Der Pesthändler - Heike Stöhr - E-Book

Der Pesthändler E-Book

Heike Stöhr

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Beschreibung

Liebe, Mord, Intrigen – und der Schwarze Tod Pirna, 1532. Als Bader Valentin nach sieben Jahren Wanderschaft zurückkehrt, wütet in Pirna die Pest. Gleich bei seiner Ankunft wird er Zeuge, wie sein Bruder Conrad, Bader wie er, bei dem toten Kaufmann Eckel als Todesursache Pest angibt – eine bewusste Fehldiagnose, wie Valentin sofort erkennt. Wie sich herausstellt, hat Conrad ein Liebesverhältnis mit der jungen, attraktiven Witwe des Verstorbenen. Als offenkundig wird, dass Eckel ermordet wurde, und als ein weiterer Mann, mit dem Conrad Streit hatte, gewaltsam ums Leben kommt, wird Conrad verhaftet und zum Tode verurteilt. Doch die Pest verhindert das rasche Eintreffen des Henkers – wertvolle Zeit für Valentin, die Unschuld seines Bruders zu beweisen.

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Seitenzahl: 731

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Heike Stöhr

Der Pesthändler

Historischer Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

PERSONENÜBERSICHT

Personen, die meiner Fantasie entsprangen, sind kursiv gesetzt. Alle anderen sind historisch verbürgt. Sie lebten und arbeiteten tatsächlich im 16. Jahrhundert in Pirna, Sachsen und Böhmen. Von manchen sind nur Name und Beruf nachgewiesen, andere hinterließen umfangreiche Zeugnisse ihres Wirkens.

 

IM BADERHAUS

Valentin Arnold: Bader

Conrad Arnold: sein jüngerer Bruder, ebenfalls Bader

die Arnoldin: ihre Mutter

Agnes: eine alte Magd

 

IM HAUSE ECKEL

Thomas Eckel: der ermordete Hausherr

Magdalena Eckel: seine zweite Ehefrau

Justina: Eckels Tochter

Liese: eine aufgeweckte, junge Magd

 

IN DER TÜRMERWOHNUNG ST. MARIEN

Christoph Werner: Türmer und Spielmann

Jörg: sein Sohn

Lene: seine jüngste Tochter

 

AUF DEM NIKOLAIFRIEDHOF

Jobst Bolz: Schinder und später auch Totengräber

Fritz und Conz: die Gehilfen des Totengräbers

Nickel: der Schwestersohn von Fritz

 

IN DER FRONFESTE

Meister Henel: Fronbote/Fronmeister

Jorge: Fronknecht

Meister Bolz: Henker aus Dresden, Pirna gehörte zu seinem »Einzugsgebiet«

 

IM RATHAUS

Wenzel Hennigke: erster Bürgermeister

Paul Meißner: zweiter Bürgermeister

Georg Seiler: Richtherr

Brosius Moller: Ratsherr

 

Mathes Meißner: Gerichtsschreiber, Seilers Neffe

 

IM BÖHMISCHEN JOACHIMSTHAL

Georgius Agricola: Stadtarzt, Apotheker und Universalgelehrter

Martin: sein junger Knecht

Barthel Bach: Freund Agricolas, ehemaliger Stadtschreiber von Joachimsthal

Matthes Schmied: Steiger

die Fiedlerin: Bäuerin

Strunz: ihr Bruder, Schreiber des Schichtmeisters

Wenzel Fiedler: ihr jüngster Sohn

Kapitel 1

Valentin hatte Durst, und in seinem linken Schuh drückte ein Kiesel. Er war auf dem Weg nach Hause, doch jetzt war es an der Zeit für eine kurze Rast. Abseits der Straße entdeckte er eine alte Linde. Im Schatten der ausladenden Krone ließ er sich nieder, holte eine Tonflasche aus seinem Ranzen und entkorkte sie mit den Zähnen. Obwohl das Wasser darin so warm wie Kuhpisse war, trank er es in gierigen Schlucken. Anschließend schüttelte er den Stein aus seinem Schuh. Dabei fiel ihm auf, dass durch das Loch im Strumpf, das am Morgen noch die Größe einer Erbse gehabt hatte, mittlerweile zwei seiner Zehen hervorschauten. Misstrauisch inspizierte er die Schuhsohle, die an manchen Stellen bereits dünn wie Papier geworden war. Aber in seiner Vaterstadt, die er mit Gottes Hilfe noch heute Abend erreichen würde, gab es genug Schuster, die sich seines strapazierten Schuhwerks annehmen konnten. Und das Loch im Strumpf würde er selbst stopfen, so wie er es in den Jahren seiner Wanderschaft stets getan hatte. Valentin lehnte sich an den Baumstamm und gähnte. In der Hitze flirrte die Luft über dem Feld.

Obwohl der Herbstmond bereits begonnen hatte, brannte die Sonne auch an diesem Tag wieder erbarmungslos vom Himmel. Es schien, als wolle der Sommer überhaupt kein Ende nehmen, Land und Leute verdarben unter seiner Glut. Seit Wochen wanderte Valentin nun schon über staubige Landstraßen, doch überall hatte sich ihm ein ähnliches Bild geboten: Auf den Weiden vertrocknete das Gras, Wälder gingen in Flammen auf, und selbst große Flüsse wie der Rhein führten so wenig Wasser, dass man sie vielerorts zu Fuß überqueren konnte.

Valentin schloss die Augen, aber das Gefühl der Beklommenheit, das er seit ein paar Tagen verspürte, wollte einfach nicht weichen. Mit jeder Meile hatte es zugenommen, und nun lastete es auf seiner Brust wie ein Mühlstein.

Viel Wasser war die Elbe hinabgeflossen, seit er seine Vaterstadt verlassen hatte. Damals war es ihm leichtgefallen zu gehen. Aber während er im Schatten der Linde dem Gesang der Grillen lauschte, weilten seine Gedanken bei Conrad, seinem jüngeren Bruder. Sie waren im Streit auseinandergegangen, und Valentin fragte sich, ob er so lange fortgeblieben war, weil er fürchtete, Conrad könnte ihm noch immer nicht verziehen haben. Doch mittlerweile mehrten sich die Zeichen, dass daheim Schlimmeres auf ihn warten könnte als die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit.

Valentin öffnete die Augen, als über seinem Kopf lautes Krächzen ertönte. Zwei Raben hockten im Geäst, denen sich soeben ein dritter hinzugesellte. Die Vögel hüpften umher und schlugen mit den Flügeln. Es sah aus, als hätten sie eine Entdeckung gemacht. Valentin erhob sich, und während er den Baum umrundete, verstärkte sich der süßliche Geruch, den er schon seit einer Weile in der Nase gehabt hatte. Wieso hatte er nicht gleich begriffen, was das bedeutete? Diesen Geruch wie von überreifem Obst, das bereits in den Zustand der Fäulnis überging, kannte Valentin nur allzu gut, und er wusste, was ihn erwartete, noch bevor er die zusammengesunkene Gestalt am Boden entdeckte. Für den flüchtigen Betrachter sah es aus, als würde sich der Bettler ausruhen. Sein Oberkörper lehnte am Stamm der Linde, doch sein Kopf war zur Seite gesunken und gab den Blick frei auf eine hühnereigroße Beule unterhalb des rechten Ohres. Seine Finger umklammerten noch das kleine Holzkreuz mit der zerrissenen Schnur, doch über sein Gesicht und die besudelten Kleider krabbelten bereits schillernde Fliegen. Es gab nichts, was ein Bader hier noch tun konnte! Valentin wandte sich ab und murmelte ein Gebet. Es widerstrebte ihm, den Toten so zurückzulassen. Doch das letzte Dorf lag schon einige Meilen hinter ihm, und er bezweifelte, dass sich dort jemand finden ließ, der ihm helfen würde, eine Pestleiche unter die Erde zu bringen. Valentin bekreuzigte sich. Möge Gott der armen Seele gnädig sein!

