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Eine junge Frau begibt sich während des Siebenjährigen Krieges in große Gefahr, als sie ohne männlichen Schutz durch den Harz reist, um ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit ihres Vaters zu lösen. Auch der Dichter Goethe durchstreift in diesem Buch das Mittelgebirge auf der Suche nach mineralogischen Funden und kleinen Liebesabenteuern, um der sittenstrengen Enge des Weimarer Fürstenhofes zu entfliehen. Goethes Auseinandersetzung mit dem Thema der Kindstötung und seine Begegnungen mit einfachen Harzer Frauen könnten ihn durchaus inspiriert haben, die Gretchentragödie FAUST zu verfassen. Ein tolles Buch, das den Versuch unternimmt, eine der ganz schwarzen Zeiten des Harzes aus der Sicht der einfachen Frauen darzustellen. Der Versuch ist hervorragend gelungen, denn bei aller literarischen Freiheit eines Historienromans werden eine Menge Geschichtsquellen und auch moderne Analysen verwendet. Diese Art von feministischer Beschreibung der Harzer Frauen hat es im Genre Harzliteratur noch nicht gegeben. Dr. Stefan Cramer, Harzer Montangeologe
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Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2020
Eine junge Frau begibt sich während des Siebenjährigen Krieges in große Gefahr, als sie ohne männlichen Schutz durch den Harz reist, um ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit ihres Vaters zu lösen. Auch der Dichter Goethe durchstreift in diesem Buch das Mittelgebirge auf der Suche nach mineralogischen Funden und kleinen Liebesabenteuern, um der sittenstrengen Enge des Weimarer Fürstenhofes zu entfliehen. Goethes Auseinandersetzung mit dem Thema der Kindstötung und seine Begegnungen mit einfachen Harzer Frauen könnten ihn durchaus inspiriert haben, die Gretchentragödie FAUST zu verfassen.
Barbara Ehrt studierte Erziehungswissenschaften und Kunst in Berlin, Kassel und Marburg, arbeitete als Pädagogin in Amsterdam und Goslar, schrieb für Zeitungen, malte, betrieb für kurze Zeit eine Kunstgalerie und schlug sich in Notzeiten mit allerlei Gelegenheitsjobs durch. Schauplatz ihrer Bücher, die sie gern selbst herausgibt, ist der Harz. Sie ist Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband (FDA) und im Verband deutscher Schriftsteller(VS).
Der Venediger
Die Tote im alten Schacht
Skurriles zwischen Himmel und Harz
Das Herz des Kaisers - Die Magd vom Bodfeld
Eine kleine Geschichte des Harzes
Ein zwölfter Kaiser im Huldigungssaal? (in: Unser Harz, 2014)
Die Kapelle St. Ulrich in der Goslar Pfalz (in: Unser Harz, 2019)
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
Johann Wolfgang von Goethe, Faust
Im 18. Jahrhundert blieb auch das Harzgebirge von den sinnlosen Schlachten des siebenjährigen Krieges nicht verschont. Während die Habsburger Kaiserin Maria Theresia noch darum kämpfte, ihre österreichischen und böhmischen Erblande gegen die ungerechtfertigten Ansprüche anderer deutscher Fürsten zu verteidigen, marschierte der junge Preußenkönig Friedrich II., den man später Friedrich den Großen nennen würde, in das zur böhmischen Krone gehörende Schlesien ein und bescherte Europa die beiden „Schlesischen Kriege“ (1740/42, 1744/45), aus denen Jahre danach der Siebenjährige Krieg erwuchs.
Für die damalige Zeit ganz selbstverständlich, bediente sich Friedrich II. seiner Leibeigenen und Hörigen, um sein Territorium kämpfend zu erweitern und Preußen in eine Großmacht zu verwandeln. Auf dem Rücken der Zivilbevölkerung wurden grausame Schlachten ausgetragen. Unzählige farbenprächtig uniformierte Regimenter aus verschiedenen Fürstentümern und Königreichen wälzten sich von 1756 bis 1763 kämpfend, brandschatzend und plündernd durch Europa. Die Heere besetzten strategisch wichtige Städte des jeweiligen Feindes und quälten die Zivilbevölkerung bis aufs Blut, indem sie die Ernten beschlagnahmten oder verbrannten und erbarmungslos überhöhte Geldforderungen für die Versorgung des Militärs stellten.
Das Königreich Preußen, dessen Machthunger Millionen von Menschen zum Opfer fielen, konnte zwar am Ende des Siebenjährigen Krieges die widerrechtlich eingenommene Provinz Schlesien zu seinem Herrschaftsgebiet zählen, die Regionen jedoch, in denen die verfeindeten Mächte aufeinander geprallt waren, lagen verwüstet, verarmt und ausgeraubt am Boden. Für die abertausende von Kriegswitwen sanken die Überlebenschancen so tief, dass selbst die Bettelei sie und ihre Kinder nicht mehr ernähren konnte und Prostitution war dann ein selten freiwillig gewählter Ausweg.
MAGDALENE
Geheimnisse
Aufbruch
Einsamkeit
Schatten des Todes
Hoffnung
Maske des Bösen
LENA
Elias wandert in den Harz
Markttag in Goslar
Lena
Die Glockenmühle im Granetal
Der Auerhahn
Magdalene Bindseils Vermächtnis
Goethes Flucht aus Weimar
Goethe in Zellerfeld
Waldeinsamkeit
Lena und Elias
Goethe und Lena im Wald
In der Mühle
Die kursiv gedruckten Zitate unter den Überschriften sind von Johann Wolfgang von Goethe
Trage die Hoffnung stets im Gepäck...
Magdalene Koch saß in der Wohnstube ihres Hauses und blickte versonnen in die Glut des Ofens. Sie machte sich Sorgen um die Zukunft, denn auf dem ausgezehrten Gesicht ihres kranken Vaters hatten sich schon die Schatten des Todes niedergelassen. Die Lebenszeit des ehemaligen Bergdirektors von Straßberg, Zacharias Koch, würde wohl bald ein Ende nehmen, hinfällig lag der alte Mann auf dem Bett und das Geräusch seines trockenen Hustens vermischte sich mit dem Knistern und Prasseln verbrennender Holzscheite. Der Winter hatte den Harz unter einer hohen Schneedecke begraben und mehrmals täglich musste die junge Frau einen schmalen Gang freischaufeln, um die Haustür öffnen zu können.
Durch die zugeschneiten Fenster drang milchiges Licht, das abends in völlige Dunkelheit überging. Der eiskalte Winter des Jahres 1761 schloss die Menschen in ihren Häusern ein und zwang sie zur Untätigkeit. Magdalene verkürzte sich die endlosen Stunden des Wartens auf den Frühling mit kleinen Ausflügen in die Welt der Erinnerung. Sie war einsam. Ihr Vater hüllte sich in das übliche verbitterte Schweigen, das sie bereits als kleines Mädchen kennengelernt hatte. Schon damals wurden ihre kindlich neugierigen Fragen nur mit verärgerten Blicken beantwortet. Seitdem vermied sie es, den Vater mit persönlichen Dingen zu belästigen.
