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Vier Privatdetektive in Weihnachtsstimmung, Sinterklaas auf Abwegen und ein Toter im Jutesack – der sechste Wohlfühl-Krimi mit der Amsterdamer Hausboot-Detektei Es ist November in Amsterdam, der Monat, in dem Sinterklaas und sein Gehilfe Zwarte Piet mit ihrem Dampfboot ankommen, um bis zum großen Sinterklaas-Fest am 5. Dezember durch Städte und Dörfer zu ziehen und Süßigkeiten zu verteilen. Als Sinterklaas spurlos verschwindet, droht das Fest ins Wasser zu fallen. Hat Sinterklaas sich abgesetzt, weil ihm der ganze Stress zu viel wurde? Die Hausboot-Detektei übernimmt den Fall – doch als ein Toter in Sinterklaas' Jutesack gefunden wird, ist klar: Hier geht es um mehr als einen arbeitsmüden Sinterklaas …
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2025
Amy Achterop
Kriminalroman
Es ist November in Amsterdam, der Monat, in dem Sinterklaas und sein Gehilfe Zwarte Piet mit ihrem Dampfboot ankommen, um bis zum großen Sinterklaas-Fest am 5. Dezember durch Städte und Dörfer zu ziehen und Süßigkeiten zu verteilen. Als Sinterklaas spurlos verschwindet, droht das Fest ins Wasser zu fallen. Hat Sinterklaas sich abgesetzt, weil ihm der ganze Stress zu viel wurde? Die Hausboot-Detektei übernimmt den Fall – doch als ein Toter in Sinterklaas‘ Jutesack gefunden wird, ist klar: Hier geht es um mehr als einen arbeitsmüden Sinterklaas.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Amy Achterop alias Heidi van Elderen wollte eigentlich selbst auf ein Hausboot in Amsterdam ziehen. Dann wurde ihr klar, dass man dort zwar Hunde, aber keine Esel und Schafe halten kann. Deshalb genießt die am Niederrhein aufgewachsene Autorin heute nur echte und fiktionale Ausflüge in die Grachtenstadt. Die übrige Zeit lebt sie zusammen mit ihrem niederländischen Ehemann, ihren Kindern und vielen Tieren auf einem kleinen Bauernhof in Schweden.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Ilse Wagner
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign
Coverabbildung: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von AdobeStock
ISBN 978-3-10-492167-9
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Leseprobe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
Als die Dunkelheit über der Stadt hereinbricht – es ist kaum fünf Uhr, fühlt sich aber an wie spät am Abend –, fällt die erste Schneeflocke. Im warmen Licht der Straßenlaternen trudelt sie der Erde entgegen, kreist eine Weile über der Parkbank, schwebt vorbei am grauen Stamm der alten Ulme, tanzt mal hierhin, mal dorthin, so, als folge sie ihrer eigenen Choreographie und nicht Wind und Schwerkraft.
Fiete Uittenbroek verfolgt ihren Auftritt vom Fenster seiner neuen Praxis aus. Er fühlt sich ein wenig nostalgisch. Es muss ewig her sein, dass er zuletzt Schnee gesehen hat in Amsterdam, wo es ab November zwar zuverlässig kühl und klamm, doch kaum mehr kalt genug für echte Winter wird.
Die Flocke nimmt Kurs auf die Hausfassade. Fiete hofft, dass sie auf seinem Fenstersims landet, liegen bleibt, Gesellschaft bekommt. Doch kurz vor dem Ziel gerät sie ins Taumeln und stürzt ab, geradewegs in den offenen Mund eines vielleicht zehnjährigen Mädchens. Es schluckt, lacht, sagt etwas zu seinem Vater, ein schlaksiger Mann mit schlechter Haltung und albern bunter Bommelmütze. Dann schaut es zu Fiete hinüber, winkt aufgeregt, als würden sie sich kennen.
Fiete winkt nicht zurück. Kinder kann er nicht ausstehen, schon nicht mehr, seit er vor fast fünfundzwanzig Jahren einen kleinen Bruder bekam, obwohl er sich doch eigentlich ein Gokart gewünscht hatte. Genervter, als ein erwachsener Mann über den Verlust einer Schneeflocke vielleicht sein sollte, verlässt er seinen Fensterplatz. Setzt sich auf das weiße Ledersofa im Wartezimmer und denkt über die nächste Marketingaktion nach und auch darüber, dass er bald so viel Geld haben wird, dass er einen Teil der Winter auf Skiern in St. Moritz verbringen kann.
Bis er leises Glöckchengebimmel hört – tingeling, tingeling –, dann ertönt das laute Dingdong der Klingel. Fiete, der niemanden erwartet, jedenfalls jetzt noch nicht, steht auf, öffnet die Tür. Vor ihm hat sich ein alter, kleiner und unfassbar dicker Nikolaus aufgebaut, unschwer zu erkennen an seinem langen roten Mantel und der roten, spitz zulaufenden Bischofsmütze mit goldenem Kreuz, unter der weiße Locken hervorquellen. Zwei Drittel seines faltigen Gesichts sind ebenfalls von Haaren – buschigen Augenbrauen und einem imposanten Vollbart – bedeckt, hinter Brillengläsern sieht man gerade noch ein Paar trübe braune Augen.
Fiete kratzt sich am Kopf, der Nikolaus hält ihm mit weiß behandschuhter Hand eine Tüte Pfeffernüsse hin. »Fiete Uittenbroek, warum hast du deine Stiefel nicht rausgestellt?«, fragt er mit leicht nasaler und vorwurfsvoll klingender Stimme.
»Vergessen«, antwortet Fiete automatisch und fühlt sich einen unangenehmen Moment lang, als wäre er wieder fünf Jahre alt. Was soll der Quatsch? Hat sich der Typ trotz des Namensschilds an der Klingel in der Tür geirrt? Aber dann hätte er ihn wohl nicht mit seinem richtigen Namen angesprochen. Oder will ihm einer seiner Kumpels einen blöden Streich spielen?
»Coen?«, fragt Fiete probehalber, aber im selben Moment fällt ihm ein, dass Coen zwar einen seltsamen Humor hat und dick ist, aber doch nicht so dick, und außerdem mindestens einen Kopf größer als diese seltsame Figur.
»Sinterklaas«, stellt der Nikolaus klar, während er die Tüte mit den Pfeffernüssen sinken lässt. »Seit gestern in der Stadt und besorgt um meine Gesundheit.«
Fiete dämmert es. Könnte das der Mann sein, der vor drei Tagen bei seiner Assistentin Daphne einen Termin gebucht, aber furchtbar genuschelt hat? Notiert hat sie: Irgendwas mit Niklas. »Du hast einen Termin bei uns?«
»Um halb sechs«, bestätigt Sinterklaas.
