Die Arglist des Teufels - Heike Stöhr - E-Book
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Die Arglist des Teufels E-Book

Heike Stöhr

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Beschreibung

Das große Finale der Trilogie um das Buch des Teufels Im fernen Nikolsburg lernt Sophia, ›die Füchsin‹, den Dialekt eines einsamen Tales in den Alpen: Sie glaubt, damit das ihr anvertraute geheimnisvolle Buch, das ein Heilmittel gegen die Pest enthalten soll, entschlüsseln zu können. Tatsächlich gibt das Buch sein Wissen preis. Doch es ist nicht das erhoffte. Als Sophia erfährt, dass ihr Mann, Magister Fuchs, schwer erkrankt ist, reist sie unverzüglich zurück nach Pirna – im Gepäck die entschlüsselte Schrift. Darauf hat der intrigante Stadtschreiber Wolf Schumann nur gewartet. Er ahnt nicht, dass das verheißungsvolle, lang ersehnte Buch ihn um den Verstand bringen wird.

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Seitenzahl: 971

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über das Buch

1546/47. Auf einem Brüderhof der Täufer im mährischen Nikolsburg erlernt Sophia, »die Füchsin«, den Dialekt eines einsamen Tals in den Alpen. Sie glaubt, damit das ihr anvertraute geheimnisvolle Manuskript, das ein Heilmittel gegen die Pest enthalten soll, endlich lesen zu können. Als sie erfährt, dass ihr Mann, Magister Fuchs, schwer erkrankt ist, reist sie unverzüglich nach Pirna zurück. Darauf hat der intrigante Stadtschreiber Wolf Schumann nur gewartet …

PERSONENÜBERSICHT

Personen, die meiner Fantasie entsprangen, sind kursiv gesetzt.

Alle anderen sind historisch verbürgt. Von manchen sind nur Name und Beruf nachgewiesen, andere hinterließen umfangreiche Zeugnisse ihres Wirkens als Künstler, Gelehrte und Politiker.

IN PIRNA

Heinrich Fuchs: Magister, Universalgelehrter und geschickter Mechanikus

Sophia: sein Weib

Justus: ihr Söhnchen

Clara: ihr Töchterchen

Hanna: Amme von Justus

IN NIKOLSBURG

Nikolaus Storch: Laienprediger aus Zwickau

Bruder Peter: der Älteste des Brüderhofs

Bruder Franz: Verwalter

Bruder Georg: Prediger

Christoph und Filomena: der Töpfer und sein Weib

Johann: Christophs Bruder

Jan Lienhard: genialer Arzt, der weit über die Grenzen Mährens hinaus gefragt ist

 

Jeremias: erfinderischer Schreiner

Anton: ein fahrender Händler

AUF BURG FALKENSTEIN

Johannes von Fünfkirchen: Ritter aus dem Weinviertel, Pfleger auf Burg Falkenstein

Oswald Paneisen: Verwalter des Burgherrn

Ružena: sein Weib

Blasius: Küchenmeister

Magda: ältere mütterliche Küchenmagd

Lenka: junge vorlaute Küchenmagd

Mila: junge schüchterne Küchenmagd

Wastel: Soldat des Königs

FAMILIE, HAUSHALT UND HELFER DES STADTSCHREIBERS VON PIRNA

Wolf Schumann: einflussreicher Stadtschreiber, jüngster Ratsherr

Amalia Schumann: sein Weib und Nichte des Kämmerers

Georg Schumann: Wolfs Halbbruder, Schmiedemeister in Dresden

Margaretha von Bünau: Landadlige, die als Witwe mit allen Mitteln versucht, ihre Selbstbestimmung zu verteidigen

IN DER SCHIFFTORVORSTADT VON PIRNA

Maria: auch »Rote Maria« genannt, Wirtin der Schänke Zur blauen Schürze, ehemalige »Königin« der Bomätscher, Sophias Freundin

Marten: Marias Ehemann, Sohn eines Meißner Weinhändlers, der aus Liebe zu Maria Schankwirt wurde

Jonas: Marias unehelich geborener Sohn

AUSSERDEM IN PIRNA UND UMGEBUNG

Hans Frost: Fronmeister

Meister Idermann: Gassenmeister in der Obertorvorstadt

Walpurga Walter: des Kämmerers Eheweib

IM RAT UNTER ANDEREN

Friedrich Hofmann: Ratsherr, ehemaliger Bürgermeister

Alex Walter: Kämmerer und Brotwäger

Hans Rische: Ratsherr, ehemaliger Richter

Jakob Süssemilch: Bürgermeister

Balthasar Kittel: Richtherr

Nickel Nack: Weinherr, Aufseher auf der Elbe

Gregor Kadener: Spitalmeister

AUSSERDEM

Anton Lauterbach: erster evangelischer Pfarrer und Superintendent von Pirna, Freund Martin Luthers

Valentin Arnold: Bader

Johann Schumann: Schulmeister, späterer Stadtschreiber und Ratsherr

Hans Bieberstein: Floßmeister und Schiffseigner in Copitz

Hans Rabe: Eisengießer aus Hütte bei Königstein

IN DRESDEN

Georg: Diener im Schloss

Herzog Moritz: Landesherr, späterer Kurfürst

Herzogin Agnes: seine Frau

Herzog August: sein Bruder und Nachfolger

Christoph von Carlowitz: Diplomat und einer der vertrautesten Räte von Herzog Moritz

IN WITTENBERG

Lucas Cranach, der Ältere: Hofmaler bei Kurfürst Johann Friedrich

Luc(as) Cranach, der Jüngere: sein Sohn und Nachfolger

Anna Cranach: seine jüngste Tochter

Philipp Melanchthon: Professor in Wittenberg, Freund Lauterbachs

Niklas Dorndorf: Maler in der Cranach-Werkstatt, Vater von Justus

IN NÜRNBERG

Johann Schöner: Mathematiker, Geograph, Kartograph, Astronom, Astrologe

Meister Ambrosius: genialer Mechanikus

Reinfeld: sein Faktotum

Agnes: seine Magd

Tucher: junger Patrizier aus einer der einflussreichsten Nürnberger Familien

Hieronymus Baumgartner: Patrizier, Ratsherr, Freund Melanchthons

IN LEIPZIG

Daniel Weyner: Sophias Vetter

Justina: seine Mutter

AUS KRUMMHERMSDORF

Melchior: Flößer und Holzfäller

Johanna: Kräuterweib mit hellseherischen Kräften

KAPITEL 1

Möge Euch Gott behüten!« Dankbar nahm das Weib des Fischers die kleine Münze entgegen. Ihr Mann war bereits an Land gesprungen, um die Schaluppe an einem der Holzpfosten des Landungsstegs zu vertäuen. Im Hafen herrschte lebhaftes Treiben: Handwerker, Handlanger, Hausfrauen und Mägde mit Einkaufskörben schoben und drängten sich um die Stände der Fischweiber, die ihre Ware wortreich und lautstark anpriesen. Zwischen ihren Beinen wuselten Kinder, Hunde und Katzen.

Es war Dienstag und in Pirna wurde Markt gehalten. Den geschäftigen Lärm hatte Magister Fuchs schon flussaufwärts vernommen, noch bevor hinter dem Schloss auf dem Sonnenstein die roten Dächer und Türme der Stadt in Sicht gekommen waren. Er nickte der Fischersfrau zum Abschied zu, bevor er nach seiner Tasche griff.

Der Boden unter seinen Füßen schwankte, und Fuchs fühlte sich recht unbeholfen, während er über einige Haufen feuchter Netze und die Körbe mit dem frischen Fang stieg. Die Schuppengewänder der kleinen Fische schimmerten in blassen Perlmuttfarben. Auch am Saum seines langen schwarzen Mantels hafteten Fischschuppen, und es würde eine Weile dauern, bis er den Geruch wieder aus der Nase bekam.

Um ein Haar wäre er beim Aussteigen im Wasser gelandet, weil er die Tasche mit dem kostbaren Werkzeug umklammert hielt, statt sich an der Bordwand festzuhalten. Nur die zupackende Hand des Fischers bewahrte ihn vor dem unfreiwilligen Bad.

Während sich die Fischersleute daranmachten, ihren Fang auszuladen, verließ Fuchs eilig den Landungssteg. Er fror, denn trotz der strahlenden Frühlingssonne trieb der Wind eisige Böen durchs Elbtal. Fuchs bereute inzwischen, dass er in der Früh auf ein Morgenmahl verzichtet hatte. Die Hoffnung, dass Maria in der Blauen Schürze schon einen Kessel deftigen Eintopfs über dem Feuer haben könnte, beflügelte seinen Schritt, aber weit kam er nicht.

»Gegrüßt sei Gott! Welch glücklicher Zufall, dass ich Euch hier treffe, Magister Fuchs! Das erspart mir den Weg zu Euch in die Obertorvorstadt!« Der stattliche Mann mit der wohlklingenden Baritonstimme schien hoch erfreut.

Der Magister grüßte zurück, während er in seinem Gedächtnis vergeblich nach dem Namen seines Gegenübers suchte. Der Mann sah aus wie ein wohlhabender Bürger, denn er trug einen Mantel aus gutem wollenem Tuch und Lederschuhe, auf denen Silberschnallen blinkten, außerdem waren Haar und Bart sauber gestutzt.