Während er seine Habseligkeiten zusammenpackte, versuchte er zu verstehen, warum ihn der Anblick derart erschütterte. Schließlich hatte er dem Schwarzen Tod schon so oft ins Gesicht geblickt, dass er davon überzeugt war, dessen abscheuliche Fratze besser zu kennen als die meisten. Hastig schulterte er seinen Ranzen. Wollte er Pirna noch erreichen, bevor die Stadttore geschlossen wurden, musste er seinen Weg nun ohne weitere Verzögerung fortsetzen. Doch bereits nach wenigen Schritten stockte sein Fuß. Beinah gegen seinen eigenen Willen drehte sich Valentin um und sah zurück. Aus der Ferne bot die Linde ein malerisches Bild, und niemand, der hier vorbeikam, würde ahnen, dass unter ihrem grünen Dach der Tod Einzug gehalten hatte. Valentin schob seinen Hut in die Stirn und kratzte sich im Nacken. Es war alles andere als christlich, die sterblichen Überreste des armen Teufels dort zurückzulassen, aber daheim wartete die Mutter. Der Brief, in dem sie Valentin vom Tod des Vaters berichtet hatte, war viele Wochen unterwegs gewesen, und fast genauso lange hatte ihr Sohn gebraucht, um zu Fuß von Flandern nach Sachsen zu gelangen. Schon seit Tagen träumte Valentin davon, endlich wieder in einem Bett zu schlafen anstatt in einer Scheune oder gar auf freiem Feld. Und gewiss würde die Mutter zur Feier seiner Rückkehr ein Huhn schlachten! Valentin lief das Wasser im Mund zusammen, während er sich vorstellte, wie sie den gebratenen Vogel mit einer köstlichen Soße und frisch gebackenem Brot auf den Tisch stellen würde. In den Dörfern, durch die er in den letzten Tagen gekommen war, wurden Reisende in den Schänken kaum noch bewirtet, und mancherorts hatte er sogar Schwierigkeiten gehabt, etwas Brot zu bekommen. Wegen der Gerüchte über eine Pest im Böhmischen war man Fremden gegenüber misstrauisch geworden. Nein, es war gewiss keine gute Idee, zurückzugehen und auf einem der Gehöfte um Hilfe bei der Beerdigung eines Bettlers zu bitten, den der Schwarze Tod geholt hatte! Valentin dachte an die Raben, die sich im Wipfel der Linde niedergelassen hatten; sie würden die Rolle der Totengräber gern übernehmen. Ihn schauderte bei der Vorstellung, wie sie sich als Erstes über die weichen, ungeschützten Teile am Gesicht des Toten hermachen würden. Füchse, Ratten und anderes Getier würden das schaurige Werk später vollenden. Ob es ihnen bekommen würde, war eine andere Frage. Es war allgemein bekannt, dass Tiere sich ebenso mit der Seuche infizieren konnten wie der Mensch, und nicht umsonst herrschte in Pestzeiten vielerorts das Verbot, Vieh frei umherlaufen zu lassen. Valentin seufzte. Als Bader wusste er, wie wichtig es war, eine Pestleiche möglichst rasch zu begraben: Nur so konnte man die Lebenden vor der weiteren Verbreitung der Krankheit schützen.

Was machte es schon, wenn er dafür noch eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen musste. Ach, zur Hölle mit der Pest, dachte er, während er bereits zum Dorf zurückmarschierte.

Wie erwartet, hatte Valentin seine liebe Not damit, in dem kleinen Weiler eine einsichtige Seele zu finden, die bereit war, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Der Bauer im ersten Gehöft wünschte ihn zum Teufel, der Hufschmied drohte ihm Prügel an, und der Dorfschulze hetzte seinen Hund auf ihn, als Valentin ihm vorwarf, das Amt nicht zum Wohle der Gemeinde zu verwalten. Erst im letzten Gehöft, das ein wenig abseits der Dorfstraße lag, erteilte die Bäuerin ihrem jungen Knecht den Befehl, den Fremden zu begleiten. Bevor sie sich mit Hacke und Schaufel auf den Weg machten, steckte die Frau dem Jungen noch ein Tuch zu, das mit Essig getränkt war. »Das bindest du um, wenn du bei der Linde ankommst. Und dass du mir den Toten ja nicht anfasst!« Sie deutete auf Valentin. »Lass ihn das machen.«

 

Valentin verbrachte die Nacht in einer verfallenen Scheune. Da er sein letztes Stück Brot bereits vor seiner Rast an der Linde verzehrt hatte, erwachte er noch vor dem Morgengrauen vom Knurren seines Magens. Kein Frühstück zu haben, sinnierte er, während er sich im verblassenden Licht der Sterne auf den Weg machte, hat immerhin den Vorteil, dass man keine Zeit damit vertrödelt, es zu verspeisen.

Die Sonne war gerade aufgegangen, als Valentin unten im Elbtal die turmbewehrten Mauern seiner Vaterstadt erblickte. Auf dem Felsen darüber erhob sich die Silhouette des herzoglichen Schlosses, und unmittelbar darunter ragte der achteckige Turm der Marienkirche aus dem Häusermeer. Valentins scharfen Augen gelang es schon bald, die zierlichen Giebel unterhalb der Turmhaube auszumachen. Aus der Ferne wirkten sie zart wie Brüsseler Spitze. Doch Valentin wusste, dass allein die Kreuzblumen, die sie krönten, mannshoch waren.

Trotz der frühen Stunde begegneten ihm nun immer öfter Fuhren, die bis obenhin mit Hausrat und kleinen Kindern beladen waren. Frauen und Mädchen begleiteten die Wagen zu Fuß, manchmal zerrten sie noch Ziegen und Schafe hinter sich her. Ihre Väter und Brüder hatten sich, in Ermanglung eines Zugtieres, meist selbst vor die Karren gespannt. Sie trugen die schlichte Alltagstracht einfacher Leute, und ihre Gesichter waren von Angst gezeichnet.

»He, Kamerad!«, rief ihm ein baumlanger Zimmermannsgeselle zu, der sein Werkzeug auf dem Rücken trug. »Kehr um! Du rennst in dein Verderben. In Pirna wütet die Pest!«

Valentin blieb stehen. Obwohl ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief, fröstelte es ihn. »Hab Dank für deine Warnung! Aber ich muss in die Stadt. Die Mutter und der Bruder erwarten mich dort.«

»Dann geb’s Gott, dass du die Deinen noch am Leben findest!« Der Zimmermann bekreuzigte sich, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Valentin rückte die Riemen seines Ranzens zurecht. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Die Pestwelle, die von Böhmen elbabwärts schwappte, hatte Pirna erreicht. Er holte Luft und zwang sich weiterzugehen. Der Schwarze Tod gehörte zu jenen Krankheiten, die vor allem in der wärmeren Jahreszeit immer wieder ihre Opfer forderten. Doch jeder wusste, wenn die Menschen ihre Häuser verließen und in Scharen flohen, lag das nicht nur an ein paar Toten. Nein, dann hatte ein großes Sterben begonnen!

Schon bald erreichte Valentin die Nikolaivorstadt. Dort waren die Tore der meisten Gehöfte geschlossen, die breite Straße dazwischen wirkte wie leergefegt. Selbst das Stadttor, an dem um diese Tageszeit stets allerlei Volk aus und ein ging, fand Valentin unbewacht. Da weit und breit niemand zu sehen war, dem er seine Papiere weisen konnte, und der Schlagbaum offenstand, betrat er nach kurzem Zögern die hölzerne Brücke, die über den Stadtgraben führte. Ein unheimliches Gefühl überkam ihn, als er unter dem Gewölbe des Torhauses statt rumpelnder Wagenräder und klappernder Pferdehufe nur den dumpfen Klang der eigenen Schritte vernahm.

Auch jenseits des Tores, auf der Dohnschen Gasse, wo sonst immer viele Menschen unterwegs waren, begegneten ihm nur wenige Passanten. Eilig hasteten sie aneinander vorbei, die meisten hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden. Auf den Baustellen ruhte die Arbeit. Lediglich am Wasserkasten vor der Schmiedegasse waren ein paar Mägde damit beschäftigt, ihre Eimer zu füllen. In der Schuhgasse hatten die Handwerker die Türen ihrer Werkstätten geschlossen, an einigen Häusern waren sogar die Fenster vernagelt.

Wenn Valentin sich nicht täuschte, war Dienstag – Markttag. Doch die Läden vorm Rathaus waren verschlossen, die Fleisch- und Brotbänke lagen verwaist, und offenbar kamen nicht einmal mehr die Bauern aus den umliegenden Dörfern in die Stadt, um ihr Gemüse zu verkaufen. Umso mehr wunderte sich Valentin über die Menschenansammlung vor einem Haus an der Ecke zur Kirchgasse. Die Leute redeten durcheinander und gestikulierten aufgeregt. Er wollte näher treten, blieb aber stehen, als er inmitten der Gaffer einen blonden Mann erkannte.

Neidlos musste Valentin anerkennen, dass sein Bruder in den letzten Jahren ein stattliches Mannsbild geworden war. Conrad hatte die muskulöse Statur ihres Vaters geerbt, und der modisch kurz geschnittene Bart ließ ihn reifer erscheinen.

Neben Conrad stand ein hagerer Mann mit stechend schwarzen Augen. Trotz der Wärme war er in einen dunklen Mantel aus gutem Tuch gekleidet, und auf seinem Kopf trug er ein Barett aus teurem Samt. Da ihn zwei Stadtwachen mit aufgepflanzten Hellebarden flankierten, musste er wohl einer der zwölf Ratsherren sein.

Mit klopfendem Herzen schob sich Valentin weiter nach vorn, und weil er ebenso hochgewachsen war wie sein Bruder, gelang es ihm rasch, die Ursache der allgemeinen Erregung auszumachen.

Zu Conrads Füßen lag ein Mann, der Länge nach auf dem Pflaster ausgestreckt. Sein Bauch, der sich unter der pelzverbrämten Schaube abzeichnete, erinnerte Valentin an den gestrandeten Wal, den er letztes Jahr in Hamburg gesehen hatte. Doch im Gegensatz zu dem Kerl hier hatte die gewaltige Kreatur noch ein wenig gelebt.

Während der hagere Ratsherr ungeduldig an seinem Bart zupfte, band Conrad sich ein Tuch vor den Mund und zog ein Paar Lederhandschuhe aus seinem Gürtel. Nachdem er sie über seine Hände gestreift hatte, beugte er sich über die Leiche. Mit geübten Griffen entblößte er den Hals des Toten.

Ein Raunen wogte durch die Reihen der Schaulustigen. »Den hat die Pest geholt!«, verkündete ein grauhaariger Steinmetz mit Grabesstimme. Die dralle Magd neben ihm bekreuzigte sich.

Conrad richtete sich auf. Er zog die Handschuhe aus und verstaute sie umständlich in seinem Gürtel.