Bis dahin ist es noch eine halbe Stunde, aber was soll’s. »Herzlich willkommen«, sagt Fiete, lässt ihn eintreten und deutet auf die Garderobe, doch Sinterklaas schüttelt den Kopf. Er schlurft zur Rezeption, und Fiete, der hinter ihm geht, sieht, dass die Glöckchen an den Stiefeln befestigt sind. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragt Fiete, ob er ein Foto schießen dürfe. »Oder vielleicht könnten wir sogar ein kleines Video aufnehmen? Es passiert schließlich nicht alle Tage, dass man einen Sinterklaas in der Praxis hat.« Fiete schiebt ihm das Anmeldeformular und einen Stift hin.
»Vielleicht nach der Behandlung«, brummt Sinterklaas, während er zum Stift greift. Ins Namen- und Adressfeld schreibt er mit krakeligen Druckbuchstaben: Sinterklaas, Spanjestraat 1, 0612 Hemel. »Ab Mitte Dezember wohne ich bekanntermaßen wieder in Spanien, aber die Adresse ist natürlich geheim. Sonst habe ich überhaupt keine Freizeit mehr.«
»Verstehe«, sagt Fiete, so als würde er das hier ebenfalls witzig finden, während sein Patient bei Geburtsjahr 260 n. Chr. einträgt. »Ich brauche trotzdem noch deinen vollen Namen.«
»Du meinst den vor meiner Heiligsprechung?«
»Den, der in deinem Ausweis steht.«
Sinterklaas nickt und schreibt Nicolaas van Myra.
Fiete seufzt.
Sinterklaas schaut auf und mustert Fiete mit leicht schief gelegtem Kopf. »Du glaubst nicht an Sinterklaas, oder? Selbst dann nicht, wenn er vor dir steht.«
»Nun ja«, sagt Fiete. Er vermutet, dass bei diesem Typen hier ein paar Glöckchen locker sind.
»Typisch Wissenschaftler«, sagt Sinterklaas und schüttelt lachend den Kopf. »Zweifeln an allem, was man nicht tausendprozentig beweisen kann.« Und dann macht er in der Sparte der Gesundheitsprobleme Kreuzchen bei Kopfschmerzen, Erschöpfung, Verdauungsschwierigkeiten, Übergewicht, Magenschmerzen und Kreislaufprobleme. »Der Arzt hat nichts gefunden«, sagt er.
Für jemanden, der angeblich 1765 Jahre alt ist, hält Fiete die Bilanz gar nicht mal für so schlecht. Aber er will nicht zynisch sein, vor allem jetzt nicht, wo das Gespräch endlich in Gefilde gerät, in denen er sich auskennt. Deshalb nickt er mitfühlend. »Das, was Ärzte im Medizinstudium lernen, ist leider immer noch sehr limitiert. Dabei sind deine Symptome eindeutig.«
»Das habe ich nach einer Internetrecherche auch herausgefunden: Mikroplastik ist an allem schuld.« Sinterklaas macht eine bedeutungsschwere Pause, dann fährt er fort: »Ich fürchte, dass ich davon ganz schön viel herumschleppe. Schon wegen des vielen Fischs. Es heißt ja immer, dass der so gesund ist.«
»Ganz genau«, stimmt Fiete zu. »Und keiner erwähnt, dass wir mit jedem Lachsfilet, jedem Heringsbrötchen eben nicht nur Vitamin D und B12, sondern auch winzige Teilchen von Polyesterpullis, Einkaufstüten oder Fischernetzen essen. Dazu kommt Mikro- und Nanoplastik aus anderen Nahrungsmitteln, aus dem Trinkwasser, ja sogar aus der Luft. Pro Person und Woche nehmen wir laut aktueller Studien so viel wie eine Kreditkarte auf.«
»Ekelhaft, wie wir uns selbst und die Welt kaputt machen«, sagt Sinterklaas.
»Es gibt Hoffnung«, verspricht Fiete, der der Meinung ist, dass sie nun genug geredet haben. »Wie möchtest du bezahlen?«
Sinterklaas zieht drei Hunderter aus der Manteltasche und legt sie auf den Tresen. Fiete mag Kunden mit Bargeld. Er steckt die Scheine ein und bedeutet Sinterklaas, ihm zum Behandlungszimmer zu folgen. Es ist ein überwiegend weißer, spartanisch möblierter Raum mit indirekter Beleuchtung und einem kleinen Fenster, durch das man, wenn es nicht schon dunkel wäre, in den Hinterhof mit seinen Müllcontainern und Fahrrädern schauen könnte. Weitaus spannender ist aber sowieso die zweieinhalb Meter lange Röhre, die mitten im Zimmer steht und in Formgebung und Größe an ein Solarium erinnert. Das Spektakuläre an ihrem Design ist die transparente Hülle, hinter der silberne Partikel in einer nachtblauen Flüssigkeit schweben.
»Der erste Quantum Extractor der Welt«, sagt Fiete feierlich.
»Beindruckend«, sagt Sinterklaas. »Dieses Ding holt also das Mikroplastik aus meinem Körper und teleportiert es in den Weltraum?«
»Unsere bisherigen Ergebnisse übertreffen all unsere Erwartungen«, sagt Fiete. »Oft verbessern sich die Beschwerden nach der ersten Behandlung um bis zu neunzig Prozent.«
Sinterklaas tätschelt seinen Bauch, als wolle er sich von ihm verabschieden. »Und das tut nicht weh?«
»Das Einzige, was du vielleicht spürst, ist ein leichtes Kribbeln auf der Haut«, verspricht Fiete. »Viele werden von der Behandlung auch sehr müde.« Dann fragt er: »Soll ich dir erklären, wie der Quantum Extractor funktioniert?«, denn das wollen die meisten bei ihrem ersten Termin wissen.
Sinterklaas nicht. Er hätte das schon auf der Website nachgelesen, wenn auch nicht ganz genau verstanden. »Aber sofern ich es richtig begreife, geht es vielen Wissenschaftlern nicht besser.«
Fiete ist sich nicht sicher, ob er da eine kleine Spitze gehört hat. Aber nein, niemand, der seine Erfindung ernsthaft anzweifelt, würde freiwillig dreihundert Euro für eine Behandlung ausgeben. »Die Quantenphysik bringt auch die klügsten Köpfe an ihre Grenzen«, erwidert er, was er so oder so ähnlich immer sagt. »Zum Glück bedeutet das nicht, dass wir sie nicht für unsere Zwecke einsetzen können. Schließlich gibt es auch schon seit Jahren Quantencomputer, die ganz ähnliche Prinzipien nutzen.«
Sinterklaas nickt bedächtig, scheint über etwas nachzudenken. »Du bist dir ganz sicher, dass das hier nicht gefährlich ist?«
»So ungefährlich wie eine warme Dusche«, versichert Fiete und denkt, dass das ein guter Anfang für einen Slogan wäre. Der Quantum Extractor: so ungefährlich wie eine warme Dusche, so wirksam wie, wie … ja, wie was eigentlich? Wie ein Jungbrunnen vielleicht? Er kann später mit Daphne dazu brainstormen.