»Es scheint, als wären Eure kunstfertigen Hände diesmal elbaufwärts vonnöten gewesen.« Der Mann deutete auf die Werkzeugtasche des Magisters. »Doch wen wundert das, schließlich ist Euer Geschick im Bau von Turmuhren weit über die Mauern unserer Stadt hinaus bekannt, seitdem Ihr im vergangenen Jahr diese überaus nützliche Rathausuhr gebaut habt, an der die Pirnaer außer der genauen Zeit auch noch den Stand des Mondes ablesen können! Niemand hier benötigt noch einen Kalender, wenn er wissen will, wann die rechte Zeit fürs Wäschewaschen, Zahnziehen oder Bartscheren ist.«

Fuchs war das Lob unangenehm. Es stimmte zwar, dass er in letzter Zeit öfter unterwegs war, um Turmuhren in der Umgebung von Pirna zu reparieren, doch waren das zumeist gewöhnliche Uhrwerke, für die es keiner großen Kunstfertigkeit bedurfte. Er lächelte trotzdem freundlich, denn inzwischen war ihm wieder eingefallen, mit wem er es zu tun hatte. Hans Bieberstein war Floßmeister in Copitz und überdies Eigentümer mehrerer Schiffe. Damit schaffte er regelmäßig Steine und Holz nach Wittenberg – ein Geschäft, das ihm gutes Geld einbrachte. Es war offensichtlich, dass Bieberstein ein Anliegen hatte.

»Ich hoffe nämlich, Ihr könnt mir mit einem besonderen Taufgeschenk für den Sohn meines Bruders helfen«, erklärte er.

»Wie das?« Fuchs bemühte sich, nicht allzu ungeduldig zu klingen.

Der Schiffshändler beugte sich vertraulich nach vorn. »Letzte Woche traf ich in Wittenberg einen alten Geschäftsfreund. Der erzählte mir, dass er auf einer seiner Handelsreisen ein Spielzeug gesehen habe – ein Vögelchen, nicht größer als eine Handspanne.« Bieberstein streckte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aus. »Wenn man es mit einem Schlüssel aufzog, sei es auf dem Tisch umhergehüpft und habe artig gepickt. Könnt Ihr mir etwas Ähnliches als Taufgeschenk für den jüngsten Sohn meines Bruders anfertigen?«

Das Interesse des Magisters war entfacht. »Ein mechanisches Spielzeug!«, rief er und vergaß den schneidenden Wind ebenso wie seinen knurrenden Magen. Vor seinem inneren Auge entstand bereits ein geeignetes Uhrwerk. Aber die Ausführung des Ganzen war mit einigen Schwierigkeiten verbunden. »Bauen könnte ich das schon, im Grunde benötigt man dazu nicht viel mehr als ein paar Zahnräder und Federn. Allerdings müssten die sehr klein sein, wenn Euer Vogel nicht die Größe einer Gans haben soll«, erklärte er. »Bis wann braucht Ihr das Geschenk?«

»Ach, damit hat es keine Eile.« Bieberstein lachte. »Mein Bruder wohnt in Schneeberg, und ich weiß noch gar nicht, wann ich wieder Zeit haben werde, ihn zu besuchen.«

»Ich muss ein paar neue Werkzeuge anfertigen lassen, bevor ich an die Arbeit gehen kann. Die hier«, Fuchs hob seine Tasche, »sind viel zu grob dafür.«

»Dann frisch ans Werk, Magister!« Der Floßmeister rieb sich die Hände. »Eure Mühe soll nicht umsonst sein!« Er klopfte auf die Geldkatze an seinem Gürtel.

Aber Fuchs, dessen Gedanken schon um die neue, herausfordernde Arbeit kreisten, wollte jetzt noch nicht über Geld reden. Daher verabschiedete er sich rasch und setzte seinen Weg fort. Während er den Steinplatz überquerte, erstellte er im Kopf bereits eine Liste mit Werkzeug und Material. Das Schimpfen der Steinmetze und Handlanger, denen er dabei vor die Füße lief, nahm er nur am Rand wahr.

An der Schänke Zur blauen Schürze fand er die Tür verschlossen. Es dauerte ein Weilchen, bis er begriff, wie merkwürdig das war. Sonst stand Maria zu dieser Tageszeit längst in der Küche, während ihre beiden Mägde den Schankraum fegten und Tische wischten. Die Stille, die heute über dem gesamten Anwesen lag, war bedrückend. Fuchs, der nicht nur ein Stammgast, sondern vor allem ein enger Freund der Wirtsleute war, begann sich zu sorgen. Durch die gemauerte Toreinfahrt gelangte er in den Hof, wo die blonde Schankmagd dabei war, die Hühner zu füttern. Als sie den Kopf hob, sah er, dass sie geweint hatte. »Bärbel, was ist hier los? Warum ist die Schänke noch nicht geöffnet?«

»Die kleine Ursel!«, Bärbel schniefte. »Der himmlische Vater hat sie zu sich geholt – vor nicht mal einer Stunde!« Sie wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Nase.

Marias kleine Tochter war gestorben? Vor Schreck ließ Fuchs seine Tasche fallen. Das Klirren des Metalls bohrte sich schmerzhaft in sein Ohr. Das konnte doch nicht sein! Als Pate hatte er das Kind erst vor ein paar Wochen über das Taufbecken in Sankt Marien gehalten. Das kräftige kleine Mädchen hatte gestrampelt und wie am Spieß gebrüllt, während Pfarrer Lauterbach es mit dem geweihten Wasser besprengt hatte. Verwirrt betrachtete er seine leeren Hände. »Wie konnte das nur geschehen?«

»Es fängt ganz harmlos an: Ein bisschen Schnupfen, ein leichtes Fieber.« Fuchs drehte sich um, als er die Stimme seines Freundes Valentin Arnold vernahm.

Der Bader war aus der Hintertür auf den Hof getreten. Er wirkte vollkommen übernächtigt, auf seinen hageren Wangen lag ein dunkler Bartschatten. »Dann haben sie Schluckbeschwerden, wollen nicht trinken. Ich dachte, ich hätte es mit einer Häufung von Mandelentzündungen zu tun«, er zuckte hilflos mit den Schultern, »nicht ungewöhnlich im zeitigen Frühjahr. Aber statt der weißen Stippchen bildet sich ein heller, ledriger Belag auf den Mandeln, der schon bald den ganzen Rachen überzieht. Ihr Atem stinkt, und ein pfeifender Husten zeugt von Luftnot. Ihre aufgedunsenen kleinen Gesichter sind ganz blass, obwohl das Fieber steigt.«

Fuchs begriff allmählich, dass Arnold nicht nur von Ursel sprach. In der Stadt schien eine Krankheit zu wüten, eine unbekannte Pestilenz, die vor allem Kinder befiel.

»Was immer ich versuche, sie sterben mir unter den Händen weg – vor allem die Kleinsten!« Noch nie hatte der Magister seinen Freund so verzweifelt erlebt. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er nicht in der Lage war, ihm irgendeine Art von Trost zu spenden. Dabei hatte Fuchs in jungen Jahren die Medizin studiert und auch eine Zeitlang erfolgreich als Arzt gearbeitet. Doch das Vertrauen in seine Kunst war zerbrochen, nachdem er nicht im Stande gewesen war, sein Weib und seine Kinder vor dem Schwarzen Tod zu retten. Er holte tief Luft. »Gibt es etwas, das ich für Maria tun kann?«

Der Bader kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, glomm ein Fünkchen Hoffnung darin. »Geht hinunter zum Fähranleger, mein Freund, und wartet dort auf ihren Mann! Sie sagte, dass er heute zurückkehren wird.«

Fuchs nickte, obwohl ihn die Vorstellung, Marten mit der Nachricht vom Tod seines Kindes zu empfangen, ganz elend machte. Der Wirt der Blauen Schürze hatte ihn vor ein paar Tagen auf seinem Wagen mit hinauf ins Gebirge genommen. Es war eine heitere, unbeschwerte Fahrt gewesen, denn Marten hatte Jonas, Marias Ältesten, dabeigehabt.

Valentin Arnold schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Überzeugt Marten unbedingt davon, dass Ihr den Jungen mitnehmen dürft!« Er legte dem Magister die Hand auf den Arm. »Behaltet ihn in Eurem Haus! So lange, bis dieser verdammte Sterbenslauf ein Ende gefunden hat!«

»Das will ich gern tun«, versicherte Fuchs, der sofort verstand, worum es seinem Freund ging. Oft genug hatte Arnold mit ihm über die Schriften des Veronesers Fracastorius diskutiert. Der Arzt vertrat die Ansicht, dass Krankheiten bei direktem Kontakt mit den Erkrankten durch unsichtbare Keime – seminaria morbi – übertragen würden und nicht durch giftige Dämpfe.

Schweren Herzens verabschiedete sich Fuchs von Arnold. Er ging hinunter zum Treidelpfad, auf dem die Bomätscher an windstillen Tagen Schiffe elbaufwärts zogen. Im Graben vor der Stadtmauer spross das erste Grün, und Fuchs entdeckte in den Gärten so manche Meise oder Amsel, die bereits voll Eifer an ihrem Nest baute. Doch auch die Feier des neuerwachten Lebens vermochte nichts gegen die düsteren Gedanken in seinem Kopf auszurichten.

Zu seiner Trauer um Ursel und der Sorge um ihren Bruder, kam nun auch die Angst um das Kind, das er liebte, als wäre es sein eigen Fleisch und Blut. Der kleine Justus konnte bestimmt inzwischen schon umherkrabbeln und hatte die ersten Zähne bekommen. Doch davon hatte nichts gestanden in jenem knappen Brief, der ihn vor einer Woche erreicht hatte. Sein Weib Sophia hatte sich im Spätherbst entschlossen, mit ihrem Kind für ein paar Monate nach Leipzig zu ziehen – ins Haus ihres Onkels. Der Magister hatte vorgehabt, sie an Ostern dort abzuholen, aber inzwischen hatte sie ihn darüber unterrichtet, dass sie noch bis zum Herbst in Leipzig bleiben werde. Ihre Muhme sei beim letzten Eis unglücklich gestürzt und habe sich die Hüfte gebrochen.

