farben. An den Ohrläppchen baumelten kleine Frauenzeichen aus Silber, und neben ihr auf dem Sofa lag eine dreiviertellange lila Wildlederjacke mit so etwas wie Applikationen. Seine Schwester Sophie hätte sicher eine Totalanalyse von Birgitta Matsson vornehmen können, allein durch den Blick auf die Kleider. Aber Sophie kannte Birgitta ja auch. Hatten sie nicht sogar eine Weile die Wohnung geteilt, als Sophie in den Siebzigern ein paar Jahre Mitglied einer freien Theatergruppe gewesen war und in Hammarås gewohnt hatte?

– Jetzt bin ich noch mehr beeindruckt, sagte er. Es war wohl nicht so leicht, eine Industriekommune wie Hammarås in Krisenjahren wie diesen hier zu regieren?

Birgitta guckte auf den Tisch und rührte den Kaffee um. Als sie wieder aufsah, waren die Linien um ihren Mund sichtbarer, und die grünblauen Augen hatten sich verfinstert.

– Nein, sagte sie, es war kein Zuckerschlecken, in den letzten Jahren Kommunalrat in einer Grubenortschaft zu sein. Gott sei Dank bekommen wir jetzt ja einen Regierungswechsel, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wieviel das helfen wird. Die Grube hat vorige Woche dichtgemacht, die allerletzte Grube in Bergslagen, und dem Eisenwerk geht es seit mehreren Jahren schlecht. Ich habe vielleicht eine Ersatzaufgabe für Hanaberget, aber die Verhandlungen sind nicht abgeschlossen, und was die Hamra-Hütte angeht …

Sie beendete den Satz nicht und saß eine Weile mit nachdenklicher Miene da.

– Ach ja, Thomas, sagte sie schließlich, du wohnst doch in Villette, oder? Was weißt du über Stéphane Berger?

Thomas wunderte sich. Stéphane Berger war ein umstrittener französischer Geschäftsmann, der vor zwei Jahren einen Teil von Forvil, dem krisengeschüttelten Stahlunternehmen in Villette, gekauft hatte, um es in eigener Regie weiterzuführen.

– Berger, sagte er, ich weiß nichts Genaues über ihn, nicht mehr, als alle anderen wissen.

– Und das wäre, sagte Birgitta, es ist sicher mehr, als wir hier oben wissen. Erzähl, sei so gut!

– Er ist Geschäftsmann, sagte Thomas, ist reich geworden, indem er Unternehmen mit Problemen gekauft und sie nach einer Weile weiterverkauft hat, an eine Fahrradfabrik erinnere ich mich und an einen Schuhhersteller, unter anderem. Davor war er mäßig bekannt als B-Schauspieler, er hatte eine Rolle in einer französischen Polizeiserie, die Ende der Sechziger äußerst populär war, »Die Bullen von Saint-Tropez«. Ja, und hin und wieder hört man, daß er politische Ambitionen hat und der französischen Regierung nahesteht. Gleichzeitig geht das Gerücht, daß er an der Riviera Kontakte zu Kriminellen pflegt. Viele lieben ihn, mindestens ebenso viele hassen ihn.

– Wo kommt er her? fragte Birgitta.

– Marseille, glaube ich, sagte Thomas, auf jeden Fall hat er seine Karriere in Südfrankreich begonnen.

Er erinnerte sich nostalgisch an »Die Bullen von Saint-Tropez«, eine Serie, für die er lächerlich geschwärmt hatte, als er dreizehn, vierzehn gewesen war. Jede Folge enthielt mindestens eine Wettfahrt zwischen Rennbooten und mindestens eine Autojagd auf lebensgefährlichen Bergstraßen oberhalb des Mittelmeers sowie mindestens fünf schöne Mädchen im Bikini, die ausgestreckt auf Bootsdecks lagen oder sich am Strand räkelten. Stéphane Berger hatte in unten ausgestellten Hosen, engen Hemden und mit gewaltigen Koteletten den Herzensbrecher Inspektor Bruno gespielt. Gott, was für ein Schund war das gewesen!

– Und er hat das Feinwalzwerk von Forvil in Villette gekauft, fuhr Birgitta fort, hast du was gehört, wie das läuft?

