Die grünäugige Frau - Maurice Leblanc - E-Book

Die grünäugige Frau E-Book

Leblanc Maurice

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Beschreibung

Paris um 1900: Sie überschritt den Opernplatz, ohne sich um die Masse der Fahrzeuge zu kümmern. Ein Lastwagen mit Pferden versperrte den Durchgang. Sie packte die Zügel und riß eines der schweren Pferde beiseite. Wütend sprang der Kutscher von seinem Sitz, näherte sich ihr bedrohlich und schimpfte; ein kleiner, aber wohlgezielter Faustschlag, den sie ihm versetzte, brachte ihn mit Nasenbluten zur Strecke. ... Wer ist die so vornehm aussehende Dame, die sich so brutal verhält? Krimi-Klassiker!

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Maurice Leblanc

Die grünäugige Frau

idb

ISBN 9783961503391

I. ... und die Engländerin mit den blauen Augen

Raoul de Limézy spazierte heiter über die Boulevards, wie ein glücklicher Mensch, der nur um sich zu sehen braucht, um sich an den bezaubernden Schauspielen des Lebens zu erfreuen, und am leichten Frohsinn, dessen Abbild Paris an manchen Apriltagen ist. Er war mittelgroß und hatte eine schmale, aber trotzdem kraftvolle Gestalt. Man sah ihm kräftige Muskeln und einen machtvoll gewölbten Brustkasten an. Schnitt und Farbe seiner Kleidung kennzeichneten den Mann, der auf die Wahl der Stoffe Wert legt.

Gerade als er am Gymnase vorbeiging, hatte er den Eindruck, daß ein Herr, der neben ihm ging, einer Dame folgte; der Eindruck sollte sich sogleich bestätigen.

Nichts schien Raoul komischer und belustigender als ein Herr, der einer Dame nachsteigt.

Er folgte also dem Herrn, der der Dame folgte, und alle drei gingen hintereinander in gemessenen Abständen über die Straße.

Nur ein erfahrener Mann, wie der Baron Limézy, konnte erkennen, daß der Herr die Dame verfolgte, denn der Verfolger ging äußerst diskret zu Werke. Raoul de Limézy war ebenso diskret und mischte sich unauffällig unter die Menge, um die beiden Menschen genau ins Auge zu fassen.

Von hinten gesehen fiel bei dem Herrn unter dem Hutrand die Fortsetzung eines untadeligen Scheitels auf, der die schwarzen, pomadisierten Haare bis in den Nacken teilte, ebenso untadelig war seine Kleidung, die seine breiten Schultern und seinen Wuchs vortrefflich zur Geltung kommen ließ. Von vorn gesehen bot er ein korrektes Gesicht, das einen zartrosa Teint hatte und mit einem gepflegten Barte geziert war. Etwa dreißig Jahre alt. Sehr sicherer Gang. Gewichtigkeit in allen Bewegungen. Trotzdem etwas gewöhnliches Aussehen. Ringe an den Fingern. Zigarette mit Goldmundstück im Mund.

Raoul ging schneller. Die Dame war groß, resolut, von guter Haltung und setzte zwei derbe Füße auf das Pflaster, für deren Anblick zierliche und zarte Gelenke entschädigten. Das Gesicht war sehr schön, herrliche blaue Augen und schwere blonde Haare. Die Vorübergehenden blieben stehen und sahen sich um. Sie schien der spontanen Huldigung der Masse gegenüber gleichgültig zu bleiben.

Teufel, dachte Raoul, die reinste Aristokratin! Sie verdient Besseres als diesen Pomadenburschen, der ihr nachsteigt! Was mag der nur wollen? Der eifersüchtige Ehemann? Ein abgewiesener Bewerber? Oder ein Geck, der ein Abenteuer sucht? Das wird es wohl sein. Dieser Mann sieht mir ganz danach aus wie einer, der sein Glück sucht und sich für unwiderstehlich hält.

Sie überschritt den Opernplatz, ohne sich um die Masse der Fahrzeuge zu kümmern. Ein Lastwagen mit Pferden versperrte den Durchgang. Sie packte die Zügel und riß eines der schweren Pferde beiseite. Wütend sprang der Kutscher von seinem Sitz, näherte sich ihr bedrohlich und schimpfte; ein kleiner, aber wohlgezielter Faustschlag, den sie ihm versetzte, brachte ihn mit Nasenbluten zur Strecke.

Ein Polizist näherte sich, um Feststellungen zu machen; sie drehte ihm den Rücken und ging in aller Ruhe davon. Auf dem Boulevard Haussmann betrat sie eine Konditorei, und Raoul sah von weitem, daß sie sich an einen Tisch setzte. Da der Herr, der ihr gefolgt war, die Konditorei nicht betrat, tat Limézy es an seiner Stelle; er setzte sich so, daß sie ihn nicht bemerken konnte.