Fuchs hatte sich im Herbst selbst die Schuld gegeben für Sophias Entscheidung, aber seit dem Eintreffen jener kargen Nachricht beschlichen ihn Zweifel an ihrer Gesinnung. Bereute sie am Ende gar, dass sie ihm die Treue versprochen hatte? Der Gedanke an eine Ehe, in der sie freudlos und voller Sehnsucht nach einem anderen an ihn gefesselt wäre, lähmte seine Entschlusskraft.

Und trotzdem, jeden Abend, wenn er die Augen schloss, sah er sie vor sich: ihre schlanke Gestalt, das zarte Gesicht mit den grauen Augen, die voller Neugier und oft mit einer Spur von Ungeduld in die Welt blickten. Meist ringelten sich an ihren Wangen ein paar seidige Locken, die ihrem Zopf und selbst den strengen Hauben, die sie als sittsame Hausfrau zu tragen hatte, entkommen waren. Auf den ersten Blick war ihr braunes Haar sehr schlicht. Doch wenn die Sonne daraufschien, schimmerte es in allen Tönen von Gold bis Kupfer, und in seinen Fingerspitzen spürte er auch jetzt wieder die kühle, seidige Fülle der langen Strähnen. Selbstverständlich hätte er sich in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft niemals erdreistet, sie auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren. Lange hatte er sich eingeredet, lediglich ihren wachen Geist zu fördern, wenn er ihr Bücher lieh und ihre ungezählten Fragen beantwortete. Ihr Vater, ein Weinhändler, war zu der Zeit auf der Suche nach einem passenden Ehemann für sein einziges Kind gewesen. Dafür wäre Fuchs ohnehin nicht infrage gekommen. Sophia sollte jedoch das letzte Wort in der Eheangelegenheit haben, und sie wandte sich schließlich einem jungen Maler zu. Niklas Dorndorf war so arm wie der Magister, doch sonst besaß er alles, was das Herz einer Jungfer entzücken konnte: Er war groß und breitschultrig, hatte goldblondes Haar und ein kühnes Gesicht mit intensiv blauen Augen, in denen sich jede seiner Stimmungen spiegelte. Leider hatte diese Liebe von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden.

Fuchs konnte den Fähranleger hinter dem Brüdertor schon von Weitem erkennen. Heute, am Markttag, herrschte dort besonders viel Gedränge. Inmitten der zahlreichen Bauern mit Körben und Handkarren sah der Magister sogar einen riesigen Planwagen, vor den vier starke Gäule gespannt waren. Er wurde von bewaffneten Knechten zu Pferd flankiert und gehörte vielleicht einem wohlhabenden Kaufmann aus der Lausitz. Im Gegensatz zu den Bäuerlein, die für die Überfahrt nur einen halben Pfennig zahlten, musste der Kaufherr für Wagen und Pferde fünf Pfennige berappen und obendrauf noch einen für jeden der Reiter.

Während Fuchs sich dem Tor näherte, hatte die große Wagenfähre das Pirnsche Ufer fast erreicht. In dem Augenblick, in dem das flache Wassergefährt anlegte, entdeckte der Magister Martens Wagen. Er wurde von einem unverwechselbaren Schecken gezogen, auf dessen Kruppe ein kleiner Junge hockte. Als Fuchs winkte, riss sich Jonas die Mütze herunter und schwenkte sie in der Luft. Dabei leuchtete sein roter Schopf in der Mittagssonne wie eine Fackel.

Der Magister atmete gegen die schmerzhafte Enge in seiner Brust, während Marten Pferd und Wagen durch die Menschenmenge manövrierte. Der Wirt der Blauen Schürze hatte seinen Stiefsohn neben sich auf den Bock gesetzt und ihm einen Arm um die Schultern gelegt. Stolz hielt Jonas die Zügel in den Händen, die Marten mit seinen kräftigen Fäusten umschloss. »Seht nur, Magister Fuchs, der Vater bringt mir das Kutschieren bei!« Mühelos übertönte die helle Kinderstimme den Lärm von Mensch und Tier.

Anders als der aufgekratzte Junge musste Marten bemerkt haben, dass Fuchs nicht gekommen war, um ihnen einen fröhlichen Empfang zu bereiten. Sein rundes Gesicht, das meist den Ausdruck heiterer Gelassenheit trug, war ernst geworden. Er brachte den Wagen zum Stehen und sprang vom Bock. Dann streckte er die Arme aus, um Jonas herunterzuheben. Seine Bewegungen waren zielstrebig, aber ohne Hast. Dennoch erkannte Fuchs die Unruhe, die den Mann erfasst hatte. Sie zeigte sich in der angespannten Linie seiner Schultern und äußerte sich in der Bewegung, mit der Marten die Plane über der Ladefläche zurückwarf, um einen Ledereimer hervorzuholen. Den hielt er dem Jungen hin.

»Lauf zum Fluss, hol Wasser für das Pferd! Und pass auf, dass du auf dem Rückweg keinen Tropfen verschüttest! Verstanden?« Jonas, nicht ohne Stolz auf die übertragene Verantwortung, nickte gehorsam. »Lauf vorsichtig und langsam!« Kaum war der Junge außer Hörweite, brach die Angst aus dem Mann hervor. »Was ist geschehen?«

Heinrich Fuchs trat so dicht an ihn heran, dass er die entstellenden Brandnarben auf Martens Gesicht bis ins kleinste Detail erkennen konnte. Sie reichten von der Schläfe bis zum Mundwinkel und verhinderten den Bartwuchs auf der rechten Wange. »Der Herr im Himmel hat vor wenigen Stunden Euer Töchterchen zu sich geholt«, sagte er leise. Als er sah, wie Marten erstarrte, legte er ihm beide Hände auf die Schultern und drückte fest zu. »Ich teile Euren Schmerz, und ich weiß, dass nichts, was ich sagen könnte, ihn jetzt lindern kann. Aber ich werde da sein, wenn Ihr mich braucht.«

»Wie?«, stieß Marten zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sein Gesicht war blass geworden, so dass das rote Narbengeflecht noch stärker hervortrat. Doch er wankte nicht, als Fuchs ihn losließ und preisgab, was Meister Arnold ihm berichtet hatte. »Seid Ihr auch davon überzeugt, dass Jonas in Gefahr wäre, wenn er jetzt zu seiner Mutter zurückkehren würde?«, war das Einzige, was er wissen wollte, nachdem Fuchs schwieg.

»Ja.« Der Magister nickte. »Es ist sicherer für ihn, wenn er vorerst bei mir bleibt.«

»Gut.« Marten holte schmerzhaft tief Luft. »Dann sei es so!« Mit hölzernen Bewegungen ging er zum Wagen zurück, wo er sich unter der Plane zu schaffen machte.

Der Magister schaute sich um, und als er sah, wie Jonas mit vorsichtigen Trippelschritten vom Ufer heraufkam, lief er ihm entgegen. »Kann ich helfen?« Fuchs streckte die Hand aus. Doch der Junge schüttelte den Kopf und setzte verbissen einen Fuß vor den anderen. Obwohl er groß und kräftig war für einen Sechsjährigen, schwappte das Wasser in dem nicht einmal halbvollen Eimer gefährlich hin und her. Er schaffte es trotzdem, ihn vor dem Pferd abzustellen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Das Tier schnaubte, bevor es sein Maul im Wasser versenkte.

Marten hatte ein Bündel aus dem Wagen geholt, das er Jonas in die Hand drückte. Dann ging er vor dem Jungen in die Knie und sah ihm ernst in die Augen. »Ich habe beschlossen, dass du in den nächsten Tagen bei Magister Fuchs hinter dem Obertor wohnen wirst. Deine kleine Schwester«, er schluckte, und Fuchs ahnte, dass der Mann noch nicht bereit war, dem Kind die ganze Wahrheit zu erzählen, »ist sehr krank. Es ist besser, wenn du ihr nicht zu nahe kommst, damit du selbst gesund bleibst.«

»Aber warum denn?« Jonas krauste die Nase. Es war ihm anzusehen, dass er den Zusammenhang überhaupt nicht verstand. »Das kann dir Magister Fuchs besser erklären als ich.« Marten erhob sich. »Sei brav und hör auf das, was er sagt!« Er nahm Jonas die Mütze vom Kopf, strich ihm mit einer sparsamen Geste übers Haar und setzte sie ihm anschließend wieder ordentlich auf.

Fuchs, der abwartend danebengestanden hatte, fasste nach der freien Hand des Jungen. »Ich habe heute noch nichts gegessen«, verkündete er. »Und darum gehen wir jetzt zum Markt, wo ich Schmalzgebäck kaufen werde! Willst du auch welches?« Jonas nickte heftig.

Nachdem sie sich von Marten verabschiedet hatten, trabte der Junge bereitwillig neben dem Magister zum Brüdertor. Fuchs wies sich vor dem Wachmann aus. Hinter dem Torhaus gingen sie am ehemaligen Dominikanerkloster vorbei und gelangten über die Barbiergasse zum Markt. Dort erfüllte der Magister sein Versprechen, und während sie sich die Bäuche mit dem fettigen, heißen Gebäck vollschlugen, erzählte er Jonas von dem Vögelchen, das sich der Floßmeister wünschte.

Er war entschlossen, sich und den Jungen in den nächsten Tagen so zu beschäftigen, dass ihnen keine Zeit für traurige Gedanken bleiben würde. Darum wollte er den Heimweg über die Schmiedegasse nehmen, wo sich die Werkstatt von Schmiedemeister Hanisch befand. Der geschickte Feinschmied hatte nach seinen Vorgaben die Teile für die Rathausuhr hergestellt. »Ich bin überzeugt, dass der Meister uns auch die viel kleineren Zahnräder und Federn für den mechanischen Vogel fertigen kann«, erklärte er dem Jungen, als sie in die Frongasse abbogen.

