Die Handschrift des Teufels - Heike Stöhr - E-Book

Die Handschrift des Teufels E-Book

Heike Stöhr

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Beschreibung

Eine starke Frau und ein mysteriöses Buch Pirna, 1544. Magister Heinrich Fuchs und sein Weib Sophia erwarten ihr erstes Kind. Aber nichts ist, wie es scheint: Fuchs ist nicht der Vater, und statt Liebe verbindet die Eheleute vor allem der Wunsch, ein geheimnisvolles Buch zu entschlüsseln, das Sophia einst im Kontor ihres Vaters fand. Belauert werden sie dabei von Stadtschreiber Wolf Schumann, der die Macht des Buches für seine eigenen Zwecke nutzen will. Doch dann taucht ein Schatten aus Fuchs´ Vergangenheit in Pirna auf, und auch Sophia gerät in Gefahr, als ihre Freundin Maria unter Mordanklage gestellt wird. Unterdessen kämpft im Elbsandsteingebirge in der Flößersiedlung Krummhermsdorf ein junger Mann verzweifelt um die Erinnerung an sein früheres Leben …

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Seitenzahl: 776

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Heike Stöhr

Die Handschrift des Teufels

Historischer Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Personenübersicht

IM SCHULMEISTERHAUS IN DER OBERTORVORSTADT IN PIRNA

Heinrich Fuchs: Magister und Universalgelehrter, zwischenzeitlich Schulmeister

Sophia: sein Weib

Justus: ihr Söhnchen

Hanna: Amme von Justus

 

IM SPITAL IN PIRNA

Gertrud: ehemals Köchin im Haus von Sophias Vater

Elias: ehemaliger Klostergärtner

 

IN KRUMMHERMSDORF

Moses: der Mann ohne Gedächtnis

Hans Hohlfeld: Flößer, Holzfäller, Heiler

Melchior: Hans’ Enkel

Marthe: Köhlerstochter

Johanna: Kräuterweib mit hellseherischen Kräften

 

FAMILIE, HAUSHALT UND HELFER DES STADTSCHREIBERS VON PIRNA

Wolf Schumann: einflussreicher Stadtschreiber, jüngster Ratsherr

Georg Schumann: Wolfs Halbbruder, Schmiedemeister in Dresden

Lapidius: ehemaliger Kommilitone Wolfs, später Mönch, jetzt Alchimist in Altendresden

 

IN DER SCHIFFTORVORSTADT

Maria Fennigen: »Königin« der Bomätscher von Pirna, auch »Rote Maria« genannt, Sophias Freundin

Jonas: ihr Sohn

Marten: Marias Bräutigam, Kaufmannssohn aus Meißen, angehender Wirt der »Blauen Schürze«

Hannes: Bomätscher und Marias rechte Hand

Hidwigk: Hannes’ Verlobte

Doro: die alte Wirtin der »Blauen Schürze«

 

AUSSERDEM IN PIRNA

Jobst: Abdecker oder Schinder

Hans Frost: Fronmeister

 

Diese Menschen lebten und arbeiteten im 16. Jahrhundert tatsächlich in Pirna und Sachsen, von manchen konnte ich nicht mehr Nachweise finden als ihre Namen und Berufe, andere hinterließen umfangreiche Zeugnisse ihrer Handwerkskunst oder ihres geistigen und politischen Wirkens.

 

IM RAT UNTER ANDEREM

Friedrich Hofmann: Bürgermeister

Alex Walter: Kämmerer und Brotwäger

Hans Rische: Richtherr

Jakob Süssemilch: Baumeister

Balthasar Kittel: Bierherr, Salzgeldeinnehmer

Nickel Nack: Weinherr, Aufseher auf der Elbe

Gregor Kadner: Spitalmeister

 

AUSSERDEM

Anton Lauterbach: erster evangelischer Pfarrer und Superintendent von Pirna, Freund Martin Luthers

Agnes Lauterbach: sein Weib, ehemalige Nonne

Christoph von Carlowitz: Diplomat und einer der vertrautesten Räte von Herzog Moritz

Nikolaus Storch: Laienprediger aus Zwickau

Valentin Arnold: Bader

Georg Richter: Rektor der Knabenschule

Albert Weißenberger: Kantor

Johann Lichte: vierter Schulmeister der Knabenschule

 

IN WITTENBERG

Lucas Cranach, der Ältere: Hofmaler des Kurfürsten

Lucas Cranach, der Jüngere: sein Sohn und Nachfolger

Anna Cranach: seine jüngste Tochter

Martin Luther: Kirchenreformator

Katharina Luther: sein Eheweib

Philipp Melanchthon: Professor in Wittenberg, Freund Luthers und Lauterbachs

1. Kapitel

He, Moses! Aufstehen!«

Obwohl der alte Hans ihn bei diesen Worten energisch rüttelte, schaffte Moses es kaum, die Augen zu öffnen. Und so sah er auch nicht den Schwapp Wasser kommen, den Melchior ihm im nächsten Augenblick ins Gesicht schüttete. Wie von einer Hornisse gestochen sprang Moses auf. Das eiskalte Wasser triefte ihm aus dem Haar und tropfte aus seinem Bart über die Brust. Ein widerwärtiges Gefühl! Fluchend wischte er mit dem Hemdsärmel über die nassen Stellen. Dabei überlegte er, ob er Melchior, der vor Lachen prustete und sich die Seiten hielt, packen, nach draußen zerren und kopfüber in den Dorfbrunnen tunken sollte. Aber erstens war das Wasser dort schon seit Wochen eingefroren, und zweitens verabreichte Hans Hohlfeld seinem Enkel gerade eine derbe Kopfnuss.

»Schluss mit den Albereien!« Der Alte schüttelte sein graues Haupt. »Manchmal kann ich es kaum glauben, dass du schon zwanzig Lenze zählst, dussliger Kindskopf!«

Das beifällige Grinsen verschwand sofort aus Moses’ Gesicht, als Hans sich mit drohend erhobener Hand zu ihm umdrehte. »Und du, zieh dich gefälligst an, statt dem Herrgott die Zeit zu stehlen! Heut ist der Tag Fabian und Sebastian. Da müssen wir noch vor dem ersten Licht im Busche sein.«

Moses hockte sich fröstelnd auf den Rand der Bettstatt und angelte mit dem Fuß nach seiner Hose auf dem Boden. »Warum? Was ist besonders an diesem Tag?«, erkundigte er sich gähnend.

»Herrgott, Moses, das weiß doch nun wirklich jedes Kind!«, spottete Melchior. »Da kehrt der Saft in den Bäumen um.«

»Hä?« Moses zog die Hosen hoch und band den Strick zu, mit dem er sie gürtete. Er hatte seine Schwierigkeiten mit dem eigentümlichen Zungenschlag der Leute aus dem Gebirge, aber oftmals entging ihm auch der tiefere Sinn ihrer Reden. »Und was soll das nun wieder heißen?«

»Junge, du vergisst, dass Moses kein Hiesiger ist«, erinnerte Hans seinen Enkelsohn. Dann machte er sich wie jeden Morgen daran, drei Holzschalen mit dampfender, dickflüssiger Roggenmehlsuppe zu füllen.

»Stimmt!« Melchior versetzte Moses einen freundschaftlichen Stoß vor die Brust. »Er heißt ja schließlich Moses, weil wir ihn letzten Herbst aus der Elbe gezogen haben. Damals war er genauso ahnungslos und triefend wie der kleine Moses aus der Bibel, den diese ägyptische Prinzessin auffischte.« Er zeigte auf Moses, der gerade dabei war, seine Haare trockenzureiben. »Wie man sieht, hat sich daran bis heute nichts geändert!« Vergnügt grinsend setzte er zu sich seinem Großvater an den Tisch.

Moses nahm ebenfalls Platz. Wie immer, wenn von seinem Gedächtnisverlust die Rede war, fühlte er eine Mischung aus Angst und Wut in sich gären.

Der alte Hans, der die Stimmungen seines Dauergastes inzwischen gut einschätzen konnte, bemühte sich, ihn abzulenken. »Du musst wissen, nach Fabian und Sebastian dürfen wir bis zum Herbst kein Holz mehr schlagen. Das ist ungeschriebenes Gesetz, und jeder Holzfäller, ob entlang der Kerntsch oder in den anderen Tälern, hält sich dran«, erklärte er. »Bei den Sorben gilt der Tag übrigens als Beginn des Frühlings.«

»Frühling?«, fragte Moses ungläubig nach und schüttelte den Kopf. »Mir scheint, heut ist es noch kälter als in den letzten Tagen.«

»Schon, aber meist setzt in den kommenden Tagen das erste Tauwetter ein. Danach stecken bereits einige Frühlingsblumen ihre Köpfe aus der Erde. Du wirst schon sehen!« Der Alte nickte, dann begann er, seine Suppe zu löffeln.

Die anderen taten es ihm gleich, und in der kleinen Blockhütte wurde es still.

Unwillkürlich kehrten Moses’ Gedanken zu dem furchtbaren Augenblick im vergangenen Herbst zurück, als er nach tagelanger Bewusstlosigkeit zum ersten Mal zu sich gekommen war. Es war Nacht gewesen, die Luft hatte sich eigenartig feucht angefühlt, und es hatte seltsam gerochen – nach Wasser, Schlamm und Fisch. Das leichte Auf und Ab, mit dem die Lagerstadt unter ihm schaukelte, hatte ihm bewiesen, dass er sich auf einem Schiff befand.

