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Eine Frauenleiche im alten Bergwerksschacht bei Goslar, ein Harzer Serienmörder, morbide Familienbeziehungen und verzweifelte Frauen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Verstörende Kriminalfälle, die vor der düsteren Kulisse des Harzes bei steigender Spannung aufgerollt werden und den Harz-Fans unter den Lesern so ganz nebenbei hochinteressante Informationen zur Regionalgeschichte bieten.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2020
Eine Frauenleiche im alten Bergwerksschacht bei Goslar, ein Harzer Serienmörder, abgründige Familienbeziehungen und verzweifelte Frauen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Verstörende Kriminalfälle, die vor der düsteren Kulisse des Harzes bei steigender Spannung aufgerollt werden und den Harz-Fans unter den Lesern so ganz nebenbei hochinteressante Informationen zur Regionalgeschichte bieten.
Barbara Ehrt studierte Kunst und Malerei in Berlin, Kassel und Marburg, arbeitete als Pädagogin in Amsterdam und Goslar, schrieb für Zeitungen, malte, betrieb für kurze Zeit eine Kunstgalerie und schlug sich in Notzeiten mit allerlei Gelegenheitsjobs durch. Schauplatz ihrer Bücher, die sie gern selbst herausgibt, ist der Harz. Sie ist Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband (FDA) und im Verband deutscher Schriftsteller(VS).
Der Venediger
Die Harzfrau
Skurriles zwischen Himmel und Harz
Das Herz des Kaisers - Die Magd vom Bodfeld
Eine kleine Geschichte des Harzes
Ein zwölfter Kaiser im Huldigungssaal? In: Unser Harz, 2014
Die Pfalzkapelle Sankt Ulrich in Goslar, in: Unser Harz, 2019
Die Tote im alten Schacht
Ein rätselhafter Köhlermord
Im Zweifel für den Angeklagten
Nach einer wahren Begebenheit
Rosa lässt schön grüßen
Die Frau am Teich
Gestatten: Der Totmacher!
Nach wahren Begebenheiten
Der letzte Schrei
Ein Aschenputtel in Marrakesch
Johanne
Die Frau im Schnee
Also sprach Zarah-Gusta
Der Besuch der jungen Dame
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig
Sonntag, 11. August
Im Halbdunkel eines gotischen Gewölbekellers waren die Umrisse von zwei Männern zu erkennen. Einer der beiden tastete mit den Händen die Wand nach einem Schalter ab und erschrak, als der grelle Schein der Dekkenlampe plötzlich ein unglaubliches Szenario beleuchtete: auf dem flauschigen Teppichboden des aufwendig restaurierten Souterrainraumes, mit leiser Musik atmosphärisch ausgestattet, lag eine etwa vierzigjährige blonde Frau. Um ihren Hals wand sich ein Strick, ihre Brüste quollen aus einer knallroten Lederkorsage hervor und von den Hüften abwärts war sie unbekleidet. Ihr qualvoll verzerrter Mund stand in groteskem Widerspruch zu ihrem in lustvoller Pose daliegenden Leib.
Klaus Rossmann starrte auf den leblosen Körper und begriff nicht oder wollte nicht begreifen, was geschehen war. Am liebsten wäre er wieder nach Hause gerannt. Horst Adam hockte geduckt und kümmerlich in einem Sessel und wiederholte immer wieder, dass er das Ganze bedaure und nichts dafür könne und dass man jetzt irgendwas tun müsse.
Er hatte sich für seine Sexspiele eine Prostituierte bestellt, um mit ihr Wege zu beschreiten, die andere Frauen nicht bereit waren zu gehen. Auf einmal hätte die Frau nicht mehr geatmet. Er könne nichts dafür, die sei selber schuld, die wollte eine ganz besonders geile Technik ausprobieren und er habe nur zögernd mitgemacht. Verräterisch oft beteuerte er, dass er selber niemals auf so eine Idee gekommen wäre und Rossmann, der ihm genau das Gegenteil zutraute, schnaubte verächtlich. Da saß der nur mit Boxershorts bekleidete, sonnenstudiogebräunte Adam und jammerte, sie, die Nutte, hätte darauf bestanden, nicht nur gefesselt und geknebelt, sondern auch stranguliert zu werden. Und dabei sei es dann eben passiert. „Du musst mir helfen, Klaus! Ich bin ruiniert, wenn das rauskommt. Es war ein Unfall, glaub mir!“
Adam erinnerte ihn unnötigerweise an ihre Blutsbrüderschaft und wiederholte noch einmal, dass das völlig harmlose Treffen einfach aus dem Ruder gelaufen sei. Rossmann war klar, das er soeben erpresst worden war, ganz subtil, aber dennoch deutlich. Er verstand sofort die Tragweite der bescheiden vorgebrachten Bitte und erkannte, dass er nicht einen Millimeter Spielraum besaß, um abzulehnen. Vor einer halben Stunde hatte sein Handy geklingelt.
„Kannst du mal kommen, es ist dringend!“
Die sonst forsche Stimme des alten Freundes war so hilflos und gleichzeitig nachdrücklich durchs Telefon zu ihm gedrungen, dass er sofort wusste, mit der Nachtruhe war es vorbei. Er fragte nicht einmal, worum es ging, sondern nur, wo er sei, vergewisserte sich, dass Vera so laut schnarchte wie immer, wenn sie ihre Tabletten genommen hatte und schlich nach draußen. Unbemerkt eilte er durch die stillen Gassen der Goslarer Altstadt, bis er die Bergstraße erreicht hatte. Doch was ihn dann erwartete, damit hatte er nicht gerechnet.
„Oh Gott, oh Gott, was soll ich nur tun?“, wimmerte Adam und immer mehr beschlich Rossmann der Verdacht, dass sich die Ereignisse auch ganz anders abgespielt haben könnten. Juristische Begriffe wie Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung schossen ihm durch den Kopf, über die er im allgemeinen nur in der Zeitung las. War das Beihilfe zum Mord, was er gerade im Begriff war, zu tun?
„Verdammt! Ich muss ja verrückt sein, dass ich dir bei so was helfe! Hast du Gummihandschuhe? Wir müssen sie einpacken und von hier wegbringen!“
Adam verließ den Raum und kam nach einigen Minuten zurück. „Ich kann nichts finden. Soll ich den Verbandskasten aus dem Auto holen?“
Wortlos blickte Rossmann sich um, riss wütend eine schwere Wolldecke vom Bett und begann, die Frau darin einzuwickeln. Er ekelte sich vor dem schlaffen Körper und vermied es, mit den Händen die Haut der Toten zu berühren. Ächzend verschnürten sie gemeinsam das Bündel mit einem Strick, packten jeder ein Ende, hoben es an und schleppten es eine weiß gekalkte Steintreppe empor.