»Nun, Bader, was sagt Ihr?«, erkundigte sich der Ratsherr. »Ist es nun die Pest oder ist sie es nicht?«

Conrad nahm das Tuch ab, knüllte es zusammen und wischte sich damit über seine Stirn. Er räusperte sich. »Ja, Richter Seiler. Meister Eckel starb ohne jeden Zweifel an der Pest!«

Valentin runzelte die Stirn. Wenn ihn seine Augen nicht trogen, gab es durchaus Zweifel an dieser Diagnose. Doch um das richtig beurteilen zu können, musste er die Flecken am Hals des Toten aus unmittelbarer Nähe betrachten. Als der Richtherr Conrad beiseitenahm, drängte Valentin sich durch die aufgeregt tuschelnden Menschen. Er ging in die Knie und schob mit der Spitze seines Wanderstabes den Pelzkragen des Toten zur Seite. Während er die dunklen Male begutachtete, bestätigte sich sein Verdacht. Auch Conrad hätte erkennen müssen, dass sie keineswegs Anzeichen für eine Pesterkrankung waren – schließlich hatte der Vater ihnen den Unterschied oft genug erklärt.

Valentin rieb sich das Kinn. Er konnte nicht glauben, dass sein Bruder bei einer so wichtigen Angelegenheit wie einer öffentlichen Leichenschau absichtlich eine falsche Diagnose stellen würde. Aber falls Conrad sich geirrt hatte, dann musste er seinen Fehler unverzüglich korrigieren.

Als Valentin sich erhob, begann sich die Menge bereits zu zerstreuen. Suchend ließ er die Augen über den Markt wandern, konnte seinen Bruder aber nirgendwo entdecken. Nur der hagere Ratsherr stand noch immer an derselben Stelle, und während er den beiden Wachen Befehle erteilte, verweilte sein aufmerksamer Blick für einen Moment bei Valentin.

Kapitel 2

Vom Markt bis zur Badergasse war es nur ein kurzer Weg. Als Valentin sein Vaterhaus erreicht hatte, fragte er sich dennoch, ob er sich möglicherweise verlaufen haben könnte. Das Haus mit der schmalen Fassade und dem spitzen Giebel war verschwunden, und Valentin stand vor einer breiten Hausfront mit sechs Fenstern und einem hohen Torbogen in der Mitte. Das hölzerne Tor war verschlossen, doch daneben befand sich eine schmale, blau gestrichene Tür. Der eiserne Türklopfer, nach dem Valentin griff, hatte die Form einer Schlange, die in ihren eigenen Schwanz biss. Es dauerte eine Weile, bis im Haus Schritte erklangen, und als die Tür sich öffnete, blickte Valentin in das Gesicht einer fremden Frau. Sie trug das schlichte Kleid einer Magd.

»Wenn Ihr zu Meister Arnold wollt, dann müsst Ihr später wiederkommen«, beschied sie ihm.

Es dauerte einen Augenblick, bis Valentin begriff, dass hier nicht von seinem Vater die Rede war. »Ich bin Valentin Arnold«, erklärte er. »Der Bruder des Meisters.«

Sie stieß einen überraschten Laut aus, dann betrachtete sie ihn eingehend von Kopf bis Fuß. »Ihr habt die Augen Eurer Mutter«, sagte sie, während sie die Tür freigab.

»So ist es!« Valentin lachte. »Und außerdem die Füße meines Vaters.«

Die Magd konnte seinem Scherz nicht viel abgewinnen. Stattdessen verzog sie missbilligend das Gesicht, als Valentin die saubergefegten Sandsteinplatten der Vorhalle mit staubigen Schuhen betrat. Doch er scherte sich nicht darum, stellte seinen Wanderstock in die Ecke neben der Tür, nahm den Ranzen vom Rücken und legte ihn zusammen mit seinem Hut auf eine Truhe. »Wo finde ich meine Mutter?«, wollte er wissen.

»Sie ist im Kräutergarten.« Die Magd zeigte auf eine Tür hinter der Treppe zum oberen Stockwerk.

Als Valentin in den Hof trat, begriff er, warum ihm der Anblick des Hauses so fremd vorkam. Das Baderhaus war in den letzten Jahren erweitert worden. Der Vater hatte offenbar das Haus des alten Hartmann, ihres Nachbarn auf der rechten Seite, erworben. Um beide Häuser miteinander zu verbinden, hatte er nicht nur die Fassade neu verputzt, sondern auch die Dächer abtragen und einen gemeinsamen Dachstuhl errichten lassen. Das neue Dach zeigte nun mit der Traufseite zur Gasse, was dem größeren Anwesen ein respektables Aussehen verlieh. Dort, wo einst der Hof der Hartmanns gewesen war, hatte die Mutter ihren langgehegten Traum von einem eigenen Kräutergarten wahr gemacht. Valentin lächelte, als er sah, wie sie ihre Finger über die flaumigen Salbeiblätter gleiten ließ, bevor sie einige Zweige abpflückte. Sie legte ihre Ernte in den flachen Korb an ihrem Arm und ging langsam weiter. Vor dem Borretsch blieb sie stehen. Valentin konnte das Summen der Bienen, die in den blauen Blütensternen nach Nektar suchten, ebenso deutlich hören wie den leisen Gesang seiner Mutter. »Warum weinst du, schönes Kind, warum weinst du, schöne Blume?«

Die Mutter war eine große schlanke Frau mit zupackenden Händen. Fünfzig Lebensjahre hatten in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen, dennoch fand Valentin es immer noch schön. Als sie den Kopf hob und ihren Sohn erblickte, brach ihr Gesang ab. Sie ließ den Korb fallen und schlug sich die Hände vor den Mund. Ihre ungewöhnlichen silbergrauen Augen füllten sich mit Tränen.

Valentin lächelte verlegen, während er auf sie zuging.

»Valentin?« Zögernd streckte sie die Hand aus und legte sie an seine unrasierte Wange. »Wo hast du dich nur so lange herumgetrieben, Junge?«

Valentin hielt ihre Hand fest. Sie fühlte sich warm an und roch genauso, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte, nach Kräutern und Erde, nach Seifenlauge und Brot. Die Mutter war eine zurückhaltende Frau, die neben ihrer Arbeit im Haus und in der Badestube nur selten Zeit für Zärtlichkeit gehabt hatte. Trotzdem hätte Valentin sie jetzt am liebsten umarmt. Aber noch bevor er sich dazu entschließen konnte, erklangen hinter ihm Schritte.

»Dann stimmt es also tatsächlich!« Auf halbem Weg über den Hof blieb Conrad stehen. »Du bist wieder da.« Er neigte den Kopf und betrachtete seinen Bruder eingehend.

Valentin holte tief Luft. Er hatte sich das Wiedersehen mit Conrad in den letzten Tagen immer wieder ausgemalt. Es gab so vieles, was er ihm gern gesagt hätte. Doch die Worte schienen sich in seinem Innern zu verknoten, und so ließ er die Musterung seines Bruders stumm über sich ergehen.

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Begrüßt einander, wie es sich für Brüder gehört!«, verlangte sie, indem sie ihrem ältesten Sohn einen kleinen Schubs gab.

Mit weichen Knien ging Valentin auf seinen Bruder zu. »Ich bin froh, dich wiederzusehen!« Er breitete die Arme aus und zog Conrad in eine Umarmung, die der Jüngere zögernd erwiderte.

»Willkommen daheim, Bruder!« Conrad zupfte einen Strohhalm von Valentins Hemd.

»Entschuldige!« Mit einem verlegenen Lächeln löste sich Valentin von ihm. »Ich bin schmutzig wie ein Schwein.«

»Und du riechst auch nicht viel besser!« Conrad lachte.

Valentin spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust zu lösen begann. »Trotzdem könnte ich jetzt eins verspeisen«, gab er grinsend zurück.

»Ach, herrje!« Die Mutter schlug die Hände zusammen. »Dann ist es ja ein Glück, dass wir den Kessel im Badehaus wegen der großen Wäsche schon in der Früh angeheizt haben.« Sie griff nach ihrem Korb. »Conrad, während ich die Kräuter in die Küche bringe, zeigst du Valentin schon mal unsere neue Badestube!«

Conrad nickte seinem Bruder zu. »Komm mit! Du wirst staunen, was sich alles verändert hat, seit wir das Haus vor zwei Jahren vergrößert und neu eingerichtet haben.«

Valentin folgte ihm zu der Tür, die früher einmal der Hintereingang des Nachbarhauses gewesen war.

»Aus der Diele der Hartmanns haben wir den Auskleideraum gemacht.« Er zeigte auf die Hakenleisten, die sich ringsum an den Wänden befanden, bevor er seinen Bruder in den nächsten Raum führte. »Und hier haben wir den Vorraum, in dem sich unsere Badegäste erstmal den gröbsten Schmutz vom Leibe waschen können.«

Valentin nickte anerkennend. »Ihr habt den Boden mit Sandstein gepflastert und Abflussrinnen angelegt, durch die das benutzte Wasser gleich in die Gasse gespült wird.«

»Und Vater hat dafür gesorgt, dass die Decken eingewölbt wurden.« Conrad deutete nach oben. »Dadurch sind die Deckenbalken auch in diesem Teil des Hauses vorm Wasserdampf geschützt.« Er klopfte gegen eine der Sandsteinsäulen, auf denen das niedrige Gewölbe ruhte.

»In jedem zweiten Badehaus, in das ich auf meiner Wanderschaft kam, ist schon einmal ein verheerender Brand ausgebrochen, weil die Holzdecken vollkommen morsch geworden waren«, erinnerte sich Valentin, während er Conrad in den angrenzenden Raum folgte. Der war deutlich größer, aber ein Vorhang unterteilte ihn in zwei verschiedene Bereiche.