Erinnerungsfetzen wehten durch sein Gedächtnis. Männerstimmen, große raue Hände, die ihn hielten, stützten, wuschen. Jemand flößte ihm Wasser ein und Suppe, wechselte einen Verband. Wieso? Was war mit ihm passiert? Sosehr er versuchte, sich zu erinnern, da war nichts! Bis heute lag alles, was sich vor diesem Augenblick in seinem Leben ereignet hatte, für ihn vollständig im Dunkeln – einschließlich des Namens, den er getragen hatte.

Er hockte vor seiner leeren Schüssel und zuckte zusammen, als Hans seine Schulter berührte. »Hier ist dein Rampftel, Moses. Hab heut zur Feier des Tages gute Butter reingetan, nicht nur Prägelsalz.« Der Alte legte das in ein Leinentuch geknotete Brot neben Moses. »Und nun zieh dich an und komm!«

Moses war so tief in seine Erinnerungen versunken gewesen, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie Melchior und dessen Großvater sich zum Abmarsch gerüstet hatten. Schnell erhob er sich, schlüpfte in seine Jacke und zog sich eine Mütze über die Ohren. Dann griff er nach Axt, Flößerhaken und Brotbündel, um den beiden Männern zu folgen.

Draußen entzündete Melchior die Pechfackeln, die ihren Weg zum Einschlagplatz beleuchten sollten. In der Mitte des Weilers, am Brunnen, versammelte sich die Rotte der Krummhermsdorfer Holzfäller, um gemeinsam in den Schlag zu ziehen. Wie immer ging Hans Hohlfeld an der Spitze des kleinen Zuges. Als Ältestem stand es ihm zu, als Erster den Fällplatz zu erreichen und auch als Erster wieder nach Hause zu kommen. Melchior und Moses reihten sich hinten bei den Jüngeren ein. Bedächtig und ohne Hast schritten die Männer bergan, denn einerseits galt es, die Kräfte für die anstehende Arbeit zu schonen, und andererseits konnte man auf dem vereisten, schmalen Pfad, zu dessen Seiten sich stellenweise jähe Abgründe auftaten, leicht ausrutschen. Vorsicht, Ruhe und Umsicht, das hatte Moses inzwischen gelernt, waren im Gebirge unabdingbare Voraussetzungen für ein langes Leben. Dennoch kam es hin und wieder zu Unfällen, denn die Arbeit der Männer, die winters das Holz schlugen, das sie mit den Hochwassern im Frühjahr und Herbst auf den Gebirgsbächen bis zur Elbe hinab drifteten, war hart.

Als später die dunstige Wintersonne schon hoch am Himmel stand, wischte sich Moses mit dem Arm über das nasse Gesicht. Obwohl der Frost die Bäume knacken ließ und die Sonnenstrahlen es ohnehin kaum schafften, das verworrene Astgefüge der mächtigen Buchen, Eichen und Tannen zu durchdringen, war ihm bei der Arbeit heiß geworden. Es lag nicht nur an der körperlichen Anstrengung. Zwar pulsierten die Schwingungen der gleichmäßigen Axtschläge noch immer durch seinen Körper, doch was ihm mindestens ebenso den Schweiß auf die Stirn trieb, war die Gefahr, der sich die Holzfäller bei jedem Handgriff, den sie taten, aussetzten. Es war fast so, als wehre sich der Wald mit allen Mitteln dagegen, dass sie ihm einen der Seinen entrissen. Jeder Baumriese, den sie zu Boden brachten, brach im Fallen Äste von den umstehenden Bäumen, und mitunter landete der Stamm nicht da, wo die Holzfäller ihn haben wollten. Ständig mussten sie aufmerksam sein, bereit, sich zu ducken, beiseitezuspringen oder einen Kameraden zu warnen.

Dankbar ergriff Moses die Tonflasche, die Melchior vorsorglich ans Feuer gestellt hatte, damit der Inhalt nicht gar so kalt in den Magen gelangte. Er nahm einen großen Schluck und wickelte anschließend den Rampft aus, der ebenfalls in einer Mulde neben dem Feuer gelegen hatte. »Wenn du nicht eines Tages an Magenverhärtung jämmerlich zugrunde gehen willst, darfst du niemals gefrorenes Essen hinunterschlingen, Junge!« Das hatte der alte Hans ihm in den letzten Wochen immer wieder eingeschärft.

Seit dem frühen Morgen hatten die drei Männer Seite an Seite gearbeitet. Zuerst mussten sie die Tannen entästen, die sie gestern geschlagen hatten. Dann wurden die Stämme mit der Axt geschrotet und anschließend mithilfe der langen Flößerhaken zum nahen Hang geschleift. Dort ließen sie das Holz über Bloßen zum Fluss hinabrutschen. Bei diesem Teil der Arbeit kam es ihnen entgegen, dass der anhaltende Frost Boden und Felsen mit einer glatten Eisschicht überzogen hatte. Wenn sich das Holz allerdings irgendwo verfing, war es für die Männer umso gefährlicher, mit ihren Haken den steilen Hang hinabzuklettern und den Stamm zu befreien. Erleichtert dankte Moses seinem Schöpfer, dass die unfallträchtigste Arbeit nun hinter ihnen lag. In den nächsten Wochen würde es jedenfalls vergleichsweise einfach werden, die Hölzer im Tal zu stapeln. Von Hans hatte Moses erfahren, dass die Holzfäller diese Stapel später zu Beginn der Trift mit ein paar gezielten Axthieben zum Einsturz bringen würden, sodass die Stämme direkt in den Bach rollen konnten. Das meiste Holz, das sie in den letzten Wochen geschlagen hatten, würde als Stempelholz an die Silbergruben im Erzgebirge verkauft, hatte Hans hinzugefügt, oder es würde als Brennholz im Dresdner Holzhof landen.

Melchior schien ebenso erleichtert zu sein wie Moses, denn er stieß einen tiefen Seufzer aus, während er seine Flasche wieder verkorkte und sein Brottüchel zusammenfaltete. »Zum Glück wird heute nur noch der letzte Baum des Winters geschlagen, bevor es wieder nach Hause geht«, erklärte er zufrieden. »Und wie jedes Jahr wird Großvater den letzten feierlichen Schlag setzen.«

Die Holzfäller hatten dafür schon vor Wochen eine besonders schön gewachsene Tanne ausgewählt. All ihre Schwestern ringsum waren bereits gefällt worden. Von ihnen waren nur kniehohe Stubben übrig geblieben, die in einigen Jahren, sobald sie ausreichend verkient waren, auch noch ausgegraben wurden. Aus ihnen machten die Holzfäller Kienspäne, an denen man in den Dörfern des Gebirges großen Bedarf hatte, da sie dazu dienten, die Stuben in den langen Wintermonaten ein wenig zu erhellen.

»Wir müssen uns beeilen«, murmelte Hans Hohlfeld nach einem prüfenden Blick in den schiefergrauen Himmel.

Inzwischen hatten zwei der Holzfäller begonnen, von beiden Seiten grobe Späne aus dem Stamm der letzten Tanne zu schlagen. Schräg zur Faserrichtung fraßen sich ihre Äxte immer tiefer ins Holz. Dabei setzten sie einen Schrot immer ein Stück tiefer an als den anderen, um so die Richtung vorzugeben, in die der Baum fallen sollte.

Moses folgte dem Blick des Alten, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Über ihnen ächzte der Wipfel der Tanne, und es schien noch ein wenig kälter geworden zu sein als am Morgen.

»Es kommt Südostwind auf.« Melchiors Stimme klang besorgt.

Natürlich, kein Holzfäller, dem sein Leben lieb war, würde bei Wind auf den Schlag gehen, dachte Moses. Aber das hier war höchstens ein Lüftchen. Doch dann begriff er, was Melchior meinte. »Der böhmische Wind«, sagte er. Das war der Wind, den die Holzfäller am meisten hassten, denn seine Böen waren unberechenbar und wehten besonders eisig durch die Schluchten und Täler des Gebirges. »In den nächsten Tagen wird also noch kein Tauwetter kommen.«

Doch Melchior hörte ihm gar nicht zu. Zusammen mit den anderen Männern beobachtete er gespannt, wie sein Großvater die Axt nun an dem langen, geschwungenen Stiel packte und kräftig ausholte. Dabei zielte Hans auf den höher liegenden Schrot am Stamm der Tanne. Gelang es ihm, den Baum mit einem einzigen Schlag zu Fall zu bringen, verhieß das Glück für den Rest des Jahres.

Doch genau einen Wimpernschlag, bevor der Alte die Axt niedersausen ließ, fuhr eine heftige Bö aus der anderen Richtung in das verzweigte Geäst der Tanne. Einer der Männer stieß einen gellenden Warnruf aus, und Moses sah, wie Hans sich zur Seite warf, wobei er die Axt fallen ließ und die Arme schützend über den Kopf riss. Ein paar Holzfäller, die in seiner Nähe gestanden hatten, sprangen davon. Melchior aber wollte auf seinen Großvater zustürzen, um ihn vor dem Baum zu retten, der im selben Augenblick krachend und splitternd auf den Alten herabzufallen schien. Moses erwischte Melchior am Arm und zerrte ihn mit sich zu Boden. Zweige, Holz- und Rindenstücke prasselten auf die Männer nieder. Ein Splitter traf Moses an der Wange, und er spürte warmes Blut über seine kühle Haut rinnen, während er die Augen fest zusammenkniff.

All das spielte sich innerhalb weniger Augenblicke ab, nach denen es plötzlich totenstill im Wald wurde. Selbst der böige Wind schien so rasch eingeschlafen zu sein, wie er gekommen war.