Noch bevor sie die Werkstatt betraten, stieg ihnen der Geruch von heißem Metall in der Nase, und der helle Klang eines Hammers zeigte an, dass die Mittagspause hier bereits zu Ende war. »Gott zum Gruß, Magister Fuchs! Ich freue mich, Euch zu sehen.« Harnisch wischte sich die Hände mit einem Lappen ab und überließ es seinem Altgesellen, einen kunstvollen Truhenbeschlag weiter zu bearbeiten. »Ihr wart viel unterwegs in den letzten Monaten.«

»Reparaturarbeiten – nicht der Rede wert.« Fuchs zuckte mit den Schultern. »Doch vorhin traf ich Floßmeister Bieberstein. Er hat ein mechanisches Spielzeug bei mir in Auftrag gegeben, dessen Konstruktion eine neue Herausforderung ist. Ein hüpfendes und pickendes Vöglein will er haben, so klein.« Er zeigte die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Das ist in der Tat klein!« Hanisch nickte beeindruckt. »Aber wie ich Euch kenne, habt Ihr den Plan dafür bereits im Kopf.«

»So ist es.« Fuchs nickte. »Und wenn Ihr wollt, kann ich ihn gleich für Euch zu Papier bringen.« Er öffnete die Werkzeugtasche und holte Papier und Stift daraus hervor. Vor den Augen des staunenden Kindes und des nicht minder beeindruckten Schmieds begann er zu zeichnen. »Was meint Ihr dazu?«, fragte er, indem er Hanisch die Skizze reichte. Der Meister studierte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Es könnte funktionieren, aber es wird kniffelig.« Er kratzte sich unter dem dichten, graumelierten Bart. »Ich hoffe doch, Ihr erwartet nicht, dass ich Euch die Teile dafür schon nächste Woche liefere?«

»Gewiss nicht.« Fuchs schüttelte den Kopf. »Ich brauche zuvor noch einiges an Werkzeug und einen kunstfertigen Kannegießer, der mir den Körper des Vogels machen kann. Vielleicht könnt Ihr mir einen empfehlen, der sich auf so winzige Sachen versteht?«

»Das will ich meinen, schließlich ist meine Älteste mit dem Sohn von Meister Gänneweck verheiratet.« Hanisch lachte. »Der Meister beschäftigt seit einiger Zeit einen Wandergesellen aus Nürnberg und lobt dessen Geschick beim Anfertigen hübscher kleiner Büchsen für Nähnadeln.«

»Aus Nürnberg, sagt Ihr?« Der Magister rieb sich über das Kinn, bevor er nach der Skizze griff, um sie wieder in seiner Tasche zu verstauen.

»Die Nürnberger sind doch überall in den deutschen Landen bekannt für ihre hohe Kunstfertigkeit bei der Verarbeitung von Metallen«, erzählte Hanisch derweil. »Was ihre Flaschner, Nadelmacher, Fingerhüter, Kunstschmiede und Uhrmacher herstellen, ist überaus begehrt. Ich würde meinen, von den Nürnbergern könnte selbst ein so gescheiter und geschickter Mann wie Ihr, Magister, noch etwas lernen!«

»Und ob!« Fuchs spürte, wie sein Blut allein bei der Vorstellung der Möglichkeiten, die ihm ein Besuch in Nürnberg eröffnen könnte, schneller zu kreisen begann. »Was würde ich allein darum geben, mich mal ein paar Stunden mit einem Astronomen wie Johannes Schöner zu unterhalten. Doch leider würde ein längerer Aufenthalt in Nürnberg mehr kosten, als meine bescheidenen Mittel hergeben.« Er seufzte ernüchtert. »Aber ich danke Euch für die Empfehlung und will Meister Gänneweck gleich morgen aufsuchen.«

Fuchs verabschiedete sich und trat mit Jonas an der Hand hinaus auf die Gasse. Er war noch keine zehn Schritt weit gekommen, als er seinen Namen hörte. Er drehte sich um. »Magister Fuchs!« Idermann schnaufte, als er ihn eingeholt hatte. »Ihr seid zurück? Wie schön!« Der stämmige Gassenmeister musterte Jonas mit einem fragenden Blick. Soll er doch denken, was er will, beschloss Fuchs, dem der Sinn nicht danach stand, seinen Nachbarn über die Herkunft des Kindes aufzuklären. »Ich sah Euch gerade aus der Werkstatt von Meister Hanisch kommen.« Idermann zuckte mit den Schultern. »Da dachte ich mir, wir könnten den Rest des Weges gemeinsam zurücklegen.« Fuchs nickte, obwohl er fand, dass Gassenmeister Idermann seine Gesellschaft in letzter Zeit recht häufig suchte.

Während sie gemeinsam zum Obertor gingen, spürte der Magister, wie Jonas ihn am Ärmel zupfte. »Dieses Nürnberg, das Ihr so gern besuchen würdet, ist das weiter weg als Meißen?«, erkundigte sich der Junge.

»Hat dir noch keiner gesagt, dass Kinder in der Gegenwart erwachsener Männer den Mund halten sollen!«, rügte ihn Meister Idermann sogleich. »Ich halte nichts davon, Kindern das Fragen zu verbieten. Wie sollen sie sonst etwas lernen?« Fuchs warf seinem Nachbarn einen verärgerten Blick zu. »Sag mal, kannst du eigentlich schon lesen?«, fragte er, indem er die Hand des Jungen drückte.

»Ein bisschen«, Jonas nickte voller Stolz. »Die Mutter lehrt es mich seit einiger Zeit.«

»Sehr gut!« Fuchs lächelte zu ihm herab. »Dann werden wir deinen Unterricht in den nächsten Tagen mit ein wenig Geografie und Latein fortsetzen. Ich habe ein paar Landkarten daheim, die ich dir zeigen kann. Und außerdem die ›Noriberga‹ von Eobanus Hessus, eine ganz vorzügliche neue Beschreibung der Stadt Nürnberg in Hexametern.«

KAPITEL 2

Sophia stellte den Reisigbesen in die Ecke. Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen und nickte zufrieden. Töpfe und Pfannen waren geschrubbt, das saubere Geschirr ordentlich in Borden und Regalen aufgereiht. Die gemauerte Kochstelle unter dem gewaltigen schwarzen Rauchabzug war gefegt, die Asche stand daneben in abgedeckten Eimern. Da sie vor allem Buchenscheite verfeuert hatten, ließ sich eine wunderbare Waschlauge daraus machen. Hilda und Regina, die heute mit Sophia zum Küchendienst eingeteilt worden waren, versahen die Feuerlöcher schon mit Holz für den nächsten Morgen. Die jungen Mädchen tuschelten und kicherten dabei – unbeschwert und fröhlich wie zwei Schwalben. Sophia lächelte ihnen zu, als sie zur Tür ging. »Wenn ihr die Asche rüber ins Waschhaus gebracht habt, könnt ihr schlafen gehen!«

Im Hof vor dem Küchenhaus empfing sie ein kalter Wind. Er zerrte an ihrem Rock und dem Wolltuch, das sie sich um Kopf und Schultern gewickelt hatte. Dunkle Wolken jagten am Himmel über dem Brüderhof. Immer wieder verschlangen ihre hungrigen Schatten die helle Scheibe des Mondes, so dass der Weg vor Sophias Füßen in raschem Wechsel in Finsternis und Licht getaucht wurde. Sie ging zum Brunnen und lockerte den Griff der Haspel. Ein dumpfes Platschen verriet ihr den Moment, in dem der Eimer die Wasseroberfläche erreichte. Es war ein hartes Stück Arbeit, den gefüllten Bottich wieder nach oben zu kurbeln, und ihre Handflächen brannten, als sie ihn endlich über den Brunnenrand hieven konnte. Eilig wusch sie sich Gesicht und Hände, denn an diesem Abend konnte sie es kaum erwarten, zum Haupthaus zurückzukehren.

Die unteren Fenster des dreigeschossigen Gebäudes waren hell erleuchtet. Dahinter lag der große Saal, in dem sich die Bewohner des Brüderhofs zweimal am Tag zum Essen trafen. Er diente auch als Versammlungsraum, und Sophia wusste, dass die Brüder und Schwestern dort gerade über das Schicksal des Mannes entschieden, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte, als sie vor vielen Wochen ihre Vaterstadt in Sachsen verlassen hatte – Nikolaus Storch, Wanderprediger und Schwager ihres Ehemanns Heinrich Fuchs.

Storch war im vergangenen Jahr überraschend in Pirna aufgetaucht, und sie hatten ihn einige Tage versteckt. Das Verhältnis der Schwäger war nicht das Beste, denn Magister Fuchs hielt den Wanderprediger für einen gefährlichen Träumer, dessen größtes Talent darin bestand, sich und andere in Schwierigkeiten zu bringen.

Sie selbst hatte den Alten auf Anhieb gemocht. Jedes Jahr im Frühling sandten die Brüdergemeinden in Mähren ihre Besten aus, um ihre Botschaft an andere Orte des Reiches zu tragen. Die Männer hatten auch die Aufgabe, Glaubensbrüdern, die in Bedrängnis geraten waren, den Weg in die Sicherheit einer neuen Gemeinschaft zu weisen. Die Reise ins Meißnische und nach Thüringen sollte seine letzte gewesen sein, hatte Storch ihr damals erzählt.

Tränen traten Sophia in die Augen, die sie rasch fortblinzelte. Sie biss die Zähne zusammen, während sie in der Eingangsdiele stehenblieb und lauschte.