Thomas erinnerte sich an den Rummel, als Berger sich bei Forvil eingekauft hatte. Offenbar waren die Eigentümer von Forvil überglücklich gewesen, die verlustbringende Anlage loszuwerden, denn Berger hatte sie für einen symbolischen Ecu, lumpige vierzig belgische Francs, übernehmen können. Er hatte den Betrag in Form einer alten französischen Ecu-Münze dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Stahlunternehmens, Arnaud Morel, bei einer Zeremonie auf der Grande Place in Villette übergeben, mit Blasorchester und Freibier für alle. Viele von denen, die auf den Platz gekommen waren, hatten Plakate mit Texten wie »Willkommen, Inspektor Bruno« und »Inspektor Bruno rettet unsere Jobs« bei sich.

Und merkwürdigerweise schien es gleich bessergegangen zu sein, nachdem Berger den Betrieb übernommen hatte. Thomas erinnerte sich an Zeitungsartikel über zunehmende Verkaufserfolge und neue Großbestellungen. Er erzählte es Birgitta.

– Aber warum interessierst du dich eigentlich so für Stéphane Berger? fragte er neugierig.

Sie schüttelte den Kopf.

– Kann ich nicht sagen, leider, aber du kannst es dir wohl fast ausrechnen. Hat Greta nichts gesagt?

– Nein, warum hätte sie das tun sollen? sagte Thomas erstaunt.

– Ach, sagte Birgitta, sie hat zufällig einen Teil eines Gesprächs gehört, das ich mit Daniel, deinem Neffen, meine ich, hatte, er arbeitet ja mit der Umweltaufsicht für die Stahlunternehmen zusammen. Hör mal, stimmt es, daß deine Frau Polizistin ist? Irgend jemand hat das gesagt.

– Nicht ganz, sagte Thomas, aber beinah. Martine ist Untersuchungsrichterin.

Birgitta sah verständnislos aus, so verständnislos, wie Thomas wahrscheinlich aussah, als sie erzählt hatte, sie sei Kommunalrat.

– Das bedeutet, daß sie Ermittlungen nach schweren Verbrechen leitet, erklärte Thomas, obwohl sie nicht Polizistin, sondern Richterin ist und das Recht hat, über Inhaftierungen und Hausdurchsuchungen und so etwas zu entscheiden.

– Aha, sagte Birgitta, ungefähr wie dieser Italiener, den sie dieses Jahr auf Sizilien in die Luft gesprengt haben? Verzeihung, das war vielleicht nicht so taktvoll. Aber jetzt muß ich mich wohl auf den Weg machen. Wollen wir erst bei Greta reingucken und sehen, ob sie wach ist? Sonst kann ich später in der Woche wieder vorbeikommen, bevor ich nach Brüssel fahre.

– Brüssel? sagte Thomas.

– Ja, sagte sie, ein Kurs für Kommunalräte vor der EU-Mitgliedschaft. Wenn wir nun reinkommen, was ich stark hoffe.

Greta Lidelius saß aufrecht im Bett, den Kopf dem offenen Kamin zugewandt. Es sah aus, als betrachte sie das Porträt, das dort hing. Aber obwohl ihre braunen Augen weit offen waren, gab es etwas in ihrem Blick, das sagte, daß sie ganz woanders war.

– Guten Tag, Greta, sagte Birgitta, ich wollte mal reingucken und hören, wie es geht.

Greta Lidelius wandte ihr das Gesicht zu.

– Wie nett von dir, Birgitta, Liebes, sagte sie warm, sag Eva Bescheid, daß sie dir etwas anbietet. Eva ist meine Tochter, sie wird Malerin, verstehst du.

Sie wandte den Blick wieder dem Gemälde zu.

– Er hat es genommen, sagte sie. Ich wußte, daß er es genommen hatte, aber ich wollte Aron nichts sagen.

Sie sah die beiden ängstlich an.

– Hätte ich sagen sollen, daß er es genommen hat? Aron hätte sich so aufgeregt, versteht ihr, und deshalb habe ich ihn angelogen. Meint ihr, das war ein Fehler?

Sie legte sich hin, schloß die Augen und schlief wieder ein.