»Soll ich meine Stiefel ausziehen?«, will Sinterklaas wissen. Er klingt ein bisschen außer Atem, auf seiner Stirn haben sich zwei Schweißperlen gebildet.
»Aus hygienischen Gründen bitten wir darum«, sagt Fiete. »Socken und die anderen Klamotten kannst du anbehalten. Aber vielleicht solltest du Mantel und Mütze ablegen, damit es nicht zu heiß wird.« Er deutet auf einen freien Stuhl in der Zimmerecke.
Dann öffnet er die Röhre und erklärt die Prozedur: Sinterklaas wird sich auf die weiche Resonanzmatte legen. Sobald er sich bereit fühlt, soll er auf den roten Knopf drücken, woraufhin sich der Quantum Extractor automatisch schließt. Gleichzeitig werden der Extraktionsprozess des Mikroplastiks und die Teleportation desselbigen starten. »Der Prozess dauert etwa fünfzehn Minuten. Wenn die Wände des Quantum Extractors aufhören zu leuchten, bist du fertig. Und falls vorher irgendetwas ist, kannst du mich jederzeit rufen. Ich sitze gleich hinter der Tür.«
»Jetzt bin ich schon ein bisschen aufgeregt«, gibt Sinterklaas zu und wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn.
Fiete lässt den Mann allein. Im Wartebereich legt Daphne gerade ein paar Exemplare der Zeitschrift Inspiring Visions auf den niedrigen Couchtisch. In der aktuellen Ausgabe steht ein kurzer redaktioneller Bericht über den Quantum Extractor, für den Fiete im Gegenzug zwei große Anzeigen geschaltet hat.
»Ich habe gar nicht gehört, dass du vom Einkaufen schon zurückgekommen bist«, sagt er.
»Muss an meinen neuen Gummisohlen liegen«, sagt Daphne und räumt Kaffeebohnen, grünen Tee und Servietten weg. Sie ist eine kleine Person, Typ spröde Bibliothekarin und weitaus unscheinbarer als die Frauen, mit denen sich Fiete sonst so umgibt. Aber für den Job der Assistentin ist die 38-Jährige perfekt geeignet: Sie ist zuverlässig, kann gut organisieren und gibt fast immer kluge Antworten. Jetzt deutet sie auf die geschlossene Tür des Behandlungszimmers. »Er war ein bisschen früh dran, oder?«
»Eine halbe Stunde. Und es ist kein Niklas, wie du notiert hast, sondern Sinterklaas persönlich«, sagt Fiete und freut sich über den belämmerten Gesichtsausdruck seiner Assistentin.
»Sinterklaas?«
»Wie er leibt und lebt und in voller Montur.«
»Das will ich sehen.«
Aber weil Sinterklaas noch in der Röhre liegt, erledigt Daphne erst einmal ein bisschen Buchhaltung.
Das Geschäft läuft gut und die Zeit davon. Fiete schaut auf die Uhr. Fünf vor sechs schon. »Ich fürchte, unser Nikolaus ist eingeschlafen. Willst du ihn wecken, Daphne?«
»Klar«, sagt Daphne, geht ins Behandlungszimmer und schließt die Tür hinter sich.
Fiete hört ihr freundliches »Hallo?«, dann ist es still. Zu still, findet er plötzlich, bekommt ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und beschließt, nachzuschauen, als ihm Daphne fast die Tür gegen den Kopf schlägt.
»Wenn das ein Scherz sein soll, ist er nur mittellustig«, sagt sie kühl und geht an ihm vorbei zur Rezeption.
Fiete hat keine Ahnung, was sie meint, bis er selbst ins Zimmer tritt und den Quantum Extractor öffnet. Auf der schwarzen Resonanzmatte liegt kein Sinterklaas. Dafür Konfetti aus winzigen bunten Plastikteilchen.
Fiete merkt, wie ihm der kalte Schweiß ausbricht, obwohl eine Stimme in seinem Kopf versucht, ihn zur Vernunft zu bringen: Das, wonach es aussieht, kann es nicht sein. Er schaut sich um, guckt sogar unter den Quantum Extractor, aber Sinterklaas ist weg. Nur seine schwarzen Stiefel mit den bronzefarbenen Glöckchen stehen in der Zimmerecke. Es gibt keine Schränke, keine Geheimtüren, keine Vorhänge und keine Lüftungsschächte. Das Fenster ist geschlossen, aber selbst wenn es offen wäre: Durch dieses Fenster hätte kaum ein Oberschenkel des Mannes gepasst.
Fiete schlägt die Hände vor den Mund, dass es weh tut, vielleicht, um sich aus diesem bösen Traum zu wecken. Aber er wacht nicht auf. »Daphne«, ruft er, plötzlich voller Angst, sie könnte ihn allein gelassen haben.
»Was?« Sie klingt genervt, aber immerhin ist sie noch da und kommt jetzt sogar wieder ins Zimmer
»Das hier ist kein Scherz.« Fiete deutet auf Sinterklaas’ Stiefel.
Daphne zieht die Augenbrauen hoch.
»Glaub mir doch«, fleht Fiete und sieht dabei offenbar so elendig aus, dass zumindest ein Teil der Skepsis aus Daphnes Gesichtszügen weicht.
Sie geht zurück zur Rezeption, klappt den Ordner mit den Anmeldeformularen auf und macht große Augen. »Du meinst also, dass hier eben tatsächlich ein Mann im Quantum Extractor lag? Und das Einzige, was von ihm jetzt noch übrig ist, sind ein Paar Schuhe und eine Menge Kunststoffteilchen?«
Fiete nickt.
»Hast du ihn nicht nach seinem richtigen Namen und seiner Telefonnummer gefragt?«
»Gefragt schon«, sagt Fiete kleinlaut.
Daphne seufzt, geht zurück ins Behandlungszimmer und schaut sich um. »Von außen kann man das Fenster nicht zumachen, oder?«
»Unmöglich. Aber so weit wäre er bei seinem Körperumfang ohnehin nicht gekommen.«
»Warst du auf dem Klo, als er hier drin war? Oder sonst irgendwo, so dass er unbemerkt die Praxis verlassen konnte?«, fragt Daphne weiter.
»Ich war die ganze Zeit auf dem Sofa und habe E-Mails gelesen«, sagt Fiete.