Sie bestellte Tee und vier Toasts, die sie mit ihren herrlichen Zähnen zermalmte.

Ihre Nachbarn sahen sie an. Sie ließ sich nicht stören und bestellte sich vier weitere Toasts. Aber eine zweite junge Frau, die etwas weiter fort saß, erregte ebenfalls die Neugierde der Gäste. Blond, wie die Engländerin, war sie zwar nicht so reich, dafür aber mit desto besserem, echt Pariser Geschmack angezogen; um sie herum standen drei ärmlich gekleidete Kinder, an die sie Kuchen und Limonade austeilte. Sie mochte sie wohl vor der Tür aufgetrieben haben. Und kindlicher als die Kinder, machte die Freude, die sie bereitete, ihr offensichtliches Vergnügen.

Zwei Dinge machten auf Raoul sofort einen starken Eindruck: die glückliche und natürliche Heiterkeit ihres Antlitzes und die starke verführerische Kraft zweier großer grüner Augen, die, jadefarben mit goldenen Streifen, den Blick, der ihnen einmal begegnet war, nicht wieder losließen.

Solche Augen sind für gewöhnlich sonderbar, melancholisch oder nachdenklich; so mochte auch der gewöhnliche Ausdruck dieser Augen sein. Jetzt aber strahlten sie vor Lebensfreude, wie das ganze Gesicht, wie der maliziöse Mund, die bebenden Nasenflügel und die Wangen mit den Grübchen des Lächelns.

Höchste Freude oder tiefster Schmerz, einen Mittelweg gibt es für solche Geschöpfe nicht, sagte sich Raoul, der in sich die plötzliche Sehnsucht aufsteigen fühlte, diese Freude zu bewirken oder diesen Schmerz zu bekämpfen.

Er wandte sich wieder der Engländerin zu. Sie war wirklich schön. Von jener machtvollen Schönheit, die aus Gleichgewicht, Ebenmaß und Abgewogenheit besteht. Aber die Dame mit den grünen Augen bezauberte ihn stärker.

Trotz seines wachgerufenen Interesses zögerte er, als sie ihre Rechnung bezahlte und mit den drei Kindern aufbrach. Sollte er ihr folgen? Oder bleiben? Wer war stärker? Die grünen Augen? Oder die blauen?

Er erhob sich plötzlich, warf einen Geldschein auf den Tisch und ging hinaus. Die grünen Augen siegten.

Draußen bot sich ihm ein sonderbares Schauspiel: die Dame mit den grünen Augen unterhielt sich vor der Tür mit dem Geck, der vor einer halben Stunde der Engländerin als schüchterner oder eifersüchtiger Liebhaber nachgestiegen war.

Eine von beiden Seiten überstürzt geführte Unterhaltung schien schon eher ein Streit zu sein. Man konnte deutlich erkennen, daß das junge Mädchen weitergehen wollte und der Herr sie daran hinderte. Dieser Tatbestand war so deutlich, daß Raoul im Begriff war, dazwischenzutreten.

Er hatte keine Zeit mehr dazu. Ein Auto hielt vor der Konditorei. Ein Herr stieg aus; als er die Szene auf dem Bürgersteig sah, hob er seinen Stock und schlug dem Geck den Hut vom Kopf.

Der wich erst bestürzt zurück, dann jedoch stürzte er sich ohne Rücksicht auf die Menschenmassen, die sich bereits ansammelten, auf den Gegner:

»Sie sind wohl irrsinnig geworden«, stammelte er.

Der Angreifer, der kleiner und älter war, hob abermals den Stock und schrie:

»Ich habe Ihnen verboten, mit diesem jungen Mädchen zu sprechen. Ich bin ihr Vater und Sie sind ein Schuft, ich wiederhole, ein Schuft!«

Beide zitterten vor Haß. Der Geck nahm sich noch einmal zusammen und wollte sich auf seinen Gegner stürzen, den das junge Mädchen beim Arm packte und zum Taxi zu drängen versuchte. Es gelang ihm, sie zu trennen und den Stock des Herrn zu packen, da sah er sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht einem Kopfe gegenüber, der zwischen ihm und seinem Gegner auftauchte, einem unbekannten sonderbaren Kopfe, dessen rechtes Auge nervös blinzelte und in dessen ironisch verzogenem Munde eine Zigarette hing: es war Raoul, der sich aufrichtete und mit rauher Stimme sagte:

»Darf ich Sie um Feuer bitten?«

Eine wirklich unangebrachte Bitte! Was wollte dieser aufdringliche Mensch? Der Geck setzte sich zur Wehr:

»Lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich habe kein Feuer.«

»Doch, doch, Sie haben ja eben noch geraucht«, sagte der andere.