KAPITEL 3

Mittwoch, 21. September 1994

Villette

Martine ließ sich dabei helfen, den Eisenbahnwaggon hinaufzuklettern. Es hatte angefangen zu regnen, und sie wurde naß im Nacken, als Tropfen vom Schutzhelm unter den Kragen liefen. Sie sah düster auf den feuchtglänzenden Haufen aus fein zerkleinertem Eisenerz hinunter, der den Körper bedeckte. Das hier mußte der mit Abstand am schwersten handhabbare Fundort einer Leiche sein, auf den sie je getroffen war. Wie sollte man den toten Körper herausbekommen, ohne die Spuren zu zerstören, die es eventuell geben konnte?

Sie wandte sich dem weißgekleideten Tatortspezialisten zu, der gerade vom Waggon hinuntergeklettert war und jetzt dastand und zu ihr aufsah.

– Was meinst du, sagte sie, man muß eine Art Bürste benutzen und die Leiche damit gewissermaßen freilegen, oder?

Er nickte zustimmend.

– Ja, das ist die einzige Möglichkeit, und das wird Zeit brauchen, mindestens eine Stunde, wenn es ordentlich gemacht werden soll, also mach inzwischen gern etwas anderes.

Sie sprang vom Eisenbahnwaggon hinunter. Durch treibende Wolken aus Regen sah sie Kommissar Christian de Jonge mit Jean-Claude Becker reden. Ihre Rechtspflegerin Julie Wastia stand bei ihnen und hörte ihnen zu, die Hände tief in den Taschen des roten Trenchcoats.

Martine ging zu Michel Pirot, der an seinen BMW gelehnt dastand, mit verschränkten Armen und den Blick fest auf den Eisenbahnwaggon gerichtet, wie um darüber zu wachen, daß die Interessen von Forvil nicht zu Schaden kamen.

– Ich brauche einen Raum, sagte sie, wo ich die Besatzung des Prahms und die Arbeiter, die den Toten gefunden haben, verhören kann.

Pirot runzelte die Stirn.

– Das einfachste ist wohl, wenn Sie zum Westtor rauffahren, da sind jetzt Leute, sagte er. Es gibt dort ein paar kleine Büroräume, die einigermaßen sauber sind. Ich rufe an und sage Bescheid, daß sie einen Raum für Sie aufschließen.

Er öffnete die Autotür und hob den Hörer seines Autotelefons ab. Martine fiel ein, daß es das beste war, wenn sie der Gerichtsmedizinerin Alice Verhoeven mitteilte, daß sie sich nicht zu beeilen brauchte, und sie ging zu den Polizeiwagen, um jemanden zu bitten, Alice anzurufen. Auf dem Weg zurück zu Christian und Julie trat sie mit einem der extravaganten Louboutin-Stiefel, die sie gerade gekauft hatte, in eine Pfütze und fluchte still vor sich hin. Sie hätte die Gummistiefel aus ihrem eigenen Auto holen sollen.

Christian versprach, die mühsame Arbeit, den toten Körper herauszubekommen, zu organisieren, während Julie sich auf den Weg hinauf zum Westtor machte, um einen Blick auf ihren provisorischen Verhörraum zu werfen. Martine ging hinunter zum Prahm, wo der holländische Skipper und seine beiden Besatzungsmitglieder, gekleidet in Ölmäntel, auf das regennasse Deck gekommen waren und die Aktivität um die Eisenbahnwaggons betrachteten. Sie teilte kurz mit, daß sie mit ihnen reden wolle, und bat den Kapitän, sofort mit ihr zu kommen. Auf dem Weg zum Tor guckte sie in den Pausenschuppen, wo zusammen mit einem mürrischen Italiener um die sechzig der junge Vandermeel saß und den Kopf hängen ließ, und bat sie, in einer Stunde hinauf zum Tor zu kommen.

Der Verhörraum, den Michel Pirot für sie besorgt hatte, war ein fensterloses Kabuff, das muffig roch und eher eine Abstellkammer für ausrangierte Möbel zu sein schien als ein Büro. Er enthielt ein leeres Bücherregal, einen Schreibtisch mit abgeschabtem Furnier, vier stapelbare Stühle mit geraden Rückenlehnen und einen Schreibtischstuhl mit zerrissener Polsterung.

Julie machte eine Grimasse.

– Hätte er nicht was Besseres finden können, sagte sie, hat er Angst, wir würden in Forvils geheimen Papieren schnüffeln, wenn er uns in das richtige Büro läßt?