Während die Männer sich abmühten, erklang noch immer gedämpfte Musik.
Sie hatten die Leiche auf dem gefliesten Dielenboden abgelegt und standen unschlüssig neben der Tür.
„Was jetzt?“, fragte Klaus Rossmann. Seine kräftige Statur, die gebogene Nase und die dauergewellten, schwarzen Löckchen erinnerten an einen gut gebauten griechischen Satyr, während man den anderen eher als ein wenig unförmig bezeichnet hätte. Um die unvorteilhaften Teile seiner Figur zu kaschieren, gab Adam sehr viel Geld für Garderobe aus und da er im weiteren Verlauf des Abends seine Kleidung beschmutzen würde, hatte er sich einen saloppen Hausanzug übergezogen. Der eitle Junggeselle wollte keinesfalls eines seiner teuren Stücke ruinieren oder mit verräterischen Flecken in die Reinigung bringen. Obwohl er den Eindruck erweckte, völlig aufgelöst zu sein, war er durchaus noch imstande, derart nüchterne Überlegungen anzustellen.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: „Keine Ahnung, Klaus, ich bin völlig fertig, mein Gott, wie konnte das nur geschehen?“
Rossmann zischte wütend: „Du Idiot! Wenn du dich nur an die Regeln gehalten hättest!“ Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. „Sex ohne Spielregeln, das geht doch nicht! Ich verstehe sowieso nicht, was du an diesem Sado-Maso-Zeug findest!“
„Aber ich kann doch nichts dafür! Da ist einfach was schief gelaufen!“ Der Mittvierziger winselte und wäre um ein Haar in Tränen ausgebrochen, wenn der andere ihn nicht angefahren hätte. „Los jetzt, reiß Dich zusammen! Es wird bald hell und wenn ich nicht so schnell wie möglich wieder im Bett liege, merkt meine Frau, dass ich weg war. Also - wohin??!“
Ratlose Stille breitete sich aus. Beide überlegten fieberhaft und plötzlich rief Adam aus: „Mir fällt was ein. Es gibt da im Wald einen uralten Schacht, die Öffnung ist längst zugewachsen. Da könnten wir sie doch... ich meine, da findet sie doch keiner.“
„Und wo soll das sein?“ „Hinter Goslar, Richtung Clausthal, links oben am Hang. Da war mal ein Bergwerk, das ist schon seit Jahrhunderten abgetakelt.“ Er grinste. „Genau wie die hier!“
Rossmann hätte ihm am liebsten eine reingehauen.
„Bist du sicher, dass da auch wirklich keiner mehr reingeht?“ Adam runzelte die Stirn und grübelte angestrengt nach. Er hielt den Kopf gesenkt und wagte nicht, dem Freund in die Augen zu sehen.
„Würde mich wundern, wenn das überhaupt noch wer kennt. Ich hab das mal zufällig vor Jahren entdeckt, auf einer Flurbegehung mit den Leuten vom Rammelsberg. Geht allerdings ein ganzes Stück bergauf und könnte ´ne ziemliche Plackerei werden, aber dafür ist die Alte dann auch restlos verschwunden.“ Rossmann erwog schnell die Vor- und Nachteile. Wenn jemand die Tote fand und Nachforschungen anstellte, dann kriegten sie ein Problem. Aber – hatte er eine Wahl? Er schaute auf die Uhr: 0:40 Uhr. Die Nacht war klar und hell, Vollmond. Er verfluchte die abartige Sexsucht von Adam, der im Stadtbauamt beschäftigt war und dem er leider sehr viel zu verdanken hatte. Durch ihn war er an einen äußerst lukrativen Auftrag gekommen, der ihn aus einer schweren Krise herausmanövriert hatte.
Als branchenfremder Neueinsteiger in der Firma seiner Frau war es ihm vor Jahren gelungen, gleich zwei Großaufträge in den Sand zu setzen und das durfte nie wieder passieren. Wenn es etwas gab, was Vera Federlein nicht ausstehen konnte, dann waren es Verlustgeschäfte und finanzielle Versager. Sie verglich den Ehemann ständig mit ihrem Vater, dem sie ein Vermögen von mehreren Millionen zu verdanken hatte und der geradezu legendär erfolgreich gewesen war. Das Motto von Otto Federlein hatte gelautet: Pass auf, wohin du trittst! Und seit Rossmann dessen Tochter, die Erbin und Inhaberin der gut florierenden Harz-Baumarkt GmbH & Co KG, geheiratet hatte, balancierte er wie ein Seiltänzer am Rande des Abgrunds. Ein falscher Schritt und er fiele ins Bodenlose.
Vera hatte vor der Hochzeit darauf bestanden, einen Ehevertrag mit Notar und allem drum und dran aufzusetzen und eine der zahlreichen Vereinbarungen enthielt die Forderung, sich tatkräftig um die Belange der Firma zu kümmern und im Interesse derselben einige öffentliche Ämter zu bekleiden. Zum Ratsherrn war Rossmann bereits aufgestiegen, doch das genügte seiner Frau nicht. Sie wollte, dass ihr Ehemann das Amt des Oberbürgermeisters ausübte.
Schnaufend bückte er sich nach dem verschnürten Stoffbündel.
„Okay, dann los! Vera nimmt Schlafmittel, aber wenn sie aufs Klo muss, dann wird sie wach und das ist meistens so gegen 3:00 Uhr der Fall.“
Er versuchte, im Halbdunkel der Diele das Zifferblatt zu erkennen: 0:45 Uhr. Das könnten sie schaffen. Im Carport des Altstadthauses stand der Wagen und gemeinsam trugen sie die schlaff zwischen ihnen hängende Bürde über den Hof. Am Auto angelangt, suchte Rossmann nach dem Verbandskasten, fischte ein paar Gummihandschuhe heraus und streifte sie über. Adam lehnte ab.
Die Lage des verwinkelten Gebäudes aus dem 16. Jahrhundert hatte sich für die erotischen Neigungen des Hausherrn als äußerst günstig erwiesen. Der Bauingenieur erwarb das verfallene Objekt zu einem Spottpreis und nutzte geschickt seine Beziehungen, um öffentliche Gelder zur Sanierung des denkmalgeschützten Hauses aufzutun. Dichtes Gebüsch und die Reste eines gemauerten Wehrganges umstanden das unzugängliche Grundstück, das an die alte Stadtmauer grenzte und dessen Zufahrt nur über eine verlassene Sackgasse zu erreichen war. Schon beim Kauf des Hauses und bei der Restaurierung hatte Adam darauf geachtet, dass der kleine Innenhof von keiner Seite aus einsehbar war.