Sie lauschte. Draußen war es totenstill. Der jetzt so verlassen wirkende Ort im Selketal, in dem sie geboren und aufgewachsen war, beherbergte einst zahllose Bergleute mitsamt ihren großen lärmenden Familien. Voller Stolz hatte ihr die Mutter erzählt, dass die gerade erbaute Steinkirche hoffnungslos überfüllt war, weil so viele dankbare Menschen miterleben wollten, wie man die einzige Tochter ihres Bergdirektors zur Taufe trug. Das Gotteshaus war erst zwei Monate vor ihrer Geburt eingeweiht worden und zu diesem feierlichen Anlass hatte sich sogar Graf Christoph Friedrich von Stolberg die Ehre gegeben.
Damals befand sich der Bergbau dank Zacharias Koch in seiner Hochblüte und als Dank für seine Verdienste überreichte ihm der Graf einen Prunkbecher aus heimischem Silber, verziert mit einer Widmung, dem gräflichen Wappen und kostbaren Edelsteinen. Magdalene durfte die ausgesprochen kunstvolle Arbeit eines Stolberger Silberschmiedes nur ein einziges Mal betrachten, dann war sie für immer in der großen Holztruhe verschwunden.
Eine so ehrenvolle Auszeichnung wurde natürlich nicht ohne Grund verliehen. Wie besessen hatte Zacharias Koch seine gesamte Kraft dem Straßberger Bergbau gewidmet. Silber, Kupfer, Blei und Flussspat wurden unter seiner Anleitung zu Tage gefördert, Wohlstand breitete sich aus und Reichtümer füllten die gräfliche Kasse. Daraufhin ernannte das Stolberger Grafenhaus den vielversprechenden jungen Mann trotz seines niederen Standes zum gräflichen Bergdirektor und unterstellte ihm damit das gesamte Bergbaurevier. Ein unerhörter Akt der Anerkennung! Der neue Bergdirektor tat viel Gutes für die notleidende Bevölkerung. Er setzte durch, dass die Frauen verunglückter Bergleute einen Zehrpfennig erhielten und für Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, ließ er ein Waisenhaus errichten. Obendrein entlohnte er die Bergleute besser und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, dass man im Straßberger Revier für denselben Lohn nur eine Schicht von acht Stunden ableisten musste, während anderswo zwölf Stunden oder mehr unter Tage geschuftet wurde.
Viele neugierige Adlige aus benachbarten Fürstentümern stellten sich ein, um das vortreffliche Verschmelzen des Silbers, die riesigen Hochöfen, die kunstvoll angelegten Teichdämme, die rumpelnden Kunsträder und die endlos langen Wassergräben aus der Nähe zu bestaunen. Für all das hatte Magdalenes Vater, ein unbedeutender Markscheider, gesorgt. Oft hatte sie sich gefragt, woher er wohl seine überragenden Kenntnisse genommen hatte. Der verschlossene Mann sprach nämlich nie über seine Herkunft.
Traurig erinnerte sie sich an ihre unbeschwerten Kindheitsjahre, die mit dem Tod der Mutter und dem Bankrott des Vaters geendet hatten. Nicht nur seine Kunstfertigkeiten, auch seine Einkünfte hatte Koch in die Finanzierung des Bergbaus gesteckt und nachdem der Silbersegen eines Tages ausgeblieben war, musste man feststellen, dass die vergebliche Suche nach immer neuen Erzgängen sein gesamtes Vermögen aufgebraucht hatte. Der Reichtum des Bergdirektors war in ganz aussichtslose Projekte hineingeflossen und einen letzten Rest seiner Ersparnisse hatte der Neubau einer Lehranstalt für das Bergwesen verschlungen. Wider alle Vernunft hoffte Zacharias Koch darauf, ein paar Zuschüsse aus der gräflichen Kasse zu erhalten, doch der ebenfalls hochverschuldete Landesherr dachte nicht daran, seinem Bergdirektor zu Hilfe zu eilen, um wenigstens das kostbare Wissen um die Silbermetallurgie vor dem Untergang zu bewahren! Enttäuschung machte sich breit und eine Familie nach der anderen kehrte Straßberg den Rücken.
Zacharias Koch zog sich verbittert und beschämt von all seinen Ämtern zurück und bald vermied er sogar, das Haus zu verlassen. Die Neider und Feinde des Bergdirektors, die bisher wegen seiner Erfolge ängstlich den Mund gehalten hatten, zeigten nun unverhüllt ihren Hass auf den zugereisten Emporkömmling und der einst so fröhliche Ort glich mehr und mehr einer beklemmenden Totenstadt. Von den fünfhundert Bergleuten war kaum ein Dutzend geblieben und Magdalene ahnte, dass auch sie keine Heimat mehr besaß. Ihr stattliches Haus war mit einer Hypothek belastet und nach dem Tod des Vaters würde der Familienbesitz einem Kaufmann aus Stiege gehören, der nur darauf wartete, das ansehnliche Gebäude endlich beziehen zu können.
Wehmütig dachte sie an ihre Mutter, Margarethe Bindseil, von der sie viel über das Leben im Wald gelernt hatte. Sie war die jüngste Tochter eines Köhlers gewesen und hatte mehr im Wald als im Haus gelebt. Schon früh am Morgen machte sie sich auf und wanderte umher, um nach süßen Beeren oder seltenen Kräutern zu suchen, die sie in einem geflochtenen Korb auf dem Rükken verstaute. Gern nahm sie die Tochter mit auf ihre ausgedehnten Streifzüge und brachte ihr bei, wie man mit Schlagstein und Zunder ein Feuer entfachte, essbare Pilze erkannte und aus Holunderbeeren süßen Saft herstellte. Magdalene konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie auf dem Waldboden gehockt und Fische gebraten hatten oder hungrig in den verbeulten Topf mit Suppe starrten, der über den Flammen appetitliche Düfte verbreitete. Margarete Bindseil unterhielt die kleine Tochter auch gern mit schauerlich schönen Sagen von venezianischen Goldsuchern, listigen Zwergen und verschlagenen Bergmönchen. Wenn sie dann in der Dämmerung singend den Heimweg antraten, erkannte das Kind in jedem Baumstumpf verzauberte Frauen oder sah den gefährlichen Schlangenkönig aus einer Wurzel kriechen. Ängstlich hielt sie die Hand der Mutter umklammert.
Am liebsten besuchten sie den Großvater Matthias Bindseil, der mit anderen Köhlern am Waldrand bei den Sargwiesen hauste und Holzkohle für die Schmelzhütten brannte. Über den nur noch spärlich vorhandenen Bäumen stiegen riesige weiße Qualmwolken auf und schon von weitem wurden sie von den rußverschmierten schwarzen Gesellen lärmend begrüßt. Die dunkel verfärbten Gesichter waren Magdalene zuerst unheimlich gewesen, aber bald liebte sie die gutmütigen Männer und ließ sich stundenlang zwischen den brennenden Kohlenmeilern umhertragen.