Mit vereinten Kräften schafften es Martine und Julie, den schweren Schreibtisch mitten in den Raum zu schleppen. Martine stellte den Schreibtischstuhl auf eine Seite des Schreibtischs und ließ sich darauf nieder. Er wackelte. Julie rief den holländischen Kapitän herein und setzte sich auf einen der geraden Stühle neben Martine, den Notizblock in Bereitschaft.

Sie standen sofort vor einem Problem. Martine, die in einer zweisprachigen Brüsseler Kommune aufgewachsen war, sprach gut genug Niederländisch, um die holländischen Besatzungsmitglieder in ihrer Muttersprache befragen zu können, aber Julies Niederländisch reichte absolut nicht aus, um das Verhör protokollieren zu können. Und keiner der Holländer sprach mehr als ein paar wenige Worte Französisch. Die provisorische Lösung bestand darin, daß Martine nach jedem Einzelverhör der Holländer das Gespräch zusammenfaßte und Julie das dann niederschrieb.

Nicht, daß es viel gewesen wäre. Der holländische Kapitän Frans van Dijk und seine beiden Besatzungsmitglieder versicherten wie aus einem Mund, daß keiner von ihnen eine Ahnung gehabt habe, daß sie mit einer Leiche in der Ladung unterwegs gewesen waren. Sie wußten nichts darüber, wann, wo und wie der tote Mann im Prahm gelandet war. Sie hatten den Hafen von Antwerpen am Dienstag morgen gegen acht mit ihrer Erzladung verlassen und waren durch den Albertkanal hinunter nach Liège und weiter durch die Meuse gefahren. Sie waren bei mehreren der Schleusen unterwegs aufgehalten worden. In Genk, wohin sie am Abend gekommen waren, gab es so etwas wie eine gewerkschaftliche Bummelaktion des Schleusenpersonals, was dazu geführt hatte, daß sie so lange hatten warten müssen, daß sie alle drei zusammen an Land gegangen waren, um zu Abend zu essen. In Ivo-Ramet war ihre Fahrt durch Arbeiten an der Schleusenmaschinerie weiter verzögert worden. Sie hatten am Kai von Forvil erst gegen drei Uhr nachmittags angelegt, aber noch ein paar weitere Stunden warten müssen, um ihre Ladung löschen zu dürfen, weil andere Prahme vor ihnen lagen. Da hatten sie ein Taxi ins Zentrum genommen, wo sie sich getrennt hatten. Frans van Dijk war losgegangen, um ein Bier zu trinken und ein Sandwich zu essen, Kees Molenaar hatte nach einem Spielzeuggeschäft gesucht, um sich nach Geburtstagsgeschenken für seine fünfjährige Tochter umzusehen, und Johannes Peeters behauptete, er sei einfach nur herumgebummelt. Sie waren jeder für sich zum Prahm zurückgekommen, ungefähr eine Stunde bevor sie mit dem Löschen beginnen konnten. Während sie darauf warteten, hatten sie in der Kajüte Karten gespielt.

Jérôme Vandermeel hatte jetzt nicht mehr zu sagen als bei seinem ersten Schnellbericht. Er hatte den toten Körper aus dem Baggerlöffel mit Erz fallen sehen, und das war es dann. Mehr wußte er nicht. Sein Arbeitskollege Guido Leone wußte noch weniger. Er hatte gesehen, wie Jérôme das Stopzeichen gab, war angelaufen gekommen, um zu sehen, was los war, und hatte gehört, wie Jérôme etwas davon faselte, daß eine Leiche im Baggerlöffel liege, was sich unglaublicherweise als wahr erwies. Sie hatten die ganze Schicht am Kai gearbeitet, seit sie um zwei Uhr angefangen hatten. Die Dafne 3 war der zweite Prahm, den sie löschten.

– Tut mir leid, das mit dem Niederländischen, sagte Julie, als sie zum Kai zurückgingen.

– Nicht deine Schuld, sagte Martine, es gehört nicht zu deinem Job, Niederländisch zu können, und ich bin wohl eigentlich auch nicht qualifiziert, Verhöre in einer anderen Sprache als Französisch durchzuführen. Wir brauchen einen Dolmetscher, wenn wir sie nächstes Mal befragen.