Moses schnappte nach Luft und öffnete vorsichtig die Augen. Neben ihm rappelte sich Melchior auf und sah sich benommen um. »Verdammt«, brummte der junge Flößer mit zusammengebissenen Zähnen. »Wo ist der Alte?«

Moses glaubte, unter dem gewaltigen Astwerk der Tanne ein Stöhnen zu hören, und winkte seinen Freund herbei. Dann sahen sie Hans. Der alte Mann lag mit dem Rücken nach oben unter den Ästen und rührte sich nicht. Als sie näherkamen, bemerkten sie das Blut, das ihm aus einer Wunde am Hinterkopf tropfte und sein weißes Haar rot färbte.

»Großvater!« Melchior zerrte vergeblich an einem der Äste.

Moses half ihm, ohne zu zögern. Es durfte nicht sein, dass der Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, jetzt vor seinen Augen starb! Dann eilten auch die anderen Holzfäller herbei. Einige von ihnen hatten ihre Äxte dabei und begannen, damit auf die größeren Äste einzuschlagen. Es dauerte nicht lange, dann konnten sie den alten Hans, der noch immer bewusstlos war, unter dem Geäst des Baumes hervorziehen. Aus einigen kräftigen Zweigen und ein paar Jacken bauten sie eine Trage, auf die sie ihren Ältesten vorsichtig betteten.

»Immerhin lebt er noch«, sagte einer der Männer, um Melchior zu ermutigen, der seine Jacke ausgezogen hatte und seinen Großvater damit zudeckte.

»Dein Großvater ist zäh wie Adlerfarn! Den bringt so schnell nichts um«, versuchte der rotbärtige Christoff, einer von Melchiors Freunden, zu trösten.

Melchior nickte abwesend. »Ja, aber wir sollten ihn jetzt ganz schnell zu Johanna bringen. Sie wird wissen, was zu tun ist!«

Darum betete Moses im Stillen, denn eigentlich war Hans Hohlfeld derjenige, zu dem die Leute aus Krummhermsdorf und den umliegenden Weilern kamen, wenn sie eine Verletzung oder Krankheit kurieren mussten.

2. Kapitel

Sophia erwachte, weil sie husten musste. Aber das Kratzen in ihrer Kehle ließ nicht nach, und dann nahm sie auch den seltsamen Geruch wahr: Rauch! Sie hörte, wie das Gebälk knisterte und knackte. Feuer! Das Haus brannte! Alarmiert sprang Sophia aus dem Bett und riss die Tür ihrer Kammer auf. Sie stürzte hinaus, ihre Füße flogen die Treppenstufen hinab.

Die große Halle war bereits voller Qualm. Aus der Tür zum Kaufmannskontor ihres Vaters schlugen Flammen. »Rasch, Sophia! Hierher!« Gertruds Rufe wiesen ihr den Weg. Inmitten der Rauchschwaden konnte sie lediglich die ausgestreckte Hand der alten Köchin ausmachen. Sophia lief auf sie zu.

In diesem Augenblick drang Niklas’ Stimme durch das Prasseln der Flammen im Kontor. »Sophia! Er hat das Buch! Halt ihn auf!«

Sophia erstarrte. Niklas, ihr Liebster, war dort, in diesem Inferno!? Sie musste zu ihm! Ungeachtet der Flammenzungen, die nach ihren Füßen leckten, versuchte sie, sich zum Kontor durchzukämpfen. Da brach mitten durch das Feuer eine Gestalt, die der Hölle entstiegen schien: Kunz! Die Kleidung war dem ehemaligen Landsknecht vom Leibe gesengt worden. Die Glut fraß sich bereits in sein Fleisch und legte die Knochen frei. Der brennende Mann zeigte ihr sein zahnloses Totenkopfgrinsen, bevor er sie zur Seite stieß und in Richtung Haustür stolperte. In der verkohlten Klauenhand schwenkte er das Buch wie eine Kriegstrophäe. Dicht auf den Fersen folgte ihm eine zweite Gestalt, hochgewachsen, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt, das Gesicht unkenntlich unter der Kapuze. Der eisige Hauch, der das Phantom umwehte, als es an ihr vorüberglitt, ließ Sophia für einen Augenblick die Hitze des Feuers vergessen.

Dann schüttelte sie die Erstarrung ab. Niklas! Sie musste zu ihm! Doch Gertrud griff nach ihrem Arm und zerrte sie mit aller Kraft vom Kontor weg. Als sich Sophia wehrte, um sich aus dem Griff zu befreien, erkannte sie, dass es nicht die Köchin war, sondern ihre Mutter. »Nein, Kind, lass ihn! Rette das Buch, sonst war alles umsonst!«

Verzweifelt blickte Sophia zurück. Hinter dem Vorhang aus Flammen sah sie noch einmal Niklas’ Gesicht. Funken stoben um ihn und ließen sein blondes Haar aufleuchten, die Narbe an seiner Schläfe glühte rot. Seine Lippen formten Worte, die vom Prasseln des Feuers verschluckt wurden.

 

Mit einem unterdrückten Schrei schlug Sophia die Augen auf. Ihr Herz hämmerte, ihre Kehle fühlte sich wund an, und in ihrem Bauch bewegte sich unruhig das Kind. Sie streifte die Decke ab, tastete sich zum Fenster und klappte die hölzernen Laden zurück. Gierig sog sie die kalte Nachtluft in ihre Lungen. Es war nur ein Traum, sagte sie sich, ein unsinniger Albtraum, geboren aus den Ängsten und Leiden, die sie im letzten Jahr durchlebt hatte. Das Buch, nach dem Kunz in der Brandnacht suchte, hatte er niemals gefunden. Es lag sicher in einem Versteck hier im Haus. Der ehemalige Landsknecht jedoch war gefangen genommen, verurteilt und vor dem Elbtor bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Er würde ihr nie wieder etwas antun können.

Sophias Herzschlag beruhigte sich allmählich, als unten im Garten eine Nachtigall zu singen begann. Sie ließ das Fenster offen und kroch wieder unter ihre Decke. Das Bett war riesig, und einmal mehr fühlte sie sich darin verloren. Es war ein Geschenk ihres Onkels und Vormunds anlässlich ihrer Hochzeit gewesen, würdig der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Hier in der winzigen Kammer des Vorstadthäuschens wirkte es vollkommen fehl am Platze.

Im Erdgeschoss hörte Sophia eine Tür klappen. Ihr Ehemann schlief wie immer in seiner Studierkammer zwischen den Büchern, Zeichnungen und Zahnrädern auf einer Matratze, die mit den großen gefiederten Blättern des Adlerfarns gestopft war.

Sie war froh gewesen, als er in ihrer Hochzeitsnacht vorschlug, dass sie mit dem ehelichen Beischlaf noch warten sollten, bis sich Sophias Trauer um Niklas gelegt und sie einander im alltäglichen Zusammensein besser kennengelernt hätten. Später hatte er dann Rücksicht auf ihre fortgeschrittene Schwangerschaft genommen. Zumindest glaubte sie das, denn gesprochen hatten sie über das Thema seither nicht mehr.

Sophia rollte sich auf die Seite und schob sich ein Kissen unter den Bauch. Sie schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber ihre Gedanken kehrten wieder zu der eigenartigen Ehe zurück, die sie seit einigen Monaten mit Magister Heinrich Fuchs führte. Als er ihr damals anbot, ihn zu heiraten, wohl wissend, dass sie das Kind eines anderen unter dem Herzen trug, hatte er sie vor der öffentlichen Schande bewahrt. Sicher, es hatte damals für sie noch eine andere Möglichkeit gegeben. Ihr Onkel hatte bereits eine standesgemäße Ehe mit einem seiner Geschäftsfreunde arrangiert. Doch sie hatte es nicht über sich gebracht, den reichen Leipziger Kaufmann zu ehelichen. Es lag nicht nur daran, dass sie sich gescheut hatte, ihm das Kind eines anderen Mannes unterzuschieben. Nein, es war ihr auch zuwider gewesen, dass er um sie geschachert hatte wie um eine Zuchtstute auf dem Viehmarkt. Und so war sie stattdessen das Weib eines armen Gelehrten geworden. Es war nicht die Liebesheirat gewesen, die sie sich einst mit Niklas erträumt hatte, aber zumindest basierte ihre Ehe mit Heinrich Fuchs auf Ehrlichkeit und gegenseitigem Respekt.

Auf einmal begann sich das Kind in Sophias Bauch wieder zu bewegen. Sie legte ihre Hand auf die kleine Beule, die vielleicht ein Knie oder Fuß war. »Na, du kannst wohl auch nicht schlafen?«, murmelte sie. Wenn sie daran dachte, dass es bis zur Geburt nur noch wenige Wochen dauern würde, fühlte sie sich hin und her gerissen. Einerseits wollte sie ihr Kind natürlich endlich sehen, wollte wissen, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war, wollte es in den Armen wiegen und stolz herumzeigen. Andererseits hatte sie Angst vor den schweren Stunden, die vor ihr lagen. Was war, wenn es Schwierigkeiten gab? Wenn sie oder das Kind die Geburt nicht überlebten? Erst vor drei Wochen war in der Nachbarschaft eine Frau bei der Geburt ihres vierten Kindes verblutet. Der verzweifelte Vater, ein Schmied, hatte das Neugeborene zu seiner Schwester gegeben, die auch einen Säugling hatte. Er würde sich nicht um Schicklichkeit und Trauerzeiten scheren, denn seine drei anderen Kinder waren noch klein und brauchten dringend eine Mutter.