In der Mitte des vorderen stand ein hoher Ofen, um den Bänke von unterschiedlicher Höhe gruppiert worden waren. Auf einer davon stand ein Korb, in dem Bündel aus Birkenruten lagen. Es roch nach Holz, heißen Steinen und dem Aroma verschiedener Kräuter.

»Wie du siehst, haben wir das Schwitzbad vergrößert«, Conrad zog den Vorhang zur Seite, »und das Wannenbad in einem kleineren Teil untergebracht.« Er zuckte mit den Schultern. »Seit Feuerholz nicht mehr so billig zu haben ist, gönnen sich immer weniger Leute einmal pro Woche ein heißes Bad.«

Valentin nickte, denn die bedauerliche Entwicklung hatte in Pirna und anderswo schon vor Jahren begonnen. Seit Bergbau und Eisenverhüttung die dichten Wälder an den Hängen des Elbtals verschlangen wie gefräßige Moloche, war der Bedarf an Holz enorm gestiegen. »Trotz dessen muss die Badestube in den letzten Jahren gut gelaufen sein«, entgegnete er. »Sonst hätte sich Vater bestimmt nicht auf all die Umbauten eingelassen.«

»Wir konnten nicht klagen«, bestätigte Conrad, während er einen prüfenden Blick in den riesigen Kupferkessel des Badeofens warf, über dem sich bereits die ersten Dampfwölkchen bildeten. »Aber das war vor dieser verfluchten Pestilenz. Stell dir vor, das Erste, was unseren Ratsherren einfiel, um die weitere Verbreitung der Seuche einzudämmen, war die Schließung der Badestuben!« Er öffnete die nächste Tür und winkte Valentin an sich vorbei in einen hellen Raum mit verglasten Fenstern. »Seitdem müssen wir von dem leben, was uns das Wundheilen einbringt.«

Valentin blickte sich um. Neben einem stabilen Holztisch stand ein Stuhl mit hoher Lehne. Breite Lederriemen an den Armstützen und den vorderen Stuhlbeinen ermöglichten es, einen Patienten darauf zu fixieren – eine äußerst hilfreiche Maßnahme, wenn es galt, einen vereiterten Zahn zu ziehen oder einen anderen schmerzhaften Eingriff durchzuführen. Im Regal daneben lagen gebogene Nadeln, Messer und Zangen, eine Knochensäge sowie das Werkzeug für den Aderlass: Lasseisen und Lassbecher. An der Wand darüber hing ein gerahmter Holzschnitt, auf dem ein nackter Mann zu sehen war. Rote Pfeile deuteten auf jene Stellen seines Körpers, an denen ein Aderlass vorgenommen werden durfte. Als Valentin erkannte, dass es dieselbe Abbildung war, vor der sein Vater ihn und Conrad vor Jahren examiniert hatte, wurde ihm weh ums Herz.

Doch sein Bruder ließ ihm keine Zeit für traurige Betrachtungen. »Schau mal!« Conrad klopfte gegen einen Schrank mit unzähligen kleinen Schubladen. »Den hat Vater nach meinem Entwurf bei Schreinermeister Hampel anfertigen lassen. Sämtliche Pillen, Pulver und Kräuter sind hier übersichtlich untergebracht.« Dann zeigte er auf die Tür nebenan. »Und dort gibt es sogar noch ein kleines Gewölbe, in dem wir unsere Arzneien zubereiten und die Vorräte dafür lagern können.« Conrad ließ sich auf dem Behandlungsstuhl nieder, lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus. »Na, was sagst du dazu, großer Bruder?«

Valentin nickte anerkennend. »Du siehst mich überwältigt von alldem.« Seine Hand beschrieb einen Halbkreis, während er sich seinem Bruder gegenüber an die Tischkante lehnte. »Selbst in den reichen Städten Flanderns sah ich nur wenige Badestuben, die so gut und sinnreich ausgestattet waren. Und wie mir scheint, hat Vater schließlich doch begriffen, dass deine Überlegungen zur Verbesserung des Badebetriebs alles andere waren als Kindereien.«

Conrads Augen begannen zu leuchten, und seine Ohrläppchen wurden rot wie Rosenknospen. So hat er früher ausgesehen, dachte Valentin, wenn der Vater ihn gelobt hatte. Allzu oft war das allerdings nicht passiert, denn Conrad hatte beim Erlernen des väterlichen Handwerks weit weniger Begeisterung gezeigt als sein älterer Bruder. Während Valentin schon als Kind nichts anders wollte, als dem Vater beim Heilen zur Hand zu gehen, hatte sich Conrad lieber bei der Mutter in der Badestube aufgehalten. Dem Röhrmeister, der die städtischen Wasserkästen und die Verteilung des Wassers über die Röhrfahrten überwachte, hatte er Löcher in den Bauch gefragt, und eines Tages hatte er den Vater mit der Skizze für eine hauseigene Wasserleitung überrascht. Doch der hatte nur darüber gelacht und seinen Jüngsten zum Holzhacken auf den Hof geschickt. Valentin überlegte, ob jetzt vielleicht der rechte Moment gekommen war, mit Conrad über den Toten auf dem Markt zu sprechen.

Aber noch bevor er sich dazu durchgerungen hatte, steckte die Magd ihren Kopf durch die Tür. »Die Pötschin ist hier und verlangt, dass Ihr sie zur Ader lasst.«

Conrad winkte ab. »Sag ihr, dass jetzt nicht die rechte Zeit dafür ist! Wir haben seit gestern abnehmenden Mond.«

Doch schon im nächsten Augenblick wurde Agnes zur Seite gedrängt, und eine dicke Frau mit ausladender Haube rauschte an ihr vorbei. Valentin hielt sie für das Eheweib eines wohlhabenden Handwerksmeisters.

Conrad erhob sich unwillig. »Ich kann Euch jetzt nicht zur Ader lassen, gute Frau! Kommt in zwei Wochen wieder, wenn die Sterne dafür günstig stehen.«

Es war offenkundig, dass die Frau Erfahrung darin hatte, ihren Willen durchzusetzen, denn sie machte keine Miene, der Aufforderung des Hausherrn Folge zu leisten. Stattdessen marschierte sie hoch erhobenen Hauptes an Conrad vorbei. Valentin war gespannt, wie sein Bruder mit dieser schwierigen Patientin umgehen würde.

»Ihr werdet mich jetzt zur Ader lassen, junger Meister!« Die Frau entledigte sich ihres Umhangs und pflanzte sich auf den Behandlungsstuhl. »Euer Vater, Gott hab ihn selig, wird Euch doch beigebracht haben, dass diese Regeln in Zeiten der Pest ihre Gültigkeit verlieren.«

»Selbstverständlich hat er das!« Conrads Gesicht war rot angelaufen, seine Nasenflügel bebten. »Aber bedenkt, dass ich Euch bereits vor vier Tagen zur Ader gelassen habe und in der Woche davor auch.« Er stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte verärgert auf die anmaßende Besucherin herab.

»Ich bin ein Weib!«, erklärte sie, was offensichtlich war. »Frauen, auch das ist allgemein bekannt, haben mehr schlechte Säfte in ihrem Blut als Männer, weshalb man sie öfter zur Ader lassen darf.« Energisch streifte sie den linken Ärmel ihres feinen Leinenhemdes nach oben.

Conrad biss die Zähne zusammen, und es war ihm anzusehen, dass er die unverschämte Person am liebsten mit eigenen Händen an die Luft gesetzt hätte. Doch stattdessen drehte er sich um und ging mit steifen Schritten zu seinem Arzneischrank hinüber. »Zur Reinigung Eurer Säfte kann ich Euch verschiedene Kräuter geben. Und zur Vorbeugung gegen die Pest habe ich Pillen aus Nelken, Salbei, Weinraute und Tannenharz zu verkaufen.« Er öffnete eine der vielen Schubladen und entnahm ihr eine Spanschachtel. »Sie beseitigen schlechten Atem und Fäulnis im Mund. Darüber hinaus empfiehlt sich eine strenge Diät. Meidet Schweinefleisch und Milch, trübes Wasser und dickflüssiges Bier. Enthaltet Euch auch aller Früchte, denn sie sind voll böser Feuchtigkeit.« Conrad stellte die Schachtel auf den Tisch. »Bereitet Eure Speisen mit Essig zu und denkt daran, bei allem Maß zu halten!«

Welche Mühe es seinen Bruder kosten musste, den Schein professioneller Gelassenheit zu wahren, konnte Valentin nur ahnen. Die Wutausbrüche des Knaben Conrad waren legendär gewesen und hatten dazu geführt, dass selbst ältere Jungen sich ihm gegenüber mit Spott und Sticheleien zurückhielten. Im Augenblick jedoch wäre Valentin seinem Bruder nur zu gern dabei behilflich, das halsstarrige Weib vor die Tür zu setzen.

»Ihr lasst mich jetzt auf der Stelle zur Ader!« Die Frau reckte das Kinn, während sie Conrad weiterhin ihren nackten Arm entgegenhielt. »Oder ich gehe zu einem anderen Bader und setze nie wieder einen Fuß in Euer Haus. Was ich im Übrigen auch all meinen Freundinnen empfehlen werde!«

Valentin schnappte nach Luft. Schon öffnete er den Mund, um das unverschämte Weib zum Teufel zu schicken, doch sein Bruder schüttelte den Kopf.