Mit langen Stangen stocherten die hageren Kerle geschickt in den kunstvoll aufgeschichteten Holzhaufen und eilten von einem Meiler zum anderen, damit am Ende eine gute Kohle entstand. Während sie ihre Runden drehten, stießen sie fröhliche Jodler aus und nur wenn die aufgeschichteten Stapel gleichmäßig schwelten, versammelten sie sich an der Feuerstelle, um ihre geliebte Köhlersuppe zuzubereiten. Der mit Wasser gefüllte Topf kam an den Haken, hungrig warf Matthias Bindseil den mitgebrachten Rindertalg hinein, Schwarzbrot, Salz und Zwiebeln folgten und fertig war die Köhlersuppe. Nach dem Essen saßen die Männer dicht gedrängt auf wackligen Holzbänken, sangen wehmütige Lieder und tranken bis spät in die Nacht hinein aus großen Krügen Branntwein und Bier. Wenn der Himmel mit funkelnden Sternen übersät war, kehrte Magdalene mit der Mutter zurück in die Siedlung und die Männer legten sich zum Schlafen nieder. Am anderen Morgen versäumte der Großvater nie, ihnen einen Gruß zu senden. Mit dem Holzhammer schlug er gegen ein schweres Holzbrett, das an einer Schnur baumelte und die wunderbar melodischen Klänge der Hillebille ertönten bis weit in den Ort hinein.
Eines Tages hatte sich die Mutter verirrt und am Rand eines staubigen Fahrweges waren sie ratlos stehen geblieben. Lautes Gebrüll, quietschende Räder und der scharfe Ton von knallenden Peitschen geboten ihnen, im Schutz der Bäume zu verharren. Sie hatten die „Kohlenstraße“ erreicht, einen der großen Handelswege, auf dem Holzkohle ins Mansfelder Land transportiert wurde. Endlose Kolonnen schwer beladener Fuhrwerke quälten sich auf steinigen, tief eingegrabenen Wagenspuren entlang und immer wieder geschah es, dass ein Pferdegespann stekken blieb.
Sie hörten wütendes Gebrüll, sahen wiehernde Hengste mit schäumenden Nüstern und schreiende Fuhrknechte, die mit knallenden Peitschen und Schlägen die mageren Tiere so lange antrieben, bis es gelang, die eingesunkenen Räder wieder frei zu bekommen. Magdalene hatte sich ängstlich an ihre Mutter geklammert und den Kopf in ihre Rockfalten gedrückt. Bestürzt ließen sie den trostlosen Anblick hinter sich, liefen in den Wald zurück und überquerten eine sonnenbeschienene Lichtung.
Als Margarethe Bindseil, der Weisung ihres Vaters gehorchend, mit Zacharias Koch den Bund der Ehe einging, ahnte sie nicht, dass sie eines Tages die Ehefrau eines hohen Bergbediensteten sein würde. Wer weiß, ob sie ihn sonst geheiratet hätte, denn sie verabscheute die gesitteten Tischmanieren, das höfliche Plaudern mit Gästen und das lange Sitzen im Haus. Im Gegensatz zu ihrem beständigen Vater hatte Magdalenes Mutter ein unruhiges Gemüt und mehrmals im Jahr zog sie aus, um auf den Märkten in Nordhausen oder Wernigerode einzukaufen. Zacharias Koch sah das nicht gern, er fand, dass es für eine Frau ihres Standes unpassend sei, solche Arbeiten zu tun und es gab oft Streit deswegen. Auch verlangte er, dass seine Tochter zur Schule gehen sollte und schäumte vor Wut, wenn Magdalene wieder einmal den Unterricht versäumt hatte, weil sie mit der Mutter im Wald verschwunden war. Forderte er eine Erklärung, dann behauptete Margarete starrsinnig, sie sei eben die Tochter eines Köhlers und ihre Beine müssten laufen. Wie sollte sie da zu Hause sitzen und vornehm tun?
In dieser Zeit erwartete die Mutter ein weiteres Kind. Während der gesamten Schwangerschaft ließ sie sich nicht davon abhalten, ihre ausgedehnten Streifzüge zu unternehmen und in Magdalenes Erinnerung waren dies die schönsten Erlebnisse, die sie mit der Mutter geteilt hatte.
Vollkommen unerwartet trafen sie die mitleidigen Blicke des Arztes und der Hauslehrerin, die mit ernsten Mienen umhergingen und ihr mitteilten, dass die Mutter nun im Himmel sei. Fassungslos starrte das Kind durch den Türspalt auf die im Bett liegende bleiche Frau. Nur dieses eine Mal nahm der Vater sie für einen kurzen Augenblick in seine Arme, hielt sie fest und flüsterte ihr zu, dass nicht nur die Mutter, sondern auch das Neugeborene verstorben waren.
Nun wirkte das Haus dunkel, kalt und leer. Magdalene war, als sei ein heller Schein, der warm und schützend auf ihrem Leben geruht hatte, erloschen. Schon nach wenigen Monaten gelang es ihr kaum noch, sich an die Mutter zu erinnern. Sie hatte aber nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater verloren, denn dessen Lebenswille erlosch nach dem Tod seiner Frau wie ein verglimmender Docht. Wortkarg verschlang er seine Mahlzeiten und versuchte mit Branntwein, dem Seelenräuber, das tiefe Schwarz abzuwehren, welches seine Seele zu verschlingen drohte. Magdalene begann sich vor ihm zu fürchten.
Schon zu Lebzeiten der Mutter hatte Zacharias Koch eine Hauslehrerin angestellt, um dem Mädchen zusätzlich zum einfachen Lehrprogramm der Dorfschule etwas Bildung angedeihen zu lassen und Friederike Seidensticker, eine ältere, kinderlose Pfarrwitwe, bewohnte die kleine Stube im Obergeschoss. Margarethe hatte sich gegen diese Entscheidung gesträubt und war der gebildeten Frau verlegen lächelnd aus dem Weg gegangen.
Sie schämte sich, weil sie weder schreiben noch lesen konnte und ihre Kenntnisse von Pflanzen und Natur so wenig geschätzt wurden. Magdalene wäre auch viel lieber durch den Wald gelaufen, anstatt mit der Lehrerin in der Stube zu sitzen und Mathematik, Französisch und Latein zu lernen. Doch nach dem plötzlichen Tod der Mutter erwies sich Friederike als eine nachsichtige und kluge Erzieherin und umgab die Halbwaise mit liebevoller Fürsorge. Sie erlaubte Magdalene sogar, ganz allein die nähere Umgebung zu durchstreifen und tief in ihrem Herzen bewahrte das Kind die Erinnerung an alles, was die verstorbene Mutter sie gelehrt hatte.
Magdalene zuckte zusammen. Das erstickte Husten des Vaters holte sie unsanft in die Gegenwart zurück und sie beschloss, ihm etwas Tee zu bereiten. Sie füllte draußen vor der Tür Schnee in einen Topf, stellte ihn auf den Herd, übergoss eine Mischung aus heilkräftigen Kräutern mit kochendem Wasser und verstärkte die Wirkung der Kräuter mit einem gehörigen Schuss Branntwein. Der alte Mann war in den letzten Wintermonaten ganz klein zusammengeschrumpft, die Haut schimmerte durchsichtig, und kraftlos lagen die dünnen Finger auf der groben Wolldecke.