Sein Domizil war so unauffällig und verschwiegen wie die Dependance eines Geheimdienstes und niemand beobachtete die beiden Männer, während sie den Leichnam geräuschlos in den Kofferraum hievten. Nur das Mondlicht beleuchtete die gespenstische Szene. Adam stieg in den Wagen und zündete sich eine Zigarette an.
„Du, ich glaube, ich kann nicht fahren.“ Wie ein Kind streckte er Rossmann seine zitternden Hände entgegen.
„Könntest du??“ Widerwillig ging der Ratsherr wortlos um den Wagen herum und wartete, bis Adam zum Beifahrersitz gerutscht war.
„Gib mir auch eine!“ Gierig sog Rossmann den Rauch ein und blies ihn verächtlich wieder aus. Plötzlich ekelte er sich so sehr vor dem gekrümmt da sitzenden Adam, dass er am liebsten ausgespuckt hätte. Er besaß noch so etwas wie ein Gewissen und hätte sich nie im Leben darauf eingelassen, ihm bei der Beseitigung einer Leiche zu helfen, wenn er nicht so verdammt abhängig wäre! Das hatte er nicht nur dem Großauftrag, sondern auch ihrer Blutsbrüderschaft zu verdanken.
Eines Tages war Horst Adam nach einer Sitzung des Bauausschusses in seiner Nähe stehen geblieben und hatte geduldig gewartet, bis Rossmann sich vom letzten Mitglied des Stadtrates verabschiedet hatte. Gemeinsam waren sie die Außentreppe des fünfhundert Jahre alten Gebäudes hinabgestiegen und Adam hatte ihn auf ein Bier in seine nahegelegene Stammkneipe eingeladen. Nur zögernd hatte er eingewilligt, doch als der Bauingenieur versuchte, ihn für die ASEN-Bruderschaft anzuwerben, hatte Rossmann aufgehorcht.
Die Bruderschaft war etwas ganz anderes als die zahlreichen Serviceklubs der Stadt. Die waren nach seiner Heirat mit der erfolgreichen Geschäftsfrau wie auf Kommando an ihn herangetreten, aber Rossmann hatte sich bedeckt gehalten. Clubs wie Rotary, Inner Wheel, Zonta, Lions und Schlaraffen buhlten um seinen Beitritt, die Freimaurerloge umwarb den Emporkömmling, doch Rossmann suchte nach einem Verein, in dem er vor Veras Zugriff sicher war. Zu den gängigen Männervereinen gehörte fast immer ein von Frauen organisiertes Pendant und in dem würde sich seine Gattin sofort betätigen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Alles, was ihm Horst Adam über den exklusiven, altgermanischen Männergeheimbund erzählte, war ihm damals passend erschienen. Es gab in ganz Deutschland nur wenige Mitglieder, die Statuten waren von frauenfeindlichen Bekundungen durchsetzt und die Treffen fanden in Kassel statt, schön weit weg von Vera.
Semper fidelis! - lebenslange Treue lautete der im Aufnahmeritual geleistete Schwur und erlosch erst mit dem Tod eines Mitglieds. Und nun wurde er durch Adam gezwungen, seine bedingungslose Treue unter Beweis zu stellen.
Rossmann startete den Wagen, der BMW rollte aus dem Hof und fuhr mit leisem Motor in Richtung Clausthal.
„Wirst du das auch in der Dunkelheit finden?“, fragte er und warf einen kurzen Seitenblick auf den zusammengesunkenen Adam. Der sog nervös an seiner vierten oder fünften Zigarette und brummelte: „Ja, ich denke schon, ich bin zwar nachts noch nicht hier gewesen, aber wir kriegen das schon hin, keine Panik.“
Was für ein kümmerlicher Kerl! Aber zwischen derartigen Gestalten selbst immer mehr zu verkümmern, das war für Dr. Klaus Rossmann inzwischen gewöhnlicher Alltag. Er, ein intelligenter Mann mit einem IQ von beinahe 130, hatte vor ungefähr zehn Jahren das Studium der Betriebswirtschaft abgeschlossen, anschließend promoviert und war dann am Anfang einer vielversprechenden Karriere ins Bodenlose gestürzt. Nach der Pleite mit Ramona, seiner früheren Freundin und ihrer gemeinsamen Firma, steckte er bis zum Hals in einem Schuldenberg, den er zu Lebzeiten kaum hätte abtragen können.
In dieser Situation war er eines Abends der nicht mehr ganz jungen Vera begegnet und mit ihr im Bett gelandet. Die geschäftstüchtige Frau war von seiner sexuellen Ausdauer beeindruckt und ließ den Liebhaber so lange durch eine Detektei beobachten, bis sie herausgefunden hatte, dass er so käuflich war wie ein Investitionsobjekt. Bei einer Flasche Champagner hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie gedachte, ihn zu heiraten und war anschließend so lange auf ihm herumgeritten, bis sie ihren dritten Orgasmus bekam. Seitdem wusste er, dass es auch bei Frauen so etwas wie Besitzgier gab und angesichts seiner finanziellen Notlage blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Haut und Haaren von ihr verschlingen zu lassen. Im Gegenzug gewährte sie ihm unbeschränkten Zugang zu ihrem Geld. Er wurde ihr teuer erkauftes, neues Spielzeug.
„Warte, warte! Fahr langsamer, ich glaube hier ist es!“ Rossmann drosselte das Tempo. „Ja, ja, fahr da rein! Da hinten sieht uns keiner, da kannst du parken.“ Sie bogen links ab und rollten im Schritttempo über eine Waldlichtung. Kein einziges Auto war ihnen begegnet. Rossmann machte die Zündung aus und erschrak vor der unheimlichen Stille des Waldes. Ein Blick zur Uhr bescherte ihm einen Adrenalinstoß: 1:15 Uhr! Seine lähmende Angst wurde von der schrecklichen Befürchtung verdrängt, nicht rechtzeitig zurück zu sein.
Er sprang aus dem Auto.
„Los, wir müssen uns beeilen. Wie weit ist es jetzt noch bis zum Schacht?“
„Keine hundert Meter! Da oben!“ Adam wies mit der Hand den Abhang hinauf. Wie ein gut eingespieltes Team packten sie das Bündel und setzten sich in Bewegung. Durch das Mondlicht war der Weg mit seinem Geröll und den felsigen Unebenheiten gut zu erkennen, sodass sie keine Taschenlampe brauchten.
Die Frau hing schwer wie Blei zwischen ihnen. Rossmann keuchte laut und bekam plötzlich keine Luft mehr. Er blieb stehen und Adam sah ihn irritiert an. „Was ist los?“
„Und wenn man nach der sucht, mit Hunden und so?“
Unsicher tastete Rossmann mit den Augen die Umgebung ab, als bestünde überall die Möglichkeit, beobachtet zu werden.
„Die sucht keiner!“ Verächtlich spuckte Adam auf den Boden.