Nun deutet Daphne auf den Quantum Extractor, ihre Hand zittert leicht. »Wäre es möglich, dass …?«
»Ich hoffe nicht«, sagt Fiete.
»Du hoffst …«, wiederholt Daphne, und Fiete kann ihr ansehen, dass sie hoffen in diesem Zusammenhang für keine akzeptable Kategorie hält.
Weil er ihren kritischen Blick nur schwer ertragen kann, schaut er durch das Fenster in den kalten, finsteren Winterhimmel und empfindet den Gedanken an Schnee plötzlich nicht mehr als schön, sondern als bedrohlich.
»Solltest du nicht die Polizei verständigen?«, schlägt Daphne vor.
»Die Polizei?« Nun ist es an Fiete, fassungslos zu sein. »Was soll ich denen denn sagen?«
Daphne nimmt ihren Mantel vom Haken und zieht ihn an. An der Tür wendet sie sich um. »Die Wahrheit: Dass du sehr wahrscheinlich Sinterklaas getötet hast.«
In der Kombüse der Lakshmi klingelt das Telefon. Isa sitzt auf dem Boden, bürstet Hund und übt das Alleinsein. Arie, Hunds Herrchen, Besitzer des Hausboots und Gründer der Detektei, ist mit seinen beiden Enkelkindern nach draußen gegangen, weil die dringend mal an die frische Luft mussten. Maddie, Isas Schwester, ist mit Elin unterwegs, um Abendessen zu besorgen. Und Jan, der vierte Detektiv, hat heute frei.
Isa guckt das Telefon an. »Soll ich drangehen?«
Hund rollt sich auf den Rücken, was wohl heißt, dass sie ihm lieber den Bauch kraulen soll.
»Vielleicht ist es dringend«, überlegt Isa laut weiter, dann steht sie kurzentschlossen auf, holt tief Luft und meldet sich: »Hier ist die Hausboot-Detektei, und du sprichst mit Isa Hornix.«
»Fiete Uittenbroek. Ich brauche eure Hilfe«, sagt der Anrufer.
»Was ist passiert?«, fragt Isa und freut sich, weil sie jetzt schon fast klingt wie eine Meister-Detektivin.
»Äh, also wie soll ich es sagen? Ich habe einen Sinterklaas verloren. Vielleicht auch den Sinterklaas.« Der Mann lacht, klingt aber nicht froh.
Isa fühlt sich mit einem Mal nicht mehr ganz so meisterlich. Wie soll man bitte einen Sinterklaas verlieren? Außerdem weiß sogar sie, dass die vielen Sinterklaase, die seit gestern in der Stadt herumlaufen, in Wahrheit ganz normale, verkleidete Männer sind. Unsicher fragt sie: »Meinst du das ironisch?« Sicherheitshalber fügt sie hinzu: »Das verstehe ich dann nämlich nicht.«
»Leider meine ich das vollkommen ernst«, sagt Fiete.
Während Isa darauf wartet, dass der Mann weiterspricht, drückt sie die Nase gegen eines der runden Bullaugen und schaut nach draußen. Es schneit. Kleine weiße Flocken landen auf der Reling der Lakshmi, auf dem Weg neben der Gracht, auf Aries Mütze und auf dem blauen Doppelbuggy, in dem die Zwillinge sitzen und schon wieder ganz vergnügt aussehen. Isa weiß nicht, ob das an dem Schnee liegt oder daran, dass in der Zwischenzeit auch Matts, deren Papa, angekommen ist. Aus der Jackentasche zieht er ein weißes Ding, das Isa für einen Handschuh hält. Aber dann sieht sie, dass es eine Handpuppe ist, und hat im gleichen Moment eine Eingebung. »Jetzt weiß ich! Du hast einen Sinterklaas-Knuffel verloren.«
»Knuffel?«, fragt Fiete zurück.
Isa überlegt, ob es ihm wie ihr geht und er auch ein bisschen mehr Zeit zum Denken braucht.
Sie erklärt: »Na ja, so ein Sinterklaas aus Plüsch. Ich hatte mal so einen, als ich klein war. Irgendwann hat er leider den Kopf verloren, aber dafür habe ich …«
»Nein, nein«, unterbricht Fiete sie. »Es ist so: Eben ist ein Sinterklaas in meine Praxis gekommen beziehungsweise ein Mann im entsprechenden Outfit, der darauf beharrt hat, dass er der echte Sinterklaas ist. Und dann ist er spurlos aus dem Behandlungszimmer verschwunden.«
Jetzt hat Isa so viele Fragen auf einmal, dass diese in ihrem Kopf ziemlich wild durcheinanderpurzeln. Sie braucht eine Weile, um die wichtigste zu finden. Schließlich erkundigt sie sich: »Hat Sinterklaas sein Pferd mitgebracht?«
Fiete lacht. Diesmal hört er sich fast ein bisschen ärgerlich an. »Natürlich nicht. Wie gesagt, ich habe eine Praxis, keinen Stall.«
»Schade«, sagt Isa, die Pferde seit dem letzten großen Fall der Hausboot-Detektei mindestens genauso toll findet wie Hunde und Eichhörnchen. Praxis klingt dagegen nach Spritzen, und die mag sie nicht. »Bist du Arzt?«
»Quantenheilkundler, Gesundheitscoach und Erfinder des Quantum Extractors«, sagt Fiete.
Isa denkt, dass sie später Maddie fragen muss, was das ist, so ein Quantenkundler und das andere Quantum-Ding. Falls sie die Wörter bis dahin nicht wieder vergessen hat. Gesundheitscoach ist wahrscheinlich jemand, der Leute gesund macht. Also doch so etwas wie ein Arzt. »Ist dieser Sinterklaas krank?«
»Wie so viele leidet er an den Folgen einer jahrelangen Ansammlung von Mikro- und Nanoplastik in seinem Körper. Deshalb war er bei mir. Vielleicht hast du schon den Artikel in der aktuellen Ausgabe von Inspiring Visions über den Quantum Extractor und meine Arbeit gelesen?«
»Ich kann nicht lesen«, sagt Isa.
»Ach so«, sagt Fiete. »Wie alt bist du denn?«
»Zweiundzwanzig. Ich bin anders begabt«, sagt Isa und schielt zur Tür. Ihr gefällt nicht, welche Richtung dieses Gespräch nimmt. »Vielleicht erklärst du das mit Sinterklaas besser Arie.«
»Arie Poopjes? Das ist euer Boss, oder?«
»Nicht echt. Aber er kann lesen.«
Das scheint zu genügen. »Ist er denn da?«
Isa schaut wieder aus dem Fenster. Frida hat nun die Handpuppe und schnappt damit nach ihrem Opa, sie und Niels lachen, ihre kleinen Gesichter sind ganz rot vor Aufregung oder Kälte.