Da geriet der Geck außer sich und versuchte, ihn beiseitezustoßen. Da ihm das nicht gelang und er nicht einmal die Arme bewegen konnte, senkte er den Kopf, um zu sehen, welches Hindernis sich ihm gegenüberstellte. Er schien verwirrt. Die beiden Hände des Herrn umklammerten seine Gelenke so fest, daß keine Bewegung möglich war. Und dieser aufdringliche Kerl wiederholte hartnäckig und eindringlich immer wieder:

»Darf ich Sie um Feuer bitten, es ist doch gar nicht recht, mir diese Bitte abzuschlagen.«

Die Leute, die herumstanden, lachten. Der Geck konnte nur noch stammeln:

»Scheren Sie sich doch endlich zum Teufel. Sie sehen doch, daß ich kein Feuer habe.«

Da schüttelte der andere melancholisch den Kopf:

»Sie sind nicht gerade höflich! Man kann doch einem Menschen, der freundlich darum bittet, Feuer geben ... aber wenn Sie nicht wollen ...«

Und er lockerte seine Umklammerung. Der Geck eilte davon. Aber das Auto war bereits in voller Fahrt, und sein Angreifer und das Fräulein mit den grünen Augen waren vor seiner Verfolgung sicher.

Eine schöne Geschichte, sagte sich Raoul, als er ihn davonlaufen sah. Ich spiele hier den Don Quichotte zugunsten einer schönen Unbekannten, die sich auf und davon macht, ohne mir Namen und Adresse zu geben. Nun kann ich sie unmöglich wiederfinden. Was nun? Da beschloß er, zur Engländerin zurückzukehren. Sie brach gerade auf und hatte dem Zwischenfall sicher beigewohnt. Er folgte ihr.

Raoul befand sich in einer jener Stunden, da das Leben gleichsam zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in der Schwebe hängt. Seine Vergangenheit war reich an Erlebnissen. Die Zukunft schien ähnlich verlaufen zu sollen. In der Mitte: nichts.

Ist man vierunddreißig Jahre alt, so glaubt man, daß die Frau den Schlüssel unseres Geschickes in der Hand hält. Und da die grünen Augen erloschen waren, wollte er seinen ungewissen Schritt von der Klarheit der blauen Augen bestimmen lassen.

Er bemerkte, daß auch der Geck seine Richtung geändert und sich wieder an die Spur des alten Wildes gehängt hatte, so daß die Marschordnung der drei wiederhergestellt war, ohne daß die Engländerin die List ihrer Verfolger bemerkt hätte.

Sie ging langsam ihren Weg, blieb vor den Schaufenstern stehen und kümmerte sich nicht im geringsten um die bewundernden Blicke, die sie erregte. So gelangte sie über die Place de la Madeleine und die Rue Royale zum Grand Hotel Concordia im Faubourg St. Honoré. Der Geck machte halt, machte die üblichen Schritte, kaufte Zigaretten und betrat dann das Hotel; Raoul konnte sehen, wie er mit dem Portier sprach. Drei Minuten später ging er wieder fort, und auch Raoul schickte sich an, den Portier nach der jungen Engländerin zu fragen, als diese selbst durch die Halle ging und in ein Auto stieg, in das man bereits eine kleine Handtasche gestellt hatte. Wollte sie denn verreisen?

»Chauffeur, fahren Sie dem Auto nach!« sagte Raoul, der ein Taxi angerufen hatte.

Die Engländerin machte Besorgungen und hielt um acht Uhr am Bahnhof der Linie Paris–Lyon. Sie ging in den Wartesaal und bestellte zu essen.

Raoul setzte sich in einiger Entfernung ebenfalls in den Wartesaal.

Nach dem Essen rauchte sie zwei Zigaretten, dann traf sie gegen ein halb zehn Uhr einen Beamten von Cook, der ihr das Billett und den Gepäckschein aushändigte. Dann ging sie zum Expreßzug, der neun Uhr sechsundvierzig Minuten abgeht.

»Fünfzig Franken,« sagte Raoul zu dem Beamten, »wenn Sie mir den Namen dieser Dame nennen.«

»Lady Bakefield.«

»Wohin reist sie?«

»Nach Monte Carlo. Sie ist im Wagen Nr. 5.«

Raoul überlegte, dann entschloß er sich. Die blauen Augen waren alles wert. Und durch die blauen Augen hatte er schließlich die grünen Augen kennengelernt, und durch die Engländerin konnte man vielleicht den Geck wiederfinden und durch ihn zu den grünen Augen gelangen.