Sophia öffnete die Augen wieder. Verglichen mit diesen Ängsten war ihre Furcht vor dem Gerede, das es unweigerlich geben würde, wenn sie bereits fünf Monate nach der Hochzeit niederkam, nichtig. Inzwischen war es draußen vollkommen still, die Nachtigall schwieg. Was würde sie darum geben, wenn der Vater ihres Kindes jetzt neben ihr läge, sie sich an ihn schmiegen und vielleicht gar ihre Ängste mit ihm teilen könnte. Sie biss sich auf die Lippe, und ihre Augen begannen zu brennen.

Doch sie schluckte die Tränen hinunter. Das Buch fiel ihr ein, das seit ihrem Einzug in dieses Haus sicher in seinem Versteck ruhte. Sie war davon überzeugt, dass dieses geheimnisvolle Buch, das sie bereits seit ihrer Kindheit faszinierte, Rezepturen enthielt, mit denen man den Tod besiegen konnte. Plötzlich erinnerte sie sich an die Worte, die ihre Mutter ihr im Traum zugerufen hatte: »Rette das Buch, sonst war alles umsonst!« Vielleicht war ihr Albtraum dieses Mal doch nicht sinnlos gewesen, grübelte sie. Nein, sicher nicht, denn plötzlich ergab alles einen Sinn! Sophia richtete sich wieder auf und stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Durch das geöffnete Fenster konnte sie ein viereckiges Stück Nachthimmel sehen, an dem die Sterne flimmerten. Als Kind hatte sie den Anblick des Sternenhimmels stets als tröstlich empfunden. Sie hatte sich eingebildet, irgendwo von dort oben würde ihre Mutter sie beobachten und beschützen.

Sophia war auf einmal fest davon überzeugt, dass ihre Mutter ihr diesen Traum geschickt hatte, um sie auf dem Weg, den sie verfolgte, zu bestärken. Gleich morgen würde sie ihrem Ehemann sagen, dass sie das Buch wieder aus seinem Versteck holen müsse.

 

Am nächsten Morgen war Sophia zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn sie ihrem Ehemann gegenüber eher nebenher erwähnen würde, dass sie vorhatte, die Arbeit an der Entschlüsselung des Textes wieder aufzunehmen. Natürlich hoffte sie auch, er würde sie mit seinem Wissen und seinen Verbindungen zu anderen gelehrten Männern erneut dabei unterstützen.

Sie hatte es ihm beim Wischen der Dielen in der Studierkammer erzählt, so nebenbei, als wäre es eine ihrer alltäglichen Verrichtungen, wie der Gang zum Markt oder das Füttern des Schweins. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie nicht damit gewartet hatte, bis ihr etwas Besseres eingefallen war, denn natürlich ließ sich Heinrich Fuchs nicht derart plump überrumpeln.

»Das Buch bleibt, wo es ist, Weib! Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit.« Der Magister griff nach dem Eimer und hob ihn so heftig auf, dass das Schmutzwasser über den Rand schwappte. Er hielt das Gespräch wohl für beendet und marschierte zur Tür, um den schweren Wassereimer für sie im Hof auszuschütten.

Mit dem Schrubber in der Hand verbaute Sophia ihm den Weg. »Aber in all den Monaten seit dem Brand gab es keinerlei Hinweise darauf, dass irgendjemand nach dem Buch sucht. Weißt du denn nicht mehr, wie versessen du selbst noch im letzten Jahr darauf warst, den Schlüssel zu finden und herauszubekommen, was in dem Buch steht?«

Der Magister stellte den Eimer wieder ab, um sie sanft, aber entschieden zur Seite zu schieben. Sie streckte ihren Bauch vor und stemmte sich ihm entgegen.

Da ließ er sie los, fuhr sich frustriert mit den Händen durchs Haar und drehte sich einmal um sich selbst, bevor er sie wütend anfunkelte. »Vielleicht liegt es ja an deiner fortgeschrittenen Schwangerschaft, hm? Anders kann ich es mir jedenfalls nicht erklären, dass du, mein gescheites Eheweib, die Gefahr nicht sehen willst, wenn sie unmittelbar vor deiner hübschen Nase ist! Vom Gehorsam, den du mir, als deinem Eheherrn, schuldest, will ich gar nicht erst sprechen!«

Sophia lachte spöttisch und wollte aufbegehren, doch dann wurde sie still. Wenn Fuchs, der sonst nie auf seine Vorrechte als Ehemann pochte und sie stets als ihm gleichgestellt behandelte, so etwas sagte, musste er schon recht verzweifelt sein. »Dann erkläre mir bitte, warum du so entschieden dagegen bist«, verlangte sie und lehnte sich auf den Schrubber.

Er holte tief Luft, dann breitete er die Hände aus. »Also gut. Wir haben im letzten Jahr herausgefunden, dass Kunz, der nicht einmal lesen konnte, unmöglich aus eigenem Antrieb gehandelt haben kann, als er das Buch aus dem Kontor deines Vaters stehlen wollte. Ergo hatte er einen Auftraggeber! Dass dieser vollkommen skrupellos und sehr einflussreich sein muss, wissen wir auch deshalb, weil es ihm gelang, Kunz in der Fronfeste die Zunge herauszuschneiden, bevor der Lump dem Henker etwas erzählen konnte.«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Sophia, die ihre Ungeduld nie unterdrücken konnte, wenn der Magister so ausschweifend wurde, als stünde er in einem Hörsaal voller Studenten. »Aber das war vor über einem halben Jahr!«

Doch Heinrich Fuchs ließ sich nicht beirren. »Eben! Und seither glaubt dieser gefährliche Unbekannte, das Buch sei beim Brand im Kontor vernichtet worden. Er konnte schließlich nicht wissen, dass es damals gar nicht dort war, weil ich es mit nach Zwickau genommen hatte. Sonst hätte er Kunz nicht in der besagten Nacht danach suchen lassen, nicht wahr?«

Sophia schnaubte auf.

»Und wir werden nichts unternehmen, was ihn eines Besseren belehren könnte, so wahr ich hier stehe!«, beendete der Magister seinen Vortrag mit Nachdruck.

»Aber wie sollte er denn erfahren, dass wir das Buch noch haben?«, begehrte Sophia auf. So schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben, dafür hing für sie zu viel von dem Buch ab.

Fuchs sah sie so nachsichtig an, als wäre sie ein begriffsstutziges Kind. »Darf ich dich daran erinnern, dass du seit Jahren vergeblich versucht hast, das Buch zu entschlüsseln? Selbst der alte Professor in Leipzig, der dir dabei helfen wollte, hat sich die Zähne daran ausgebissen. Ohne dass wir Gelehrte hinzuziehen, die auf bestimmten Gebieten noch mehr wissen als wir, werden wir nicht weiterkommen.«

Sophia nickte. Dieser Ansicht war sie auch.

»Zurzeit sind wir die Einzigen, die wissen, dass das Buch noch existiert. Sobald wir einen anderen einweihen, könnte auch der Mann, der bereit war, für dieses Buch über Leichen zu gehen, seine Spur wieder aufnehmen. Vergiss nicht, dass er fünf Menschen töten ließ, um in den Besitz dieses verfluchten Buches zu gelangen!«

Er hat recht, dachte sie, zumindest von seinem Standpunkt aus. Und er war davon überzeugt, dass jeder vernünftig denkende Mensch seinen Standpunkt teilen müsse. Doch für Sophia war die Arbeit an dem Buch nicht nur eine Sache der Vernunft. Seit vielen Jahren träumte sie davon, in diesem Buch das Heilmittel gegen die gefürchtetste Seuche ihrer Zeit zu entdecken. Sie glaubte aus tiefstem Herzen, dass sie das schaffen konnte, wenn sie sich nur genug anstrengte. Und dann würde die Pest endgültig ihren Schrecken verlieren. Nie wieder würde Sophia einen geliebten Menschen an den Schwarzen Tod verlieren! Sie atmete tief ein und legte eine Hand schützend auf ihren Bauch.

Fuchs hatte diese Geste beobachtet. Er trat einen Schritt näher und sah seiner Frau in die Augen. »Ich habe eine Heidenangst, dass dir etwas zustoßen könnte, Sophia. Die würde ich so oder so haben.« Seine Stimme klang weich. »Aber im Augenblick bist du besonders verletzlich. Da müssen wir die Dinge nicht noch dadurch kompliziert machen, dass du ausgerechnet jetzt wieder beginnst, an dem Buch zu forschen. Bitte, sieh das ein!«

Es war die Angst in seinem Blick, die Sophia dazu brachte zu nicken. Als sie sah, wie er erleichtert aufatmete und lächelte, schlug sie die Augen nieder, um ihre Gedanken vor ihm zu verbergen. Trotz der Gefahr und entgegen aller Vernunft war sie entschlossen, Mittel und Wege zu finden, um ihr Ziel weiterzuverfolgen.

3. Kapitel

Mit dem letzten Schlag der Feierabendglocke verschloss der Stadtschreiber Wolf Schumann die Tür der Kämmerei. Sorgfältig verstaute er den Schlüssel an seinem Hosenbund. Von oben aus dem Tuchmachersaal vernahm er noch Schritte, das Klappen schwerer Holzdeckel und metallenes Klicken. Die letzten Tuchherren verschlossen ihre Truhen mit den wertvollen Stoffen. Zuvor hatten sie die Einnahmen dieses Markttages gezählt und ihre Gewinne berechnet. Sie würden zufrieden sein, da war sich Schumann ganz sicher. Schließlich gewährte ihm sein Amt, auch wenn er noch nicht im Rat saß, Einblick in fast alle Verwaltungsvorgänge der Stadt. Er verdankte es der Fürsprache des Kämmerers Alex Walter, mit dem er sich die Amtsstube teilte und der ihn auf eine väterliche Art protegierte.