»Er ist draußen und wird gerade von einem Eisbären gefressen«, teilt Isa mit.
»Einem Eisbären …«, wiederholt Fiete.
»Der Eisbär ist doch aus Stoff«, erklärt Isa und freut sich ein bisschen, weil sie es fast nie schafft, jemanden zu foppen. »Warte mal.«
Sie öffnet die Tür, hält die Hand über das Telefon und ruft: »Arie, da ist jemand am Telefon für dich.«
»Ich komme«, ruft Arie zurück, zieht seinen Kopf aus dem Eisbärmaul, küsst die Zwillinge auf die Stirn, klopft seinem Sohn auf die Schulter, geht an Bord, lächelt Isa zu und nimmt das Smartphone.
Isa beobachtet, wie sich Aries Augenbrauen heben und gar nicht mehr runterkommen wollen. »Willst du damit sagen, dass du es für möglich hältst, dass deine Maschine diesmal kein Mikroplastik, sondern einen erwachsenen Mann im Sinterklaas-Kostüm mit Hilfe irgendeiner Quantentechnik an einen unbekannten Ort in einem Paralleluniversum katapultiert hat?«, fragt er zwischendurch. »Das klingt doch sehr unwahrscheinlich.«
Als er fünf Minuten später auflegt, hat er eine Adresse notiert. Fast zeitgleich kommen Maddie und Elin von ihrer Einkaufstour zurück. Sie packen ein paar Kartons aus.
»Curry vom Thai«, sagt Maddie.
»Neuer Fall?«, fragt Elin und deutet auf Aries Notizblock.
»Ganz komische Sache«, sagt Arie, während er vier Teller auf den Tisch stellt.
Isa glaubt, dass sie das besser erklären kann. »Ein Fiete hat Sinterklaas auf den Mond geschossen oder so. Und ihr sollt ihn wiederfinden.«
Eine Stunde später, es ist kurz vor acht, stapfen Elin und Arie mit hochgeschlagenen Krägen durch das hübsche Viertel östlich des Frederiksplein und westlich der Amstel. Die Gassen sind ungewöhnlich leer, wer kann, bleibt bei diesem Wetter zu Hause. Auf den Pflastersteinen liegt eine etwa zehn Zentimeter dicke Schicht gräulicher Matsch, der Wind kommt von vorn und haut ihnen Schneeregen um die Ohren. Elin zieht ihren Schal hoch und ihre Mütze tiefer ins Gesicht. »Ich hoffe, Fiete hat eine gute Heizung. Oder, noch besser: einen Holzofen und heiße Schokolade.«
Arie lacht in sich hinein. »Bist du nicht diejenige, die dreißig Jahre lang in Lappland gewohnt hat? Da sind es zurzeit doch wahrscheinlich schon minus fünfzehn Grad.«
»Es waren fünfunddreißig Jahre, und heute Morgen waren es im Norden minus zwanzig Grad. Aber selbst minus dreißig Grad in Lappland kriechen dir nicht so in die Knochen wie diese feuchten zwei Grad plus in Amsterdam.«
Plötzlich spürt Elin einen Anflug von Heimweh, eine Mischung aus Nostalgie und fast schmerzhafter Sehnsucht nach tiefverschneiten Wäldern, Nordlichtern, Weite. Schnell ablenken, denkt sie und konzentriert sich auf ihren Kollegen, der schon lange auch einer ihrer besten Freunde ist. Dieser große, bärige Mann mit freundlichen Augen, gemütlichem Bauch und abgewetzten Klamotten trägt zwar auch Jacke und Mütze, aber anders als sie weder Handschuhe noch einen Schal, hinter dem er sich verkriecht. »Dir ist nie kalt, oder?«
»Nicht mehr, seit Hund und ich regelmäßig Winterschwimmen gehen.«
»Zusammen mit der netten Tierärztin?«, fragt Elin gespielt beiläufig.
Arie lächelt spontan und so ansteckend, dass es sich anfühlt, als würde davon sogar der Schneematsch ein bisschen auftauen.
»Uhuu«, sagt Elin.
»Wir sind Freunde, mehr nicht«, sagt Arie schnell, dann wechselt er das Thema. »Willst du nicht auch mal zum Schwimmen mitkommen?«
Elin schüttelt sich ein bisschen. »Wenn du mir eine Sauna an den Strand stellst, denke ich darüber nach. Im Moment brauche ich aber dringender einen Grundkurs in Sachen Sinterklaas.«
»Kommt der nicht auch nach Schweden?«
»Bei uns gibt es Jultomte, so eine Art Weihnachtswichtel. Aber keinen Nikolaus.«
Elin wohnt inzwischen schon seit einigen Jahren in den Niederlanden – gekommen wegen einer wilden, aber nicht sehr haltbaren Liebe, geblieben wegen der Freunde. Doch ohne Kinder hat sie die größte Weihnachtstradition des Landes immer nur am Rande miterlebt.
»Aber du weißt sicher, dass er seit gestern in der Stadt ist?«, erkundigt sich Arie.
»Das Spektakel konnte man ja kaum verpassen. An meinem Apartment sind wie jedes Jahr gefühlt fünftausend kreischende Kinder vorbeigerannt.«
Elin meidet großen Trubel im Allgemeinen, aber vor einigen Jahren hat sie sich den Umzug auch einmal angeschaut. Irgendwann Mitte November, je nachdem, wo im Land man wohnt, wird der Einzug von Sinterklaas zelebriert. Mit einem Dampfboot, mit dem der Heilige die lange Reise aus Spanien zurückgelegt hat, trifft er unter dem Jubel der Menschenmassen im Hafen ein, dann steigt er auf ein weißes Pferd und reitet durch die Straßen. Begleitet wird er von Musikern, Tänzern und natürlich von seinen berühmt-berüchtigten Helfern, den Zwarte Piets, die unter anderem damit beschäftigt sind, fünf Tonnen Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen.
»Und jeden Abend legen die Eltern beziehungsweise Sinterklaas noch mehr Süßigkeiten in die Stiefel, richtig?«
»Richtig. Das erledigt Sinterklaas zusammen mit den Zwarten Pieten, das sind seine Helfer. Im Gegenzug legen die Kinder eine Möhre hin – die ist für Sinterklaas’ Pferd«, erklärt Arie. »Am Abend des fünften Dezembers gibt es dann die große Bescherung. Sinterklaas klopft an die Tür, und wenn man aufmacht, steht ein großer Sack mit Geschenken davor.«
»Pakjesavond. Das haben wir doch auf der Lakshmi auch schon mal gemacht.« Elin erinnert sich.