„Das ist ´ne richtig abgetakelte Nutte! Ich hätte auch was besseres haben können, aber die hier, wie soll ich sagen, mit der hier konnte man eben so ziemlich alles machen. Die ist ´ne echte Nummer unter Kennern und absolut verschwiegen! Und keine Zuhälter, die ging ganz und gar solo anschaffen!“ Er suchte nach einer beruhigenden Floskel für Rossmann, doch ihm wollte nichts einfallen. Die Angst, irgendwann als Täter überführt zu werden, lähmte sein Denken. „Nee, Klaus, mach dir mal keine Sorgen! Wenn wir die Leiche weg haben, dann ist Ruhe, echt!“
Sie setzten ihren Weg fort und bemühten sich, losem Geröll auszuweichen. Nach einigen Minuten blieb Adam stehen und sah sich suchend um.
„Da, ich glaube, da drüben ist es! Warte, ich bin gleich wieder zurück.“
Er ließ die Füße der Toten abrupt fallen, entfernte sich ein paar Meter und war in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Nun hielt Rossmann den Oberkörper der Frau umklammert und als ihm bewusst wurde, wie makaber dieser Anblick sein musste, legte er sie hastig auf dem Boden ab.
Er zuckte zusammen. Adam stand plötzlich wieder neben ihm und sagte: „Da drüben!“
Zwischen tückischen Brombeerhecken und schlüpfrigen Gräsern tasteten sie sich bis zu einem eingesunkenen Maschendrahtzaun voran.
„Warte, ich muss erst den Eingang finden, irgendwo ist der Zaun nämlich kaputt.“
Es dauerte diesmal etwas länger, bis Adam zurückkehrte. Wind war aufgekommen und schüttelte die Äste der Fichten. Rossmann war noch nie gern im Wald gewesen, schon gar nicht nachts und ihn schauderte. Wie drohende Finger griffen die Zweige nach ihm und er fürchtete sich wie ein kleiner Junge. Erleichtert sah er Adam aus dem Gebüsch hervorkriechen.
„Ist ein bisschen eng, Scheiße, ich hab nicht an eine Drahtschere gedacht.“
Was er damit meinte, wurde ersichtlich, als sie eine ausgeleierte Lücke im Zaun erreicht hatten, hinter der ein unheimliches schwarzes Loch gähnte. Adam kroch auf die andere Seite, zog das Bündel zu sich heran und Rossmann schob. Dabei rutschten die Füße der Frau aus der Decke, ein Bein kam hochkant gegen den Zaun zu liegen. Rossmann musste sie wieder zurückzerren, erneut in die Decke einwickeln und dann drehten sie den Körper um. Erschöpft und aufgekratzt zugleich wie nach einer Überdosis Aufputschmittel, arbeiteten sie präzise und konzentriert. Adam packte fest zu und allmählich bekamen sie das unförmige Paket auf die andere Seite.
„Am besten, wir ziehen ihr das Zeug aus, bevor wir sie da reinwerfen, falls sie doch wer findet. Auf den Klamotten sind vielleicht unsere Fingerabdrücke.“
Rossmann spürte, wie sein Herz viel zu schnell gegen die Brust hämmerte. Er wollte nur weg, ihm war alles egal. Erschöpft ließ er sich neben dem mit Wildpflanzen dicht überwucherten Mundloch des Schachtes auf die Erde fallen.
„Verdammt, warum hast du dir das nicht früher überlegt? Deine DNA-Spuren sind doch überall auf ihrer Haut?!“, fuhr er Adam an.
„Du hättest Handschuhe anziehen sollen! Da waren doch jede Menge im Erste-Hilfe-Kasten! Idiot, du verdammter Idiot! Hast du dir überhaupt jemals irgendwas überlegt?“
Schweigend starrten sie in die Dunkelheit. Nur das Schnappen des Feuerzeuges unterbrach die unheimliche Stille. Adam sprach leise mehr zu sich selbst.
„Keiner von uns ist der Polizei bekannt. Wer käme schon darauf, das ausgerechnet wir was damit zu tun haben?“
Er löste das Seil, das sie um die Decke gewickelt hatten und fummelte hektisch an den Schnüren und Bändern der Korsage herum.
„Schmeiß du sie allein runter!“
Adam gehorchte willig und Rossmann wurde übel. Ein dumpfer klatschender Aufprall, Stille. Brennende Scham stieg plötzlich in ihm auf. Das war doch ein Mensch gewesen, eine Frau mit Hoffnungen und Sehnsüchten, und sie hatten sie einfach in eine modrige Grube geworfen. Erbärmlich! Er hasste sich selbst. Wie sollte er diese Nacht je vergessen und wie sollte er in den kommenden Jahren so tun, als ob nichts geschehen wäre?
Müde stolperten sie den Berg wieder hinab. Rossmann schaltete kurz die Taschenlampe an und entzifferte die Uhr: 2.05 Uhr. Sie hatten länger gebraucht, als er gedacht hatte und jetzt musste er sich wirklich wahnsinnig beeilen. Der Mond wurde ab und zu von Wolken verdeckt und man konnte nicht immer sehen, wohin man trat.
Der Abstieg zog sich in die Länge und die Männer wären ein paar Mal fast hingefallen. Adam redete und brabbelte unaufhörlich vor sich hin. Immer wieder beschwor er ihre langjährige Freundschaft, erwähnte die gemeinsamen Saufabende, die Segeltörns, die sie unternommen hatten und die Wochenenden in der ASEN-Bruderschaft. Rossmanns Knie fühlten sich weich an, er hatte Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und wäre am liebsten auf allen Vieren gekrochen. Ein Beinbruch in dieser Scheißsituation hätte ihm gerade noch gefehlt!
Nach mühseligen fünfzehn Minuten erreichten sie das Auto und fuhren im Schritttempo, ohne das Licht einzuschalten. Erst als sie den Campingplatz an der Sennhütte erreicht hatten, machten sie die Scheinwerfer an. Erleichtert versicherten sie sich gegenseitig, dass ihnen die ganze Zeit niemand begegnet war. Beinahe geräuschlos rollte der BMW zurück in den Hof und in gedämpftem Ton besprachen sie kurz, wie sie sich in dieser Angelegenheit zukünftig verhalten würden. Adam sollte die Kleider der Frau in seinem Kamin verbrennen und gleich morgen früh den Kofferraum und die Wohnung gründlich säubern.
Plötzlich packte er den verdutzten Rossmann am Arm.