Das auf- und abschwellende Gemurmel hinter der Tür zum großen Saal verriet ihr, dass die Versammlung sich in die Länge gezogen hatte. Zögernd machte sie sich daran, die Treppe hinaufzusteigen. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Amme Hanna bewohnte sie eine Kammer unter dem steilen Dach des Haupthauses. Der kleine Justus hatte den ganzen Tag geweint und gequengelt, weil er seinen nächsten Zahn bekam. In der Hoffnung, dass es Hanna gelungen war, ihn zum Schlafen zu bringen, öffnete sie die Tür.

Hanna lächelte ihr entgegen. Sie saß im Schein einer Öllampe und strickte Strümpfe. »Er schläft endlich«, flüsterte sie. Leise zog Sophia die Tür ins Schloss. Sie streifte die groben Holzpantinen ab und schlich sich auf Zehenspitzen zu Hannas Bett.

Justus schlief mit halb geöffnetem Mund. Seine langen Wimpern lagen wie Halbmonde auf den zarten Wangen, und sein Haar schimmerte im Lampenschein wie gesponnenes Gold. Er schien Fieber zu haben, denn sein Gesicht war gerötet und auf seiner Stirn standen winzige Schweißperlen. Aber die erfahrene Hebamme des Brüderhofs hatte ihr versichert, dass das häufig vorkomme, wenn Kinder zahnten, und kein Grund zur Sorge sei. Sophia drückte ihrem Kind einen Kuss auf die feuchte Stirn, bevor sie sich aufrichtete und das Tuch vom Kopf nahm. Sie hängte es an einen Nagel neben der Tür. »Und?«, fragte Hanna, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Sind sie unten schon zu einem Ergebnis gekommen?«

»Nein«, Sophia schüttelte den Kopf. »Sie reden noch.«

»Es ist auch eine schwere Entscheidung, bei der es nicht nur um das Leben ihres Bruders Nikolaus geht, sondern um das Wohl und Wehe der ganzen Gemeinde.« Hannas Nadeln klapperten leise, während sie, ohne hinzusehen, weitere Maschen aufnahm.

»Ich weiß.« Sophia schnaubte frustriert. »Aber ich muss ständig daran denken, dass er schon die wenigen Tage, die er sich bei uns daheim verstecken musste, kaum ertragen hat.« Das Stroh der Matratze raschelte, als sie sich auf ihr Bett setzte. Hanna warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Jeder Mensch leidet, wenn man ihn einsperrt.«

»Gewiss! Aber für einen Mann wie Nikolaus Storch, der auf seinen Wanderungen über das Land ein Leben lang nichts als freien Himmel über sich gehabt hat, muss der Felsenkerker unter dem Falkenstein die Hölle auf Erden sein.« Sophia zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Dabei spürte sie, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Diese Dünnhäutigkeit war etwas Neues für sie, doch über die Ursache wollte sie auf keinen Fall nachdenken.

»Selbst mit Hilfe von außen dürfte es beinah unmöglich sein, von dort zu entkommen.« Hanna seufzte. »Aber auch wenn Christophs waghalsiger Plan gelingen sollte, würde man hier zuerst nach dem Flüchtigen suchen. Ich bin mir sicher, dass viele der Brüder und Schwestern Angst davor haben, dass man sie verjagen wird – so wie es vor zwölf Jahren schon einmal geschehen ist.«

Sophia legte ihren Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Es gab nichts, was sie dagegen sagen konnte. Als die mährischen Herren die Brüder und Schwestern von ihren Höfen vertrieben hatten, nachdem sich ihre Glaubensbrüder im fernen Münster von einem selbsternannten König in Krieg und Verderben hatten reißen lassen, mussten sie viele Wochen lang in Eiseskälte auf freiem Feld leben. Simon, der Schmied, und sein Weib Wally hatten in jenem Winter drei ihrer Kinder verloren.

Wie alle Bewohner des Brüderhofs waren die beiden nach Mähren gekommen, weil sie in ihrer Heimat wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Nur in Mähren konnten die Brüder und Schwestern in Christo ihres Lebens einigermaßen sicher sein, denn viele der mährischen Adligen gestatteten ihnen, Land zu kaufen oder zu pachten und ihren Glauben frei zu leben.

Sophia jedoch war aus einem anderen Grund hier: Sie hoffte, in der Gemeinde eine fremde Sprache zu erlernen. Es war die Sprache, in der das geheimnisvolle Buch verfasst worden war, das einst zur Bibliothek des Pirnaer Dominikanerklosters gehört hatte und später in die Hände ihres Vaters geraten war.

Im Pestjahr 1532 hatte Sophia das Buch im väterlichen Kontor entdeckt; sie war gerade zehn gewesen und hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter schrecklich verloren gefühlt. Seit jener Zeit trieb sie das Verlangen, das Buch lesen und verstehen zu können, war sie doch davon überzeugt, dass es eine Rezeptur enthielt, mit der man die Pest heilen konnte.

Sie hörte, wie Hanna das Strickzeug weglegte und aufstand. Gleich darauf wackelte das Bett, als Hanna sich neben sie setzte und einen Arm um ihre Schultern schlang. Die junge Frau, die Sophia als Amme für ihren Sohn angestellt hatte, war ihr in den letzten Monaten zur Freundin geworden. Hannas Geruch nach Wolle, Milch und Seife hüllte sie ein, und Sophia genoss die Wärme und den Trost der Umarmung einige Atemzüge lang.

»Bestimmt gibt es noch einen anderen Weg«, flüsterte Hanna eindringlich. »Ich kann mir vorstellen, dass die Brüder und Schwestern nichts unversucht lassen werden. Du weißt, dass die meisten von ihnen gute Menschen sind.«

»Du hast recht!« Sophia stand auf. Sie ging zu dem Holzeimer neben der Tür, um sich einen Becher Wasser zu schöpfen. Die Gemeinschaft war vielleicht nicht ganz so paradiesisch, wie Nikolaus Storch sie ihr in Pirna beschrieben hatte. Sophia fand ihre Art zu leben dennoch beeindruckend.

Hanna erhob sich und warf einen Blick auf das schlafende Kind. »Denk nur daran, wie freundlich sie uns aufgenommen haben, als wir hier mitten im Winter ankamen«, sagte sie und nahm ihre Strickarbeit wieder auf.

Sophia machte ein zustimmendes Geräusch. Während sie trank, erinnerte sie sich daran, wie sie in Verlegenheit geraten war, als man sie damals nach dem Grund für die gefährliche, kräftezehrende Reise quer durch Böhmen und Mähren gefragt hatte. Schließlich war sie fest davon überzeugt gewesen, Nikolaus Storch hier anzutreffen. Erschrocken und ratlos hatte sie die Nachricht von seiner Inhaftierung auf Burg Falkenstein vernommen. In Storch hätte sie einen Vermittler für ihre außergewöhnliche Bitte gefunden. Was sollte sie nun sagen? Lügen wollte sie nicht.

So hatte sie vom Besuch des Wanderpredigers bei seinem Schwager erzählt und von den Gesprächen, die sie und Storch in Pirna geführt hatten. »Was er über seinen Glauben und das Leben in eurer Gemeinde berichtete, hat mir keine Ruhe gelassen. Ich bin hier, weil ich mehr darüber erfahren möchte.« Sie hatte erwartet, dass die Mitglieder der Gemeinde sie erst einmal mit Skepsis betrachten würden. Doch stattdessen hatten sich gleich mehrere Brüder bereit erklärt, sie und Hanna im Glauben zu unterweisen. Die Tatsache, dass sie junge Frauen waren und es auf dem Hof eindeutig mehr Männer gab, mochte dabei den Ausschlag gegeben haben.

Mittlerweile hatten Sophia und Hanna schon etliche Stunden Unterricht erhalten, wobei ihnen aufgefallen war, dass es sowohl in der Auslegung des Glaubens als auch in der Ausübung Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Gemeinde gab. Sie hatten herausgefunden, dass die Bewohner vieler Brüderhöfe in Glaubensfragen strenge Regeln befolgten und Abweichler oder Zweifler kaum in ihrer Mitte duldeten. Das hatte schon oft dazu geführt, dass sich Glaubensgemeinschaften spalteten. So hatten sich die täuferischen Asylanten in Nikolsburg vor zwei Jahrzehnten über der Frage entzweit, ob sie im Falle eines Krieges zum Schwert greifen sollten oder nicht.

Ihr Streit hatte dazu geführt, dass die meisten, die es strikt abgelehnt hatten, eine Waffe zu führen, nach Austerlitz ausgewandert waren. Nur ein kleines Grüppchen war geblieben und hatte vor den Toren der Stadt einen eigenen Brüderhof gegründet. Die Brüder und Schwestern hatten damals beschlossen, jeden bei sich aufzunehmen, der bereit war, der Gewalt abzuschwören, auch wenn er ihre Glaubensgrundsätze nicht vollständig teilen mochte. Nikolaus Storch, so hatte sie erfahren, war einer der Ersten gewesen, die um Aufnahme baten.

Nachdem Sophia einen zweiten Becher Wasser getrunken hatte, schlüpfte sie in ihre Holzschuhe und schlang sich das Wolltuch um. »Ich fülle den Eimer noch mal auf«, erklärte sie. »Falls das Fieber im Laufe der Nacht weiter steigt, müssen wir Justus kalte Umschläge machen.« Sie glaubte nicht daran, dass das wirklich nötig werden könnte. Aber die Versammlung musste nun allmählich ihrem Ende zugehen, und mit etwas Glück, würde sie gleich erfahren, zu welchem Ergebnis die Brüder und Schwestern gekommen waren.

Hinter der Tür zum Versammlungsraum vernahm sie noch immer Stimmengewirr. Obwohl es ursprünglich nicht ihre Absicht war zu lauschen, ging sie näher heran. Wenn sie die Wortfetzen, die durch die geschlossene Tür drangen, richtig deutete, erörterten sie im Versammlungsraum verschiedene Vorschläge, Storch heimlich und ohne großes Aufsehen zur Flucht zu verhelfen.