»Genau. Der Pakjesavond war lange die größte Feier des Jahres. Die Familien kommen zusammen, Geschenke werden ausgetauscht, man isst Pfeffernüsse, Schokoladenbuchstaben und andere leckere Sachen. Als Matts noch klein war, haben das eigentlich alle so gehalten. Am sechsten Dezember wurde dann bei uns sogar schon der Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt. Und am fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Dezember traf sich die Familie zu einem festlichen Weihnachtsessen, einige sind in die Kirche gegangen. Geschenke gab es dann aber nicht mehr. Seit einiger Zeit ändert sich das, Weihnachten wird nun auch immer größer und kommerzieller gefeiert. Bei vielen gibt es einfach zweimal Geschenke.«
Während sie sich an ein paar schlecht geparkten Fahrrädern vorbeiquetscht, überlegt Elin, wie es wohl wäre, wenn sie in einem Monat gleich zwei große Familienfeiern inklusive Geschenke organisieren müsste. Nein, lieber nicht. Eine Kurve weiter stehen sie vor einem weißen dreistöckigen Haus, dem modernsten der Gasse. Im Erdgeschoss brennt Licht.
»Hier ist es«, sagt Arie und klingelt.
Der Mann, der öffnet, ist groß, sogar noch ein paar Zentimeter größer als Arie. Elin findet, dass er aussieht wie einer dieser amerikanischen Life Coaches, die ihr in den Werbeblöcken auf Youtube ständig erzählen, sie könne auf jeden Fall schön, glücklich und obszön reich werden – sie müsse nur das richtige Mindset haben und einen Masterkurs zum Sonderpreis von 699 Euro buchen.
Ein bisschen zu glatt und zu viel Kaschmir für ihren Geschmack, zu durchtrainiert, zu viel Aftershave mit Zitrusduft, zu viel Zahnpasta-Lächeln. Obwohl sie Letzteres nur ahnen kann, denn während Arie sie beide vorstellt, presst Fiete Uittenbroek seine schön geschwungenen Lippen aufeinander, so als koste es ihn einiges an Anstrengung, in dieser Situation die Fassung zu bewahren.
»Gut, dass ihr so schnell kommen konntet«, sagt er. »Ich bin völlig fertig.«
Elin knöpft ihren schneeregennassen Mantel auf, hängt ihn zusammen mit Mütze und Schal an die Garderobe, obwohl es trotz warmer Heizkörper auch hier drinnen ganz schön ungemütlich ist. Liegt vielleicht an dem kühlen Licht und an diesem stylischen weißen Ledersofa, das aussieht, als würde man im Winter abrutschen und im Sommer mit verschwitztem Hintern darauf kleben bleiben.
»Was ist passiert?«, fragt Arie.
Fiete bedeutet ihnen, ihm zu folgen, und wenige Schritte später stehen sie in einem kleinen Raum mit großem Glitzerding.
»Der Quantum Extractor«, sagt Fiete.
Passt optisch gut zur Weihnachtszeit, denkt Elin. Sie fragt: »Und der macht was?«
»Er befreit den Körper von Mikroplastik. Mit Hilfe eines revolutionären Verfahrens werden die für uns schädlichen Teile teleportiert«, sagt Fiete schnell. Es ist klar, dass er eigentlich über etwas anderes sprechen will.
»Teleportiert wie in Harry Potter?«, fragt Arie und macht ein Gesicht, als würde er überlegen, ob ein Arzt nicht besser qualifiziert wäre als eine Detektei, um diesem Mann zu helfen.
»Beam me up, Scotty«, murmelt Elin.
»Teleportieren wie in Quantenteleportation. Das ist Wissenschaft, kein Hokuspokus und auch keine Science-Fiction. Es gibt Studien, die belegen, wie gut der Quantum Extractor funktioniert.« Fiete spricht jetzt so, als müsste er sehr begriffsstutzigen Erstklässlern etwas sehr Einfaches erklären. Es folgt eine Abhandlung über eine Heisenbergsche Unschärferelation, das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon und über einen Anton Zeilinger, der 1993 fast den Quanten-Teleporter bauen konnte. Klingt alles sehr schlau, aber egal, wie langsam und ausführlich Fiete das hier erklärt, Elin weiß jetzt schon, dass sie es nicht verstehen wird.
Arie offenbar auch nicht, er unterbricht die Ausführungen. »Die technischen Details kannst du uns später erklären. Du hast angerufen, weil ein Kunde aus diesem Ding hier verschwunden ist?«
Statt einer Antwort klappt Fiete den Deckel der Röhre hoch. Auf einer schwarzen Matte liegen kleine bunte Plastikteilchen. »Das ist das, was von Sinterklaas übrig geblieben ist«, sagt er.
Elin mustert den Mann. Er riecht nicht nach Alkohol, seine Augen sehen nicht so aus, als hätte er gekifft, gekokst oder irgendwelche andere Drogen genommen. Wie jemand, der einfach so halluziniert, wirkt er auch nicht.
»Du verarschst uns«, sagt sie trocken und hofft, dass Arie den Besuch trotzdem in Rechnung stellt.
»I wish«, sagt Fiete und deutet auf schwarze Stiefel mit kleinen Glöckchen, die in der Ecke stehen. »Das sind wirklich nicht meine. Außerdem hat Sinterklaas das Anmeldeformular ausgefüllt. Soll ich es holen?«
»Bitte«, sagt Arie, zieht Einweghandschuhe über und nimmt einen der Stiefel hoch. »Die sind quasi neu. Schuhgröße einundvierzig.«
»Ich habe Größe achtundvierzig«, sagt Fiete, dann verlässt er den Raum.
Elin betrachtet das Fenster. »Wenn man klein, dünn und agil genug ist, könnte man da theoretisch durchklettern, oder?«
»Sehr dünn und sehr agil«, sagt Arie, schaltet die Taschenlampen-Funktion an seinem Handy ein, öffnet das Fenster und leuchtet in den Hinterhof. »Keine Fußspuren. Obwohl die natürlich schon wieder zugeschneit sein könnten.«
Fiete kommt mit einem Blatt Papier in der Hand zurück. »Er hätte das Fenster von außen nicht wieder zumachen können«, sagt er. »Abgesehen davon war Sinterklaas super dick und so unfit, dass er kaum geradeaus gehen konnte, ohne zu schnaufen.«
Arie überprüft den Griff des Fensters und nickt. »War er zwischendurch mal auf dem Klo? Oder du? Dann könnte er in dem Moment einfach durch die Tür nach draußen spaziert sein.«
»Das hätte ich bemerkt«, sagt Fiete. »Ich saß nämlich die ganze Zeit auf dem Sofa, also quasi neben der Tür. Und später war auch noch Daphne, meine Assistentin, da.«
»Hat sie diesen Sinterklaas auch gesehen?«, will Arie wissen, während er beginnt, Wände, Fußboden und Decke abzuklopfen.