Wie er es häufig tat, verweilte Schumann beim Verlassen des Rathauses noch einen Augenblick auf der überdachten Empore der Ratstreppe. Er blickte hinunter auf den Obermarkt, wo zwei Knechte unter Aufsicht des Marktmeisters die letzten Abfälle zusammenkehrten, die der Abdecker später aus der Stadt karren würde. Am Röhrkasten herrschte noch Gedränge. Das Lachen und Schnattern der Mägde wurde nur von den langgezogenen, schrillen Schreien der Falken übertönt, die den Turm der Marienkirche umkreisten.

»Gott zum Gruß, Stadtschreiber!« Gregor Kadner, der rundliche Spitalmeister, hob die Hand. »Wie immer in der Kämmerei bis zur Feierabendglocke? Ich glaube beinah, Euch trifft man häufiger im Rathaus an als unseren hochverehrten Bürgermeister. Kommt Ihr noch auf ein Kännchen mit in die Trinkstube?«

Schumann schüttelte den Kopf. »Nein, Meister Kadner, heute nicht. Ich erwarte Gäste zum Abendmahl.«

»Soso, Gäste! Und ich hab schon befürchtet, Ihr würdet außer Arbeit kein anderes Vergnügen kennen.« Der Spitalmeister lachte gutmütig. »Für einen Mann in Eurem Alter wäre das sehr ungesund.«

Schumann stimmte in das Lachen ein. Dass die Abendeinladung für die Ratsherren Walter, Süssemilch, Nack und Kittel selbstverständlich auch mit Ratsangelegenheiten zu tun hatte, musste Kadner nicht unbedingt wissen. Schumann stieg die Treppe hinab und ließ es lächelnd über sich ergehen, dass der Spitalmeister ihm auf die Schulter klopfte. Der Stadtschreiber verabscheute solche Vertraulichkeiten, wollte den Ratsherrn aber auch nicht brüskieren.

»Ihr solltet endlich ein Weib nehmen, Schumann! Der Ehestand macht einen Mann ruhiger und gelassener. Und unsere Stadt hat schließlich jede Menge hübscher Töchter.« Kadner kicherte. »Wie Ihr wisst, habe ich selbst zwei, die grad im rechten Alter sind.«

Schumanns Lächeln gefror. Eine Ehe mit einem dieser Mädchen – Zwillinge, die rundlichen grauen Mäusen glichen und denen trotz ihrer jungen Jahre bereits ein paar Zähne fehlten, weshalb sie in der Öffentlichkeit nie ein Wort sagten – war das Letzte, was er sich ersehnte. Für einen Augenblick tauchte das Bild der lebhaften, selbstbewussten Kaufmannstochter Sophia vor ihm auf, um die er sich im letzten Jahr vergebens bemüht hatte. Eine ausgesprochene Schönheit war sie nicht mit ihrem breiten Mund und der sommersprossigen Haut, und im Grunde war es ihm bei dieser Brautwerbung auch nur um ein Geschäft gegangen. Sie besaß etwas, das er haben wollte. Inzwischen war sie das Weib eines sonderlichen, mittellosen Magisters geworden und lebte draußen in der Vorstadt. Doch wenn Schumann ehrlich war, dann saß der Stachel ihrer Zurückweisung noch immer in seinem Fleisch, und gerade spürte er wieder dessen Stich. Er holte tief Luft, unterdrückte die ärgerliche Erinnerung und bemühte sich um einen unverbindlichen Ton.

»Ich weiß, ich weiß, Spitalmeister. Aber so was will wohl erwogen sein, was ich Euch, als Mann mit Erfahrung, nicht sagen muss. Doch nun entschuldigt mich. Ich wünsche Euch noch eine angenehme Stunde beim Bier!«

Erleichtert sah er den Spitalmeister die Treppe zur Trinkstube im Ratskeller hinabsteigen. Er drehte sich um und überquerte mit langen Schritten den Untermarkt. Vor einigen Monaten hatte er dort, an der Ecke zur Badergasse, ein Haus erworben. Jedes Mal, wenn er vor dem breiten Portal mit dem gemeißelten Stern stand, überkam ihn ein Hochgefühl. Dieses Haus im angesehenen ersten Viertel Pirnas war ein Zeichen dafür, dass er es geschafft hatte. Er war jetzt ein Mann mit Perspektiven und Verbindungen in der Stadt. Und schon bald – beim nächsten Ratswechsel zu Walpurgis – hoffte er, auch deren jüngster Ratsherr zu sein! Die Chancen darauf galt es heute, beim Abendessen mit den drei Ratsherrn, weiter auszubauen.

Der Hausknecht, der ihn bereits erwartet hatte, öffnete die Tür. In der Halle zog Schumann die leichte Schaube aus und warf sie dem Knecht zu. »Die Magd soll mir einen Becher Bier hinaufbringen. Wie weit ist das Essen?«

»Es wird alles fertig sein, sobald Eure Gäste eintreffen, Herr. Die Köchin ist mit der Magd seit dem Vormittag an der Arbeit. Oben liegt ein Brief. Ein Bote aus Leipzig brachte ihn vor einer Stunde.« Mit einer Verbeugung verschwand der Knecht mit dem Mantel.

Schumann stieg die Treppe hinauf, nahm je zwei Stufen auf einmal. Ein Brief aus Leipzig? Er mutmaßte, dass es in dem Schreiben um Ratsangelegenheiten gehen musste, denn er selbst hatte weder Verwandte noch Bekannte in der Handelsstadt an der Pleiße. Doch der gefaltete Bogen mit dem kleinen roten Siegel, den er auf seinem Schreibpult fand, wirkte nicht amtlich.

Er trat ans Fenster und brach das Siegel, das nichts über seinen Absender preisgab. Auch die Handschrift war ihm fremd. Aber schon ein kurzer Blick auf die langen Zahlenkolonnen, die er anstelle von Buchstaben entdeckte, ließ seinen Atem stocken. Die Zahlen waren in Dreiergruppen geordnet. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Mit einer Hand tastete er hinter sich, zog den Sessel heran und ließ sich hineinfallen. Der Schmerz in seinem Magen nahm ihm die Luft, während er mit zitternden Händen eine Phiole aus seinem Wams fingerte, den Korken mit den Zähnen zog und sich den Inhalt in den Mund schüttete. Er würgte die bittere Medizin herunter und schüttelte sich.

Wie konnte es nur geschehen sein, dass er in den letzten Monaten, während ihm in Pirna durch glückliche Fügung und beinah ohne eigenes Zutun, alles zugefallen war, den Teufelspakt mit Carlowitz beinah vergessen hatte? Schumann schloss die Augen und wartete darauf, dass die Tinktur ihre lindernde Wirkung entfaltete. Dunkel erinnerte er sich daran, dass Kämmerer Walter ihm nach der letzten Ratssitzung erzählt hatte, Herzog Moritz habe Christoph von Carlowitz inzwischen auch noch zum Amtmann von Leipzig ernannt. Das beweise eindeutig, wie hoch der Rat in des Herzogs Gunst stünde, hatte Walter gesagt. Schumann könne sich glücklich schätzen, dass der herzogliche Rat ihm seine Aufmerksamkeit schenke, hatte er hinzugefügt. Schumann biss die Zähne zusammen, als ihn eine neue Woge des Schmerzes überrollte. Ein Glück, dass Walter keine Ahnung hatte, welche Art der Aufmerksamkeit Carlowitz dem Pirnaer Stadtschreiber zuteilwerden ließ!

Nachdem der Schmerz zu einem dumpfen Pochen abgeklungen war, erhob sich Schumann mühsam aus seinem Sessel. Er öffnete die Tür seines Bücherschrankes und zog eine reichlich zerlesene Ausgabe der Luther’schen Übersetzung des Alten Testaments hervor. Carlowitz, der ein zweites Exemplar dieser Auflage besaß, hatte es ihm vor einigen Monaten zukommen lassen. »Ausgerechnet ein Werk Luthers«, schimpfte Schumann, während er den Sessel an den Tisch schob und nach Tinte und Papier griff. »Dabei pfeifen es doch die Spatzen von den Dächern, dass die Carlowitze nach wie vor dem Papismus anhängen!« Der Zeigefinger seiner linken Hand glitt über den Brief und verweilte bei der ersten Zahlengruppe, während er mit der rechten Hand in dem Buch blätterte. Der herzogliche Rat hatte damals darauf bestanden, dass sie verschlüsselte Botschaften austauschten. Schumann fand das reichlich übertrieben. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als den Anweisungen Folge zu leisten.

»Ich werde Euch demnächst ein bestimmtes Buch zukommen lassen«, hatte Carlowitz ihm erklärt. »Verwendet in Euren Briefen die Wörter daraus. Verschlüsselt sie nach folgendem Prinzip: Zuerst die Zahl der Seite, dann die der Zeile und die des Wortes in der Zeile.«

 

»Schür ein Feuer im Kamin!«, wies Schumann die Magd an, die in diesem Moment das Bier brachte. Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu, denn der Tag war heute ausgesprochen warm gewesen. Doch dann huschte sie aus dem Zimmer, um Holz zu holen. Sie wusste, dass man die Anweisungen des Herrn besser rasch ausführte, statt Fragen zu stellen.