Aber Bruder Peter, den die Bewohner des Hofs im Herbst zu ihrem Ältesten gewählt hatten, hielt dagegen. Offenbar sah er in der Einkerkerung eine Prüfung im Glauben, die es tapfer zu bestehen galt. »Entsinnt Euch der Ideale unseres Glaubens! Widersteht der Arglist des Teufels! Jesus lehrt uns: Liebet Eure Feinde und tut Gutes jenen, die Euch verfolgen«, mahnte er die Gemeindemitglieder. »Viele vor uns haben für unseren Glauben gelitten und sind für ihn gestorben. Und wir sollten stets bereit sein, ihnen darin zu folgen, meine Brüder und Schwestern!«

»Genauso ist es! Wenn unser Herrgott es zugelassen hat, dass die Soldaten des Königs Bruder Nikolaus fangen konnten, müssen wir’s erdulden, so wie schon unsere Väter die immerwährende Verfolgung tapfer ertrugen.« Das war die Stimme einer Frau. »Vor allem aber denke ich, wir dürfen die Gemeinschaft nicht wegen eines Einzelnen gefährden!«

Sofort entbrannte eine lautstarke, hitzige Debatte über die Frage, ob die alten Ideale des Märtyrertums noch erstrebenswert wären, oder ob der Dienst am Glauben nicht auf andere Weise besser geleistet werden könne. Sophia kannte die Argumente. Mit einem unguten Gefühl im Bauch trat sie hinaus in die Nacht.

Da sich die Wolken mittlerweile verzogen hatten, fand sie den Weg zum Brunnen ohne Schwierigkeiten. Er lag in der Mitte des rechteckigen Platzes, um den der Brüderhof angelegt worden war. Links davon sah sie den dunklen Umriss der Töpferei, wo Christoph mit seinem Bruder Johannes arbeitete. Gleich daneben standen die Schmiede und die Bäckerei. Auf der anderen Seite gab es eine Schuhmacherwerkstatt, die Stellmacherei, den Geflügelhof und mehrere Scheunen. Umgeben waren die Gebäude von Obstwiesen und Gärten. Was die kleine Gemeinde zum Leben benötigte, stellten ihre Mitglieder selbst her oder erwarben es im Tausch gegen die eigenen Erzeugnisse von Brüderhöfen in der Umgebung. Wie die Brüder und Schwestern beteiligten sich Sophia und Hanna die meiste Zeit des Tages an der Arbeit auf dem Hof. Sie halfen in der Küche, bei der Versorgung des Federviehs und, weil sie ohnehin einen Säugling zu versorgen hatten, bei der Beaufsichtigung der jüngsten Kinder.

Gerade als Sophia mit dem gefüllten Eimer zum Haus zurückkehrte, öffnete sich die Tür zum großen Saal. Die Versammlung war zu Ende, die Brüder und Schwestern kamen heraus. Manche eilten gleich zu ihren Kammern, andere blieben noch in kleinen Grüppchen stehen. Ihren ernsten Gesichtern versuchte Sophia zu entnehmen, zu welchem Ergebnis die Diskussion geführt hatte.

Als Christoph auf sie zukam, ahnte sie die schlechte Nachricht. »Sie haben alle Befreiungsvorschläge abgelehnt«, sagte sie. Christoph nickte. Sie blickte auf den Eimer in ihrer Hand. Sterben soll er, dachte sie, damit sie einen Märtyrer aus ihm machen können! Wut und Enttäuschung brannten in ihrem Inneren.

Christoph legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er und seine Frau Filomena waren die Ersten gewesen, mit denen Sophia nach ihrer Ankunft auf dem Brüderhof Freundschaft geschlossen hatte. »Du musst das verstehen«, seine Stimme klang brüchig. »Auch hier in Mähren sind wir nur geduldet, abhängig allein von der Gnade großer Herren. Nun, da die Zeiten wieder unruhiger werden, weil alle Zeichen auf Krieg zwischen dem Kaiser und den evangelischen Fürsten stehen, könnten wir erneut zum Spielball der Mächtigen werden.«

Sophia sah die Sorgenfalten auf der Stirn des Töpfers. Sie schluckte, weil sie wieder an die toten Kinder des Schmieds denken musste. Doch als er weitersprach, leuchteten Christophs Augen. »Aber auch wenn es Rückschläge gibt, je unentbehrlicher wir uns machen durch das Geschick unserer Hände und die Klugheit unserer Köpfe, desto sicherer wird unser Leben hier werden, glaub mir.« Er schenkte Sophia ein aufmunterndes Lächeln. »Immerhin gibt es nicht nur im Mährischen, sondern auch drüben bei den Österreichern so manchen Herrn, der uns wohlgesinnt ist.«

Sophia nickte widerstrebend. Der Nutzen, den der hiesige Adel in Form von Diensten und Steuern aus dem Fleiß der Brüder und Schwestern zog, war unbestreitbar. Aber dem Gefangenen auf dem Falkenstein half das im Augenblick wenig. »Johann von Fünfkirchen ist einer jener Herren, die uns nur allzu gern auf ihrem Land sehen würden«, fügte Christoph hinzu. »Und warum haben die Häscher des Königs Bruder Nikolaus dann ausgerechnet zu ihm auf den Falkenstein gebracht?« Sophia sah ihn entgeistert an.

»Leider kann er sich nicht dieselben Freiheiten herausnehmen wie seine mährischen Nachbarn, denn er steht unmittelbar bei König Ferdinand in der Pflicht«, fuhr Christoph fort. »Auch wenn er meist auf Falkenstein lebt, sind Burg und Ländereinen nicht sein Besitz, sondern ein Lehen des Königs, das der jederzeit zurückfordern und einem anderen Gefolgsmann übergeben kann. Johann von Fünfkirchen steckt in einer Zwickmühle.« Christoph hob die Hände. »Wir dürfen ihm seine Lage nicht noch dadurch erschweren, dass wir einen Gefangenen des Königs aus seinem Kerker verschwinden lassen. Du weißt, auch mein Herz blutet, wenn ich an Bruder Nikolaus denke. Aber ich sehe keinen Weg, wie wir ihn befreien könnten, ohne der Gemeinschaft Schaden zuzufügen.«

Sein offener Blick beraubte Sophia aller Gegenargumente. »Natürlich«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich habe längst begriffen, dass der Plan, euch auf die Burg zu schleichen, um Bruder Nikolaus zur Flucht zu verhelfen, allzu leicht hierher zurückverfolgt werden könnte. Ich danke dir, dass du dich auf der Versammlung trotzdem dafür eingesetzt hast!« Sie lächelte unter Tränen.

Christoph nickte ihr zu und machte sich auf den Weg zu seiner Werkstatt. Sophia beobachtete, wie er mit weit ausholenden Schritten und geraden Schultern davonging – ein Mann, der eins mit sich und dem Allmächtigen war, trotz aller Schmerzen und Kümmernisse, die der Herr für ihn bereithalten mochte. Sie spürte ein sehnsuchtsvolles Ziehen in ihrer Brust und wünschte, sie könnte ebenso zuversichtlich in ihrem Glauben ruhen. Aber auch ihr irdisches Dasein war von Unsicherheit und Verlusten geprägt. Als sie ihre Mutter verlor, zerbrach die heile Welt ihrer Kindheit. Der letzte Rest davon entschwand an dem Tag, an dem der Vater sie zu Onkel und Tante ins ferne Leipzig schickte. Das Buch, das sie heimlich mitgenommen hatte, war ein Anker für sie geworden. Inzwischen war es mehr als das: Es enthielt ihre Hoffnung auf ein besseres Leben bereits in dieser Welt.

Nachdenklich rieb sich Sophia die kalte Nase. Während sie die Treppe erklomm, die unters Dach führte, reifte ein Gedanke in ihrem Kopf. Den Anstoß dazu hatte Christophs Bemerkung über den Herrn auf Falkenstein gegeben.

Als Sophia die Tür ihrer Kammer öffnete, legte Hanna sofort das Strickzeug beiseite. »Erzähl!«, forderte sie. »Sie haben sich gegen einen Befreiungsversuch entschieden«, Sophia stellte den Eimer neben die Tür und schälte sich aus ihrem Tuch, »weil der allzu leicht hierher zurückverfolgt werden könnte. Bruder Peter hat sie überdies an die Glaubensideale ihrer Väter erinnert – die Bereitschaft, jederzeit für ihren Glauben zu sterben.«

»Dann ist der arme Mann endgültig für diese Welt verloren?« Hanna wirkte erschüttert. »Möge Gott ihm beistehen!«

»Nein«, Sophia kniete sich vor Hanna auf den Boden, »noch ist er nicht verloren!« Sie griff nach den Händen ihrer Freundin. Wenn das, was sie vorhatte, gelingen sollte, brauchte sie Hannas Unterstützung noch nötiger als während ihrer Reise von Pirna nach Mähren. »Hör mir zu«, verlangte sie sanft. »Johann von Fünfkirchen, der Herr auf Falkenstein, steckt in einer Zwickmühle, hat mir Christoph erzählt. Er hat seinem Lehnsherrn König Ferdinand Treue geschworen und muss dessen Befehlen Folge leisten, obwohl er den Täufern im Grunde gewogen ist. Deshalb werde ich einen Plan ersinnen, Storch zu befreien, der es Johann von Fünfkirchen ermöglicht, dem König gegenüber das Gesicht zu wahren.«