Er kehrte um, löste ein Billett nach Monte Carlo und stürzte wieder auf den Bahnsteig.

Er sah die Engländerin auf dem Tritt eines Wagens, mischte sich unter die Leute und sah sie wieder durch das Fenster im Innern eines Abteils, wie sie sich den Mantel auszog.

Nur wenige Leute benutzten diesen Zug, der weder Schlaf- noch Speisewagen hatte. Raoul bemerkte nur zwei Herren, die im Abteil erster Klasse an der Vorderseite des Wagens Nr. 5 saßen.

Raoul wartete bis zur letzten Minute, dann sprang er auf und betrat das dritte Abteil, wie jemand, der gerade noch in der letzten Minute seinen Zug erreicht hatte.

Die Engländerin saß allein am Fenster. Er setzte sich auf die gegenüberliegende Seite auf den Platz am Gang. Sie hob die Augen und beobachtete den Eindringling, der keinerlei Gepäck hatte, und aß ohne die geringste Erschütterung aus einer auf ihren Knien stehenden Schachtel mächtige Schokoladenstücke.

Ein Schaffner kam und knipste die Billetts. Raoul hatte einen flüchtigen Blick in die Zeitung geworfen, dann hatte er die Blätter wieder beiseitegelegt. Er war zu nervös. Es schien ihm viel reizvoller, sein Abenteuer fortzusetzen, und er rückte einen Platz näher an die Engländerin heran. Diese rührte sich nicht. So mußte Raoul schließlich umständlich beginnen:

»Verzeihen Sie mein inkorrektes Verhalten, aber ich muß Sie um die Erlaubnis bitten, Sie von einem überaus wichtigen Umstand in Kenntnis zu setzen. Darf ich mir einige Worte erlauben?«

Sie nahm ein Stück Schokolade und antwortete kurz, ohne den Kopf zu drehen:

»Wenn es sich nur um einige Worte handelt, bitte.«

»Also hören Sie bitte, gnädige Frau ...«

Sie unterbrach ihn:

»Gnädiges Fräulein ...«

»Also hören Sie, gnädiges Fräulein, ich weiß, daß Sie den ganzen Tag in höchst verdächtiger Weise von einem Herrn verfolgt worden sind, der sich vor Ihnen verbirgt ...«

Sie unterbrach Raoul abermals:

»Ihr Benehmen ist in der Tat sonderbar. Wie kommen Sie dazu, die Leute zu überwachen, die mich verfolgen?«

»Der Mann schien mir eben sehr verdächtig ...«

»Ich kenne diesen Mann aber, er hat sich mir voriges Jahr vorstellen lassen. Herr Marescal folgt mir wenigstens von weitem und dringt nicht in mein Abteil ein!«

Raoul verneigte sich:

»Bravo, gnädiges Fräulein, ich sage kein Wort mehr.«

»Sie dürfen auch nichts sagen, Sie dürfen – diesen Rat gebe ich Ihnen – an der nächsten Station aussteigen!«

»Tut mir unendlich leid, aber meine Geschäfte rufen mich nach Monte Carlo.«

»Sie rufen Sie, seitdem Sie wissen, daß ich nach Monte Carlo reise.«

»Nein,« antwortete Raoul unumwunden, »seitdem ich Sie in einer Konditorei auf dem Boulevard Haussmann gesehen habe.«

»Falsch«, lautete die schnelle Antwort. »Ihre Bewunderung galt eigentlich einem jungen Mädchen mit herrlichen grünen Augen, und Sie wären ihr auch weiter gefolgt, wenn der geschehene Skandal Sie nicht daran gehindert hätte. So sind Sie mir zunächst bis zum Hotel Concordia und dann bis zum Wartesaal gefolgt.«

Raoul amüsierte sich:

»Es schmeichelt mir, daß Ihnen keiner meiner Schritte entgangen ist.«

»Mir entgeht nichts.«

»Das merke ich. Fehlte nur noch, daß Sie meinen Namen kennen.«

»Raoul de Limézy, Forscher, soeben aus Tibet und Zentralasien zurückgekehrt.«

Er konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

»Darf ich fragen, wie ...«

»Gar nicht so schwer. Da Sie in höchst auffälliger Weise mein Abteil in letzter Minute betraten, hielt ich es für geboten, Sie zu beobachten. Sie benutzten Ihre Visitenkarte, um eine Broschüre aufzuschneiden. Diese Karte konnte ich lesen, und ich erinnerte mich an ein Interview mit Raoul de Limézy, der gerade von seiner letzten Reise zurückgekehrt war. Höchst einfach.«