„Klaus, du weißt doch, ich bin dein Freund! Durch dick und dünn! Verstehst du, dein Freund, dein Kumpel! Lass mich bloß nicht hängen!“
Rossmann verzog im Dunkeln angewidert das Gesicht. Er klopfte dem noch immer vor Nervosität zitternden Mann auf die Schulter und sagte im Weggehen: „Du, ich muss los, wenn Vera irgendwas merkt, dann kann ich für gar nichts garantieren, du weißt doch, wie sie ist. Du musst jetzt allein zurechtkommen.“
Er drehte sich noch einmal um. „Von mir hast du jedenfalls nichts zu befürchten, Horst, lass gut sein. Vergessen wir das Ganze am besten.“ Dann trennten sie sich.
Klaus Rossmann war es gelungen, sich unbemerkt ins Haus zu schleichen. In der Diele zog er sich hastig aus, nahm seine Sachen unter den Arm und stieg geräuschlos die Treppe hinauf. Die Teppiche schluckten jeden Schritt.
Er war froh, dass er sich damals mit der Wahl des Bodenbelages durchgesetzt hatte. Vera wollte Laminat oder Holzdielen, alles, nur keine Milbenfänger. Er zuckte zusammen, als er ihre verschlafene Stimme hörte und ehe sie das Licht anmachen konnte, warf er die Kleider schnell auf einen Stuhl.
„Schatz! Wo warst du denn?“
Schlaftrunken rekelte sich die blonde Frau auf dem riesigen Wasserbett und ihre Bewegungen erzeugten ein glucksendes Geräusch.
„Ich war nur kurz in der Küche, Milch trinken. Du weißt doch, ich kann dann besser schlafen.“
Um zu verhindern, dass Veras Misstrauen erwachte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie ganz schnell auf Touren zu bringen, dann vergaß und verzieh sie alles. Ihm war vorher noch nie ein weibliches Wesen begegnet, das so unverhohlen gern und oft vögeln wollte wie seine Frau. Fast wie ein Kaninchen. Und er war sicher, seine verbissene Ausdauer, was diesen erotischen Sport betraf, hatte neben seiner Fügsamkeit den Ausschlag dafür gegeben, die Verbindung mit ihm anzustreben.
„Hmm!“, gurrte sie, als er seine Hand zwischen ihre Beine schob, damit sie jedes Zeitgefühl verlor. Sex war das letzte, wonach ihm jetzt zumute war, immer wieder tauchte das Bild der zusammengeschnürten Frau vor ihm auf. Doch Vera durfte sich morgen an nichts anderes erinnern als an den Orgasmus, den er ihr beschert hatte. Aber sie gab ihm murmelnd zu verstehen, dass sie doch lieber weiterschlafen wollte und bald erklang neben ihm das altgewohnte laute Schnarchen.
Rossmann lag die ganze Nacht wach. Die Bilder des nächtlichen Ausfluges wirbelten wie Filmsequenzen durch seinen Kopf und heizten seinen Kreislauf an. Panik machte sich breit und schließlich stand er im Morgengrauen auf und setzte sich mit einem Glas Whisky auf die Terrasse.
Seine Gedanken suchten nach Trost, fanden aber nur immer neue Bestätigungen dafür, dass weder sein Leben noch seine Beziehungen unter einem guten Stern standen und das verdankte er vor allem seiner früheren Freundin Ramona.
„Freundschaften und Blutsbrüder, alles Scheiße!“, murmelte er wütend vor sich hin, leerte das halbvolle Glas mit einem Zug und schenkte sich erneut ein. Vielleicht sollte er auch eine von Veras Schlaftabletten nehmen. Oder gleich alle auf einmal!
Die Erinnerung an frühere Zeiten riss Wunden auf und war mehr als unangenehm. Dieses verdammte Miststück! Klaus Rossmann und Ramona Ehrenberg hatten zusammen Betriebswirtschaftslehre studiert und sich nach dem Studium zufällig wiedergetroffen. Seitdem verbrachten sie ihre Freizeit abwechselnd im Bett, im Kino oder im Restaurant. Rossmann war verliebt wie nie zuvor, aber Ramona liebte vor allem das Geld. Sie verbrachte viel Zeit am Computer, um die Börsenentwicklung im Internet zu beobachten. Die ganze Welt taumelte damals im Spekulationsfieber, denn die Erträge unbekannter kleiner Firmen und riesiger Konzerne schossen schwindelerregend in die Höhe.
New Economy hieß das Zauberwort. Rossmann war bald genauso hypnotisiert von dem virtuellen Geldwunder wie Ramona und so verfolgten sie gemeinsam die Entwicklung am Neuen Markt. Im World Wide Web herrschte damals noch Aufbruchstimmung und die internationale Geschäftswelt musste sich darauf einstellen, nur über eine eigene Webseite am virtuellen Marktgeschehen teilnehmen zu können.
Ramona schlug vor, eine eigene Firma zu gründen und den Unternehmen professionelle Webseiten zu kreieren. Sie war überzeugt, dass sie damit eine gigantische Marktlücke füllen konnten und reich werden würden. Gesagt, getan. Sie trugen ihre Geschäftsidee ein paar Geldinstituten vor und schon das erste, die Deutsche Bank, war von ihrem Konzept hellauf begeistert.
Die folgenden Schritte ergaben sich problemlos wie von selbst. Die Beiden gründeten eine Aktiengesellschaft, mieteten eine Büroetage, kauften Hard- und Software, stellten Designer, Grafiker, Übersetzer und Computerfreaks ein und arbeiteten rund um die Uhr. Alle waren hochmotiviert, begabt und einfallsreich und alle warteten auf das große Geld.
Die Nachfrage nach ihren Webseiten stieg dermaßen schnell an, dass der Platz nicht ausreichte und sie eine zweite und dritte Etage mieten mussten. Bereits ein halbes Jahr später vollführte die E-R-Pixel-Welt AG einen bühnenreifen Börsenstart, der auch bei den Medien auf großes Interesse stieß und nach einem weiteren halben Jahr schwammen Ramona und Klaus im Geld. Der Wert ihres Unternehmens hatte die Millionengrenze überschritten und Rossmann leistete sich einen Maserati. Schöne Frauen säumten wie bunte Girlanden seinen Weg, doch er hatte nur Augen für Ramona.
Rossmann trank das dritte Glas leer. Wäre er nur nicht so naiv gewesen!
Er hatte bei der Ausarbeitung der Geschäftsvereinbarungen einen großen Fehler gemacht. Bedenkenlos gab er seine Zustimmung zu der Klausel, dass die Unterschrift nur eines Gesellschafters genügte, um über sämtliche Gelder zu verfügen. Vertrauen gegen Vertrauen war das Motto für Rossmann gewesen, aber nicht für Ramona. Die war plötzlich verschwunden und dem ratlosen Rossmann flatterte ein beängstigendes Schreiben ins Haus. Die Deutsche Bank bat ihn höflich, die erste Rate des von Frau Ehrenberg, seiner Teilhaberin, aufgenommenen Kredites zu begleichen.