Als das Feuer brannte und die Magd die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte Schumann den Federkiel beiseite und starrte auf seine Notizen. Es waren wahrlich keine guten Nachrichten, die da aus Leipzig kamen. Aber was der herzogliche Rat zum Schluss von ihm verlangte, war so gut wie unmöglich!

Schumann sprang auf und begann, in seiner Schreibkammer auf und ab zu marschieren. Waren seine Hände und Füße trotz der stickigen Wärme in der Kammer eben noch eiskalt gewesen, so fühlte er jetzt Hitze in sich aufsteigen und ballte die Fäuste.

Nikolaus Storch, dieser Aufrührer und Unruhestifter aus Zwickau, ein Gespenst aus der Vergangenheit, hier, in Pirna! Schumann blieb stehen und schüttelte den Kopf. Wieso war dieser Kerl nicht längst vermodert und verrottet, wie all die anderen falschen Propheten, die in der Zeit der Bauernaufstände und danach das Land unsicher gemacht und den leichtgläubigen, verzweifelten Leuten in den Dörfern und Städten von der nahenden Apokalypse vorgeschwafelt hatten? Das Weltenende hatte sie schließlich auch ereilt – auf dem Schlachtenberg in Frankenhausen –, aber es hatte ganz anders ausgesehen, als diese verblendeten Aufrührer und ihre tumben Haufen es sich vorgestellt hatten!

Der Stadtschreiber atmete tief ein und aus, dann ließ er sich wieder in den Sessel sinken. Er nahm das Blatt erneut zur Hand, las die entschlüsselte Botschaft noch einmal. Da stand es, Schwarz auf Weiß, in seiner eigenen, gestochenen Handschrift: »Der Herzog wünscht die sofortige Ergreifung des Nikolaus Storch und seine Überstellung nach Dresden. Es steht zu vermuten, dass er in Pirna Hilfe und Unterschlupf bei seinem Schwager, dem Magister Heinrich Fuchs, sucht. Eingedenk unserer Absprachen solltet Ihr jedoch tunlichst Sorge tragen, dass Fuchs in keiner Weise in diese Angelegenheit verwickelt wird.«

Dass der Herzog es nicht dulden konnte, dass ein Winkelprediger und Unruhestifter wie Storch vor den Toren Dresdens Unterschlupf suchte, war verständlich. Herzog Moritz hatte wegen seiner Unterstützung für den katholischen Kaiser schon genug Scherereien mit seinen evangelischen Glaubensbrüdern und Bundesgenossen vom Schmalkaldischen Bund. Ketzerische Umtriebe konnte er da selbstverständlich nicht brauchen. Aber nicht nur in den evangelischen Landen, auch bei den Katholiken wurden die Wiedertäufer und ihnen verwandte Sekten unbarmherzig verfolgt. Auch in Schumanns Augen waren sie nichts anderes als Unruhestifter, die an der göttlichen Ordnung dieser Welt rüttelten.

Aber Storch in Pirna festzusetzen, war das eine. Damit würde Schumann, der seinen Einfluss vor allem der Tatsache verdankte, dass Rische, der alte Richtherr, sich an sein Amt klammerte, obwohl er immer weniger in der Lage war, es auszuüben, keine Schwierigkeiten haben. Er war in den letzten Monaten de facto der Dauerstellvertreter des greisen Richters. Doch wie sollte er vor dem Rat verbergen, dass Magister Fuchs dem Ketzer Unterschlupf gewährt hatte, falls die Stadtwachen ihn in dessen Haus aufgriffen? Das würde in jedem Fall peinliche Fragen nach sich ziehen. Und wenn herauskäme, dass Fuchs mit Storch verwandt war, wäre es wahrscheinlich, dass die Ratsherren dem Magister ihr Wohlwollen entzogen, ja, ihn womöglich gar aus der Stadt verwiesen. Wer weiß, vielleicht hatte Fuchs in der Vergangenheit sogar die eine oder andere Idee dieses Unruhestifters geteilt? Schumann hatte schon häufiger darüber nachgedacht, dass man hier in Pirna eigentlich kaum etwas über die Vergangenheit des Magisters wusste, der erst seit vier Jahren in der Stadt lebte. Nicht auszudenken, wenn da einer auf den Gedanken käme, nachzuforschen! Würde man Fuchs gemeinsam mit Storch festsetzen, wäre er, Schumann, für den herzoglichen Rat nicht mehr von Nutzen, eher sogar ein lästiger Mitwisser. Der Stadtschreiber verspürte erneut Stiche in der Magengegend, während er sich vorstellte, welche Konsequenzen das haben konnte. Er presste die Hände auf seinen Leib und bemühte sich, tiefer zu atmen. Trotzdem gelang es ihm nicht, seine kreisenden Gedanken zur Ruhe zu bringen.

Was hatte dieser irre alte Winkelprediger hier zu suchen? Gerade jetzt, wo sich alles so gut fügte! Schumann überkam wieder das Gefühl, Gott und alle Welt hätten sich gegen ihn verschworen, so wie damals, als Carlowitz mitten in der Nacht in seinem Haus aufgetaucht war. Der Stadtschreiber stand auf und trat ans Fenster. Er starrte auf die spielenden Knaben, die auf dem Untermarkt einen struppigen gelben Hund mit einem Knochen ärgerten. Immer, wenn das magere Tier nach dem Knochen schnappte, zogen sie ihn vor der Schnauze weg. Der Hund sprang vergeblich hoch und kläffte hinterher wütend und enttäuscht.

»Ein verdammter Narr war ich!«, schalt sich Schumann. »Wie konnte ich nur denken, ich könnte weitermachen wie bisher? In aller Seelenruhe abwarten, bis Fuchs das Buch entschlüsselt hätte, und mir indes einen Plan zurechtlegen, wie ich Carlowitz übervorteilen kann? Er wird mich mit seinen Forderungen auf Trab halten und mir keine Ruhe gönnen, bis er schließlich hat, was er will. Verflucht sei die Stunde, da er von dem Buch erfahren hat!«

In diesem Moment ertönte von unten lautes Wehgeschrei. Schumann sah, wie sich einer der Jungen sein blutendes Bein hielt, während der Hund mit dem Knochen im Maul in Richtung Winkelgasse hetzte. Die anderen Bengel starrten dem Tier erschrocken hinterher. Von St. Marien erklangen sieben Glockenschläge.

Schumann trat an den Tisch, nahm Brief und Notizblatt, ging zum Kamin und warf beides in die Flammen. Als die Blätter zu Asche verbrannt waren, verließ er das Zimmer, um sich für das Abendessen umzuziehen. Er würde Fuchs und seinem Weib, der stolzen Sophia, schon bald einen Besuch abstatten, doch zuerst musste er sich um die Ratsherren und das Geschäftliche kümmern.

Bereits zwei Stunden später hatte Schumann den galligen Nachgeschmack, den das Carlowitz’sche Schreiben auf seiner Zunge hinterlassen hatte, vergessen. Natürlich hatten das geröstete Zicklein, die Krebse in Kirschsoße, die süßen Krapfen und der vorzügliche Rheinwein ihren Beitrag dazu geleistet. Doch noch besser schmeckte dem Stadtschreiber das Lob, das ihm der Kämmerer soeben großzügig spendete.

»Wie Ihr es mir geraten habt, mein lieber Schumann, bin ich kürzlich ins Gebirge hinaufgefahren. Euer Gewährsmann aus Glashütte hat mich auf den Hennenberg geführt, wo ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass die Granatkörner, die Ihr uns im Winter gezeigt habt, tatsächlich von dort stammen.« Alex Walter zog ein Beutelchen aus seinem Gürtel, schob seinen leeren Teller beiseite und schüttete den Inhalt des Beutels vor sich auf den Tisch. »Seht her, verehrte Ratsfreunde! Das habe ich mitgebracht, damit Ihr sehen könnt, was ich dort sah.«

Während sich Jakob Süssemilch und Nickel Nack mit dem Augenschein begnügten, fischte sich Ratsherr Kittel einen der dunkel schimmernden Kristalle aus dem Häuflein und drehte ihn langsam zwischen Daumen und Zeigefinger. Im Licht der zahlreichen Kerzen blitzten goldene Reflexe auf den regelmäßigen Flächen.

»Zwei vierseitige Pyramiden – ein perfektes Oktaeder«, murmelte Kittel. »Und Ihr seid Euch sicher, dass man das Gold herauslösen kann?« Seine dunklen Augen unter den schweren Augenlidern blickten skeptisch.

Walter nickte. »So hat es mir der Mann versichert. Es gäbe in der Tat ein Geheimmittel, Arkanum genannt, mit dem er durch chymische Maturation einiges an Gold aus diesen Granatkörnern herausgebracht habe. Ganz so, wie unser junger Ratsfreund es in Dresden gehört hat.« Er schenkte Schumann ein anerkennendes Lächeln.

»Und der Verkauf der Kuxe hat bereits begonnen?«, erkundigte sich Süssemilch.

»Auch das wurde mir bestätigt.« Der Kämmerer senkte die Stimme. »Etliche Mitglieder des Dresdner Hofes seien unter den Interessenten.«

»Das wird die Preise in die Höhe treiben. So gesehen wäre es wirklich sinnvoll, wenn wir unsere finanziellen Mittel bündeln würden.« Balthasar Kittel ließ den Kristall vor sich auf den Tisch fallen und blickte seine Ratskollegen auffordernd an.