»Höchst einfach, aber dazu muß man verdammt scharfe Augen haben.«

»Ich habe ausgezeichnete Augen.«

»Trotzdem haben Sie den Blick nicht von Ihrer Schokolade gewandt. Sie sind beim achtzehnten Stück.«

»Ich brauche nicht zu beobachten, um zu sehen, und nicht nachzudenken, um zu erraten.«

»Um was zu erraten, wenn ich fragen darf?«

»Daß Ihr wahrer Name gar nicht Raoul de Limézy ist.«

»Nicht möglich! ...«

»Die Buchstaben in Ihrem Hut wären doch sonst nicht ›H. V.‹ ... es sei denn, daß Sie den Hut eines Freundes trügen.«

Raoul begann, ungeduldig zu werden. Es behagte ihm nicht, daß sein Gegner in diesem Duell stets im Vorteil war.

»Und was bedeutet Ihrer Ansicht nach dieses H. und dieses V.?«

Sie biß in ihr neunzehntes Stück Schokolade und sagte mit dem gleichen nachlässigen Ton:

»Diese beiden Buchstaben findet man ziemlich selten vereint, und mir wenigstens fallen dann immer zwei Namen ein, denen ich einmal begegnet bin.«

»Darf man fragen, welche?«

»Ach, das würde Sie gar nicht interessieren. Den Namen kennen Sie gar nicht. Horace Valmont ...«

»Wer ist denn dieser Horace Valmont?«

»Horace Valmont ist eines der zahlreichen Pseudonyme, hinter denen sich Arsène Lupin verbirgt.«

Raoul brach in ein Gelächter aus:

»Dann wäre ich also Arsène Lupin?«

Sie protestierte:

»Aber woher denn. Ich habe Ihnen nur gesagt, was für eine Erinnerung die Buchstaben in Ihrem Hut in mir erwecken! – Im übrigen –«

Und sie reichte ihm die Schokoladenschachtel.

»Nehmen Sie doch ein Stück als Entschädigung für Ihre Niederlage und lassen Sie mich schlafen.«

»Aber«, bat er, »wir werden doch unsere Unterhaltung nicht hier schon abbrechen?«

»Doch, doch,« sagte sie, »Neugier mag ich nicht ...«

»Eine Bakefield dürfte getrost neugierig sein«, sagte er ziemlich gewichtig.

Und er fügte hinzu:

»Sie sehen, gnädiges Fräulein, auch ich kenne Ihren Namen.«

»Ja, ja,« sagte sie, »der Beamte von Cook auch.«

»Ich bin besiegt,« sagte Raoul, »bei der ersten Gelegenheit werde ich mich rächen.«

»Gelegenheiten finden sich, wenn man sie am wenigsten erwartet«, antwortete die Engländerin, und zum ersten Male sah sie ihm mit ihren schönen blauen Augen gerade ins Gesicht.

»Sie sind nicht nur schön, Sie sind auch geheimnisvoll.«

»Gar nicht geheimnisvoll, ich heiße Konstanze Bakefield. In Monte Carlo treffe ich meinen Vater, den Lord Bakefield, der dort Golf mit mir spielen will. Außer Golf treibe ich jeden Sport und schreibe in den Zeitungen, um selbständig Geld zu verdienen und meine Unabhängigkeit zu haben, und mein Beruf als Journalistin bringt mich mit allen berühmten Persönlichkeiten zusammen, mit Staatsmännern, Generalen, Industriekapitänen, Hochstaplern, großen Künstlern und berühmten Einbrechern. Auf Wiedersehen!«

Sie zog die beiden Enden eines Schals über ihrem Gesicht zusammen, lehnte ihren Kopf gegen die Lehne und streckte die Beine auf die gegenüberliegende Bank aus.

Raoul versuchte noch einige Worte, aber er stand vor einer verschlossenen Tür.

Etwas betroffen von seinem Abenteuer, aber trotzdem bezaubert und voller Hoffnung lehnte er schweigsam in seiner Ecke. Nach einer Weile setzte er sich bequemer zurecht und träumte vor sich hin. Das Leben war wundervoll. Er war jung, und leicht verdientes Geld ruhte in seiner Brieftasche. Tausend neue Pläne gingen ihm durch den Kopf, und am nächsten Morgen würde er das reizvolle Schauspiel genießen, diese hübsche junge Frau vor sich erwachen zu sehen. Er vermeinte, ihre blauen Augen zu sehen, oder waren es plötzlich grüne Augen? ... Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein.