Rossmann fiel aus allen Wolken und es dauerte eine Weile, bis er alle Fakten zusammengetragen hatte und imstande war, die volle Wahrheit zu erfassen. Ramona musste den Zusammenbruch des Neuen Marktes vorausgesehen haben. Sie ahnte, dass ihre junge Firma den Börsencrash eines solchen Ausmaßes nicht überleben würde und ohne den Geschäftspartner zu informieren, nahm sie als Gesellschafterin der E-R-Pixel-Welt AG bei ihrer Hausbank einen Kredit von 800.000 DM auf. Eine vollkommen legale Transaktion, die Unterschrift nur eines Teilhabers genügte, um eine so hohe Summe ausbezahlt zu bekommen. Die clevere Frau hatte das Geld sofort weiter in die USA überwiesen und war dann untergetaucht. Soviel hatte Rossmann noch herausfinden können.
Nicht lange nach Ramonas Verschwinden folgte tatsächlich der große Crash und ihm folgte der Untergang der E-R-Pixel-Welt AG. Die gemeinsame Firma verschwand vom Börsenhimmel wie viele andere Unternehmen auch und Rossmann blieb auf einem gigantischen Schuldenberg sitzen.
Verzweifelt hatte er damals Trost im Alkohol gesucht und abwechselnd an Rache und Selbstmord gedacht. Dann war er Vera begegnet. Sie tilgte seine Zahlungsverpflichtungen und übertrug dem zehn Jahre jüngeren Mann die Geschäftsvollmacht über ihre gesamte Firma. Seitdem arbeitete er seine Schulden eben bei ihr ab.
Rossmann streckte und dehnte die verkrampften Schultern, schenkte sich nochmals ein und ging nach dem vierten Glas Whisky wieder nach oben. Geräuschlos legte er sich neben Vera Federlein aufs Wasserbett.
Montag, 12. August
Gegen zehn Uhr morgens drückte sich eine schwarzweiß gefleckte Katze maunzend gegen die Tür eines kleinen Häuschens in der Goslarer Altstadt. Um diese Zeit bekam sie sonst immer ihr Futter von der Hausbesitzerin und das Tier verstand nicht, weshalb das heute anders sein sollte. Als sich bis zur Mittagszeit noch immer niemand gezeigt hatte, lief sie enttäuscht auf der kleinen Mauer an der Abzucht in Richtung Breites Tor davon.
Nicht nur die Katze, auch ein Mann war hungrig und überlegte am späten Vormittag, ob er sich selbst etwas kochen oder in die Mensa gehen sollte. Dr. Alexander Funke, Geologe und Naturschützer, war erst vor wenigen Monaten aus dem Ruhrgebiet in den Harz gezogen und bewohnte ein viel zu kleines Studentenappartement am Stadtrand von Clausthal. Da er ein eher menschenscheuer Charakter war, beschloss er, sich in seiner noch unvollständig eingerichteten Küche eine Dosensuppe zu erwärmen. Eigentlich war er heute mit einem Kollegen verabredet gewesen, aber der hatte in letzter Minute abgesagt und nun bedauerte Alexander mit knurrendem Magen, nichts anderes als Erbsensuppe vorrätig zu haben. Er musste endlich lernen, sich selber zu verpflegen!
Nach der Scheidung vor einem Jahr hatte er sich wie ein hilfloses, im Stich gelassenes Kind gefühlt und wehmütig an all die schmackhaften, abwechslungsreichen Mahlzeiten zurückgedacht, die ihm Anke, seine Ex-Frau, Tag für Tag zubereitet hatte. Die Mahlzeiten durfte jetzt sein ehemaliger Kollege genießen, bei dem sie sich angeblich zum ersten Mal in ihrem Leben wie eine richtige Frau gefühlt hatte und mit dem sie schon vor der offiziellen Trennung zusammengezogen war.
Anke behauptete, sie und Alexander seien doch mehr wie gute Kameraden gewesen, während es zwischen den beiden sofort gefunkt hätte. Er runzelte die Stirn. Bei ihm hatte sich bis zuletzt was geregt und noch heute dachte er gern an ihren verlockenden Körper zurück. Sie war doch immer diejenige gewesen, die keine Lust hatte. Na, egal, Schnee von gestern, seine gescheiterte erste Ehe sollte gewiss auch seine letzte sein. Nur gut, dass keine Kinder da waren, sonst hätte er nicht umziehen können und die verliebte Ex-Frau wäre ihm dauernd Hand in Hand mit ihrem Lover über den Weg gelaufen.
Den Ortswechsel hatte er nicht bereut, denn sein neuer Job an der Technischen Universität in Clausthal gefiel ihm sehr gut. Bevor er sich in weiteren Gedankengängen zu verlieren begann, mahnte ihn der Hunger, endlich den Dosenöffner zu suchen und die Suppe zu essen. Die vielen Exkursionen, Vorlesungen und das stundenlange Ausarbeiten am PC kosteten Kraft und er nahm sich vor, demnächst in eine Wohnung mit einer richtigen Küche zu ziehen.
Am Nachmittag wollte er sich einen alten Schacht ansehen. Seine Ausrüstung lag schon zusammengepackt im Auto und er war gespannt auf das historische Bergwerk mit seinen weitverzweigten, jahrhundertealten Stollen. Im Geist ging er noch einmal sein Gepäck durch und stellte fest, dass er vergessen hatte, die Batterie für die Stirnlampe zu laden und daher mit einer Taschenlampe auskommen musste. Der Teller war leer und seit er allein lebte, hinderte ihn keine falsche Rücksichtnahme mehr daran, nach dem Essen laut zu rülpsen.
Nachdem er einen Pulverkaffee getrunken hatte, machte er sich voller Vorfreude auf den Weg nach Goslar. Was für andere unheimlich und angsterregend war, das zog ihn unwiderstehlich in seinen Bann und am Harz faszinierte ihn besonders die geheimnisvolle Unterwelt des Bergbaus und der Höhlen, die es noch zu entdecken gab. Der Abstieg in verlassene Bergwerke bereitete ihm allergrößtes Vergnügen.
Langsam nahm er mit seinem alten Volvo eine enge Kurve nach der anderen hinunter ins Gosetal. Erst beim zweiten Anlauf fand der Geologe die gesuchte Abzweigung und beschloss, gleich vorn an der Einfahrt stehen zu bleiben. Die Uhr zeigte 13.30 Uhr und das Wetter konnte man treffend als sommerlich warm beschreiben. Er zog seine Bergstiefel an, hängte den Rucksack locker über eine Schulter und marschierte los. Schade, dass er nicht schon früher in den Harz gekommen war. Bis auf ein paar kurze Fachexkursionen kannte er das Gebirge nur aus der Literatur, aus Dokus und aus Filmen.