Mit ausdrucksloser Miene band sich Conrad eine Schürze vor den Bauch. Dann trat er an das Regal mit den Instrumenten, dem er einen kleinen Klöppel, das Lasseisen und einen Zinnbecher entnahm. Er drückte Valentin den Becher in die Hand. »Halt das!«

Mit triumphierendem Lächeln verfolgte die Pötschin, wie Conrad die dreieckige Klinge, die im rechten Winkel am dem eisernen Stiel befestigt war, auf ihre Armvene setzte. Ohne weiteres Federlesen schlug er mit dem Klöppel auf die Rückseite des Lasseisens und trieb die Klinge in ihre Haut. Sofort sprudelte Blut, das Valentin geschickt mit dem Becher auffing. »Das reicht!«, erklärte Conrad, kaum dass sich das Gefäß einen Fingerbreit damit gefüllt hatte. Rasch band er ein Tuch um den Arm der Frau, zog es straff und verknotete es so, dass der Knoten auf die Wunde drückte. Wortlos strich er das Geld ein, das sie ihm reichte.

Valentin nahm es auf sich, das Weib zu verabschieden und zur Tür zu begleiten. Als er in den Behandlungsraum zurückkehrte, war sein Bruder bereits dabei, die Instrumente zu reinigen.

»Ich bin mir sicher, die Pötschin wird nicht an der Pest sterben, sondern an der eigenen Unvernunft!«, knurrte er, während er das Lasseisen so heftig schrubbte, dass die Bürste ein Gutteil ihrer Borsten verlor. »Aber im Augenblick können wir es uns einfach nicht leisten, Kundschaft zu verlieren.«

»Hättest du ihr das Blut nicht abgenommen, wäre sie gewiss zu einem dieser Pfuscher gegangen, die mit dem Aderlass sträflich Schindluder treiben, indem sie selbst Kinder und Greise damit traktieren.« Valentin schnaubte frustriert auf. »Dabei kann man mit der Anwendung von Purganzen und Aderlässen gar nicht vorsichtig genug sein. Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass sie für die Heilung kaum einen Nutzen haben und in den meisten Fällen sogar schädlich sind.«

Conrad warf seinem Bruder einen verdutzten Blick zu. »Wie verträgt sich denn das mit der Viersäftelehre des großen Galen?« Kopfschüttelnd griff er nach einem Tuch, um die Instrumente trocken zu reiben.

»Gar nicht.« Valentin zuckte mit den Schultern. »Für Galen war die Krankheit eine Verwirrung der Säfte, die den gesamten Körper erfasst. Schlechte Säfte daraus abzuleiten, ist bei dieser Betrachtungsweise durchaus gerechtfertigt.« Valentin überlegte kurz, ob er seinem Bruder von dem Henker erzählen sollte, bei dem er einige Monate im Dienst gestanden hatte. Dem Mann war es hin und wieder erlaubt worden, die sterblichen Überreste eines armen Sünders zur Herstellung besonderer Salben und Heilmittel zu nutzen. Valentin hatte ihm zweimal dabei geholfen und bei diesen Gelegenheiten mehr Einblick in die Funktionsweise des menschlichen Körpers gewonnen als während seiner gesamten Lehrzeit beim Vater. Doch ein Henker, so kundig er auch sein mochte, hatte in den Augen der meisten Menschen einen noch schlechteren Leumund als ein Bader. »Auf meiner Wanderung traf ich auf Heiler und Ärzte, die sich nicht mehr auf das überlieferte Wissen eines Mannes verlassen wollten, der vor mehr als tausend Jahren gelebt hat«, erklärte Valentin etwas allgemeiner. »Sie haben ihre Untersuchungen und Beobachtungen mit dem verglichen, was in den alten Schriften behauptet wird, um sich ihr eigenes Urteil darüber zu bilden.«

Conrad hatte inzwischen die Instrumente in das Regal zurückgelegt. Als er sich umdrehte, stand eine Falte zwischen seinen zusammengezogenen Augenbrauen. »Und zu welchen Erkenntnissen sind sie dabei gelangt?«

»Der Arzt in Antwerpen, bei dem ich zuletzt gearbeitet habe, hält Krankheiten für eigenständige Lebewesen. Er ist davon überzeugt, dass sie von außen in den Körper eindringen, sich in einem einzelnen Organ niederlassen und so dessen Funktion stören.«

Conrad lachte. »Welch abwegige Vorstellung!«

»Und einer seiner ehemaligen Kommilitonen, mit dem er in Padua studiert hatte, ist der Meinung, Krankheiten würden durch winzige Tierchen, semina morbi, übertragen anstatt durch vergiftete Luft.« Valentin hob die Hände. »Weißt du, es gibt so viel mehr Wissen in dieser Welt als das, was der Vater uns beibringen konnte.«

»Das mag ja sein.« Conrad schüttete das benutzte Wasser in einen Eimer neben der Tür. »Aber nicht jeder kann es sich leisten, jahrelang herumzuziehen, um danach zu suchen.«

Valentin bemerkte den spitzen Unterton, doch sein Wunsch, das, was er erlebt und erfahren hatte, mit seinem Bruder zu teilen, war so stark, dass er dieses Signal ignorierte. »Bevor ich nach Antwerpen kam, zog ich mit einem Wundheiler übers Land, in dessen Familie die Kunst des Steinschneidens seit Generationen weitergegeben wurde. Der Mann verfügte über erstaunliche Fertigkeiten!« Valentin breitete die Arme aus. »Von allem, was ich in der Ferne gelernt habe, will ich dir berichten, damit du es später selbst ausprobieren kannst.«

»Bisher bin ich mit dem, was ich hier gelernt habe, ganz gut zurechtgekommen«, entgegnete Conrad. »Und noch immer ist unsere Badestube die beste in der ganzen Stadt.«

»Natürlich.« Valentin lächelte. »Sonst hätte man dich heute Morgen vermutlich nicht geholt, um an der Leichenschau auf dem Markt teilzunehmen.« Ihm war klar geworden, dass er sich gedulden musste, bis Conrad bereit war zuzuhören. Aber eine Sache gab es, über die er mit seinem Bruder sprechen musste, bevor es zu spät war.

Während Valentin noch nach den richtigen Worten suchte, öffnete Conrad die Tür. »Der Mann auf dem Markt«, sagte er. »Das war nichts Besonderes. Er ist einfach an der Pest gestorben.«

»Nein!«, widersprach Valentin. »Die dunklen Flecke am Hals der Leiche waren gewiss keine Pestmale.«

Conrad drehte sich um. »Ich hätte es wissen müssen! Du tauchst nach einer Ewigkeit hier auf, und das Erste, was du tust, ist, mich darüber zu belehren, wie ich meine Arbeit machen soll!« Für einen Augenblick schien es so, als wolle er mit geballten Fäusten auf seinen Bruder losgehen. »Es ist genauso wie früher!«

Valentin hob beschwichtigend die Hand. »Ich will dich nur bitten, dir den Mann noch einmal genau anzusehen, bevor man ihn unter die Erde bringt. Diese Flecke sind ein Beweis dafür, dass es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zuging!«

»Ich sage es doch, du bist noch genauso davon überzeugt, alles besser zu wissen, wie früher!« Conrad presste die Lippen zusammen und schnaubte abfällig auf. Noch bevor Valentin aber weiter in ihn dringen konnte, ertönte nebenan der Ruf ihrer Mutter: »Das Bad ist angerichtet!«

 

Als Valentin die Badestube eine Stunde später sauber und frisch rasiert verließ, war Conrad bereits wieder unterwegs. Erst beim Abendmahl, für das ihre Mutter tatsächlich ein Brathuhn mit Backpflaumensoße zubereitet hatte, sahen sich die Brüder wieder.

Nach dem Tischgebet reichte die Mutter Valentin das Messer. Er zauderte, denn einen Festtagsbraten anzuschneiden war das Vorrecht des Hausherrn. Doch der Vater war tot, und üblicherweise nahm der älteste Sohn dessen Platz ein. Also ergriff Valentin das Messer und zerlegte das Huhn mit präzisen Schnitten.

»In Antwerpen«, erzählte er, um seine Unsicherheit zu überspielen, »benutzten die reichen Leute beim Essen zierliche Gabeln.« Er lachte bei der Erinnerung an seine eigenen Versuche mit dem neuartigen Esswerkzeug. »Ich kann Euch sagen, es war gar nicht so einfach, damit umzugehen!«

»Du bist weit in der Welt herumgekommen, Junge.« Die Augen der Mutter ruhten voller Stolz auf ihrem Ältesten.

Conrad tunkte ein Stück Brot in die Soße und schob es in den Mund. Er schien sich vollkommen auf sein Mahl zu konzentrieren, und Valentin tat es ihm gleich. Er spürte, was in seinem Bruder vorging, doch Conrad täuschte sich, wenn er glaubte, Valentin wäre hier, um sich als Hausherr aufzuspielen.

Ihrer Mutter war anzusehen, wie glücklich sie darüber war, endlich wieder beide Söhne daheim zu haben. Valentin fand, dass sie dünner war, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. In ihrem Haar, das bei seiner Abreise noch so schwarz gewesen war wie sein eigenes, zeigten sich erste weiße Strähnen, doch ihre Augen blickten noch immer wach und klar.