Behutsam hob sie seinen Kopf ein wenig an und schlürfend trank er die heiße Flüssigkeit, deren Wirkung ihn zu ermuntern schien. Mit zittrigen Fingern deutete er auf eine alte Holztruhe und wisperte kaum hörbar. „Ich fühle, dass mein Ende bald kommt und es wird mir schwer, dich ganz allein zu wissen. Mein gesamtes Geld hat das Bergwerk verschlungen, aber ich will dir doch etwas mit auf den Weg geben. Öffne die Truhe, Magdalene, und suche den Silberkelch heraus. Der Schlüssel liegt unter dem Dielenbrett neben der Wand.“
Den Deckel der riesigen dunklen Truhe mit den eisernen Beschlägen durfte nur Zacharias Koch anheben, nicht einmal die Mutter hatte es gewagt, das Geheimnis ihres Inhaltes zu lüften. Wie begraben lag der kostbare Becher schon seit vielen Jahren in dem aus schweren Eichenbrettern gezimmerten Kasten, der so unnahbar und abweisend wirkte wie ein Sarg. Magdalene folgte den Anweisungen des Alten und fand unter einer losen Bretterbohle den Schlüssel. Sie nahm die Lampe, stellte sie auf einen dreibeinigen Schemel, kniete nieder und öffnete mit Mühe den schweren Deckel.
Die sorgfältig übereinander geschichteten Lagen schneeweißer Wäsche verströmten einen aromatischen Duft nach Fichtenöl und ihre Finger glitten zärtlich über den feinen Stoff. Tiefer und tiefer tastete sie sich nach unten und auf einmal hielt sie das vertrocknete Kränzchen aus geflochtenen Myrtenzweigen in der Hand, welches Margarete Bindseil als junge Braut getragen hatte. Wehmütige Bilder aus früheren Tagen flogen ihr zu. Wie schön und prachtvoll musste die Hochzeit der Eltern gewesen sein! Mehrere Tage lang wurde gefeiert und die Bewohner des ganzen Ortes waren eingeladen, sich satt zu essen und das frisch gebraute Bier zu genießen.
Glücklich und stolz war die junge Braut in das neu erbaute Haus auf dem Pfaffenberg eingezogen und hatte sich in die Rolle einer gehorsamen Ehefrau gefügt. Der Vater drängte sie ungeduldig, mit der Suche fortzufahren und Magdalene riss sich von den Erinnerungen los und kramte weiter zwischen Hemden, Laken, Tüchern und Taufkleidchen, bis sie endlich ganz tief unten in der Truhe einen festen Gegenstand fühlte. Schnell zog sie ihn hervor und betrachtete bewundernd den kunstvoll gearbeiteten silbernen Prunkbecher, dessen Besatz aus Edelsteinen im Licht des Feuers geheimnisvoll funkelte. Der Vater hatte sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet und rief nun freudig aus:
„Geschwind, geschwind, ja, bring ihn her!“
Sie übergab ihm das wertvolle Stück, das reich mit Granaten, Rubinen und Amethysten besetzt war und seine Finger strichen liebevoll über das blinkende Metall. Stolz flüsterte er: „Dieses Gefäß ist ein Geschenk des Herrn Grafen und ist das Wertvollste, was ich noch besitze und wird dir gehören, wenn ich nicht mehr bin.“
Eindringlich blickte er sie an, jedes seiner Worte sollte bedeutungsschwer zu ihr dringen, aber seine Stimme war schon so schwach, dass sie ihren Kopf ganz nah an den seinen halten musste, um ihn zu verstehen.
„Mein Kind, die Zeit ist gekommen, um dir die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit, die in meinem Herzen verborgen lag wie in einer Totengruft. Hör mir zu, Magdalene, hör mir zu! Ich will dir meine Geschichte erzählen! Setz dich, mein Kind, setzt dich zu mir!“
Magdalene zog einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder und nahm seine Hand in die ihre.
„Schwer lastet die Vergangenheit auf meiner Seele und bevor meine Tage zu Ende gehen, muss ich dir ein Geheimnis anvertrauen, das niemand kennt, nicht einmal deine Mutter hat es je erfahren.“
Angstvoll blickten seine Augen in eine ferne Vergangenheit zurück und die Aufregung ließ seine Stimme erzittern.
„Ich bin einen dunklen Weg gegangen, niemand hier weiß das und es soll nun auch niemand mehr erfahren. Ja, ich hüte ein böses Geheimnis! Bevor ich in Straßberg eine neue Heimat gefunden habe, war ich ein rastlos umher wandernder Mann und trug nur meine kräftigen Hände, meinen Verstand und das kostbare Wissen vom Bergbau im Gepäck. Mein Vater war ein Bergmann aus dem sächsischen Marienberg. Er war ein seltsamer Kerl, der immer wieder mit zweifelhaften Rutengängen versuchte, bedeutende Erzvorkommen zu entdecken, aber nie wirklich fündig wurde. Sein Streben nach Anerkennung war groß und die ständigen Misserfolge zermürbten ihn so sehr, dass er schließlich der Trunksucht verfiel, die allmählich sein Gemüt zerfraß. Er war ein widerwärtiger Kerl, der seinen Lohn vertrank, sobald er ihn in die Finger bekam und sich nicht darum scherte, dass Frau und Kinder seinetwegen hungern mussten.
Der Bergbau im Marienberger Revier brachte zu jener Zeit kaum Erträge und nur Wenige gelangten zu Wohlstand. Uns traf das Elend jedoch noch schlimmer als andere Familien, denn wir litten unter unserem nichtsnutzigen Vater, der uns wie ein wildes Tier umlauerte, wenn er zuviel getrunken hatte. Wäre nicht wenigstens ein einziger guter Mensch in meiner Nähe gewesen, auch ich wäre zugrunde gegangen.
Ein alter Berggeschworener, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gestrauchelten Bergleuten beizustehen, nahm sich meiner an und von ihm lernte ich nicht nur lesen und schreiben, sondern er unterrichtete mich auch in den Künsten des Markscheidens, was mir später von großem Nutzen war. Wann immer ich die Zeit finden konnte, lief ich in seine Behausung und studierte mit ihm die alten Bücher über Bergwerkskunde.
So verging meine Jugend. Daheim drangsalierte uns der Vater und scheute sich nicht, der Mutter ohne Grund Schläge und Tritte zu verpassen und mich dabei hämisch anzugrinsen, als würde er sich an meiner hilflosen Ohnmacht weiden. Seine strenge Erziehung hatte bewirkt, dass ich selbst als erwachsener Mann nicht wagte, mich ihm zu widersetzen, doch eines Tages packte mich plötzlich eine nie gekannte Wut und zum ersten Mal erhob ich meine Faust gegen ihn und schlug ihm ins Gesicht. Er fiel zu Boden und brüllte mich mit einem solch wilden Hass an, dass ich fürchtete, er würde nun versuchen, mich zu töten. Aber plötzlich verstummte er, bemühte sich, auf die Beine zu kommen, taumelte mit hängenden Schultern nach draußen und verschwand in der Nacht.