Es hatte aufgehört zu regnen, und die Pfützen auf dem Kai spiegelten das orangefarbene und weiße Licht der vielen Scheinwerfer. Alice Verhoeven stand jetzt am Eisenbahnwaggon und dirigierte die Arbeit, gekleidet in einen hellen Regenmantel und weiße Gummistiefel, die aussahen, als kämen sie aus einem Operationssaal. Mit dem weißen Schutzhelm sah sie aus wie ein Champignon.

– Hallo, Mädels, sagte sie zu Martine und Julie, ihr kommt gerade recht. Wir haben jetzt den Körper freigelegt, und ich muß wohl rauf in den Waggon und ihn an Ort und Stelle untersuchen, bevor wir ihn rausholen.

Jemand hatte an die Seite des Eisenbahnwaggons eine Leiter gestellt. Alice kletterte die Leiter hinauf, und zwei der drei Polizisten, die dort schon waren, hoben sie ganz einfach hinein. Sie untersuchte rasch den Toten und kletterte dann wieder hinunter. Martine, Julie und Christian eilten ihr eifrig entgegen.

– Nicht viel, was ich sagen kann, leider, sagte sie. Er hat Quetschungen am Hinterkopf, aber wie er gestorben ist, weiß ich erst nach der Obduktion. Der Körper ist völlig starr mit gut entwickelten Leichenflecken, was darauf hindeutet, daß er heute früh oder gestern nacht gestorben ist, mehr kann ich darüber im Moment nicht sagen. Der linke Arm ist in einer hochgereckten Position erstarrt, und das deutet darauf hin, daß der Körper in einem Raum gelegen hat, wo der Arm von der Unterlage in diese Haltung gebracht worden ist. Vermutlich ist der Körper nach dem Tod nicht bewegt worden, das würde ich annehmen, nicht bevor er im Baggerlöffel gelandet ist, meine ich. Aber morgen wissen wir mehr. Wollt ihr noch einen Blick auf ihn werfen, bevor wir ihn transportieren?

Zum zweiten Mal stieg Martine in den Eisenbahnwaggon hinauf. Der Körper, der freigelegt worden war, gehörte einem jungen Mann mit lockigen braunen Haaren, gekleidet in schwarze Jeans und Jeanshemd. Das Scheinwerferlicht war so stark, daß sie deutlich Details in dem blauweißen toten Gesicht sah – ein Muttermal an der rechten Wange, ein Flaumstreifen auf der Oberlippe. Reste des zerkleinerten Erzes waren in den Wimpern und an den Nasenlöchern hängengeblieben. War der Junge schon tot gewesen, als er in den Prahm geworfen worden war, oder war er unter dem Erz erstickt, hatte er nach Luft geschnappt und nur den schwarzen Sand in die Atemwege bekommen? Martine atmete tief ein und füllte ihre Lungen mit regennasser, gesegnet frischer Luft.

– Okay, sagte der Polizeifotograf, der im Waggon stand, jetzt könnt ihr ihn umdrehen.

Der Hinterkopf wurde sichtbar, als die beiden Polizisten den Körper, soweit es mit dem hochgereckten Arm, der im Wege war, ging, umgedreht hatten. Der Schädel war deformiert, und die braunen Locken klebten durch getrocknetes Blut an der Kopfhaut, als hätte jemand den Hinterkopf des jungen Mannes wütend mit mehreren harten Schlägen zertrümmert.

Martine kletterte wieder hinunter und trat noch einmal in eine Pfütze. Michel Pirot, der jetzt seine Zuflucht in dem lederduftenden Komfort des Autos gesucht hatte, steckte den Kopf durch das offene Autofenster auf der Fahrerseite und winkte sie zu sich. Offenbar hatte er seinen Chauffeur nach Hause geschickt. Sie ging zu ihm, und er hielt ihr durch das Fenster den Hörer des Autotelefons hin.

– Ich habe den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Leitung, sagte er leise, ich glaube, er kann ebensogut mit Ihnen direkt sprechen.

Martine nahm den Hörer und sagte ihren Namen. Die Stimme, die sie hörte, war kühl und präzise, eine Stimme, gewöhnt, Befehle auszusprechen, denen man gehorchte.