»Leider nicht, aber sie hat vor ein paar Tagen telefonisch seine Anmeldung entgegengenommen. Er hat mit unterdrückter Nummer angerufen, vielleicht hätte uns das stutzig machen müssen.« Fiete schaut auf den Quantum Extractor, scheint kurz aus dem Konzept gebracht zu sein, aber dann sagt er: »Daphne, richtig. Heute hat sie zwischendurch ein paar Besorgungen gemacht und ist erst zurückgekommen, als er schon hier drin lag.«
»Und dann kam er nicht mehr raus«, vermutet Elin.
»Ich dachte irgendwann, er wäre eingeschlafen – das passiert öfter –, und Daphne ist rein, um ihn zu wecken. Aber dann …« Fiete macht eine hilflose Geste.
»Und anschließend ist Daphne einfach nach Hause gegangen?«, fragt Elin überrascht.
»Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit«, sagt Fiete.
Oder einen großen Streit, denkt Elin. »Worüber?«
»Na ja, sie glaubt, dass ich die Maschine irgendwie falsch programmiert habe oder so. Auf jeden Fall hält sie mich für verantwortlich dafür, dass statt des Plastiks diesmal der Mann verschwunden ist.«
»Bist du?«, fragt Elin.
Fiete legt ihr kurz eine Hand auf den Arm und sagt: »Dass es mir gelungen ist, die winzigen Mikroplastikteile aus dem Körper zu teleportieren, ist eine Sensation, ein Durchbruch der Wissenschaft. Aber ein ganzer Mensch besteht aus etwa tausend Milliarden Elementarteilchen, die kann keine Maschine der Welt wegbeamen, jedenfalls in den nächsten Jahren noch nicht.«
Arie hat den Raum fertig untersucht. »Kein versteckter Lüftungsschacht, keine Geheimtür. Jedenfalls, soweit ich sehen kann.« Dann bedenkt er Fiete mit diesem ruhigen Röntgen-Blick.
Elin weiß, wie der sich anfühlt: Als könnte er durch alle Schwindeleien hindurch ins Hirn schauen und Gedanken lesen. Gleichzeitig wirkt er wie einer, bei dem auch die dunkelsten Geheimnisse in guten Händen sind. Die meisten knicken ein, wenn Arie so guckt. Und wenn sie es nicht tun, sagen sie entweder die Wahrheit oder sie sind verdammt gute Lügner.
Fiete zwinkert nicht mal, als er sagt: »Visionäre und Genies sind schon immer auf Widerstand gestoßen. Denk nur, Arie, wie unverstanden jemand wie Leonardo da Vinci zu seiner Zeit war. Oder wie Galileo Galilei von der Inquisition wegen Ketzerei angeklagt wurde, weil er die Ansicht vertrat, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt sei.«
Elin fragt sich, was Fiete ihnen damit sagen will – also außer dass er sich für wahnsinnig schlau hält, aber da spricht er schon weiter.
»Die Pharmaindustrie, Physiker, Ärzte – sie alle müssen fürchten, weniger Geld zu verdienen, wenn sich meine bahnbrechende Erfindung durchsetzt. Und da sie mir mit wissenschaftlichen Argumenten nichts anhaben können, versuchen sie nun wahrscheinlich, meinen Ruf zu ruinieren. Ich habe keine Ahnung, wer genau hinter dieser Sache steckt, aber eines steht fest: Jemand will mir schaden.«
»Dir oder Sinterklaas«, stellt Arie nüchtern fest.
Fiete sagt nichts dazu, doch etwas in seinem Blick lässt Elin einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Plötzlich sieht Fiete Uittenbroek in ihren Augen nicht mehr aus wie ein charismatischer Life Coach, sondern wie ein Sinterklaas-tötender Psychopath.
Arie nimmt Fiete den Anmeldezettel aus der Hand und liest:
»Sinterklaas, Spanjestraat eins, 0612 Hemel.«
Elin schüttelt ihre Gedanken an Psychopathen und in Teile zerlegte Nikoläuse in Gefriertruhen ab und versucht, sich zu konzentrieren. »Hemel wie Himmel? Wo liegt das denn?«
»Nirgendwo«, sagt Arie. »Es gehört zum Spiel. Kinder schicken ihre Briefe und Wunschzettel an Sinterklaas, die Leute von der Post verteilen sie an ein Heer von Freiwilligen, und die schreiben im Namen von Sinterklaas zurück.«
»Wenn herauskommt, dass bei mir ein Sinterklaas verschwunden ist, kann ich zumachen«, sagt Fiete und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
Elin übergeht seine Bemerkung. »Wie viele Sinterklaas gibt es eigentlich in Amsterdam?«
»Gefühlt an jeder Ecke einen. Wahrscheinlich ein guter Nebenjob für Studenten. Aber der auf dem Dampfboot steht und Fernsehinterviews gibt, das ist immer der Gleiche.« Arie tippt in sein Smartphone. »Da«, sagt er nach einer Weile. »Gijs van der Moolen spielt den Sinterklaas seit nunmehr zehn Jahren. Er ist bei der Schauspielagentur ›Top Actors‹ unter Vertrag, achtundfünfzig Jahre alt, ein Meter siebzig groß, stattlich.« Arie hält Fiete sein Handy mit dem Foto hin.
»Die Statur passt. Aber das Gesicht? Das ist unmöglich zu sagen, es war ja fast vollständig von diesem riesigen Bart bedeckt.« Fiete zuckt mit den Schultern.
Arie scrollt, bis er ein Foto von Gijs in Kostümierung findet.
»Ja, das war er«, sagt Fiete. »Oder, na ja, glaube ich zumindest.«
»Vielleicht rückt die Agentur mit seiner Telefonnummer raus«, beschließt Elin, greift zu ihrem Smartphone und fragt sich einen Moment, wie die Leute eigentlich gearbeitet haben, bevor es diese Dinger gab. Arie diktiert ihr die Nummer, sie wählt, fünf Klingeltöne später meldet sich eine Noel.
»Wir suchen Gijs van der Moolen«, sagt Elin und denkt kurz darüber nach, ob sie sich wohl als Filmregisseurin ausgeben muss, um die Telefonnummer zu kriegen.
Aber dazu kommt es nicht. »Sinterklaas? Den suchen wir gerade alle«, sagt Noel gehetzt, dann legt sie einfach auf.
Das Zusammenleben mit einem Eichhörnchen ist herausfordernd, aber alles in allem mit das Beste, was Jan van Dijk je passiert ist. Das Zusammenleben mit fünf Eichhörnchen kann dagegen nicht anders als eine Vorstufe der Hölle bezeichnet werden.