Seither ist er nicht mehr lebend gesehen worden, einige Tage später fand man ihn zerschmettert in einem Schacht und trug seinen verwesenden Leichnam in unsere Hütte. Anstatt der Vorsehung zu danken, von ihrem Peiniger erlöst zu sein, brach die Mutter in entsetzliches Wehgeschrei aus. Sie verfluchte mich, gab mir die Schuld an seinem Tod und schrie und schimpfte, wenn ich nur in ihre Nähe kam.
Sie musste dem Vater wohl ähnlicher gewesen sein, als ich mir vorstellen konnte, denn nun war sein böses und ruheloses Wesen auch in sie gefahren und immer häufiger griff sie zur Branntweinflasche. Wenn ich nicht mein Brot mit ihr geteilt hätte, wäre sie verhungert.
Mein Leben glich dem eines Aussätzigen, denn nach dem seltsamen Tod des Vaters verbreiteten sich allerlei unheimliche Geschichten und man behauptete, sein Geist würde in den Gruben umgehen und den Bergleuten Unglück bringen. Von allen Seiten schlug mir Feindseligkeit und Kälte entgegen und eines Tages erwartete mich die letzte Heimsuchung. Die Mutter lag leblos auf ihrem Lager und ihre weit aufgerissenen Augen starrten mich noch im Tod so böse an, dass ich keine Ruhe mehr finden konnte. Damals hörte man viel von reichen Erzfunden im fernen Harzgebirge und so schnürte ich mein Bündel und kehrte der Heimat den Rücken.“
Der Alte hielt die Augen geschlossen und rang nach Luft. Ein vollkommen hoffnungsloser Ausdruck lag auf seinem Gesicht und Magdalene schüttelte sanft seine Schulter und bot ihm etwas Tee an. Verwirrt blinzelnd richtete er sich auf, nahm einige Schlucke und fuhr gestärkt mit seiner Erzählung fort.
„Ich kam durch viele Gegenden und Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte, versetzten mich in Erstaunen, doch nur die Worte der Bibel gaben mir Halt, denn es ist immer die Weisheit des Allmächtigen, die uns beschützt. Kein Mensch vermag Deinen Fuß vor dem Stolpern zu bewahren!“ Suchend tasteten seine Finger nach ihrer Hand und umschlossen sie fest wie eine Baumwurzel, an die sich ein Ertrinkender klammert. Er tat ihr weh, doch sie wagte nicht, sich zu rühren.
„Nach einer weiten und mühseligen Wanderung kam ich schließlich in den Oberharz, wo man mich als einen des Bergbaus kundigen Sachsen freudig aufnahm. Ich war jung und stark, hatte bereits Erfahrungen im Markscheidewesen erworben und war kein Taugenichts. Bald bekam ich verantwortungsvolle Aufgaben zugewiesen und wurde in Clausthal zum Markscheider bestellt. Nichts erinnerte mehr an das elende Leben, das ich in Marienberg geführt hatte und die schönsten Mädchen der Stadt sahen mich an wie einen, den sie gern zum Manne hätten.
Doch ich ließ mir Zeit mit der Wahl meiner Braut, denn ich wollte nicht mit Frau und Kindern in einer kümmerlichen Mietkammer hausen. Woche für Woche legte ich ein wenig Geld für den Bau eines Hauses beiseite, denn schon bald musste ich feststellen, dass die Löhne der Bergleute wegen der Teuerung von Monat zu Monat weniger wert waren. Hunger und Verdruss schürten den Unmut der Leute und das Bergvolk litt hier wie dort unter der Habgier der Landesherrschaft. Weder Treue noch Fleiß wurden anständig belohnt und immer wieder kam es damals zu Aufständen.“
Magdalene fragte sich, warum er das alles bisher verheimlicht hatte. Sie fühlte sich unwohl und wollte ihre Hand aus der seinen lösen, da packte der Alte mit erstaunlich schnellem Griff zu und hielt sie fest umklammert.
„Eine schreckliche Hungersnot breitete sich aus und die Bergleute begehrten dagegen auf, dass man ihre kargen Löhne nicht erhöhte. Überall brodelte und kochte es und im Oberharz rückten sogar Musketiere an, um die aufgebrachte Menge zu zerschlagen.“
Magdalene wünschte, er würde sich darauf beschränken, ihr die Gründe für seine Heimlichtuerei zu offenbaren und Bitterkeit stieg in ihr auf, als sie feststellte, wie viel er von der Welt gesehen hatte, während er ihr nicht einmal erlaubt hatte, bis nach Stolberg zu reisen.
„Für mich hätte damals alles gut sein können, meine Ersparnisse vermehrten sich und mein Lebensmut war zurückgekehrt. Doch das Verderben war mir gefolgt und etwas von dem bösen Geist des Vaters war auch in mich hineingefahren. Anstatt mir ein Weib zu suchen, das brav und fromm einem Manne ergeben ist, entbrannte mein Herz für Susanna, deren Vater im düsteren Tal der Grane bei den Hahnenkleer Gruben eine Mahlmühle betrieb.
Die einsam gelegene Glockenmühle hatte dem Ehepaar Voigtländer einen ansehnlichen Wohlstand eingebracht und zum Stolz der Eltern war die einzige Tochter zu einer wahren Schönheit herangewachsen. Gutmütig und nachgiebig ließen sie dem Kind alles durchgehen und ihr übertriebenes Wohlwollen machte das Mädchen zu einem unberechenbaren, herausfordernden Geschöpf. Davon ahnte ich damals noch nichts, denn als ich sie zum ersten Mal erblickte, fuhr das Verlangen nach ihrem Körper in mich hinein wie ein Blitzschlag.
Susanna hatte auf dem Markt von Zellerfeld einen Stand und verkaufte dort geräuchertes Fleisch, Branntwein und Würste. Um sie herum lungerten etliche Burschen, starrten sie begehrlich an, flüsterten und lachten, riefen ihr etwas zu und schäkerten mit ihr, als sei sie die Königin von Saba. Susanna schien es zu gefallen, denn sie brachte überdeutlich zum Ausdruck, wie sehr sie die Verehrung der Burschen entzückte. Kichernd und gurrend ließ sie ihre Blicke umherschweifen und liebäugelte mit jedem Mann, ob er nun jung war oder alt.
Obwohl sie sich in einer Weise benahm, die keinem anständigen Mann gefallen konnte, raubte mir ihr Anblick den Verstand. Sie war das schönste Geschöpf, das ich bis dahin gesehen hatte! Ihr beinahe schwarzes Haar, die rehbraunen Augen und die roten Lippen gaukelten mir vor, dieses Mädchen sei von Gott einzig für mich geschaffen worden.