Kaum war das Huhn verzehrt, trug die Mutter das benutzte Geschirr zum Spülstein. Anschließend stellte sie eine Schüssel mit Teig neben den Herd. Mit dem Stiel eines hölzernen Kochlöffels prüfte sie, ob das Öl im Kupferkessel seinen Siedepunkt erreicht hatte. Doch bevor sie den Teig löffelweise ins siedende Öl gleiten ließ, forderte sie ihren Ältesten auf, über die Stationen seiner Wanderung zu berichten.

Valentin erzählte, wie er zunächst nach Böhmen gezogen war und einige Zeit bei einem Wundarzt in Prag gearbeitet hatte. Später war er über Pilsen, Nürnberg und Würzburg nach Mainz gewandert und von dort weiter nach Köln. »Ich bin in den Dienst von Badern, Wundärzten, Bruchheilern und Steinschneidern getreten«, berichtete er. »Aber in Antwerpen fand ich Arbeit bei einem ganz außergewöhnlichen Doktor. Im Gegensatz zu den meisten seiner studierten Kollegen war er sich nicht zu schade, neben der inneren Medizin auch die Chirurgie zu praktizieren.«

»War das der Arzt, der glaubt, Krankheiten seien eigenständige Wesen?«, erkundigte sich Conrad skeptisch.

Valentin nickte. »Und als anno 1529 in Antwerpen ein großes Sterben begann, lernte ich auch seine Methoden zur Behandlung der Pest kennen.«

Inzwischen war die Mutter mit einer dampfenden Schüssel an den Tisch zurückgekehrt. Valentin lief das Wasser im Mund zusammen, als er sah, wie sie noch einen Löffel Honig über die heißen Krapfen träufelte.

»Na, dann erzähl uns doch mal, wie man die Pest anderswo behandelt!« Conrad langte nach dem ersten Krapfen.

Die Mutter setzte sich und sah ihren Ältesten über den Tisch hinweg erwartungsvoll an. Obwohl die Fürsorge für die Kranken in den Händen des Vaters gelegen hatte, während sich die Baderin vor allem um den Betrieb der Badestube gekümmert hatte, waren medizinische Fragen an diesem Tisch immer ein Thema gewesen.

»Vieles ähnelt dem, was auch hierzulande praktiziert wird.« Valentin zuckte mit den Schultern. »Zunächst erhält der Kranke ein Klistier, dann lässt man ihn zur Ader – je nachdem, wo sich die Pestbeulen gebildet haben. Erscheinen sie zuerst an Kopf und Hals, so glaubt man, befindet sich das Gift im Hirn, weshalb man das Blut aus der Hauptvene am Arm zapfen soll oder an der Hand zwischen Daumen und Zeigefinger. In manchen Fällen hält man es für hilfreich, Blut unter der Zunge zu schröpfen.« Valentin nahm sich einen der köstlich duftenden Krapfen aus der Schüssel. »Beulen in den Achselhöhlen deuten auf eine Vergiftung des Herzens, weshalb man die Herzader am linken Arm öffnen sollte. Befinden sich die Beulen in der Leiste, so ist die Leber vergiftet, weshalb allenthalben geraten wird, die Rosenader am großen Zeh zu öffnen oder die Rückenader am kleinen Zeh.« Er steckte den Krapfen in den Mund und schloss die Augen, während er kaute.

»Und gewiss empfiehlt man auch anderswo das Schwitzen und Purgieren, um alle vergifteten Säfte aus dem Körper des Kranken auszuleiten«, unterbrach ihn Conrad unwirsch. »Ich frage mich, wo dein neues Wissen ist, das du mit mir teilen wolltest!«

»Fall deinem Bruder nicht ins Wort!« Die Mutter warf ihrem jüngeren Sohn einen strengen Blick zu.

»Ja, Mutter.« Conrad zog die Schüssel mit den Krapfen zu sich heran, um gleich zwei davon in seinen Mund zu schieben.

Valentin schmunzelte; auch wenn der Vater in der Tischrunde fehlte, schien in diesem Moment alles wie früher zu sein.

»Du hast mich gefragt, wie man die Pestkranken anderswo behandelt«, sagte er, indem er Conrad zuzwinkerte. »Falls du jedoch wissen wolltest, was der Doktor unternahm, um sie zu heilen, so kann ich dir sagen: kaum etwas davon!«

»Wie daf?«, nuschelte Conrad mit vollem Mund, was ihm noch einen mahnenden Blick der Mutter eintrug.

»Seiner Ansicht nach schwächen Maßnahmen wie der Aderlass und die Purgation einen Pestkranken viel zu sehr, vor allem wenn der Heiler, wie allgemein empfohlen wird, die Behandlung über Tage wiederholt. Auch das Aufschneiden oder Anritzen der Beulen würde den Tod nach seiner Erfahrung eher beschleunigen«, erklärte Valentin, bevor er sich einen weiteren Krapfen nahm.

»Aber gerade das ist doch die wirkungsvollste Art, das Gift aus dem erkrankten Körper zu ziehen!« Conrad hatte die Krapfen vergessen und wandte nun seine gesamte Aufmerksamkeit seinem Bruder zu. »Weißt du nicht mehr, wie der Vater uns eingebläut hat, dass ein guter Bader niemals davor zurückschrecken darf, Schmerzen zu verursachen, wenn er dadurch die Heilung beschleunigen kann?«

Valentin nickte. Vor allem sein Bruder hatte sich während ihrer Lehrzeit lange nicht dazu überwinden können, denn trotz seines aufbrausenden Temperaments besaß Conrad ein äußerst mitfühlendes Wesen. Während er den letzten Krapfen aus der Schüssel fischte, fragte sich Valentin, wie Conrad es inzwischen geschafft hatte, sich mit den blutigen und schmerzhaften Seiten seines Handwerks abzufinden. »Der Doktor jedenfalls hatte beobachtet, dass mehr seiner Patienten überlebten, wenn er ihnen herzstärkende und fiebersenkende Tränke verordnete, dafür sorgte, dass sie viel Flüssigkeit zu sich nahmen und gute Pflege erhielten. Reinlichkeit und Aufmunterung, davon war er überzeugt, können weitaus mehr zur Heilung beitragen als teure Kuren, die letztlich nur die Taschen des Arztes füllen.« Er schob sich den Krapfen in den Mund und leckte sich anschließend den Honig von den Fingern.

»Hört, hört«, rief Conrad. »Dann ernährt sich dein Doktor wohl von Luft und Nächstenliebe?«

»Als vermögender Mann kann er sich das vielleicht leisten«, gab die Mutter zu bedenken. »Aber wir müssen jetzt von dem leben, was uns das Wundheilen einbringt.«

Valentin hatte keineswegs den Eindruck gehabt, dass der Doktor ein vermögender Mann war, doch darüber zu diskutieren würde zu nichts führen. »Auch wenn die Schließung des Badehauses hart für uns ist, erachte ich die Maßnahme dennoch als richtig«, sagte er stattdessen.

»Sei es, wie es sei.« Die Mutter erhob sich, um das Geschirr abzuräumen. »Vorsicht ist zurzeit an jedem Ort geboten. Vergesst nie, euch den Mund mit Wein auszuspülen, bevor ihr das Haus verlasst, und Sauerampfer oder Lorbeerkörner zu kauen, wenn ihr bei den Kranken weilt! Macht es wie Vater und bindet euch ein Tuch um, das mit Rosmarinwasser getränkt ist, wenn ihr ein pestversuchtes Haus betreten müsst!«

Valentin musste schmunzeln, als er sah, wie Conrad mit den Augen rollte. »Wir werden uns vorsehen«, versprach er. »Aber welche Maßnahmen hat der Rat zu Pirna außerdem ergriffen, um die Bürger vor der Pestilenz zu schützen?«

»Es ist bei Strafe verboten, Nachttöpfe oder Spülwasser in den Rinnstein zu entleeren. Auch soll man das heimliche Gemach und die Gasse vor dem Haus von übelriechenden Dingen reinhalten. Alle Hühner, Schweine und das Federvieh müssen in den Ställen bleiben und einmal pro Woche gebadet werden. Die Armen bekommen kostenlos Knoblauch, Essig und Lorbeer«, zählte Conrad auf.

»Aber was ist mit den Wirtshäusern, den Bierkellern oder dem Hurenhaus in der Holdergasse?«, erkundigte sich Valentin. »Und gibt es Quarantänevorschriften für jene Häuser, in denen die Pest bereits ausgebrochen ist?«

Conrad schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich darf niemand, der die Pestzeichen am Leib trägt, sein Haus verlassen oder gar Kirchen und Wirtshäuser betreten. Auch das Tanzen und Musizieren wurde untersagt. Also warum sollte man den guten Leuten auch noch das letzte Vergnügen nehmen?«

»Und ein Pesthaus gibt es in Pirna vermutlich noch immer nicht?« Als Valentin die verständnislosen Blicke seiner Mutter und seines Bruders sah, seufzte er. »Besondere Häuser, in denen die Pestkranken unter strenger Absonderung von allen anderen Bürgern gepflegt werden, leistet man sich mittlerweile in vielen großen Städten.« Er griff nach dem Becher, den ihm die Mutter hingestellt hatte. Das Getränk darin roch nach Anis und Zimt.

»Trink, mein Junge!« Die Mutter nickte ihm zu. »Das ist der Aufguss aus Galgantwurzel, Zimtrinde und Aniskörnern, den dein Vater stets in Pestzeiten zubereitet hat. Ich bin davon überzeugt, dass er überaus wirksam ist, denn immerhin wurde in diesem Haus noch nie jemand vom Schwarzen Tod heimgesucht.«

Valentin nippte an dem heißen Trunk. Er hätte lieber einen Schluck von dem guten Roten gehabt, den der Vater zweimal im Jahr bei einem Weinhändler am Kirchplatz zu kaufen pflegte. Doch Rotwein gehörte zu den Getränken, derer man sich in Pestzeiten ebenso enthalten sollte wie schwerer Speisen.