»Was für einen Plan?« Hanna schüttelte verständnislos den Kopf. »Den werde ich mir überlegen, sobald ich in der Burg bin und mehr über die dortigen Verhältnisse in Erfahrung gebracht habe«, versicherte Sophia. »Du willst auf die Burg gehen?« Hanna klang entsetzt. »Natürlich! Für eine Frau, die bereit ist, jede Arbeit zu verrichten, dürfte das nicht allzu schwer sein.« Sophia sah ihrer Freundin eindringlich in die Augen. »Und wenn ich erst mal dort bin, kann ich meinen Plan allein durchführen, ohne einen der Bewohner des Brüderhofs in Gefahr zu bringen.«

»Das kannst du nicht!« Hanna befreite ihre Hände. »Auf gar keinen Fall!«

»Ich bin keine von ihnen!«, verteidigte sich Sophia. »Sollte es notwendig werden, kann ich jederzeit ehrlichen Herzens schwören, dass ich ganz und gar aus eigenem Antrieb gehandelt habe.«

»Das kannst du nicht!«, wiederholte Hanna. Sie packte Sophia bei den Schultern und schüttelte sie. »Du bist schwanger!«

Sophia machte sich los und stand auf. Das Kind in ihrem Bauch war etwas, worüber sie nicht sprechen wollte, nicht einmal mit Hanna. Sie hatte sich lange Zeit geweigert, es zur Kenntnis zu nehmen. Das kleine Wesen schien zu spüren, dass sie dafür noch nicht bereit war, denn anders als bei ihrer ersten Schwangerschaft, hatte sie weder mit Übelkeit noch mit Schwindel zu kämpfen. »Es geht mir gut«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich habe die weite Reise nicht unternommen, um kurz vor dem Ziel aufzugeben. Hanna, du weißt, dass ich hier bin, um das Buch zu entschlüsseln. Und du hast versprochen, mir dabei zu helfen!«

KAPITEL 3

Wolf Schumann lag auf dem Rücken – nackt und außer Atem. Nach dem Liebesspiel war Margaretha von ihm gestiegen, kaum dass er sich des letzten Tropfens seines Samens entledigt hatte. Er war in jeder Hinsicht erschöpft und hätte gern ein wenig geruht. Noch vor Sonnenaufgang war er aufgestanden und nach Dresden geritten, um so zeitig wie irgend möglich in der Kanzlei des Herzogs vorstellig zu werden. Da man ihn in der Stadt erst am Abend zurückerwartete, hatte er sich in Pillnitz eine Pause in Margarethas Armen erlaubt. Viel Ruhe war ihm dabei nicht vergönnt gewesen, und weil er sich jetzt nicht schnell genug erhob, schubste die Freifrau ihn mit dem Ellenbogen unsanft aus ihrem Bett. »Ihr dürft Euch entfernen, um Euch zu reinigen!« Wären ihre Worte nicht von einem Lächeln begleitet gewesen, hätte er sich gefühlt wie ein Lakai, der nach getaner Arbeit davongescheucht wurde.

Während er das Zimmer verließ, um auf dem heimlichen Örtchen die scheußliche Hülle aus vernähtem Schafsdarm loszuwerden, die Margaretha ihm jedes Mal über den Penis zog, knirschte er mit den Zähnen. Margaretha war eine liebreizende junge Witwe. Zumindest wirkte sie auf den ersten Blick so. Sie hatte lockiges goldblondes Haar und veilchenblaue Augen in einem zarten herzförmigen Gesicht. Mit den kleinen festen Brüsten, der schmalen Taille und dem breiten Becken entsprach ihr Körper ganz und gar dem Schönheitsideal der Zeit. Selbstverständlich hatte es Schumann gereizt, mit ihr ins Bett zu steigen. Doch Margaretha hatte auch einen ausgeprägten Willen und einen äußerst eigensinnigen Kopf. Sie lebte in ständiger Fehde mit der Familie ihres verstorbenen Gatten, den weitverzweigten Bünaus. Aber für einen Ratsherrn war es wünschenswert, über die verschiedenen Verpflichtungen und Interessen der adligen Herrschaften Bescheid zu wissen. Zum anderen gab es für Wolf Schumann noch einen sehr persönlichen Grund, der Edelfrau seine Dienste großzügig zur Verfügung zu stellen: Bereits bei ihrer ersten Begegnung auf dem Dresdener Schlosshof hatte Margaretha keinen Hehl aus ihrer besonderen Abneigung gegen Christoph von Carlowitz gemacht – einen der mächtigsten Männer am Hofe von Herzog Moritz. Wolf Schumann hasste den herzoglichen Rat, und er hatte die Absicht, Carlowitz zu schaden, wo er nur konnte.

Nachdem es ihm endlich gelungen war, sich der Monstrosität, die sein männliches Glied verhüllte, zu entledigen, wusch er sich in der bereitstehenden Wasserschüssel. Zum wiederholten Mal dachte er darüber nach, wo Margaretha diese lusttötenden Hüllen eigentlich herhatte. Gab es in Dresden Händler, die so etwas feilboten?

Noch immer nackt kehrte Schumann anschließend in die Schlafkammer zurück. Wie üblich stand eine kleine Mahlzeit auf dem Tischchen neben dem Bett bereit, und Margaretha reichte ihm lächelnd ein gefülltes Glas. Er nahm es und trank, wobei er sich bemühte, keine Miene zu verziehen, denn der einfache Meißner Landwein war alles andere als ein Genuss. Ebenso verhielt es sich mit dem krümeligen Käse und dem trockenen Brot.

Während er auf einem Bissen davon herumkaute, ging ihm durch den Sinn, dass sein Pferd wohl gerade bessere Kost bekam als er selbst. Bereits bei seinem ersten Besuch in dem winzigen Gutshaus hatte er bemerkt, dass die Freifrau mit dem Geld sparsamer wirtschaften musste als seine Hausfrau daheim. Doch obwohl das Essen zu wünschen übrig ließ und auch das Vergnügen zwischen den Laken nicht immer nach seinem Geschmack war – die Neuigkeiten, die er dabei zu hören bekam, waren es wert. Daher zierte er sich nicht, als Margaretha ihm noch ein Stück von dem säuerlich schmeckenden Käse in den Mund schob. »Esst, mein Lieber!«, verlangte sie. »Man sagt zwar, ein guter Hahn dürfe nicht fett sein, doch zu mager soll er auch nicht werden, wenn er seinen Zweck erfüllen soll.«

Schumann blickte pikiert auf den Finger, den sie ihm in die Rippen bohrte. Er gab sich schließlich Mühe, seinem Körper im Sattel und auf dem Fechtboden Abwechslung vom Sitzen in der Kämmerei zu bieten. Zweimal wöchentlich besuchte er die Badestube und ließ sich regelmäßig Haar und Bart scheren. Anders als so mancher schmerbäuchige Ratsherr konnte er zu Recht stolz auf sein Äußeres sein.

Margaretha lachte. »Wenn Ihr weiter so finster dreinschaut, erzähle ich Euch nicht, was ich über die neusten Unternehmungen des Carlowitzchens auf dem Reichstag zu Worms erfahren habe.«

Hastig würgte Wolf den Käse hinunter. Wahrscheinlich würde er später Magenschmerzen davon bekommen, aber er hatte das Fläschchen für seine Magentinktur heute in einer Dresdener Apotheke neu befüllen lassen. Er hob einen von Margarethas zierlichen Füßen auf seinen Schoß und begann ihn hingebungsvoll zu massieren. Die beabsichtigte Wirkung trat prompt ein: Die Freifrau seufzte vor Wonne und fing ohne Umschweife an zu erzählen.

»Sowohl Herzog Moritz als auch Herzog August sollen Carlowitz diesmal beauftragt haben, gewisse Angelegenheiten für sie zu regeln.«

»Was will denn Moritz’ jüngerer Bruder vom Kaiser?«, unterbrach Wolf.

»Karl soll ihm helfen, Streitigkeiten um das Stift Merseburg zu klären. August ist dort seit letztem Jahr Administrator. Und Moritz liegt im Streit mit Bayern. Man erzählt sich jedoch, der Kaiser würde Carlowitz in Worms ständig vertrösten.« Margaretha lachte spöttisch. Sie legte Schumann ihren zweiten Fuß auf den Schoß.

»Carlowitz soll indes an Moritz geschrieben haben, dass er dem Herzog von jeglichem Bündnis abrate – vor allem von einem mit dem Schmalkaldischen Bund.« Ihre Stimme klang entrüstet.

Schumann wusste, dass die Freifrau von Bünau vor ihrer Heirat Hofdame bei Elisabeth von Sachsen gewesen war. Obwohl Herzogin Elisabeth inzwischen auf ihrem Witwensitz in Rochlitz lebte, besaß sie noch immer großen Einfluss. Sie war die Schwester Philipps von Hessen, der der Schwiegervater von Herzog Moritz war, aber auch einer der Hauptleute des Schmalkaldischen Bundes – eines Bündnisses evangelischer Fürsten und Städte. Außerdem war Elisabeth sowohl die Cousine des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich als auch des Herzogs Moritz von Sachsen. Im vergangenen Jahr hatten sich die Widersprüche zwischen den beiden sächsischen Vettern weiter zugespitzt.

»Darüber hinaus soll Carlowitz berichtet haben, dieser Reichstag lasse sich seltsam an und werde unordentlich gehalten. Es ginge schier zu Rate, wer da wolle«, erzählte Margaretha weiter. Schumann nickte. Er konnte sich vorstellen, dass sich die Stimmung im Lande auch auf dem Reichstag widerspiegelte. Gegenwärtig herrschten überall Misstrauen und Unsicherheit. Es gab kaum noch Zweifel daran, dass der Kaiser sich nun, da er sowohl mit den Türken als auch mit den Franzosen Frieden gemacht hatte, den Feinden im eigenen Reich zuwenden würde. Das waren vor allem die Fürsten und Reichsstädte, die sich im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten.