Immer wieder besuchte ich ihre Eltern, warb um sie und hätte ohne zu zögern um ihre Hand angehalten, aber meine Ersparnisse erlaubten mir nicht, eine Familie zu gründen. Ich war unerfahren mit den Weibern und bald war ich besessen von Susanna, von morgens bis abends rief ich mir ihre Anmut und ihren Liebreiz ins Gedächtnis und fieberte der nächsten Begegnung entgegen.
Doch nicht nur ich, sondern auch viele andere Männer verzehrten sich nach ihr und ihr ungebührliches Verhalten entfachte den Neid der unbescholtenen Bürgertöchter in den umliegenden Bergstädten. Man munkelte viel Schlechtes über sie, aber ich war ihr so ergeben, dass ich es als dummes Geschwätz abtat. Zu meiner großen Verwunderung schien Susanna mir sogar zugetan zu sein, denn als ich sie bat, mir ihre Gunst zu schenken, willigte sie ein und seitdem trafen wir uns heimlich an entlegenen Orten im Wald.
Wie ich bald feststellte, kannte das Mädchen keine Scham, unbekümmert bot sie ihren Körper an und gab mir dabei zu verstehen, dass ihre Liebe einen Preis habe. Niemals durfte ich ohne ein kostbares Geschenk auf sie warten und so verlor ich allmählich wieder mein sauer erspartes Geld.“
Das Gesicht des Alten war fiebrig gerötet und auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißperlen. Auch Magdalenes Wangen glühten vor Verlegenheit. Noch nie hatte ein Mensch so offenherzig zu ihr gesprochen und ganz fremdartige Empfindungen flogen durch sie hindurch und ließen sie erschauern. Wie wenig wusste sie von der Welt außerhalb ihrer Familie!
Nach ihrer Firmung hatte sie beschlossen, ein Gott gefälliges, einsames Dasein zu führen und seither lebte sie wie hinter Klostermauern und verließ nur selten das Haus. Die kindlichen Streifzüge in die Natur musste sie nach dem Tod von Friederike Seidensticker aufgeben und seitdem verlief ihr Leben ganz abgeschieden.
Der Vater hatte sie einige Male ermuntert, ihm mit einer Handarbeit Gesellschaft zu leisten, wenn er sich in seine Bücher vertiefte, doch die Anwesenheit seiner Tochter machte ihn verlegen und bald nahmen sie nur noch die Mahlzeiten gemeinsam ein.
Nach all den Jahren des Schweigens überfiel er seine Tochter nun mit Bekenntnissen, die einer Beichte glichen und gewiss nicht für die Ohren eines unerfahrenen Mädchens bestimmt waren. Und doch wartete sie begierig auf die Fortsetzung seiner Rede, denn ihr schien, als würde eine Tür aufgetan, durch die sie der Ausweglosigkeit ihrer jetzigen Lage entrinnen könnte.
Der Alte leckte mit der Zunge über die trockenen Lippen und stöhnte gequält auf.
„Unbezähmbar war mein Verlangen nach ihrem Körper, denn die Susanna hatte mich in ihren Bann gezogen. Nur sie und keine andere wollte ich haben und ich redete mir ein, sie sei eine anständige, gute und brave Frau. Ich wohnte damals mit anderen Mietlingen im Haus einer Witwe und hatte jeden Groschen beiseite gelegt, um den Wünschen Susannas nach einer angemessenen Haushaltung so bald wie möglich entsprechen zu können.
Ihre Forderungen spornten mich an und lähmten mich zugleich, denn wie sollte ich so schnell reich werden, wie meine Begierde nach ihr wuchs? Liebe macht taub und blind und ich wusste nicht, dass sie nur ihre unersättliche Lust an mir stillte. Während sie sich mit Geschenken überhäufen ließ, dachte sie keine Sekunde daran, mir ihr Jawort zu geben. So nahm das Verhängnis seinen Lauf. Für unsere Zusammenkünfte gab es nur einen Ort, an dem wir ungestört sein konnten und das war die freie Natur. Wir trafen uns heimlich, wie es damals viele junge Leute taten, und ich verzehrte mich nach den Tagen, an denen ich mich an ihrem Körper erfreuen durfte. Meine Geschenke riss sie bei unseren Treffen begehrlich an sich und verstaute sie ohne Dank in ihren Taschen. Waren wir unbeobachtet, knotete sie ihr Mieder auf und wir legten uns auf den Boden.“
Im Aussehen des Vaters hatte sich eine Wandlung vollzogen, er ähnelte wieder dem jungen Burschen, dessen erstes Liebeswerben einen so verhängnisvollen Lauf zu nehmen schien und die berauschenden Erinnerungen verwischten die Spuren des Alters. Ein seltsames Lächeln umspielte seine verhärmten Züge, als er mit geschlossenen Augen fortfuhr:
„Sie mochte es gern, sich rittlings auf mich zu setzen und dabei fiel ihr Haar wie ein schwarzer Seidenvorhang über ihre nackten, weißen Schultern. Bis dahin hatte ich nicht einmal geahnt, dass ein Weib soviel Verlangen empfinden konnte! Während ich mich daran gewöhnte, durch ihre Hände und ihren Körper Genüsse zu erfahren, die mein Blut zum Kochen brachten, schien sie sich mehr und mehr mit mir zu langweilen. Sie ließ mich fühlen, wie wenig ihr meine Zuneigung bedeutete und dass viele andere, wohlhabendere Männer um sie warben.
Spöttisch erinnerte sie mich daran, dass es mir noch immer nicht gelungen war, einen eigenen Hausstand zu gründen und drohte, sie wolle nicht länger meine Liebste sein, wenn ich ihr nicht bald ermöglichen würde, ihrem Dasein als Tochter eines gering geachteten Müllers zu entfliehen. Sie schürte meine Eifersucht und hielt unverblümt Ausschau nach anderen Männern. Es lag wohl in ihrer Natur, einen Mann zu quälen wie eine Katze die Maus.
Natürlich befürchtete ich schon lange, nicht der einzige zu sein, dem sie ihre Zuneigung schenkte, doch ich konnte meine trügerischen Hoffnungen nicht aufgeben. Eines Tages traf ein vornehmer Fremder in Zellerfeld ein, während Susanna auf dem Markt ihre Räucherwaren feilbot. Zufällig stand ich an jenem Tag wartend und hoffend neben ihr und konnte unschwer erkennen, dass er von ihrer Schönheit auf der Stelle vollkommen hingerissen war. Er stieg vom Pferd, schritt zielstrebig auf sie zu, zog seinen Hut und begrüßte sie ehrerbietig. Die elegante Kleidung wies ihn als einen reichen Herren aus und es schien, als habe sie immer nur auf diesen Tag gewartet.
Als ich bemerkte, mit welcher Hingabe sie sich dem Fremden zuwandte, sank mein Herz und ich hätte mich entfernen sollen, doch ich hatte meinen Stolz ganz und gar verloren. Flehend blickte ich sie an und bettelte, sie solle doch am Abend auf mich warten.