»Du solltest das, was du auf deiner Wanderung erfahren hast, unbedingt dem Ehrenwerten Rat zur Kenntnis bringen, Valentin!«, riet die Mutter.

»Ich weiß nicht.« Valentin blickte unschlüssig von ihr zu Conrad. »Glaubt ihr denn, im Rathaus würde man einem Bader überhaupt zuhören? Immerhin gehören wir nach wie vor einer meidlichen Zunft an.«

»Aber warum denn nicht? Es gibt noch immer keinen Stadtmedicus in Pirna«, argumentierte die Mutter.

Conrad zuckte mit den Schultern, bevor er nach seinem Becher griff.

Valentin fühlte sich unbehaglich. Nach ihrer Auseinandersetzung im Behandlungsraum wollte er unbedingt vermeiden, dass sich sein Bruder übergangen fühlte. »Conrad ist der neue Meister hier«, betonte er. »Wenn einer aufs Rathaus gehen sollte, dann er.«

Aber Conrad hob abwehrend die Hände. »Das werde ich auf gar keinen Fall tun!«

»Wenn du davon überzeugt bist, dass das Wissen, das du auf der Wanderschaft erworben hast, helfen kann, solltest du auch dafür einstehen, Valentin.« Die Mutter nickte ihrem Ältesten aufmunternd zu. »Außerdem wirst du die Badestube doch ab morgen gemeinsam mit Conrad führen!«

Valentin heftete den Blick auf den Becher in seiner Hand. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, gleich am ersten Abend von seinen Plänen zu sprechen. Doch die Mutter in falschen Hoffnungen zu wiegen war auch nicht recht. Also holte er Luft und hob den Kopf. »Es tut mir leid, Mutter, wenn ich jetzt gleich mit der Tür ins Haus falle, aber ich habe nicht vor, für immer in Pirna zu bleiben. Viel lieber möchte ich mich als Baderchirurg in einer großen Stadt niederlassen – vielleicht in Nürnberg oder gar in Antwerpen.«

In der Küche wurde es still, so still, dass Valentin meinte, das Rauschen des eigenen Blutes zu hören. Die Mutter sah ihn an. Ihre dunklen Brauen hoben sich, und sie schien zu überlegen, ob sie ihren Ohren trauen durfte. Mit jedem Atemzug fiel es Valentin schwerer, ihrem forschenden Blick standzuhalten. Konnte es sein, dass sie Bescheid wusste? Kannte sie den tieferen Grund für seine Entscheidung? Hatte sein Bruder sein Schweigen womöglich irgendwann in den vergangenen Jahren gebrochen? Doch Conrad schien von Valentins Eröffnung ebenso überrascht wie die Mutter. Valentin fühlte sich mit einem Mal unsäglich müde. Die Wochen der Wanderung hatten seinen Körper erschöpft, und der Ansturm der Gefühle, den er in den vergangenen Stunden durchlebt hatte, tat ein Übriges.

»Selbstverständlich habe ich nicht vor, gleich wieder abzureisen«, sagte er, als die Mutter schweigend damit begann, den Tisch abzuräumen. »Nicht, solange diese Pestilenz in Pirna grassiert.«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du gar nicht erst zurückgekommen wärst«, murmelte Conrad, während er seinen Stuhl zurückschob. Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an ihre Mutter. »Ich muss in die Schifftorvorstadt. Die drei Kinder von Fischer Ulrich sind erkrankt, und das jüngste wird die Nacht wahrscheinlich nicht überleben.«

Conrad verließ die Küche, und Valentin erhob sich ebenfalls. »Ich sollte mitgehen und mich nützlich machen.«

»Nicht jetzt!« Die Mutter hielt ihn am Arm fest. »Wie ich selbst, so braucht auch dein Bruder ein wenig Zeit, um zu begreifen, dass du mit eigenen Plänen für deine Zukunft nach Hause gekommen bist.« Sie musterte ihn streng. »Und du, mein Sohn, brauchst jetzt ein Bett!« Valentin, dem es nicht gefiel, wie ein Kind behandelt zu werden, wollte sich losmachen. Doch die Mutter verstärkte ihren Griff. »Ich sehe doch, dass dir gleich die Augen zufallen. Also denk an das, was dich dein Vater gelehrt hat: Wer andere heilen will, hat auch die Pflicht, auf seine eigene Gesundheit zu achten!«

Kapitel 3

Valentin schob sich den letzten Rest Hirsebrei in den Mund, als sein Bruder die Küche betrat.

Conrad wies die Schüssel, die ihm die Mutter reichen wollte, mit einem Kopfschütteln zurück. »Ich muss los«, sagte er.

»Aber du musst doch essen, Junge!« Die Mutter betrachtete ihn mit besorgtem Blick.

»Keine Zeit! In der Schifftorvorstadt gibt es seit gestern fünf neue Erkrankungen.« Conrad schnappte sich eine Scheibe Brot vom Tisch. »Und du musst dich auf den Weg zum Kirchhof machen.« Er nickte Valentin zu, während er sich das Brot in den Mund stopfte. »Christoph Werner ließ ausrichten, dass seine kleine Tochter krank geworden ist.«

»Ach, herrje, der arme Mann!« Die Baderin rang die Hände. »Seine Ursel war die Erste, die in diesem Jahr an der Pest starb. Bald darauf traf es sein Weib und dann den Jüngsten seiner Söhne.«

Valentin erschrak. Er blickte zu seinem Bruder, doch der kramte mit ausdrucksloser Miene in dem Holzkasten mit seinen Instrumenten. Dabei kannten sie die Türmerfamilie beide gut. Von Kindesbeinen an waren sie mit Ursula, aber vor allem mit Urs, ihrem Zwillingsbruder, befreundet gewesen. Die Freundschaft hatte über ihre Kindertage hinaus Bestand gehabt – bis zu dem Tag, an dem Conrad das einzige Geheimnis entdeckte, das Valentin jemals vor seinem Bruder gehabt hatte. Der Schock, den er damals empfunden hatte, saß ihm noch immer in den Eingeweiden, und Conrads Verhalten machte deutlich, dass auch er nicht vergessen konnte, was an jenem Tag geschehen war.

»Es wird heute wieder spät. Ihr braucht mit dem Abendmahl nicht auf mich zu warten.« Conrad verließ die Küche.

Valentin zögerte einen Augenblick, ehe er dem Bruder in die Diele folgte. In den letzten zwei Tagen hatte er vergeblich gehofft, mit Conrad ein Gespräch darüber führen zu können, was seit Jahren zwischen ihnen stand. Natürlich war der Zeitpunkt auch jetzt denkbar schlecht dafür, denn sie hatten alle Hände voll tun. Aber die andere Sache konnte Valentin nicht auf sich beruhen lassen.

»Auf ein Wort!«

Conrad fuhr herum. »Denkst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du seit deiner Rückkehr um mich herumschleichst wie der Teufel um die arme Seele!« Er funkelte seinen Bruder an. »Aber ich will nichts von der alten Geschichte hören! Damit das ein für alle Mal klar ist!«

Valentin hatte mit dieser Abfuhr gerechnet, trotzdem empfand er die Worte seines Bruders wie einen schmerzhaften Stich. »Das ist es nicht, worüber ich mit dir sprechen will«, sagte er leise.

»Worüber sonst?«, stieß Conrad hervor.

»Der Tote auf dem Markt«, begann Valentin, wobei er sich vergewisserte, dass die Tür zur Küche geschlossen war. »Hast du dir die Male an seinem Hals noch einmal angesehen?«

»Nein.« Conrad griff nach dem Holzkasten. »Warum sollte ich?«

Valentin versperrte seinem Bruder den Weg. »Weil ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass deine Schlussfolgerung falsch war!«

»Das war sie nicht!«, beharrte der Jüngere. Doch Valentin entging nicht, dass er seinem Blick dabei auswich.

»Conrad, es geht doch gar nicht darum, ob ich recht habe oder du.«

»Nein? Worum denn sonst?«

»Womöglich deckst du mit deinem Starrsinn einen Mörder«, flüsterte Valentin eindringlich.

Conrad erstarrte, und seine Pupillen weiteten sich. Doch dann holte er Luft, straffte seine Schultern und machte einen Schritt nach vorn. »Ach, ja? Und das weißt du, weil du im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen hast? Aber was wundere ich mich, du hast dich ja schon immer für allwissend gehalten!« Mit einem wütenden Schnauben drängte er sich an seinem Bruder vorbei und verließ das Haus.

Valentin unterdrückte einen Fluch. Conrad schien Angst zu haben. Nur weshalb? Das Verhalten seines Bruders war in jeder Hinsicht eigenartig. Doch im Augenblick konnte Valentin nichts tun, um diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, also schlang er sich den Ledergurt seines Medizinkastens über die Schulter und machte sich auf den Weg zum Kirchhof.

Es war früh am Morgen, und wie so oft lag über dem Fluss noch dichter Nebel. Als Valentin über den Markt ging, sah er, wie Männer in den rot-gelben Uniformen der Stadtwache einen großen Holzstoß errichteten. Es war nur ein kurzer Weg, doch mit jedem Schritt wurden seine Beine schwerer. In welcher Verfassung würde er den Türmer und dessen Familie vorfinden?