Schumann verbarg ein Lächeln, indem er sich einen tiefen Schluck aus seinem Weinglas gönnte. Der Abend verlief genau nach seinen Wünschen. Letztendlich würde er nicht nur mit den alteingesessenen Familien im Rat sitzen, sondern auch mit ihnen Geschäfte machen!

»Und unser Gastgeber, dessen aufmerksamen Ohren wir diese außerordentliche Anlagemöglichkeit verdanken, sollte sich darum kümmern!«, schlug der Kämmerer vor.

»So soll es sein«, stimmte Süssemilch zu.

»Na, meinetwegen. Aber dafür lasst Ihr heute noch ein paar Krüge von diesem süffigen Wein aus Eurem Keller holen, Stadtschreiber!« Nickel Nack hob sein Glas und prostete Schumann zu.

 

Der Nachtwächter hatte bereits die Mitternacht ausgerufen, als der Stadtschreiber die leicht schwankenden Ratsherren, einen nach dem anderen, an der Haustür verabschiedete. Sein Hausknecht wartete schon auf der Gasse, um jedem der Herren mit der Fackel bis vor die eigene Haustür zu leuchten. Zwar wohnten sie alle nur wenige Schritte entfernt, aber in ihrem Zustand stolperten sie womöglich sogar über die eigenen Füße.

Als Letzter verabschiedete sich Alex Walter. Der schwergewichtige Kämmerer klopfte seinem Gastgeber so heftig auf die Schulter, dass der schlanke Schumann ins Wanken geriet. »Was ich Euch noch sagen wollte, mein Freund: Wenn Ihr zu Walpurgis wirklich einen Sitz im Rat haben wollt, müsst Ihr Euch endlich dazu durchringen, ein Weib zu nehmen!«, lallte er. »Ein Mann in Eurem Alter und noch immer unvermählt – da reden die Leute. Vor allem bei Euch!«

Schumann trat einen Schritt zurück und nickte. Er würde sich den Abend nicht dadurch verderben lassen, dass nun auch noch der betrunkene Kämmerer diesen wunden Punkt zur Sprache brachte. Er wusste selbst, dass er auf Dauer nicht um eine Heirat herumkam. Aber er verabscheute es, wenn man ihn bedrängte.

»In ein paar Tagen kommt die Amalia, meine Nichte, nach Pirna zurück. Mein Bruder hatte sie schon als kleines Kind in ein Kloster gegeben.« Walter lachte. »Dachte, er könnte einen Handel mit dem Herrn machen, um sich so von seinen eigenen Sünden loszukaufen! Hat auch bis zum Schluss am alten Glauben festgehalten, der Depp!«

Schumann nickte wieder. Erfahrungsgemäß kam der Kämmerer, wenn er sich volltrunken in weitschweifigen Schilderungen erging, am schnellsten zum Ende, wenn man selbst schwieg.

»Aber nun ist er tot, und von seinen sieben Kindern hat nur dieses eine überlebt. Es ist fast so, als ob der Herrgott selbst ihn gestraft hätte, für sein Verharren im falschen Glauben.« Walter stierte einen Augenblick auf seine eigenen Füße in den teuren Ziegenlederstiefeln.

Für Schumann sah es so aus, als wolle der Kämmerer sich überzeugen, dass sie noch vorhanden waren, und wieder einmal fand er seine Meinung bestätigt, dass übermäßiges Saufen jeden Mann zu einem Spottbild seiner selbst werden ließ. Doch obwohl der Stadtschreiber bei Bier und Wein auch heute Maß gehalten hatte, hatte er dafür gesorgt, dass die Gläser der Ratsherren immer gut gefüllt waren. Wer trank, redete – der Kämmerer war in dieser Hinsicht ein Muster. Aber wer in der Lage war zuzuhören, konnte viele nützliche Informationen sammeln – und darin übte sich Schumann nur gar zu gern.

»Hab das Mädel nach der Aufhebung der Klöster erst mal in einen anständigen evangelischen Haushalt gegeben – die war ja ganz wirr im Kopf von dem Zeug, das sie ihr im Kloster eingetrichtert hatten. Aber inzwischen wird sie wohl eine brauchbare Hausfrau abgeben. Hat breite Hüften, die ja bekanntlich gut sind fürs Gebären!« Er hob den Blick von seinen Stiefeln und zwinkerte Schumann zu. »Und eine ordentliche Mitgift wird sie auch kriegen. Ich lad Euch ein, sobald sie angekommen ist, dann könnt Ihr sie kennenlernen, die Amalia.«

Schumann hielt es für einen guten Zeitpunkt, seinen letzten Gast endgültig zu verabschieden, zumal der Knecht mit der Fackel soeben zurückkehrte. Mit ein wenig Glück würde Walter sein Ansinnen bis morgen vielleicht vergessen haben.

»So soll es sein, und jetzt wünsche ich Euch eine sichere Nacht und einen guten Schlaf!« Zuvorkommend half er dem Kämmerer über die Schwelle auf die Gasse.

Doch Walter klammerte sich an Schumanns Arm und heftete seinen weinumnebelten Blick auf dessen Nasenspitze. Er musste offensichtlich noch etwas loswerden. »Eine tugendhafte Jungfer aus einer angesehenen Familie – das ist genau das, was Ihr braucht, um das Vertrauen der alteingesessenen Ratsfamilien endgültig zu gewinnen. Alle wissen, über welche Talente Ihr verfügt. Es sind Eure Weibergeschichten, die sie an Eurer Zuverlässigkeit zweifeln lassen, glaubt mir!«

Schumann presste die Lippen zusammen. Er spürte, dass seine gute Laune nun doch schwand.

Trotz seiner Trunkenheit schien Walter diesen Stimmungsumschwung zu bemerken. Er ließ Schumanns Arm los und taumelte einen Schritt zurück, wo ihn der Knecht mit der Fackel sogleich unterhakte, um ihn in Richtung des Walter’schen Hauses zu dirigieren. Aber der Kämmerer drehte sich noch einmal um. »Lasst Eure nächtlichen Ausflüge in die Vorstadt wenigstens so lange sein, bis Ihr daheim ein Weib mit einem runden Bauch sitzen habt«, rief er grinsend.

Obwohl der Stadtschreiber dem Wein kaum zugesprochen hatte, wurde ihm plötzlich übel. Während er die Haustür hinter sich schloss, begann er, mit der ganzen Welt zu hadern – erst das Schreiben von Carlowitz und nun auch noch das! Offensichtlich schien jeder in der Stadt zu wissen, dass er seine Lust bei ein, zwei jungen Fischerwitwen hinter dem Schiffertor zu stillen pflegte. Herrgott, er war eben ein Mann! Dabei hatte er nach der unglückseligen Geschichte mit der Küchenmagd Katrina seine Hosen daheim grundsätzlich zugelassen. Und bei seinen Besuchen in der Schifftorvorstadt hatte er sich stets diskret verhalten – zumindest hatte er das bis eben angenommen. Er biss die Zähne zusammen und stapfte die Treppe hinauf. Nachdem er die Tür zu seiner Schlafkammer heftig zugeschlagen hatte, drosch er seine Faust gegen das massive Holz. Der Schmerz in seiner Hand brachte ihn zur Besinnung. Voll bekleidet warf er sich auf sein Bett und bemühte sich, seine Lage ruhig zu überdenken.

Am Ende kam er zu der Erkenntnis, dass Walter in allem recht hatte. Wenn er den Sitz im Rat haben wollte, dann musste er sich endlich für ein Eheweib entscheiden und seine Triebe vorerst zügeln – zumindest hier in der Stadt, die so klein war, dass offenbar jeder mitbekam, was der andere tat.

4. Kapitel

Moses hustete und spuckte Schleim auf die Straße. Vergeblich versuchte er, sich die Sandkörnchen aus den Augen zu reiben. Der verdammte Staub, den die Hufe der mächtigen Zugpferde ununterbrochen aufwirbelten, machte ihm zu schaffen. Dennoch war er’s zufrieden gewesen, als sich die Flößer dem Salzzug anschließen durften, nachdem sie im Elbhafen von Magdeburg die Ladung Langholz vom ersten Flößen in diesem Frühjahr gelöscht hatten. Es war eine Vereinbarung zum gegenseitigen Vorteil, denn auch die meisten Kaufleute waren froh, wenn sich ihnen auf ihren Reisen über Land einige kräftige Burschen zugesellten. Sogar die Salzhändler aus Halle, die den Schutz ihrer begehrten Fracht bewaffneten Knechten überantworteten, hatten den Flößern gern gestattet, auf einem der Wagen mitzufahren, da sie sich als zusätzliche Bewachung des Zuges anboten. Zumal sie sonst nichts verlangten und sich selbst versorgten.

Plötzlich geriet der Zug ins Stocken, der erste Wagen war ruckartig stehen geblieben. Fluchend sprang der Kutscher vom Bock. »Das hintere Rad ist in einem dieser vermaledeiten Schlaglöcher hängen geblieben! Dem Herrn sei Dank, dass es nicht gebrochen ist.«

Moses sah, wie sich der Anführer der Waffenknechte, ein zäher alter Haudegen, dem die Hälfte des rechten Ohrs fehlte, in die Steigbügel stellte und seinen Blick aufmerksam schweifen ließ. Die Straße führte hier durch dichten Wald. Gut möglich, dass sich in dem unwegsamen Dickicht Gesindel herumtrieb, dem der unfreiwillige Aufenthalt der Wagenkolonne gerade recht kam für einen raschen Überfall.