Erstaunt sah er auf, als Margaretha zu lachen begann. »Stellt Euch vor«, prustend hielt sie sich eine Hand vor den Mund, »Granvella, der Rat des Kaisers, soll Carlowitz versprochen haben, zwei junge Löwen für Moritz zu beschaffen! Die wünscht sich der Herzog angeblich seit Langem.«

Schumann verstand nicht, was es dabei zu lachen gab. Der Wunsch ihres Landesherrn, solche Tiere zu besitzen, war gut nachzuvollziehen, da der Löwe ein überaus majestätisches Wappentier war. Aber selbstverständlich hatte ein Weib keine Ahnung davon, dass es hierbei um die Repräsentanz von Macht und Größe ging. Er verbiss sich jedoch eine entsprechende Bemerkung, knetete Margarethas Zehen und spitzte weiter die Ohren.

»Das erscheint mir kindisch und eitel, angesichts dessen, worum es auf dem Reichstag in Wahrheit geht«, erklärte die Freifrau. »Was meint Ihr denn, worum es geht?« Wolf Schumann hatte dazu seine eigene Meinung, doch es konnte nie schaden, sie mit den Ansichten anderer zu vergleichen.

»Es scheint zwar, als würde Kaiser Karl in Worms nach einer gütlichen Einigung zur Frage der beiden Religionen in seinem Reich suchen, aber in Wirklichkeit will er herausfinden, welche Fürsten und Städte er für einen Krieg gegen die Evangelischen gewinnen kann – oder wer im Kriegsfall wenigstens neutral bleiben würde«, sagte Margaretha. Schumann nickte; das sah er ebenso. »Und Carlowitz ist dabei, unseren Herzog vor des Kaisers Karren zu spannen«, fügte sie hinzu, wobei sich ihr zartes Gesicht vor Abscheu verzog. »Die Kurfürstenwürde, die dafür herausspringen soll, ist die Möhre, die Karl vor Moritz’ Nase baumeln lässt. Kein Wunder, dass Carlowitz in Sachsen immer verhasster wird.« Sie schwieg eine Weile. »Doch das, mein lieber Wolf, scheint nicht die Ursache für Eure tiefe Abneigung gegen den Mann zu sein. Oder irre ich mich?«

Schumann musste ihren Fuß in diesem Augenblick heftig gedrückt haben, denn mit einem spitzen Schrei schlug sie aus und traf ihn dabei so ungünstig, dass er sich krümmte und aufjaulend an seine Hoden griff. Obwohl es höllisch wehtat, bewahrte der Schmerz ihn zumindest vor der Verpflichtung, eine Antwort auf ihre Frage geben zu müssen. Was hätte er sagen sollen?

Etwa, dass der Rat des Herzogs ihn seit zwei Jahren schlicht und einfach erpresste? Ebenso wie Schumann wollte Carlowitz unbedingt in den Besitz eines Buches aus der aufgelösten Bibliothek des Pirnschen Klosters gelangen.

Schumanns leiblicher Vater, der letzte Subprior, hatte es zusammen mit wertvollen Messgerätschaften versteckt, als sich im Kloster die ersten Auflösungserscheinungen bemerkbar machten. Die Männer, die den Schatz später unrechtmäßig an sich gebracht hatten, waren inzwischen tot. Wolf Schumann hatte sie nicht mit eigener Hand getötet, doch er hatte jemanden damit beauftragt. Das geheimnisvolle Buch, von dem es hieß, es enthalte das Rezept für ewiges Leben, begehrte er am meisten.

Leider wusste Carlowitz ebenfalls von dessen Existenz. Er hatte Schumann überwachen lassen, um ihn eines Tages mit seinem Wissen über jene dunklen Taten zu konfrontierten. Carlowitz hatte davon abgesehen, ihn dem Henker auszuliefern, doch dafür hatte er ihn zu seinem willfährigen Diener gemacht. Der herzogliche Rat hatte ihm die Aufgabe übertragen, das Buch im Auge zu behalten. Bisher hatte Schumann kaum eine Möglichkeit gesehen, sich gegen den Mann zu wehren, der so hoch in der Gunst des Landesfürsten stand. Aber je höher einer stieg, desto tiefer konnte er fallen, und Carlowitz machte sich gegenwärtig Feinde im ganzen Land. Wer weiß, ob sich am Ende nicht sogar jemand fand, der bereit war, einen Verräter an Gott und Vaterland zu meucheln?

»Ach, tut doch nicht so, als hätte ich Euch entmannt!« Margarethas Stimme holte Schumann aus einem Nebel von Schmerz und Rachefantasien. »Lasst mich mal sehen!« Sie stand mit einem nassen Lappen neben dem Bett und versuchte damit an sein Gemächt zu kommen. Er schob ihre Hände beiseite und erhob sich ächzend. »Ich bitte Euch, bemüht Euch nicht! Es war nur ein kurzer Schmerz, nichts weiter.« Das war glatt gelogen. Aber er biss die Zähne zusammen und griff nach seiner Hose. »Es ist spät geworden, ich muss mich auf den Heimweg machen«, nuschelte er.

»Ihr solltet vorher unbedingt noch ein Glas Wein trinken!« Margaretha warf den Lappen weg und griff nach der Weinkanne. »Ihr habt mir auch noch gar nichts davon erzählt, was man dieser Tage in Pirna über die betrübliche Entwicklung der Ereignisse im Reich denkt! Gewiss gibt es dort gut evangelisch gesinnte Bürger, die meinen, dass Moritz sich gegen unseren Glauben versündigen würde, wenn er in der Bündnisfrage auf Carlowitz hörte?«

Schumann brummte etwas, das Zustimmung, aber auch alles andere bedeuten konnte, während er eilig das Wams über sein Hemd zog. Er wusste, dass die Freifrau ebenso auf Neuigkeiten erpicht war wie er. Noch immer stand sie in Kontakt mit ihrer einstigen Herrin, die im Namen der evangelischen Sache von Rochlitz aus korrespondierte und brennend an Informationen aus allen Teilen des Landes interessiert war. Allerdings gab es aus Pirna zurzeit nicht viel zu berichten. Auch wenn mancher Ratsherr am häuslichen Herd über die Politik des Herzogs murren mochte, bei der letzten Ratsversammlung hatte niemand ein Wort des Widerspruchs gewagt.

Als er kurze Zeit später auf sein Pferd stieg, hätte er am liebsten ein Loblied auf die derzeitige Männermode angestimmt – bewahrte die dick gepolsterte Schamkapsel seine geprellten Hoden doch vor einem direkten Kontakt mit dem harten Sattel. Gemächlich ritt er durch die Auen am Elbufer stromaufwärts. Nach einem schneereichen Winter führte der Fluss zurzeit wieder reichlich Wasser, sodass die Wiesen zum Teil überschwemmt waren. Er richtete sich im Sattel auf und ließ seine Augen über die grünende Flur schweifen. In den letzten Wochen hatte der Frühling Einzug gehalten. Er hatte die Weiden mit hellgrünen Schleiern bedeckt und die ersten Blumen aus der Erde gelockt.

Wenn er seine derzeitige Lage überdachte, schien es ihm, als wäre das Glück endlich zu ihm zurückgekehrt: Amalia, sein Weib, war nach vielen Mühen wieder schwanger. Mit Gottes Hilfe würde er im Sommer endlich einen Sohn und Erben bekommen! Und solange Carlowitz im Dienst des Herzogs in der Fremde weilte, fühlte Schumann sich beinah, als wäre er wieder sein eigener Herr.

Für die Überwachung der Fuchsin, die in Mähren das Buch übersetzte, hatte er bereits im Herbst gesorgt. Sophia hatte Pirna damals mit ihrem kleinen Sohn und dessen Amme Hanna verlassen. Sie ahnte nicht, dass Hanna in Wahrheit einem anderen diente. Schumann war inzwischen von ihrer Ankunft in Nikolsburg unterrichtet worden. Der Magister wähnte Weib und Kind indes in Leipzig bei Sophias Onkel.

Schumann empfand Genugtun, wenn er daran dachte, wie mitgenommen der gute Mann noch immer wirkte, wenn er ihm zufällig in den Gassen der Stadt begegnete. Nachdem Heinrich Fuchs so unvermittelt von seinem Weib verlassen worden war, hatte er seinen Kummer zunächst im Wein ertränkt. Seit Weihnachten hatte sich der Magister jedoch ganz und gar in seiner Arbeit vergraben. Damit er dennoch nicht auf den Gedanken kam, in nächster Zeit in Leipzig nach seinem Weib zu sehen, hatte Schumann ihm nach Ostern einen Brief in Sophias Handschrift zukommen lassen. Darin stand, dass sie sich leider gezwungen sehe, noch länger im Hause ihres Onkels zu verweilen.

Den Brief, den die Fuchsin ihrem Mann tatsächlich aus Mähren geschickt hatte, konnte Schumann dank der Unterstützung des Gassenmeisters Idermann abfangen, bevor er in die Hände des Magisters gelangte. In rührenden Worten hatte Sophia ihren Gemahl beschworen, er möge ihr den überstürzten Aufbruch verzeihen.

Schumann lächelte zufrieden in sich hinein. Er plante, nach und nach einen Keil zwischen die Eheleute zu treiben. Wenn er es geschickt anstellte, würde sich Fuchs eines Tages gar entschließen, sein Weib wegen böswilligen Verlassens zu verklagen und die Scheidung zu verlangen. Mit einer derart übel beleumdeten Frau ohne männlichen Schutz würde Schumann später leichtes Spiel haben – immerhin hatte er mit ihr nicht nur wegen des Buches noch eine Rechnung offen.