Ich muss einen wahrhaft kümmerlichen Anblick geboten haben, denn sie tat so, als sei ich nur eine lästige Fliege und gab mir mit einem letzten eiskalten Blick zu verstehen, dass ich nichts von ihr zu erwarten hätte. Dann kehrte sie mir den Rücken und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Fremden zu. Niedergeschmettert und beschämt entfernte ich mich. Seitdem war der Mann nicht mehr von ihrer Seite gewichen und hatte sich mit seinem Diener im Auerhahnkrug eingemietet. Die einsame Schankwirtschaft lag abseits von allen Siedlungen mitten im Wald und war nicht weit von der Glockenmühle entfernt.
Von nun an war Susanna vollkommen verändert. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, ein abwesendes Lächeln umspielte ihre Lippen, wenn sie mich sah und im übrigen ging sie mir beharrlich aus dem Weg. Wenn ich ihr drängend nachstellte, brachte sie stets neue Ausflüchte vor, um nicht mit mir zusammentreffen zu müssen und vor Enttäuschung begann ich mich ganz krank und schwach zu fühlen.
Einmal verschwand sie sogar für längere Zeit und selbst ihre Eltern wussten nicht, wo man nach ihr suchen sollte. Nach ihrer Heimkehr tat sie geheimnisvoll und als ich wütend fragte, wo sie denn gewesen sei, lachte sie verächtlich und antwortete, ich müsse doch nicht alles von ihr wissen, nur weil sie mir einst ihre Gunst geschenkt habe. Ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen, denn sie habe inzwischen einen Mann gefunden, der ihr mehr bieten könne als ein unbedeutender Bergbedienter.
Mir stockte der Atem vor Wut und der Gedanke, sie nie mehr umarmen, ihren süßen Duft nicht mehr einatmen, ihre Küsse nicht mehr schmecken zu dürfen, machte mich wahnsinnig.
Durch Susanna und den Fremden war auch ich ins Gerede gekommen, denn in den Bergstädten blieb nichts vor den anderen verborgen. Man bemitleidete und verachtete mich wegen meiner Schwäche und ich spürte, wie mein Verstand sich langsam verdunkelte. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte an nichts anderes denken als an sie und meine Gedanken irrten umher wie aufgescheuchte Vögel.
Unter Tage fehlte es mir an der nötigen Vorsicht, mehrmals glitt ich aus und wäre beinahe in den Schacht hinabgestürzt. Schließlich mochte ich kaum noch essen und griff schon am Morgen zur Branntweinflasche. Ein zersetzender Hass nagte an mir und ich beschloss, die Geliebte zur Rede zu stellen und für ihre Untreue zu bestrafen.
Wie ein Geist irrte ich selbst bei Nacht umher, um nach ihr zu suchen, doch an den vertrauten Plätzen war Susanna nicht zu finden. Von absonderlichen Vorstellungen gequält trieb ich mich Abend für Abend in der Nähe des Gasthofes herum, in dem der vornehme Herr Quartier genommen hatte und lag, am Waldrand versteckt, viele Stunden vergeblich auf der Lauer. Eines
Nachts war ich so vom Genuss des Branntweins benebelt, dass ich beschloss, den Gasthof zu betreten und den Wirt mit einer Drohung zu zwingen, mir den Aufenthaltsort der beiden zu verraten. Die Nacht war mondhell und die sommerlich warme Luft wie geschaffen, um mit einer Geliebten im weichem Gras zu liegen. Je näher ich dem Wirtshaus kam, umso heftiger klopfte mein Herz und ich fürchtete, bald völlig den Verstand zu verlieren. Tagelang war ich ungewaschen und betrunken durch die Wälder geirrt und noch bevor ich das Gebäude erreicht hatte, verließ mich der Mut und ich rannte schnell zurück in den Wald.
An die folgenden Stunden kann ich mich nur noch verschwommen erinnern. Meine Einbildungskraft gaukelte mir immer wieder vor, Susanna unter tief hängenden Fichtenzweigen in den Armen des Anderen liegen zu sehen und wütend stürzte ich zwischen den Bäumen hervor. Ich war schon ganz zerkratzt und blutig von den stachligen Ästen, die mir wie Peitschenhiebe ins Gesicht schlugen und als ich sie dann tatsächlich auf einer vom Mondlicht beschienenen Waldlichtung entdeckte, konnte ich nur entsetzt den Atem anhalten. Vollkommen nackt lag mein Mädchen in den Armen des Fremden und der Anblick seiner Hände auf ihrer blass schimmernden Haut steigerte meine ohnmächtige Wut zu Raserei. Noch hatten sie mich nicht entdeckt, denn ein kleiner Wildbach schäumte auf felsigem Gestein und das Rauschen des Wassers hatte meine Schritte übertönte.
Lüstern wie ein verdorbenes Höllenweib hielt sie ihn mit ihren Schenkeln umschlungen und nur wer die tödliche Macht der Liebe kennt, wird verstehen, was sich nun ereignete. Der Drang, mich zu rächen, sie zu töten und auch den Mann zu vernichten, wurde übermächtig und mein Zorn, verstärkt von der Wirkung des Branntweins, brach aus wie ein Vulkan. Ich stürzte mich auf das Paar und hieb wild brüllend auf Susanna ein. Sie schrie auf, als sie mich sah und während der vornehme Herr erschrocken in die Höhe fuhr, kam etwas über mich, das ich wohl als das Erbe meines Vaters ahnungslos mitgenommen hatte. Die heftigen Schläge, mit denen er mich und die Mutter traktiert hatte, kamen plötzlich auch aus meiner Hand gefahren und ehe ihr Liebhaber schützend eingreifen konnte, hatte ich sie an den Armen hoch gerissen und so lange geschlagen und getreten, bis sie blutüberströmt und leblos zu Boden sank.“
Das ausgezehrte Gesicht des Vaters war totengleich erstarrt und die weit aufgerissenen Augen verloren sich in einer angsteinflößenden Ferne. Magdalene wagte kaum, zu atmen. Sie hatte alles, was er soeben beschrieben hatte, ganz lebendig vor sich gesehen und glühend vor Scham und Entsetzen wünschte sie, er würde nun sterben. Es ekelte sie vor diesem Mann, der wohl ein Mörder war und sie hasste seine offenherzigen Schilderungen, die ihre Fantasie entfachten und verbotene Gefühle in ihr aufsteigen ließen. Wie konnte er es wagen, der eigenen Tochter die verbrecherische Last seiner Vergangenheit aufzubürden? Am liebsten hätte sie das Haus verlassen, doch die Schneemassen hielten sie gefangen und im Angesicht des nahenden Todes nutzte er ihr Ausgeliefertsein, um sein Gewissen zu erleichtern. Nun war er verstummt und schien zu schlafen.
Magdalene wickelte das Tuch fest um ihre Schultern und versuchte, ihr aufgeschrecktes Gemüt zu beruhigen. Ihr war kalt und nach einem Blick auf den Alten, der noch immer vor sich hinstarrte, erhob sie sich, um nach dem Feuer zu sehen. Das Brennholz war ausgegangen und sie warf sich einen Mantel über die Schultern und ging in den Hof. Eisige Kälte schlug ihr entgegen, aber die klare Luft war auch angenehm erfrischend und erleichtert verließ sie die muffige Stube.