Die Träume eines Menschen, der ein ruhiges Gewissen hat und zu seinem Magen in guten Beziehungen steht, können selbst von den Erschütterungen eines schnellfahrenden Zuges nicht beeinträchtigt werden. Raoul schwamm glücklich in einem Land, das von blauen und grünen Augen wimmelte, und die Reise war so angenehm, daß er es unterlassen hatte, einen kleinen Teil seines Geistes gleichsam als Schildwache schützend vor seinen Schlaf zu stellen. So hörte er nicht, daß sich die Tür zum Wagen Nr. 4 öffnete, er hörte auch nicht, daß sich drei maskierte Menschen näherten, die lange graue Blusen anhatten, und vor seinem Abteil stehenblieben.

Raoul hatte auch versäumt, das Licht abzublenden. Hätte er das getan, so hätten die Banditen es wieder aufblenden müssen, und er wäre wahrscheinlich mit einem Ruck erwacht.

So aber sah und hörte er nichts. Einer der Männer stand mit dem Revolver in der Hand im Gange Posten. Die beiden anderen verständigten sich durch Zeichen und zogen Totschläger aus der Tasche. Der erste Schlag traf den Reisenden unter der Decke.

Der Befehl zum Angriff war leise gegeben worden, trotzdem erwachte Raoul und spannte instinktiv Beine und Arme. Vergeblich. Der Totschläger traf seine Stirn; er konnte gerade noch fühlen, daß ihn jemand an der Kehle packte und undeutlich sehen, daß sich ebenfalls jemand auf Miß Bakefield stürzte.

Dann wurde es dunkel, er verlor sich im Finstern wie ein Mensch, der ertrinkt; es blieben nur jene unzusammenhängenden Eindrücke, die später wieder an die Oberfläche des Bewußtseins gelangen und sich mühevoll wieder zur Wirklichkeit zusammenstellen lassen.

Man band und knebelte ihn, wickelte seinen Kopf in einen rauhen Stoff und leerte seine Brieftasche.

Der andere Gegner schien mehr Mühe zu machen. Raoul hörte zuerst einige unterdrückte Flüche, dann die unverkennbaren Geräusche erbitterten Ringens und dann einen Aufschrei ... den Aufschrei einer Frau.

»Teufel, ist das ein Frauenzimmer!« hörte man eine Stimme sagen, »das beißt und kratzt! Hast du sie wiedererkannt?«

»Was weiß ich? Das ist doch deine Sache.«

»Zuerst muß ich sie zum Schweigen bringen!«

Und es schien ihm zu gelingen. Die Schreie wurden schwächer, dann spürte Raoul, wie auch ihr Widerstand erlahmte. Eine dritte Stimme aus dem Gang befahl leise:

»Halt, laßt sie los! Ihr habt sie doch nicht womöglich getötet?«

»Wer weiß! ... Auf alle Fälle müßte man sie durchsuchen.«

»Vorsicht, zum Teufel!«

Die beiden verließen das Abteil. Ein Streit entstand im Gang, und Raoul, der langsam aus seiner Betäubung zu erwachen begann, konnte einige Worte aufschnappen.

»Weiter ... das Abteil am Ende des Wagens ... der Schaffner ...«

Die drei entfernten sich in der Richtung auf das Abteil zu, in dem Raoul bei der Abfahrt zwei Reisende bemerkt hatte. Raoul versuchte, seine Fesseln zu lockern und durch Bewegung mit den Kinnbacken den Knebel zu verschieben. Die Engländerin stöhnte, aber die Laute wurden immer schwächer. Die Furcht, er könnte zu spät kommen, ließ ihn seine Anstrengung verdoppeln. Aber die Stricke waren zu fest und zu gut gebunden, jedoch gelang es ihm, den Stoff von seinem Kopf abzuschütteln. Und er sah das junge Mädchen auf den Knien, mit den Ellbogen auf dem Sitz ...

Man hörte Schüsse. Die drei Banditen mußten mit den beiden Reisenden im anderen Abteil ins Handgemenge gekommen sein, und fast im gleichen Augenblick rannte einer der Banditen mit einem Koffer in der Hand am Abteil vorbei.

Seit ein oder zwei Minuten fuhr der Zug etwas langsamer.

Raoul war verzweifelt. Immer wieder versuchte er, seine Fesseln zu lockern, denn mit dem jungen Mädchen ging eine seltsame Veränderung vor sich. Ihr Gesicht hatte Flecken wie jemand, der dem Ersticken nahe ist. Raoul erkannte sofort, daß sie nur noch wenige Minuten zu leben hatte.

Sie neigte sich vornüber, und er hörte, wie sie auf englisch mühsam röchelte:

»Ich bin verloren ... Hören Sie ...«

Sie hatte keine Kraft mehr. Auch Raoul hatte trotz übermenschlicher Anstrengung keine Aussicht mehr, sich rechtzeitig zu befreien. Es war entsetzlich, untätig diesem grauenhaften Tode beiwohnen zu müssen.