– Arnaud Morel hier, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende, wir müssen wissen, wie Sie diesen Todesfall sehen. Nach dem, was Pirot sagt, gehe ich davon aus, daß er mit Forvil absolut nichts zu tun hat, daß es ein reiner Zufall war, daß die Leiche auf dem Werksgelände von Forvil gelandet ist. Es hätte einen gewissen Nutzen, wenn Sie das offiziell bestätigen könnten, Madame Poirot, vielleicht in einer Erklärung.

Die Worte fielen wie Tropfen unterkühlten Regens. Martine konnte förmlich hören, wie sie klirrten, wenn sie als Eis auf dem Boden landeten.

– Das kann ich absolut nicht, sagte sie, wir wissen nichts darüber, wie der Tote umgekommen ist oder wie er dort, wo er gefunden wurde, gelandet ist. Und im übrigen gebe ich keine Erklärungen ab. Meine Voruntersuchung wird unter Geheimhaltung betrieben, wie Sie sicher wissen.

Die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden wurde noch frostiger.

– Ihnen ist vielleicht bekannt, daß der Betrieb von Forvil für Villette eine gewisse Bedeutung hat? Finden Sie, daß wir Sensationsschreibereien in Kauf nehmen müssen, die unserem Renommee schaden können, weil irgendein Trunkenbold in einen Prahm plumpst und sich den Hals bricht, oder was da passiert ist?

– Wie ich schon sagte, die Voruntersuchung wird unter Geheimhaltung betrieben, und außerdem wissen wir noch nichts, sagte Martine. Wir haben also nichts mehr zu besprechen, Monsieur Morel.

Die Verbindung wurde unterbrochen. Der Aufsichtsratsvorsitzende hatte aufgelegt, ohne sich zu verabschieden. Martine reichte den Hörer Michel Pirot, der sie anlächelte.

– Besser, er hört es von Ihnen als von mir. Wollen Sie reinkommen und sich setzen? Die Luft wird langsam etwas kühl.

Er reckte den Arm über die Rückenlehne und öffnete die Fondtür. Martine stieg ein.

– Wie konnten Sie so schnell herkommen? fragte sie neugierig.

Er drehte den Kopf, so daß sie im Dunkeln sein Gesicht im Profil sah. Sie empfand es als merkwürdig intim, mit ihm zusammen hier in der komfortablen Wärme des Autos zu sitzen. Sie roch den Duft seines Eau de Cologne, etwas Exklusives in Zitrusrichtung, Acqua di Parma vielleicht.

– Oh, wir haben in der Unternehmensleitung einen Krisenbereitschaftsdienst, sagte er, wir sind ja in einem Betrieb tätig, in dem es zu schweren Unfällen kommen kann, wenn etwas schiefgeht, und der Wachmann weiß, daß der Krisenbereitschaftsdienst informiert werden muß, wenn etwas Ernstes und Unerwartetes passiert. Und ich habe dann den Aufsichtsratsvorsitzenden angerufen, es würde ihm nicht gefallen, morgens aufzuwachen und ohne Vorwarnung von einem Mord in Verbindung mit Forvil zu lesen.

– Aber warum den Aufsichtsratsvorsitzenden und nicht Ihren geschäftsführenden Direktor? fragte Martine.

Pirot lächelte sie wieder an. Er war ein attraktiver Mann, das hatte sie schon vorher registriert.

– Raymond Claessens? Sie waren beide auf einem Essen von Industriellen, da habe ich sie erreicht, aber irgendwie hat Arnaud die Sache übernommen.

Sein Lächeln war vielsagend. Martine las selten Nachrichten aus der Wirtschaft, aber sogar sie wußte, daß der geschäftsführende Direktor von Forvil Raymond Claessens nicht als Aß galt. Arnaud Morel war in den erfolgreichen achtziger Jahren ein dynamischer geschäftsführender Direktor gewesen, und böse Zungen sagten, er habe nach einem Nachfolger gesucht, der ihm nicht den Rang ablaufen würde. Sie fragte sich, ob Pirot darauf abzielte, Claessens’ Nachfolger zu werden. Das würde erklären, warum er ihn überging, als er über den Todesfall bei Forvil berichten wollte.

– Ich muß wissen, wann wir die Arbeit hier wiederaufnehmen können, sagte Pirot.