Moses und die Flößer eilten nach vorn, um zu helfen, denn je schneller sie den Wagen wieder fahrtüchtig machen konnten, desto besser war es um die Sicherheit aller bestellt. Während Moses und Melchior ihre Schultern unter den hinteren Teil des Wagens schoben, mühten sich vor ihnen Caspar und Christoff. Auch die Salzknechte stemmten sich mit aller Kraft gegen den schweren Wagen. Moses spürte, wie sich die Kante der hölzernen Planke schmerzhaft in seine Schulter grub. Doch er biss die Zähne zusammen und spannte seine Muskeln weiter an. Neben sich hörte er Melchior keuchen. Dann gab es einen Ruck. Die beiden Männer konnten sich gerade noch rechtzeitig am Wagenkasten abstützen, sonst wären sie nach vorn gefallen. Das Rad war frei, und der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung.

Gemeinsam mit den anderen Flößern marschierte Moses weiter neben den Wagen her. Er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken zurückwanderten zum letzten Herbst.

Nach dem ersten Flößen mit dem Herbsthochwasser hatte er diesen Weg schon einmal gemacht. Zum Laufen war er damals noch zu schwach gewesen, und so hatte er den größten Teil der Strecke vor sich hindämmernd auf einem der Wagen zurückgelegt. In der Nähe von Dresden hatten die Flößer ihn im flachen Uferwasser treiben gesehen, so erzählte ihm Melchior später. Moses war sich sicher, dass er ohne die Pflege der Flößer und vor allem ohne das Heilwissen von Melchiors Großvater heute nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Hans Hohlfeld ging davon aus, dass jemand mit böswilligem Vorsatz versucht hatte, Moses zu töten. Einige der Verletzungen, davon war der Alte überzeugt, deuteten darauf hin, dass Moses sich damals mit bloßen Händen gegen seinen Angreifer gewehrt hatte.

Nun waren die Flößer erneut auf dem Rückweg ins Tal der Kerntsch, wie sie die Kirnitzsch nannten. Dort schlugen sie winters im Auftrag der Herrn von Schönburg und Schleinitz die Stämme, die sie mit dem Hochwasser im Frühjahr und Herbst über den wasserreichen Gebirgsfluss zur Elbe hinab transportierten. An der Mündung, im Städtlein Schandau, banden sie die Stämme zu Flößen zusammen. Die flößten sie sommers die Elbe hinab bis zum Holzhof in Dresden, das wertvolle Langholz aus anderen Wäldern im Gebirge mitunter sogar bis Magdeburg. Moses lebte seit dem vergangenen Herbst bei den Flößern im Kirnitzschtal. Doch er wusste auch, dass dies nicht der Platz war, an den ihn Gott eigentlich gestellt hatte. Aber wohin er gehörte und wer er war, bevor ihn die Flößer verwundet aus dem Fluss zogen, daran konnte er sich bis heute noch immer nicht erinnern.

»Morgen gegen Abend erreichen wir Riesa, wenn es weiter so gut läuft.« Der Kutscher schnalzte mit der Zunge und trieb die Pferde zu einem flotteren Gang an. »Am Ende der Woche können wir in Pirna sein. Dort müssen wir unser Salz drei Tage zum Kauf anbieten, bevor wir weiterziehen dürfen. Schon seit zweihundert Jahren haben die Pirnschen das Stapelrecht, sodass sie an jeder Fuhre verdienen, die auf der alten Handelsstraße in die Lausitz und nach Böhmen durch ihre Stadt kommt.«

Moses wusste, dass sich die Flößer in Pirna vom Tross der Salzhändler verabschieden würden, um über Königstein weiter die Elbe hinauf zu wandern.

Abends saßen sie wie immer am Lagerfeuer beisammen und teilten sich Brot, Käse und ein paar Eier, die sie auf einem Bauernhof für wenig Geld gekauft hatten. Während der Kaufmann und seine Leute oft in einer der Herbergen an der Handelsstraße übernachteten, war es für die Flößer üblich, im Freien zu schlafen.

An den langen Winterabenden, wenn die Dunkelheit die Menschen in dem kleinen Weiler Krummhermsdorf bereits nachmittags in die Häuser trieb, hatte Moses entdeckt, dass er ein Talent zum Schnitzen besaß. Während der alte Hans und Melchior nebenher Reisigbesen banden, die später auf den Märkten der Umgebung verkauft wurden, schnitzte Moses kleine Kühe, Schafe, Pferde und Menschen, die als Kinderspielzeug dienen konnten. Jetzt, während die anderen sich unterhielten und scherzten, arbeitete er wieder an einem Figürchen. Er hielt das Holztier in den Schein des Feuers und kniff prüfend die Augen zusammen. Was er sah, gefiel ihm nicht wirklich.

Neben ihm prustete Melchior auf und hielt sich die Seiten vor Lachen. »Nicht schon wieder eine Sau, Moses! Deine Schweine sehen allesamt wie blutrünstige Monster aus. Kleine Kinder bekommen bei diesem Anblick Albträume!«

Christoff griff nach der Figur, hielt sie vor seine Augen und schüttelte den Kopf. »Das kann man unmöglich auf dem Markt feilbieten!«

Moses nahm ihm das Tier weg, betrachtete es noch einmal bedauernd und warf es dann ins Feuer.

»Gut so!«, sagte Christoff. »Halte dich besser an Kühe, Pferde und Schafe. Die können wir zumindest verkaufen.«

Moses lachte und nahm noch einen Schluck Branntwein aus der Tonflasche.

Kurze Zeit später rollten sich die Flößer neben dem Feuer in ihre Decken, um zu schlafen.

Nur Moses konnte keine Ruhe finden. Es wäre, überlegte er, vielleicht nicht das Schlechteste, für immer bei den Flößern zu bleiben. Gott der Herr allein wusste, wie sein früheres Leben ausgesehen haben mochte und welche Sünden er darin womöglich begangen hatte. War er gewalttätig gewesen, hatte er Unrecht begangen?

Der Stich zwischen die Rippen und der Schlag auf die Stirn, die Wunden, mit denen die Flößer ihn aus dem Fluss gefischt hatten, waren nicht die einzigen Spuren von Gewalt an seinem Körper.

Nachdem Moses im letzten Herbst auf dem Floß wieder zu sich gekommen war und klar wurde, dass er sich weder daran erinnern konnte, wer er war, noch, wo er herkam, hatte der alte Hans versucht, Rückschlüsse aus den Narben zu ziehen, die Moses trug.

»Du hast da eine frisch verheilte Narbe an der linken Schläfe. War ein glatter Schnitt, wie von einem Messer oder einem Schwert. Kann allerdings nicht sehr tief gewesen sein, sonst sähe es anders aus. Genau wie die Narbe auf deinem Oberarm. Und an deinem rechten Unterschenkel …« Hans hatte sich damals über den Bart gestrichen und die Augen leicht zusammengekniffen. »Ich würde fast behaupten, da hat dir vor nicht allzu langer Zeit ein Wildschwein seine Hauer hineingerammt. Bist du vielleicht Jäger oder so etwas?«

Moses hatte den Kopf geschüttelt. Er wusste es einfach nicht. Die Flößer hatten nicht weiter nachgefragt. Sie hatten ihm den Namen Moses geben und ihn ohne Vorbehalte in ihre Gemeinschaft aufgenommen.

 

Am nächsten Tag kam die Kolonne der Salzhändler bei gutem Wetter zügig voran. Es war bereits Nachmittag, als der Wagen neben Moses abrupt stoppte. Einer der Waffenknechte, die an der Spitze des Zuges ritten, richtete sich im Sattel auf und rief über die Schulter: »Ein umgestürzter Baumstamm versperrt den Weg. Wir müssen ihn beiseiteräumen, sonst kommen die Wagen nicht durch.«

Moses bemerkte, dass sich sofort wieder angespannte Aufmerksamkeit unter den Männern ausbreitete. Während er mit den Flößern nach vorn ging, um den Stamm zu beseitigen, lenkten die Knechte ihre Pferde neben die Wagen und zogen ihre Schwerter. In dem Moment, in dem sich Moses bückte, um nach einem Ast zu greifen, ertönte ein Zischen, und er spürte einen Luftzug an seinem Ohr. Er hob den Kopf und sah, wie sich einer der Flößer vor ihm umdrehte. Der Mann griff sich an die Brust. Verwirrt beobachtete Moses, wie sich rasch ein großer dunkler Fleck auf dem Hemd des Mannes bildete. Als der Flößer zusammensackte und vornüberkippte, entdeckte Moses den Armbrustbolzen in dessen Rücken. Instinktiv warf er sich zu Boden, während um ihn herum das Chaos ausbrach. In rascher Folge schwirrten weitere Bolzen durch die Luft, Männer schrien und hasteten umher.

Mit lautem Gebrüll brachen nun zahlreiche zerlumpte Gestalten aus dem Wald, einige davon beritten, doch die meisten zu Fuß. Sie stürzten sich auf die Bewaffneten. Moses sah, wie sich immer mehrere Kerle zusammen an das Zaumzeug eines Pferdes hängten und versuchten, den Reiter aus dem Sattel zu holen. Die Knechte wehrten sich, indem sie mit ihren Schwertern verzweifelt um sich schlugen. Schon verlor der erste von ihnen den Halt im Sattel, kippte vom Pferd und verschwand unter den hauenden und stechenden Armen seiner Angreifer. Sein Schwert flog durch die Luft und landete nur eine Armlänge von Moses entfernt auf dem Weg.