Jetzt kam der zweite Maskierte vorüber, er trug eine Handtasche und einen Revolver in der Hand. Hinter ihm kam der dritte. Die beiden Reisenden waren wohl niedergemacht worden, und da der Zug infolge von Streckenarbeiten – ein Umstand, den die Banditen zweifellos ihrem Plan zugrunde gelegt hatten – immer langsamer fuhr, konnten die Mörder in aller Ruhe fliehen.

Zu Raouls großer Überraschung blieben sie plötzlich vor dem Abteil stehen, als wenn sich ihnen ein unüberwindbares Hindernis entgegengestellt hätte. Raoul vermutete, daß sich ihnen irgend jemand entgegengeworfen habe, vielleicht der Schaffner.

Im gleichen Augenblick begann der Kampf. Der erste Bandit kam gar nicht dazu, seine Waffe zu benutzen. Ein Beamter in Uniform hatte ihn angesprungen, und beide stürzten zu Boden, während der zweite, ein schmächtiges Kerlchen mit einem kleinen Gesicht unter einer zu großen Mütze, an der die schwarze Maske befestigt war, seinem Kameraden zu Hilfe eilte.

Schon mußte der Schaffner nachgeben, denn der kleinere der Banditen hielt ihm seine Hände fest. Der andere konnte sich erholen und ließ einen Hagel von Faustschlägen auf den Kopf des Beamten niedersausen.

Da stand der kleinere wieder auf, im Aufstehen blieb er mit seiner Maske hängen, die die Mütze mitriß ... Mit einer raschen Bewegung setzte er die Mütze wieder auf und schob die Maske vors Gesicht. Aber Raoul hatte Zeit gehabt, die blonden Haare und das bezaubernde, jetzt bleiche und verzerrte Gesicht der Unbekannten mit den grünen Augen zu erkennen, die er am Nachmittag in der Konditorei auf dem Boulevard Haussmann gesehen hatte.

Die Tragödie näherte sich ihrem Ende. Die beiden Banditen flohen. Raoul verfolgte die langwierige und mühevolle Arbeit des Schaffners, der schweratmend auf den Sitz stieg und die Notbremse zog.

Die Engländerin lag im Sterben. Sie stammelte einige unzusammenhängende Worte:

»Bitte ... Nehmen Sie ...«

»Was denn?«

»Nehmen Sie ... Brustbeutel ... Papiere ... Schwören Sie ...«

Ihr Kopf fiel nach hinten, sie war tot.

Der Zug hielt.

II. Fäden

Miß Bakefields Tod, der Überfall der drei maskierten Banditen, die wahrscheinliche Ermordung der beiden Reisenden, der Verlust seines Geldes – all das lastete auf Raouls Geist nicht so stark wie das, was er sekundenlang gesehen hatte: Die Dame mit den grünen Augen. Im Schatten eines wüsten Verbrechens tauchte die bezaubernde und verführerische Frau auf. Obwohl sein Abenteurerleben Schrecken und Verbrechen genug gesehen und ihn an die tollsten Dinge gewöhnt hatte, verwirrte ihn diese Tatsache; seine Vorstellungskraft ließ ihn im Stich.

Draußen herrschte ein wüstes Durcheinander. Vom nahen Bahnhof – es war der Bahnhof von Beaucourt – eilten Beamte herzu, hinter ihnen kamen Streckenarbeiter. Man schrie und man suchte, woher die Hilferufe kamen.

Der Schaffner durchschnitt Raouls Fesseln, hörte dessen Mitteilungen an, dann öffnete er das Fenster und winkte den Beamten.

»Hierher! Hierher!«

Dann wandte er sich an Raoul:

»Die junge Dame ist tot, nicht wahr?«

»Ja ... erwürgt. Das ist noch nicht alles ... zwei Reisende am anderen Ende des Wagens ...«

Sie gingen eilig den Gang entlang. Am Ende, im letzten Abteil, zwei Leichen. Keine Spur von Unordnung. Nichts in den Netzen. Keine Handtasche. Kein Paket.

In diesem Augenblick versuchten die Bahnhofsbeamten, die Wagentür zu öffnen. Sie war verschlossen, und Raoul begriff jetzt, warum die drei Banditen hatten umkehren und durch die erste Tür fliehen müssen.