Der hohe Schnee drückte die Fichtenzweige bis auf den Boden nieder und während sie sich einen Weg zum Schuppen bahnte, versuchte sie, ihre Gedanken von den unheimlichen Bekenntnissen ihres Vaters zu befreien. Erschöpft ließ sie sich wie ein Kind in die weichen Tiefen eines Schneehügels fallen und wie früher suchte sie in den Weiten des dunkelblau leuchtenden Nachthimmels nach vertrauten Gestirnen. Eine unendliche Sternenweite blinkte und funkelte ihr entgegen und entzückt verfolgte sie die Spur mehrerer Sternschnuppen, die verlöschend in die Tiefe sanken.
Wie still es war und wie klein und unbedeutend man sich angesichts dieser unendlichen Schwärze vorkam! Wenn sie nun einfach hier im Schnee liegen bliebe? Eine bleischwere Müdigkeit überkam sie, unbeweglich verharrte sie in der Kälte bis die Stimme des Alten nach ihr rief. Hastig sprang sie auf, warf Holzscheite in den Weidenkorb und betrat zitternd das Haus.
Ihre Abwesenheit hatte den Alten beunruhigt und immer wieder rief er laut ihren Namen. Resigniert kehrte sie an sein Bett zurück und sogleich setzte er seine Erzählung fort. „Da lag nun mein Mädchen und Blut floss aus den vielen Wunden, die ich ihr zugefügt hatte. Auf einmal verschwand die ganze Wut und mein Herz schnürte sich zusammen. Ich hatte sie getötet! Jammernd kniete ich neben ihr und wollte sie an mich drücken, zum Leben erwecken oder mit ihr sterben. Da versetzte mir der vornehme Herr einen heftigen Tritt in den Rücken und ich brach über ihrem leblosen Körper zusammen. Er riss mich von ihr weg und brüllte:
„Du Mörder hast Susanna getötet!“
Eine Weile rangen wir miteinander, kamen auf die Beine, fielen um und gingen wieder aufeinander los. Ich wusste ja, dass auf mich der Galgen wartete und fürchtete mich nicht davor, doch ich wollte nicht durch meinen verhassten Nebenbuhler dem Henker übergeben werden. Wütend schüttelte ich ihn ab, floh in den Wald hinein und wie Zuchtruten zerschnitten Äste und Zweige mein Gesicht und zerfetzten meine Kleider.
Nachdem ich viele Stunden gerannt war, erreichte ich im Morgengrauen einen Ort mit mehreren Schmelzöfen, deren hell lodernde Flammen die Dämmerung unheimlich beleuchteten. Weit und breit wuchs nicht ein Baum und der Boden war mit abgestorbenen Pflanzen bedeckt, wie es in der Nähe von Schmelzhütten üblich ist. Aus einem Gebäude drang ohrenbetäubender Lärm, den ich in meiner Verzweiflung willkommen hieß, denn meine Blutschuld dröhnte ebenso laut in meinem Kopf.
Erschöpft sank ich zu Boden und brüllte und schrie ganz laut, um mich von der Last meines Verbrechens zu befreien. Niemand hörte mich, das Hämmern und Stampfen des Pochwerkes übertönte jedes andere Geräusch.“
Magdalene war zutiefst erschrocken und sehnte sich nach der Eintönigkeit ihres Lebens zurück.
„Vater, so beruhige dich doch!“, rief sie aus, als der Alte sich mit großer Kraftanstrengung auf seine dürren Arme stützte und aufstehen wollte.
„Nein, nein, so lass mich doch reden, Weib!“, schrie er sie an und fiel aufs Bett zurück.
„Die Ungewissheit darüber, ob ich sie getötet hatte oder ob sie noch am Leben war, hat mich beinahe auch getötet!“
Er griff wieder nach Magdalenes Hand.
„Ziellos bin ich weiter gerannt, kletterte felsige Berge hinauf, rutschte Abhänge hinunter und watete durch Bäche, Sümpfe und Moor. Nach einiger Zeit wurde die Witterung rauer und der Herbst setzte ein. Ich wanderte jede Nacht viele Stunden, denn ich wollte nicht gesehen werden und vor Anbruch des Morgens verkroch ich mich im Dickicht des Waldes. Ich sehnte mich danach, zu sterben und in all den Wochen nahm ich kaum Nahrung zu mir, denn ich verspürte keinen Hunger. Wie das Wild floh ich vor den Menschen und hoffte, wie ein geschwächtes Tier zu verenden. Ich wünschte, Wölfe würden mich zerreißen oder ein Bär mich zerfetzen und die ganze Zeit kreisten meine Gedanken ununterbrochen um Susanna, die ich blutüberströmt am Boden liegen und um Hilfe flehen sah.
Ich wurde so verzweifelt, dass ich mich selber richten wollte, aber dazu fehlte mir der Mut und aus irgendeinem Grund schien der Ewige seine Hand über mir auszubreiten und ließ noch vor Einbruch des Winters einen letzten Lebenswillen in mir aufflackern. Ich begann, nach Essbarem zu suchen, verschlang hungrig alles, was mir in die Hände fiel und beschloss, zu den Lebenden zurückzukehren. Sollte mir ein neuer Anfang vergönnt sein, wollte ich künftig nur Gutes tun, um meine böse Tat zu sühnen.
Eines Morgens befand ich mich auf einer bewaldeten Anhöhe und suchte, erschöpft vom nächtlichen Umherwandern, nach einem Versteck zum Schlafen. Im Tal erblickte ich eine kleine Siedlung und die Schönheit der Landschaft versetzte mir einen Stich ins Herz. Eine Kirche, winzige Häuschen, sanft gerundete Hügel, ein gemächlich dahin rauschender Bach und grüne, satte Weiden umgeben von dichten Wäldern - alles erinnerte mich an Marienberg, meinen Geburtsort.
Die liebliche Gegend entzückte mich, sie war ganz anders als die schroffen Täler und hohen Granitfelsen des Oberharzes, von denen ich inzwischen weit entfernt war. Plötzlich fiel der Hunger nach Brot und Fleisch mich an wie ein Wolf. Ich überlegte hin und her, was ich den Bewohnern des Ortes auf ihre Fragen antworten sollte und der erste Mensch, dem ich begegnete, war ein rußverschmierter Köhler. Ich entbot ihm den Gruß der Bergleute Glück auf! und er grüßte in derselben Weise zurück.
Dabei musterte er mich misstrauisch und fragte, woher ich denn käme, denn mein Aussehen war das eines zerlumpten Wegelagerers. Ich behauptete, überfallen, ausgeraubt und von Räubern mit zerfetzten Kleidern halbtot liegen gelassen worden zu sein. Aus Angst, sie könnten zurückkehren, sei ich so lange gerannt, bis ich mich vollkommen verirrt hätte.