Der Zweiunddreißigjährige kletterte mit großen Schritten den Hang hinauf und hatte die verlassene Halde bald erreicht. Schon im 16. Jahrhundert soll es hier Bergbau auf Blei und Silber gegeben haben. Während er damit beschäftigt war, sich die Informationen ins Gedächtnis zu rufen, die er über die alte Anlage gelesen hatte, erregte ein Gegenstand seine Aufmerksamkeit und er bückte sich, um ihn näher zu betrachten. Ein breiter, goldener Ring blitzte im Sonnenlicht, in den ein lupenreiner Smaragd eingearbeitet war.
Verblüfft steckte er das Schmuckstück mit der Absicht in die Hosentasche, es irgendwann ins Fundbüro zu bringen. Schon nach wenigen Minuten hatte er es wieder vergessen.
Am Schacht angelangt, setzte er den Schutzhelm auf und machte sich vorsichtig an den nicht ganz ungefährlichen Abstieg in die Tiefe. Eine kindliche Freude überkam ihn am Anfang seines unterirdischen Wagnisses. Ins Innere der Erde vorzustoßen, setzte bei einem Mann wie Alexander sämtliche Glückshormone frei. Sein durchtrainierter hagerer Körper gehorchte ihm bedingungslos und hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Wehleidiges Jammern oder verzagtes Aufgeben waren ihm unbekannt und ob er nun auf eigene Faust oder mit Kollegen gefahrvolle Expeditionen unternahm, er stand sie bis zum Ende durch.
Mit der Stablampe leuchtete er den Weg aus, der ins Dunkel hinabführte und erkannte mit geschultem Blick überall auf den kahlen Wänden alte Abbauspuren und andere untrügliche Zeichen menschlichen Einwirkens.
Ein Luftzug blies ihm ins Gesicht und er war froh, dass er nicht mit einem flackernden Grubenlämpchen unterwegs war. Der Sohn eines Waldarbeiters bewunderte die Bergleute aus früheren Zeiten. Mit unerschöpflichem Mut hatten sie die Gefahren gemeistert, denen sie Tag für Tag schutzlos preisgegeben waren und Alexander wurde plötzlich bewusst, dass er selbst ziemlich leichtsinnig vorgegangen war. Wenn er jetzt abrutschte und stürzte, dann würde ihm sein Handy auch nichts nützen. Hier unten gab es absolut keinen Netzempfang!
Im selben Augenblick blieb er stehen und umklammerte haltsuchend einen eisernen Haken, den man im Gestein befestigt hatte.
Der grelle Schein seiner Lampe hatte etwas beleuchtet, das aussah wie ein menschlicher Kopf. Ein derart grausiger Fund löste selbst bei dem furchtlosen Alexander rasendes Herzklopfen aus. Mit einer solchen Entdeckung hatte er nicht gerechnet.
Er beugte sich vor und konnte nun ganz deutlich erkennen, dass in einer Felsspalte unter ihm eine nackte Gestalt mit ganz verbogenen Gliedmaßen lag. Sein erster Gedanke war, den armen Menschen schnellstmöglich da rauszuholen und einen Krankenwagen zu rufen. Doch nachdem er auf den Knien vorsichtig ein Stück weiter gerutscht war, wusste er, dass für dieses Wesen jede Hilfe zu spät kam. Es handelte sich um eine Frau und ihre weit aufgerissenen, starren Augen ließen keinen Zweifel daran, dass ihr Leben längst erloschen war.
Alexander machte sich unverzüglich auf den Rückweg.
Um 15.10 Uhr ging ein Anruf bei der Polizeiinspektion Goslar ein. Der diensthabende Beamte leitete die alarmierende Meldung sofort an die Kollegen von der Kripo weiter und Alexander wurde einer äußerst misstrauischen Befragung unterzogen.
Nachdem sich der Beamte am anderen Ende der Leitung alles genau angehört hatte, schärfte er dem Anrufer ein, sich keinesfalls vom vermuteten Tatort zu entfernen!
„Herr Dr. Funke, Sie müssen dort bleiben! Wir sind in wenigen Minuten bei Ihnen, haben Sie verstanden! Sie können unten an der Straße auf uns warten, aber Sie dürfen sich nicht entfernen!“
Alexander fragte sich, ob sie ihn etwa für verdächtig hielten? Er setzte sich auf ein Grasbüschel und wartete.
Das Telefonat war frustrierend gewesen. Man hatte ihn mehrmals gefragt, ob er sich vielleicht in der Dunkelheit getäuscht hätte und nachdem er die Frage zum dritten Mal hörte, platzte ihm der Kragen und er schrie:
„Ich bin mir ganz sicher, da unten liegt eine tote Frau!“
Über gute Ortskenntnisse schien die Goslarer Polizei nicht zu verfügen, denn seine Beschreibung des Tatortes stieß immer wieder auf ratloses Unverständnis. Er bereute, den Anruf nicht anonym von einer Telefonzelle aus gemacht zu haben, denn allmählich geriet seine gesamte Planung hoffnungslos durcheinander. Er mochte keine unvorhergesehenen Veränderungen und nur der Gedanke an die arme Frau in ihrem schrecklichen Grab da unten stimmte ihn ein wenig milder. Für die Tote war die Zeit für immer stehen geblieben.
Ein weniger nüchtern denkender Mensch mit einer Neigung zur Furchtsamkeit wäre vermutlich so schnell wie möglich zurück zum Auto gelaufen und hätte es vorgezogen, in der Nähe der Straße auf die Beamten zu warten. Alexander kam gar nicht auf die Idee und verbrachte die Zeit damit, Mutmaßungen anzustellen, was passiert sein könnte. Er dachte an den Ring und wollte ihn schon neugierig aus der Tasche ziehen, da erinnerte er sich noch rechtzeitig an mögliche Fingerabdrücke und suchte nach einem Papiertaschentuch. Behutsam wickelte er das Schmuckstück darin ein und legte es neben sich auf den warmen Waldboden, um es später der Polizei auszuhändigen.
Dann überkam ihn doch die Neugierde. Er entfaltete das Tüchlein wieder und betrachtete den Ring genauer, ohne ihn zu berühren. Die Größe des Ringes ließ auf einen männlichen Besitzer schließen und im inneren Rand konnte er eine Gravur entziffern: „In Liebe - Vera - 2002“.
Die Zeit verging und die Uhr zeigte bereits 15.55 Uhr. Die Polizei schien seinem Anruf keine gesteigerte Bedeutung beigemessen zu haben und als sich um 16.00 Uhr noch immer nichts getan hatte, streckte er sich resigniert am Boden aus und schloss die Augen. Alles ging schief.
Alexander war eingenickt und schreckte hoch, als Motorengeräusch erklang. Er hatte geträumt, die tote Frau sei wieder lebendig und würde ihn anflehen, er solle sich um ihre Katze kümmern. So ein Unsinn!