»Ich ziehe aus, wenn das so weitergeht«, schimpft Jan und reibt sich die schmerzende Hüfte, bevor er die Kastanien, auf denen er ausgerutscht ist, unter seinem Hintern hervorzieht. Auf dem Bücherregal schnattert es. Jan schaut nach oben, sieht zwei der kleinen roten Teufel und könnte schwören, dass sie ihn auslachen. Er versucht, sich daran zu erinnern, ob Fru Gunilla, benannt nach einer Ermittlerin aus Elins erster Krimireihe, auch mal so schlimm war. Gut zweieinhalb Jahre, genauso lange wie die Gründung der Hausboot-Detektei, ist es inzwischen her, dass er sie im Alter von fünf bis sechs Wochen auf einem Bürgersteig gefunden hat, damals mehr tot als lebendig. Das Aufpäppeln war nicht einfach, das Training erst recht nicht. Sobald sie einigermaßen fit war, zerdepperte sie Geschirr, knabberte Beweismaterial und Notizbücher an, stieg in fremde Häuser ein, stibitzte unzählige Glitzerdinge und stellte auch ansonsten allerlei Unfug an. Dass sie trotzdem als Meisterdetektivin und Glücksbringerin der Detektei gilt, liegt wohl vor allem daran, dass sich mancher Unfug im Nachhinein als außerordentlich nützlich für die Ermittlungsarbeit erwiesen hat. Oder vielleicht muss man sagen: Sie galt. Denn im letzten Frühjahr verschwand sie plötzlich für einige schreckliche Wochen. Als sie auftauchte, war sie trächtig mit ebenjenem Nachwuchs, der nun durch Jans Bauwagen turnt und ihm den letzten Nerv raubt.
Wie auf Ansage scheppert in der kleinen Küche ein Löffel in die Spüle. Durch die Katzenklappe, die Jan im vergangenen Frühsommer für Fru Gunilla eingebaut hat, springt die Vierte im Bunde. Im Mäulchen trägt sie ein Büschel Moos. Jan lacht, aber es klingt ein bisschen verzweifelt.
Eigentlich dürften sie längst nicht mehr hier sein. Fru Gunilla hat ihren Nachwuchs nämlich Ende Mai bekommen, das ist schon ein gutes halbes Jahr her. Und überall steht, dass Eichhörnchen ihre Mütter verlassen, wenn sie zwölf bis dreizehn Wochen alt sind. »Sie sind eben ein bisschen spät dran oder einfach besonders schlau«, hat Juanita gesagt. »Das ist so gemütlich, bei dir im geheizten Bauwagen, mit Nussvorrat. Da würde ich jetzt auch nicht freiwillig in den kalten Stadtpark ziehen.«
Juanita hat gut reden. Während Jan sich mit einer frechen Eichhörnchen-Meute herumschlägt, baut sie schon seit Juli in Irland Lehmhäuser – gesehen haben sie sich seither nur an zwei langen Wochenenden und ein Mal in den Herbstferien. Jan rappelt sich hoch, wirft die Kastanien aus dem Fenster und schaut auf den Kalender. Es ist Dienstag, der 18. November. Noch dreißigmal schlafen, dann kommt Juanita zurück. »Spätestens dann ist es für euch übrigens Zeit für die Winterruhe«, sagt Jan zu seinen tierischen Mitbewohnern. Fru Gunilla, die auf seinem Kopfkissen gesessen und ihr Fell geputzt hat, hüpft ihm auf die Schulter, wuselt an seinem Kapuzenpulli nach unten und rollt sich in der Tasche zusammen. Sie ist die Einzige hier, die es seit Ende Oktober ruhig angehen lässt. Vom Regal fliegt ein Taschenbuch und verfehlt nur knapp Jans Kopf. Mit einer Mischung aus Stöhnen, Lachen und Fluchen rappelt er sich hoch, lockt die vier Rabauken mit Zwieback ins Freie und verschließt die Katzenklappe. Sollte er öfter mal machen, aber dann bekommt er Mitleid, wenn es draußen schneit, regnet oder stürmt und ein Eichhörnchen seine kleine rotbraune Nase gegen die durchsichtige Plastiktür presst.
Heute wird das nicht passieren, denn es soll trocken bleiben. »Außerdem fahren wir beide jetzt erst einmal zur Lakshmi«, sagt Jan und setzt Fru Gunilla in den Rucksack, der ursprünglich für den Transport von Katzen konzipiert worden war. Wenig später, es ist kurz vor zehn, schwingt er sich auf sein Fahrrad.
Aries Hausboot, das er vor einigen Jahren von einem Onkel geerbt hat, liegt mitten im Grachtenviertel und erinnert rein äußerlich nur wenig an die indische Glücksgöttin, nach der es benannt ist. Zwischen den vielen auf Hochglanz polierten Postkartenschönheiten wirkt die Lakshmi an diesem wolkenverhangenen eisgrauen Vormittag wie ein raubeiniger Fischkutter, der eigentlich den Winden und Wellen der Nordsee trotzt und den die Strömung nur zufällig in die Hauptstadt gezogen hat.
Jan lächelt, als er das Boot sieht, das für ihn schon längst so viel mehr als sein Arbeitsplatz ist, lässt das Fahrrad ausrollen und springt neben einer Laterne ab. Als er in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel für das Schloss sucht, nimmt er aus den Augenwinkeln wahr, wie ein Mann auf die Lakshmi zusteuert. Jan erkennt ihn sofort als Fiete Uittenbroek – er hat sich die Website ihres potenziellen Neukunden angeschaut. »Ich bin noch unentschieden, ob er genial, verrückt oder einfach ein Scharlatan ist. Aber eines ist sicher: Sein Ego ist so groß wie das eines brunftigen Ziegenbocks«, hat Elin gestern Abend am Telefon über Fiete gesagt.
An diesem Morgen wirkt der erfolgreiche Gesundheitscoach allerdings eher mitgenommen als übermäßig selbstbewusst.
Fiete geht an Bord, klopft an die Kajütentür.
Arie öffnet und sagt: »Guten Morgen.«
Jan, der nun ebenfalls das Deck betritt, erkennt an Aries Gesichtsausdruck, dass dieser Besuch nicht angekündigt war.
»Überhaupt nicht gut«, sagt Fiete. »Die Polizei war heute schon bei mir.«
»Komm rein«, sagt Arie und stellt alle vor, die Fiete noch nicht getroffen hat. »Das sind Maddie, Isa und Jan.«
Hund, der zusammengerollt vor der Waschmaschine liegt, meldet sich mit einem tiefen, nicht unfreundlichen Wuff, dann schläft er weiter.
»Mit mir hast du gestern telefoniert«, sagt Isa. »Du bist der Mann, der Sinterklaas verloren hat.«