Jetzt stiegen Leute ein, andere kamen über die Verbindung, und schon füllten sich beide Abteile. Da ertönte laut und gebieterisch eine Stimme:

»Nichts anrühren! ... Nein, bitte lassen Sie den Revolver liegen, wo er lag. Er ist ein überaus wichtiges Beweisstück. Es wäre am besten, daß beide Abteile vollkommen geräumt würden. Der Wagen wird abgehängt, der Zug wird gleich weiterfahren, nicht wahr, Herr Bahnhofsvorsteher?«

Es genügt in Augenblicken der Verwirrung, daß ein Mensch sich klar und deutlich ausspricht und weiß, was er will, um die erregten Gemüter zu beherrschen und seinem Willen zu beugen. Und dieser Mann sprach ruhig und eindrucksvoll wie jemand, der an Gehorsam gewöhnt ist.

Raoul sah ihn an und erkannte zu seinem Erstaunen den Mann, der Miß Bakefield verfolgt und die Dame mit den grünen Augen angesprochen hatte, mit einem Wort – den pomadisierten Gecken, den die Engländerin Herrn Marescal genannt hatte. Er stand am Eingang des Abteils, in dem das junge Mädchen lag, versperrte den Eindringenden den Weg und drängte sie zu den offenen Türen.

»Herr Bahnhofsvorsteher,« fuhr er dann fort, »wollen Sie die Güte haben, das Rangieren zu überwachen? Setzen Sie bitte alle Ihre Beamten ein. Man müßte auch an den nächsten Gendarmerieposten telephonieren, einen Arzt kommen lassen und den Untersuchungsrichter in Romilland benachrichtigen. Es handelt sich um ein Verbrechen.«

»Um drei«, berichtigte ihn der Schaffner. »Zwei maskierte Männer, die mich angefallen haben, sind geflohen.«

»Ich weiß,« sagte Marescal, »die Streckenarbeiter haben Schatten bemerkt und sich auf die Verfolgung gemacht. Oberhalb der Böschung liegt ein kleiner Wald. Man versucht, ihnen längs der Chaussee den Weg abzuschneiden. Wenn man sie fängt, werden wir es schon erfahren.« Er sprach jedes Wort scharf aus, seine Bewegungen waren kurz und gebieterisch. Raouls Erstaunen wuchs, dann jedoch gewann er seine ganze Kaltblütigkeit wieder. Was machte der Mann hier? Und wie kam er zu seinem Auftreten? Wie oft treten gerade die Leute mit übertriebener Sicherheit auf, die etwas zu verbergen haben! Raoul konnte nicht vergessen, daß Marescal Miß Bakefield den ganzen Nachmittag verfolgt und die Stunde ihrer Abfahrt erfragt hatte. Zweifellos hatte er sich im Nebenwagen befunden – und war der dritte Bandit nicht über die Verbindung im Nebenwagen verschwunden? Und sollte dieser dritte nicht der Mann sein, der jetzt herumkommandierte und die Situation zu beherrschen schien?

Der Wagen hatte sich geleert. Nur der Schaffner war noch zurückgeblieben. Raoul versuchte, sich wieder auf seinen Platz zu setzen. Man hinderte ihn daran.

»Aber bitte!« sagte er, in der festen Überzeugung, daß Marescal ihn nicht erkannte, »wie kommen Sie denn dazu? Ich saß hier und will wieder auf meinen Platz!«

»Nein,« antwortete Marescal, »der Ort, an dem ein Verbrechen geschah, gehört den Behörden, und keiner darf ihn ohne Erlaubnis betreten.«

Der Schaffner legte sich ins Mittel:

»Aber dieser Herr ist ja auch angefallen worden und man hat ihn gefesselt und beraubt.«

»Tut mir leid,« sagte Marescal, »aber ich kann die Vorschriften nicht ändern.«

»Welche Vorschriften?« fragte Raoul ärgerlich.

»Meine Vorschriften.«

Raoul kreuzte die Arme:

»Wie kommen Sie eigentlich dazu, hier Anordnungen zu treffen? Sie kommandieren uns mit einer Unverschämtheit, die andere sich vielleicht gefallen lassen, ich bin jedoch nicht in der Verfassung, mich damit abzufinden.«

Der andere reichte ihm eine Visitenkarte und sagte:

»Rodolphe Marescal, Kommissar im internationalen Fahndungsdienst, zugeteilt dem Ministerium des Innern.«

Und er fügte hinzu:

»Und wenn ich die Leitung der Untersuchung übernommen habe, so tue ich es mit dem Einverständnis des Bahnhofsvorstehers, und weil mein besonderer Auftrag mich dazu ermächtigt.«

Raoul war etwas verdutzt und beherrschte sich. Marescals Name, den er zuerst nicht beachtet hatte, erinnerte ihn an gewisse Geschichten, in denen der Kommissar sich außerordentlich geschickt benommen hatte. Er hielt es für klüger, seinen Widerstand aufzugeben und sich den Beamten auf andere Art zu gewinnen.