Während er die Stufen im Turm der Marienkirche erklomm, dachte Valentin daran, wie er und Conrad früher mit den Zwillingen des Türmers Wettrennen im engen Wendelstein veranstaltet hatten. Heute erstieg er die gewundenen Stufen bedeutend langsamer. Der aufregende Duft der Gerichte, die Mama Melinda auf ihrem Herd unter dem schwarzen Rauchfang kochte, hatte ihn früher schon auf halber Treppe empfangen, und oben angekommen hatte er den Kopf einziehen müssen, um nicht an langen Teigstrippen hängenzubleiben. Die wurden Pasta genannt, und die Mutter seines Freundes hängte sie zum Trocknen über eine Wäscheleine.

Da die Tür offenstand, trat Valentin auch heute direkt in die Küche, die eine Hälfte der kreisrunden Türmerwohnung beanspruchte. Es roch nach Kohlsuppe und ranzigem Fett, und statt Pasta hingen Männerhemden und feuchte Socken neben dem Herd.

»Valentin, du bist tatsächlich wieder daheim!« Der Türmer, der am Tisch gesessen hatte, erhob sich schwerfällig.

Valentin blieb erschrocken stehen. Früher war Christoph Werner ein stämmiger, fröhlicher Mann mit vollem braunem Haar gewesen. Bevor er die Stelle als Türmer in Pirna angetreten hatte, war er viele Jahre als Spielmann umhergezogen. Bis nach Sizilien, einer Insel vor der Spitze des italienischen Stiefels, war er gekommen, und dort hatte er sich in eine glutäugige Schönheit verliebt, die er mit in seine Heimatstadt gebracht hatte. Wäre Valentin ihm heute in einer der Gassen begegnet, hätte er ihn wohl kaum wiedererkannt.

Der Türmer lächelte verlegen, während er auf Valentin zuging. »Auch wenn ich nicht so ausschaue, mein Junge, so freue mich doch, dich wiederzusehen!« In dem Augenzwinkern, mit dem er den jungen Bader bedachte, blitzte für einen Wimpernschlag seine frühere Lebenslust auf.

»Bitte verzeiht meine Unhöflichkeit, Vater Werner!« Valentin ergriff die ausgestreckten Hände des Mannes. »Ich bin hier, um Euch mit meiner Kunst beizustehen, so gut ich es vermag. Lasst mich am besten gleich nach Eurer Tochter sehen!«

Werner nickte dankbar und führte ihn in die Schlafkammer, die durch eine Bretterwand von Stube und Küche getrennt war.

Lene lag mit dem Rücken zur Tür in dem großen Kastenbett, das fast den gesamten Raum einnahm. Valentin erblickte zunächst nur ihr blondes Haar, dessen lange Strähnen der Schweiß dunkel gefärbt hatte. Das Mädchen schien zu schlafen, doch sein schmaler Körper bewegte sich unruhig unter dem Laken. Valentin ließ den Riemen des Instrumentenkastens von der Schulter gleiten und suchte nach den Kräutern, die er benötigen würde.

Aus dem angrenzenden Raum kam indes Jörg, der mittlere Sohn des Türmers. Sein rundes Gesicht wirkte bekümmert, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Als Valentin ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war er noch ein kleiner frecher Lümmel gewesen. Inzwischen war er zu einem breitschultrigen jungen Mann mit langen Armen und kräftigem Brustkorb herangewachsen. Weder seine gedrungene Gestalt noch das braune Haar, das wie ein dichter Pelz auf seinem Kopf wucherte, erinnerten an seine Geschwister. Jörg schlug ganz nach seinem Vater.

Er nickte Valentin zu. »Was können wir tun, um Lene zu helfen?«, fragte er, ohne sich weiter mit einer Begrüßung aufzuhalten.

»Das ist Tausendgüldenkraut.« Valentin hielt dem jungen Türmer ein Leinensäckchen hin. »Gib die Hälfte davon in einen Topf und gieß Wasser hinzu. Lass es eine Weile sieden.« Dann trat er an das Bett. »Lene?« Das Mädchen schlug die Augen auf. Lene wirkte benommen, das zarte Gesicht war schweißnass und stark gerötet. »Ich bin Valentin, der Bader«, sagte er und lächelte sie an. »Dein Vater hat nach mir geschickt, damit ich dich untersuche. Ich werde dabei vorsichtig sein, das verspreche ich dir!« Sanft griff er nach Lenes Hand, um ihren Puls zu fühlen. Anschließend begutachtete er Hals, Achselhöhlen und Leistenbeugen des Kindes, an denen sich bereits zwei verräterische Schwellungen zeigten.

»Es ist die Pest, nicht wahr?«, fragte Werner, als Valentin in die Küche zurückkam.

Als Valentin nickte, sank der Türmer auf die hölzerne Bank und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe schon mein Weib, die Ursula und meinen Jüngsten verloren. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich zuschauen müsste, wie mir ein weiteres Kind unter den Händen wegstirbt«, flüsterte er.

Valentin legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich werde mein Bestes tun, um das zu verhindern«, sagte er. »Vor allem müssen wir das Fieber senken. Dabei hilft der Aufguss aus Tausendgüldenkraut. Außerdem werde ich sie mit kaltem Wasser waschen und Essigumschläge machen. Die müsst Ihr dann stündlich wechseln, so lange, bis das Fieber nachlässt.«

»Ich habe gehört, die Dominikaner am Brüdertor hätten ihr Infirmarium wegen der Pest auch für bedürftige Kranke aus der Stadt geöffnet. Vielleicht können wir sie dort hinbringen«, schlug Jörg vor, der am Herd hantierte.

»Besser nicht!« Valentin schüttelte den Kopf. »Lene sollte nicht sehen, wie rings um sie Menschen sterben. Sie braucht jetzt Ruhe und Zuversicht, denn ein heiteres Gemüt ist für ihre Heilung ebenso wichtig wie der Beistand unseres Herrn. Wenn Ihr es schafft, sie in ihrer vertrauten Umgebung zu pflegen, gibt es zumindest Hoffnung, dass sie dem Schwarzen Tod widersteht.«

Vater und Sohn wechselten einen unsicheren Blick, dann seufzte der alte Türmer schwer. »Wir sollten auf das hören, was Valentin rät, und außerdem darauf vertrauen, dass der Herr uns nach allen Prüfungen endlich Gnade gewährt.«

»Ich werde täglich heraufkommen, um nach ihr zu schauen«, versprach Valentin. »Scheut Euch nicht, nach mir zu schicken, falls sich ihr Zustand verschlechtert, sei es bei Tag oder in der Nacht!«

Der Türmer nickte, und Valentin ging wieder nach nebenan, um das Kind mit kaltem Wasser zu waschen, das er mit Kräuteressig vermischt hatte. Nach einer Weile hob das Mädchen den Kopf und sah ihn aus fiebrig glänzenden Augen an.

»Weißt du, dass meine Schwester Ursel die Erste in der Stadt war, die an der Pest gestorben ist?«

»Magst du mir davon erzählen?«

»Nein. Aber jetzt sagen alle, unsere Ursel wäre schuld daran, dass seitdem so viele Menschen gestorben sind«, flüsterte Lene.

Bevor Valentin etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Einen Liebsten soll sie gehabt haben, einen Kaufmann aus Ungarn. Und weil sie ihm untreu gewesen wäre, hätte er ihr aus Rache ein Tuch geschenkt, das einer Toten gehörte. Einer, die der Schwarze Tod geholt hat.« Sie schniefte. »Dabei ist kein Wort davon wahr!«

Valentin schluckte. Wie Urs hatte auch dessen Zwillingsschwester die feurigen Augen und schwarzen Locken ihrer Mutter geerbt, dazu ein hinreißendes Lächeln und den kecken Schwung der Hüften. Verlockend und beängstigend zugleich hatte ihr fremdes Aussehen auf die Menschen in der Stadt gewirkt.

Valentin merkte, dass Lene noch immer auf eine Reaktion von ihm wartete. Er griff nach dem Kräuteraufguss, den Jörg mittlerweile zubereitet hatte.

»Es ist nun einmal so, dass die meisten Menschen einen Schuldigen suchen, wenn etwas geschieht, das sie nicht begreifen oder beeinflussen können.« Er bemühte sich, ruhig und sicher zu klingen. »Das macht ihnen Angst, verstehst du?«

»Aber meine Schwester hat doch keiner Menschenseele etwas zuleide getan«, sagte Lene. »Und außerdem ist sie schon tot!« Sie reckte den dünnen Hals und richtete ihre großen dunklen Augen, die denen ihrer Schwester glichen, auf den Bader. »Muss ich jetzt auch sterben?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erwiderte Valentin mit aller Zuversicht, die er aufbringen konnte. Behutsam hielt er ihr den Becher an die Lippen und sorgte dafür, dass sie ihn vollständig leerte.

Dann strich er ihr das feuchte Haar aus der Stirn und wartete darauf, dass der Trank seine Wirkung entfalten würde. Dabei stiegen Erinnerungen in ihm auf an die Stunden, die er hier oben im Kreis der Türmerfamilie verbracht hatte. Sie füllten sein Herz zu gleichen Teilen mit Süße und Bitternis, bis Tränen in den Becher tropften, den er noch immer in der Hand hielt. Glücklicherweise merkte Lene nichts davon, denn ihre Augen waren wieder zugefallen. Valentin überzeugte sich, dass ihr Atem ruhig ging und ihr Puls kräftig schlug, und verließ die Kammer.