Ein schlanker, etwa dreißigjähriger Mann mit kurzgeschorenem Haar und einem Ohrring im linken Ohr sprang aus einem der Streifenwagen und kam auf ihn zu.
„Sie haben uns angerufen? Tut mir leid, es hat etwas länger gedauert als geplant. Ich bin Kommissar René Wienecke, das ist Frau Hübner von der Spurensicherung und die Kollegin Müller, für die Fotos. Na, dann wollen wir mal sehen, was Sie uns da beschert haben!“
Alexander war beunruhigt. Was bedeutete es, wenn ein Polizist sagte: Was Sie uns beschert haben? Wie war das gemeint?
Zwei weitere Beamte in Uniform stellten sich dicht neben ihn und die mit Fotozubehör behängte korpulente Frau musterte ihn sorgenvoll.
„Mein Name ist Alexander Funke, Geologe an der TU Claus-thal, ich wollte mir die alte Schachtanlage mal ansehen. “
Seine Stimme bekam während des Sprechens einen professionellen Klang. Anderen etwas vorzutragen, war für den Dozenten Routine und während er die Umstände schilderte, die ihn zu dem grausigen Fund geführt hatten, war er darauf bedacht, nicht zu sehr auszuschweifen. Dabei registrierte er, dass der durchtrainierte Kommissar Wienecke mit robusten Bergstiefeln ausgestattet war. Sehr vorausschauend!
„Gut, Herr Dr. Funke, vielen Dank für den Bericht. Was meinen die Kolleginnen, soll ich zuerst allein da runter gehen und Sie warten hier?“
Die Frau von der Spurensicherung nickte mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen. Sie schien ihre Zweifel zu haben, was die Schilderung des Zeugen anbetraf und die korpulente Fotografin gab erleichtert ihre Zustimmung. Eine Kletterpartie!
„Na, dann los, wir sehen uns das jetzt mal an und falls sich ihr Verdacht bestätigt, sollten die Kollegen vom Bergamt umgehend informiert werden!“ Die Männer verschwanden in der Tiefe des dunklen Schachtes.
Etwa zur selben Zeit fuhr ein grauer VW-Passat langsam die Clausthaler Straße entlang und die beiden Insassen suchten nach einem günstigen Halteplatz. Der Beifahrer studierte eine auseinandergefaltete Harzkarte und erst als sie den Ortsausgang von Goslar längst hinter sich gelassen hatten, bogen sie ab und ihr Auto holperte über einen mit Schotter bedeckten Forstweg.
„Halt an, von hier aus müssen wir zu Fuß gehen!“ Die Redakteure der Lokalzeitung stiegen aus dem unauffällig hinter einem Gebüsch geparkten Wagen und beugten sich aufgeregt über die Karte.
„Wenn wir hier hoch gehen und dann da rüber, dann müssten wir sie eigentlich sehen und vor allem hören können!“
Eilig machten sie sich auf den Weg. Der Ältere, ein mittelgroßer Mann mit Glatze, bewegte sich trotz des üppigen Bauchumfanges erstaunlich leichtfüßig bergaufwärts. Er würde mindestens fünf Kilo weniger wiegen, wenn ihn sein ausgesprochenes Faible für exklusive Biersorten nicht so oft in die Stammkneipe locken und bis tief in die Nacht hinein dort festhalten würde. Um der drohenden Verweichlichung durch übermäßigen Alkoholgenuss entgegenzuwirken, hielt er sich eisern an sein Trainingsprogramm und betätigte mit Armen und Beinen die Hebel einer Fitnessapparatur, die er sich während einer TV-Sendung bestellt hatte. Bernd Mentzelers Leibesumfang würde zwar nie zu einem Waschbrettbauch zusammenschrumpfen, aber wenigstens blieb er beweglich und muskulös.
Vor einer Stunde hatte er von seinem Schwager, der bei der Goslarer Polizei arbeitete, einen heißen Tipp gekriegt.
„Du, da ist irgendwas am Laufen! Der Wienecke von der Kripo will mit der Spurensicherung ins Schärpertal fahren! Zum alten Schacht, in Richtung Clausthal, oben links. Beeil dich und mach was draus! Und, Bernd, du hast das nicht von mir!!“
Der alternde Redakteur hatte sofort seine Sachen gepackt. Er hoffte auf eine sensationelle Story mit viel prominenter Beteiligung und seine Sinne waren so geschärft wie in den guten alten Zeiten vor seinem Zusammenbruch. Damals bestimmte er, was in den Lokalteil kam und die ganze Stadt sprach über seine bissigen Artikel und Kommentare. Er war der Mann für brisante Themen gewesen!
Die Erinnerungen verursachten ihm ein geradezu körperliches Unwohlsein. Nachdem er ein halbes Jahr in einer Klinik verbringen musste, um sein Leben wieder in den Griff zu kriegen, hatte sich alles geändert. Man ließ ihn nur noch über Schützenvereine, Kaninchenzüchter, Ratssitzungen und Kleingartenversammlungen berichten und er sehnte die bevorstehende Pensionierung herbei. Vielleicht brachte ihm diese Story einen letzten Erfolg.
Der Weg den Hang hinauf war auch für den hageren Fotografen recht mühselig. Er keuchte und sah bedauernd auf seine weißen Sportschuhe hinab, die schon ganz verdreckt waren. Am Morgen hatte es geregnet und die Erde war nass und klebrig. Endlich hatten sie eine kleine Schneise erreicht, die den Blick auf mehrere Personen freigab, die am gegenüberliegenden Hang in einiger Entfernung geschäftig hin und herliefen.
Zwischen kahlen Baumstämmen war das aufgeschüttete Geröll der verlassenen Bergwerkshalde zu erkennen und als der Fotograf den Zoom seiner Digitalkamera einstellte, fragte der Redakteur hastig: „Und, kannst du sehen, wer da alles ist?“
„Zwei Uniformierte, die Hübner von der Spurensicherung, eine Fotografin, Kommissar Wienecke und ein Unbekannter, wahrscheinlich der Typ, der die Tote gefunden hat.“ Der Redakteur drängelte. „Wir müssen da näher ran, ich kann nicht richtig was erkennen.“
Geräuschlos bewegten sie sich ein Stück auf den Tatort zu und warteten dann gespannt die weitere Entwicklung der Dinge ab.
Bernd Mentzeler feixte, auf jeden Fall würde er die Titelstory schreiben und die würde so richtig einschlagen, immer vorausgesetzt, an der Sache war was dran. Er grinste voller Vorfreude, bis ihm bewusst wurde, aus welchem Anlass er eigentlich hier war. Verdammt, kein Grund zum Lachen! Wer war die Tote überhaupt und vielleicht kannte er sie ja sogar.
Dienstag, 13. August